|188|8. Die Elfen aus der Anderwelt – Dichtung und Sagen der Inselkelten

Die sagenhafte Welt der Britischen Inseln

Im frühen Mittelalter gehörte die Kultur der festlandkeltischen Stämme schon lange der Vergangenheit an, sogar ihre Sprachen hatte man vergessen. Mehr oder weniger unabhängige Kelten lebten bekanntlich nur noch am Rande Europas: im Umkreis der Iren, Schotten und Waliser auf den Britischen Inseln und unter den Bretonen. Diese Völker bewahrten trotz aller Veränderungen, denen auch sie unterworfen waren, Traditionen der alten keltischen Kultur, auf die zum Teil schon verwiesen wurde. Ohne sie wüsste man nichts von den zahlreichen Mythen und Sagen, von den Göttern und Heldenkriegern der keltischen Welt, in denen auch der Arthur-Stoff seine Wurzeln hat.

Die Britischen Inseln waren indes dem Festland und erst recht der Mittelmeerwelt fremd geworden, seitdem Rom seine Macht verloren und die Germanenstämme der Angeln und Sachsen dort weite Gebiete erobert hatten. Überhaupt wusste man seit jeher wenig über die keltischen Gebiete, vor Schottlands Bewohnern hatten sich die römischen Kaiser gar durch den Bau des Hadrianswalls zu schützen versucht. Dessen Befestigungsanlagen kannte noch der byzantinische Geschichtsschreiber Prokop, der im 6. Jahrhundert Seltsames von Britannien berichtete:

Nach seinen Worten wird die Insel von dieser langen Mauer in zwei ungleiche Teile getrennt. Im Süden herrscht gute Luft, die Menschen leben wie anderswo und die Bäume stehen in voller Pracht, deren Früchte gut reifen; ebenso geben die Felder gute Ernte in einem wasserreichen Land. Im Norden hingegen kann ein Mensch kaum leben in einer Gegend, die von Schlangen, Nattern und ähnlichem Getier verseucht ist. Die Eingeborenen behaupten, jenseits der Mauer gebe man wegen der verderblichen Luft sofort den Geist auf, verirrte Tiere würden dort verenden. Für Prokop existiert in Schottland nicht nur ein völlig ödes, todbringendes Land, er sieht die Britischen Inseln insgesamt als Land der Toten an, in das die Seelen der Verstorbenen reisen, was gemäß dem oströmischen Historiker auf folgende Weise geschieht:

An der gegenüberliegenden Küste befinden sich viele Dörfer, deren Bewohner |189|von Fischfang, Ackerbau und Schifffahrten nach Britannien lebten. Jene Leute behaupten, sie müssten die Seelen nach Britannien übersetzen. Wer des Nachts diesen Fährdienst leisten muss, legt sich schlafen, bis ihn der Führer des Seelenzuges weckt. Vor Mitternacht hören sie es an ihre Haustür klopfen und vernehmen die Stimme eines Unsichtbaren, der sie zur Arbeit ruft. Wie unter Zwang und Hypnose stehen sie auf und gehen zum Strand. Dort finden sie fremde Kähne, in denen alles zur Abfahrt bereit ist – ohne dass sie allerdings jemanden erblicken. Trotzdem steigen sie hinein und ergreifen die Ruder. Erst dann nehmen sie wahr, wie schwer die Schiffe durch die Mitreisenden sind, kaum erhebt sich der Kahn über die Oberfläche; zu sehen ist allerdings niemand. In einer Stunde rudern sie nach Britannien, während sie es sonst mit den Segeln kaum in einer Nacht und einem Tag schaffen. Nach der Ankunft merken sie, wie sich die Schiffe rasch leeren, und fahren schnell heimwärts. Keinen Menschen haben sie auf dieser Fahrt erblickt, glauben aber eine Stimme gehört zu haben, die die am Ufer Angekommenen namentlich aufruft und ihren gesellschaftlichen Rang und die Abstammung hinzufügt.

Prokop gestand das fantastisch Anmutende und Unglaubliche seiner Geschichte ein, die offensichtlich bis zu ihm nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, gedrungen war. Heutzutage erinnert sie an jene Elfen und Feensagen, die sich gerade die Kelten Irlands und anderer Gebiete der |190|Britischen Inseln erzählten. Ob eine dieser Geschichten tatsächlich den weiten Weg bis ins östliche Mittelmeer gefunden hat, ist ungewiss – trotzdem belegt Prokops Text, dass man sich schon damals Geschichten über den Nordwesten Europas erzählte, zu denen besonders die Kelten ein großes Maß beitrugen.

Denn in dem niemals von Rom besetzten Irland hatten sich alte Überlieferungen erhalten und weiterentwickelt. Obwohl die christlichen Priester und Mönche seit dem 5. Jahrhundert die Druiden zunehmend verdrängten, gab es doch noch den alten Dichterstand, der sich an den zahlreichen Häuptlingshöfen großer Beliebtheit und Achtung erfreute. Das galt weniger für den rezitierenden Barden als für den so genannten Fili, der für seinen Herrn Preislieder dichtete und Macht und Ruhm von dessen Vorfahren besang. Diese hoch angesehene Dichterkaste hatte eine – mündliche – Ausbildung von zwölf Jahren zu absolvieren und war strengstens organisiert. Dem erreichten Grad entsprechend durfte ein Fili nur in einem vorgeschriebenen Versmaß dichten, was Einfluss auf sein Dichterhonorar hatte, das bis zu zehn Kühe betragen konnte. Aber diese Poeten schufen nicht nur eigene Gedichte, sie bewahrten auch vorchristliche Geschichten, von denen sie mehrere hundert aus dem Gedächtnis vortragen konnten. Dichterschulen, die sich dieser Tradition verpflichtet fühlten, gab es in Irland wohl noch während des gesamten Mittelalters.

|191|Außerdem wurden in den Klöstern zunehmend Erzählungen auf Pergament niedergeschrieben und so vor dem Vergessen bewahrt, darunter vor allem die Götter- und Heldensagen, die das vorchristliche Irland mit seiner keltischen Kultur widerspiegeln. Was fromme Mönche und andere im Mittelalter aufschrieben, ist vielfach zensiert und von offensichtlich Heidnischem gesäubert worden. Trotzdem bewahren diese Handschriften einen wertvollen Schatz keltischer Dichtungen, von denen manche auf ein hohes Alter zurückblicken können.

|189|Halloween und das keltische Jahr

In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts breitete sich in vielen Ländern Europas Halloween aus – ein Brauch,der von den einen als typische amerikanische Mode geschmäht und von den anderen als altes heidnisch-keltisches Fest verehrt wird. Jedenfalls machen sich in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November zwischen Frankreich, Norditalien, Deutschland und den Britischen Inseln immer mehr Kinder auf denWeg, um an Haustüren zu klingeln und Süßigkeiten zu fordern. Sie unterstreichen dies mit dem englischen Spruch Trick or treat – zu Deutsch etwa »Streich oder Belohnung« –, an dessen Stelle in Deutschland zunehmend »Süßes, sonst gibt’s Saures!« getreten ist. Für diesen so genannten Heischegang ist eine passendeVerkleidung unverzichtbar: als Hexe oderVogelscheuche, als wandelnder Leichnam oder Horrorgestalt aus Film und Buch. Darüber hinaus finden mittlerweile auch unter jüngeren und älteren derart kostümierten Erwachsenen Partys statt, die allesamt den ausgehöhlten Kürbis zu ihrem Symbol erkoren haben, hinter dessen schauriger Fratze eine Kerze brennt. Auf dieseArt undWeise hat sich in jüngster Zeit ein äußerst lebendiges Gruselfest etabliert, das sich zunehmender Beliebtheit erfreut.

Was dieses schaurigeTreiben mit den Kelten zu tun hat, ist durchaus umstritten. Das Wort selbst ist aus dem englischen All hallow’s Eve respektive Evening entstanden, |190|womit man den Abend vor Allerheiligen bezeichnet. Diesem Fest der christlichen Märtyrer und Heiligen sollte nach dem Volksglauben eine Nacht vorausgehen, in der die Seelen der Verstorbenen und diverse Spukgestalten wie Geister und Dämonen das Jenseits verlassen und in der Menschenwelt umgehen. In den USA entwickelten sich daraus die allseits populären Partys und Umzüge, bei denen auch ein Schabernack nicht fehlen durfte. In der Verbindung mit Kommerz und Hollywood-Filmen wurde Halloween in der Tat zu einem amerikanischen Brauch.

Ursprünglich pflegte man ihn in Irland, Schottland und Wales, bis er in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit irischen Einwanderern nach Nordamerika gelangte. In seinen keltischen Heimatgebieten kannte dasVolk schon lange vorher eineVielzahl von Sagen, Geschichten und Bräuchen um jene Nacht, in der die Pforten der Anderwelt oder Hölle sich öffneten.Damit waren auch dort öffentlicheAktivitäten verbunden: So entzündete man in Irland große Feuer, mit denen die bösen Geister vertrieben werden sollten. In Schottland verkleideten sich junge Männer als schaurige Gestalten, um für Angst und Schrecken zu sorgen. Die Waliser glaubten von Halloween, dass in dieser Nacht auf jedem Zaun ein Gespenst sitze. In Irland hielt man für die vorübergehend heimkehrenden Seelen der Verstorbenen die Türen geöffnet und deckte für sie denTisch. Außerhalb des Hauses war es ohnehin nicht geheuer;deshalb mied man die Friedhöfe und drehte sich nicht um, wenn man |191|in der Dunkelheit Schritte hinter sich hörte – sie hätten von einem Gespenst kommen können.

Wie fließend in dieser Nacht die Grenzen zwischen Leben und Tod geworden sind, verdeutlicht die Sage von Jack-o-Lantern, womit in den USA der Halloween-Kürbis bezeichnet wird. Jedoch stammt auch diese Gestalt von den Britischen Inseln. Dort erzählte man sich die Geschichte von dem stets betrunkenen Schmied, dessen Seele sich der Teufel gewiss war. Aber in seinem Pub überlistete Jack den Satan, der auf immer auf dessen Seele verzichten musste. Doch nach seinem Tod wollte auch der Himmel nichts mit dem sündigen Schmied zu tun haben, sodass Jack gezwungen war, heimatlos umher zu irren und bis zum Jüngsten Tag auf seine Erlösung zu warten. Immerhin hatte ihm derTeufel ein Stück brennende Kohle zugeworfen, das ihm Licht spendete. Jack steckte es in eine ausgehöhlte Rübe, an deren Stelle in Amerika der Kürbis trat – beide galten als Symbol der verdammten Seele.

Alle Sagen und Bräuche um Halloween wurden in Irland und den anderen Ländern erst seit wenigen hundert Jahren überliefert.Von ihnen führt kein unmittelbarer bekannterWeg zu den Kelten der vorchristlichen Zeit. Als man allerdings im frühen Mittelalter das Allerheiligenfest des 1. Novembers in Irland einführte, fiel dessen Feier mit einem der wichtigsten Termine des altirischen Kalenders zusammen – mit Samain. An diesemTag begann traditionellerweise nicht nur derWinter |192|und ein neues Jahr, sondern er wurde auch als Erntefest gefeiert. Darum beging man eine Vielzahl von Feierlichkeiten und Bräuchen: Dazu gehörten üppige Gastmähler, große Märkte und hitzige Wettrennen. Darüber hinaus hatte Samain noch die Bedeutung der Wintersonnenwende und damit einer Zeit, in der die Wesen derAnderwelt zuhauf aus ihren Elfenhügeln strömten – wie die von den Kelten der Sage nach dorthin verdrängten Tuatha Dé Danann oder die Fomóri-Ungeheuer. In den Heldenerzählungen von Finn mac Cumaill verdeutlicht eine Geschichte diesen Aspekt des Unheimlichen besonders stark. Nach ihr erschien zu jedem Samain-Fest, das in der Königsresidenz Tara begangen wurde, ein feuerspeiendes Monster, das die Krieger mittels Zaubermusik in Schlaf versetzte und anschließend die ganze Burg niederbrannte. Erst dem Helden Finn gelang es, den Unhold zu töten und dessen Treiben zu beenden.

So verband man mit dem alten Winteranfang seit jeher erschreckende Geschichten vom Einfall dämonischer Mächte. DieseTradition scheinen sich die Inselkelten im Gefolge des Allerheiligenfestes bewahrt zu haben; an sie erinnert letztlich das moderne Halloweenfest. Die Nacht des 31. Oktober stellt somit einen geringen Rest davon dar, wie die Kelten sich das Jahr kalendarisch einteilten.

Die Druiden rechneten wahrscheinlich mit dem Mondjahr, nach dem ihnen der Lauf des Nachtgestirns als Grundlage für ihre zwölf Monate und notwendige Schaltmonate galt. Darauf deuten auch die Kalenderaufzeichnungen aus der Zeit  |193|gegen 200 nach Chr., die man im südostfranzösischen Coligny auf einer in vieleTeile zerfallenen Bronzetafel fand.

Während man davon wenig weiß, ist aus Irland die Festeinteilung bekannt, die für die Bauern von großer Bedeutung war. Sie begingen vier Jahresfeste, die heute als keltische Hauptfeste angesehen werden:

Mit Samain begann am 1. November das neue Jahr mit dem Winter – wie oben dargelegt.

Am 1. Februar beging man Imbolc, den Frühlingsbeginn, der als Fest der Hirten gefeiert wurde und sich darauf bezog, dass die Mutterschafe wieder Milch gaben.

An Beltaine, dem 1. Mai, begann mit dem Sommeranfang wieder die warme Jahreszeit. An diesem Festtag, der vermutlich dem Gott Belenus gewidmet war, zündete man große Freudenfeuer an und beging feierliche Handlungen, bei denen die Druiden eine entscheidende Rolle spielten. Außerdem begann für die Bauern die Hauptarbeit auf den Weiden und Feldern, während die Krieger zu Beutezügen auszogen.

Der 1. August markierte mit Lugnasad den Herbst- und Erntebeginn. In Irland galt das nach dem Gott Lug benannte Fest als Friedens- und Freudenzeit, während der man keinen Krieg begann. Das Volk amüsierte sich auf Jahrmärkten und gedachte auf Pilgerfahrten seiner religiösenVerpflichtungen.

|191|Die irischen Einwanderungen: Monster, Götter und Kelten

Die gelehrten Schreiber des Mittelalters entwarfen ein detailreiches Bild der Geschichte Irlands, die sie als fromme Christen mit der göttlichen Schöpfung und nach der Sintflut beginnen lassen. Damals hausten mit den Fomóri urzeitliche Dämonen auf der Insel, missgebildete Ungeheuer, die als einäugig, einbeinig oder mit einem Hundekopf beschrieben wurden. Diese Furcht einflößenden Ureinwohner verteidigten das Land gegen alle Einwanderer, die auf der grünen Insel siedeln wollten. Zwischen den ersten Kolonisten und den Fomóri kam es angeblich 2 500 Jahre vor Chr. zur |192|ersten Schlacht auf irischem Boden. Nach den Quellen war es mehr eine Zauberschlacht als ein Kampf mit scharfen Waffen, doch konnten die Dämonen nicht besiegt werden.

Die zweiten Einwanderer wurden Jahrhunderte später von den Fomóri unterworfen und geknechtet, die zu jener Zeit ihren Sitz im Turm Conanns hatten, der sich auf einer Insel gegenüber der nordwestlichen Spitze Irlands aus dem Ozean erhob – das Meer scheint überhaupt deren ursprüngliches Element gewesen zu sein. Die Menschen mussten ihnen harten Tribut zahlen: nicht nur zwei Drittel ihrer Ernten, sondern auch ihrer Kinder. All dies sollten sie in jeder Samain-Nacht entrichten, dem keltischen Winteranfang am 1. November, der heute unter der englischen Bezeichnung Halloween bekannt ist. Schließlich lastete diese Unterdrückung so schwer auf den Iren, dass sie sich erhoben. Mit 30 000 Kriegern zu Wasser wie zu Land zogen sie gegen die Fomóri und eroberten den Turm Conanns. Doch frische Heerscharen der Dämonen zogen heran, und es kam am Strand zu einer erbitterten Schlacht. Wer nicht durch eine feindliche Hand starb, ertrank in der heranbrechenden Flut. Von den Iren entkam nur ein einziges Schiff mit dreißig Kriegern, die Irland verließen. Deren Nachfahren nannten sich die Tuatha Dé Danann, »die Sippen der Göttin Danann«.

Sie lebten auf den nördlichen Inseln der Welt, wo sie zu Meistern der Magie wurden, denn dort erwarben sie die Kenntnisse geheimen Wissens |193|und der Hexerei, des Druidenwesens und der Zauberei. Vier mächtige magische Gegenstände nannten sie ihr Eigen, die in der irischen Mythologie eine bedeutende Rolle spielten: den oben erwähnten Lía Fál, »den Stein des Schicksals«, der sich in Tara befand und aufschrie, wenn ihn der irische König betrat; den Speer des Lug, der seinen Träger und dessen Heer unbesiegbar machte; das Schwert Nuadas, das ebenso stets den Sieg davontrug und schließlich Dagdas Kessel der unerschöpflichen Speisung, der immer gefüllt blieb.

Auf diese Weise ausgerüstet, kehrten die Tuatha Dé Danann nicht nur als tapfere Krieger, sondern auch als mächtige Zauberer nach Irland zurück. Dort bekämpften sie zuerst die menschlichen Siedler, wobei sie auch vor Bündnissen und Heiraten mit den Fomóri nicht zurückschreckten. Doch als der Sieg errungen war, keimte die alte Feindschaft mit den Dämonen wieder auf. Deren Anführer war Balor mit dem todbringenden Auge, und sein Heer war das schrecklichste, das man in Irland jemals erblickte. Die Tuatha Dé Danann verfügten ihrerseits über hervorragende Schmiede und Bronzegießer, die vorzügliche Waffen fertigten. An der »Quelle der Gesundheit« sprachen vier Ärzte Beschwörungsformeln, deren magischer Zauber bewirkte, dass die ins Wasser geworfenen Toten und schwer Verwundeten wieder gesund und munter der Quelle entstiegen.

Schließlich kam es zur großen Entscheidungsschlacht von Mag Tuired, |194|zu deren Beginn die Fomóri ihr Lager verließen und sich in gewaltigen Schlachtreihen aufstellten. Ihre kampferprobten Krieger trugen Harnische und Helme, waren mit Lanze und Schwert bewaffnet und schützten sich mit einem Schild. Balor gehörte zu den Anführern dieser dämonischen Heerscharen, während sich unter den »Sippen der Göttin Danann« Lug mit seinem Streitwagen an die Spitze der Truppen setzte. Er trug einen magischen Gesang vor und führte ein Ritual unbekannter Bedeutung aus, indem er auf einem Bein im Kreis um die Iren herumhüpfte und dabei ein Auge geschlossen hielt.

In dem dann beginnenden unbeschreiblichen Gemetzel fielen viele edle Streiter. Blut strömte über die weiße und noch zarte Haut der jungen Krieger, die die Kämpfer der Dämonen angriffen, um ihren Mut zu beweisen. Ein ungeheurer Schlachtenlärm kam auf: Scharen von tapferen Kriegern versuchten, sich mit Schwertern und Schilden zu schützen, während die Feinde mit Lanzen und Schwertern auf sie eindrangen. Der Lärm klang über das ganze Schlachtfeld: die Rufe der Krieger, das Gedröhn der Schilde, das Sausen der Schwerter, das Rasseln und Scheppern der Pfeilköcher, das Surren und Schwirren der Speere und das Krachen der Hiebe. Auf dem schlüpfrigen Blut rutschten viele aus und stürzten; als sie hilflos auf dem Boden lagen, wurden ihnen die Köpfe abgeschlagen. Die Feinde lieferten sich eine mörderische Schlacht, und die Speerschäfte röteten sich in ihren Händen. Zahlreiche Tuatha Dé Danann fielen – wie Nuada mit der silbernen Hand und Macha, die Tochter der Ernmas, die beide von Balor getötet wurden.

Schließlich stieß Lug auf den Anführer der Fomóri, der wegen seines Auges gefürchtet wurde, dessen tödlichen Blick er nur auf dem Schlachtfeld aussandte. Vier Männer mussten das gewaltige Augenlid hochziehen. Wer auch immer in dieses Auge blickte, selbst wenn es Tausende von Kriegern waren, verlor seinen Kampfmut. Denn einstmals war Balor der magische Dampf einer druidischen Zauberbrühe unters Lid gedrungen und hatte das Auge mit seiner Giftwirkung durchdrungen. Doch Lug handelte schnell und schoss einen Schleuderstein gegen Balor, der durch dessen giftiges Auge jagte. Auf diese Weise trieb er es durch dessen Kopf, sodass es auf einmal auf die Krieger der Fomóri blickte. Diese wurden wie gelähmt und sahen Balors Körper auf sich stürzen. Doch die Schlacht brach wieder los, bis die Iren die Fomóri ans Meeresufer zurückschlugen. Schließlich baten diese Lug um Gnade, die er ihnen gewährte – unter dem Versprechen, Irland und seine Bewohner niemals wieder zu behelligen. Seit dieser Schlacht herrschten die Könige der Tuatha Dé Danann über die Insel und nahmen geradezu göttlichen Charakter an.

Viele Zauberdinge tauchten im Umfeld des gewaltigen Kampfes auf: etwa das Fomóri-Schwert Orna, das – aus der Scheide gezogen und gereinigt |195|– von seinen Waffentaten erzählte. In der irischen Mythen- und Sagenwelt pflegten die gezogenen Schwerter von den Taten zu sprechen, die sie verrichtet hatten. Seitdem bargen diese Waffen zudem magische Kräfte und Dämonen sprachen aus ihnen. Die Krieger verehrten ihre Schwerter fast wie Götter und wiesen ihnen besondere Kräfte zu. Aber auch eine Harfe konnte ihr Eigenleben entwickeln, wofür auf Seiten der »Sippen der Göttin Danann« die prächtige Harfe des Anführers Dagda ein bezeichnendes Beispiel liefert. Die Fomóri raubten sie und befestigten sie als Beutestück an der Wand ihrer Halle. Doch als ihr Eigentümer Dagda die Harfe zu sich rief, sprang sie von der Wand, tötete neun Männer und flog zu den Tuatha Dé Danann zurück.

Die Vertreibung in die Unterwelt

Die Tuatha Dé Danann blieben nicht die Herren über Irland – auch sie wurden besiegt und vertrieben. Nach der legendenhaften irischen Zeitrechnung des Mittelalters betraten um 1700 vor Chr. die letzten Einwanderer die Insel: die keltischen Goidelen aus Spanien. Einer der ihren hatte an einem klaren Winterabend einen Turm bis zur Spitze erklommen und in nordöstlicher Richtung fern am Horizont die ihm unbekannte Insel Irland erblickt. Mit 150 Kriegern segelte er dorthin und landete an der Nordküste. Dieser Kelte namens Íth näherte sich friedlich den Tuatha Dé Danann und vermittelte sogar in ihren Streitigkeiten. Als er jedoch auf dem Rückweg zum Schiff war, ließen sie ihn von einer Streitmacht überfallen. Der Goidele starb an seinen Wunden und wurde nach Spanien gebracht. Dort entschloss man sich, seinen Tod zu rächen und machte sich auf den Weg in den Norden.

Doch »die Sippen der Göttin Danann« versuchten mit vielen magischen Mitteln die Landung der Kelten zu verhindern. So gaben sie einem Hafen die Gestalt eines Schweinerückens, um die anrückenden Feinde zu verwirren. Als die Goidelen trotzdem an Land kamen, wandte man weitere Listen an: Die Tuatha Dé Danann erwirkten eine Vereinbarung, nach der die Einwanderer ihre Schiffe bestiegen und Irland vorübergehend den Rücken kehrten. Aber als sie auf See waren, offenbarte sich die List der »Sippen der Göttin Danann«. Denn deren Druiden sangen am Strand magische Beschwörungen, die die keltische Flotte weit aufs Meer hinaustrieb und in Seenot brachte. Ein derartiger Druidenwind wehte nicht oberhalb der Schiffsmasten und gab sich auf diese Weise als Zauber zu erkennen. Allerdings verfügten auch die Goidelen über magische Fähigkeiten. Deshalb sprach ihr zauberkundiger Dichter Amorgen einen Gegenzauber, der |196|ihnen einen günstigen Wind bescherte. So kam es zur Entscheidungsschlacht, in der drei Könige und drei Königinnen der Tuatha Dé Danann fielen und mit ihnen die Mehrzahl der Krieger. Nach diesem Sieg übernahmen die Goidelen die Herrschaft. Die Insel benannten sie nach der Königin Ériu, die zu den Unterlegenen gehörte.

Die Tuatha Dé Danann wurden weder ausgerottet noch verließen sie Irland für immer. Angeblich war es der Zauberer Amorgen, der die Insel zwischen den Siegern und den Unterlegenen aufteilte. Den Teil unter der Oberfläche Irlands erhielten die Tuatha Dé Danann; sie gingen in die Hügel und in die Unterwelt, wo sie sich einen König wählten. Auch wenn von nun an die keltischen Goidelen die grüne Insel beherrschten, so war doch die Macht dieses Dagán genannten Herrschers der Unterirdischen sehr groß. Die Tuatha Dé Danann hatten nämlich die Gewalt, den Menschen der Oberwelt Korn und Milch zu verderben, bis sie mit ihnen Frieden schlossen.

Mit der goidelischen Einwanderung ließen die irischen Dichter und Historiker die mythischen Ereignisse ihrer Geschichte enden. Von nun an siedelten die Kelten auf der Insel und prägten diese auf einzigartige Weise. Aber sie waren nicht deren einzige Bewohner. In den alten Hügelgräbern und unter den Bergen herrschte das vertriebene Göttergeschlecht der Tuatha Dé Danann, aus dem die Iren die Elfen und Feen der Anderwelt machten.

Die Anderwelt

Die unter den Iren und Walisern verbreitete Vorstellung einer anderen Welt, englisch otherworld, gilt als bekanntestes Motiv keltischer Mythen, Sagen und Märchen, auf das noch immer Schriftsteller und Filmregisseure bevorzugt zurückgreifen. Ob Festlandkelten wie die gallischen Stämme schon vor 2 000 Jahren daran glaubten, ist nicht sicher. Die Kelten von den Britischen Inseln jedoch schufen sich das schillernde Bild einer fantastischen Anderwelt, von deren realer Existenz viele Iren auch noch im 20. Jahrhundert überzeugt waren.

Dabei entwickelten sich über die Jahrhunderte zahlreiche Vorstellungen jener Welt und ihrer Bewohner, die im Deutschen Elfen und Feen heißen, in Irland aber nach den Síd, ihren Behausungen in den Hügeln, benannt werden, während die Waliser der anderen Welt den kymrischen Namen Annwfn gaben. Dort wurde aus dem alten Göttergeschlecht das »Volk der Grabhügel« oder »die schöne Familie«, um nur zwei Bezeichnungen zu erwähnen, an deren Stelle man im Englischen von den fairies spricht.

|197|Die Wohnsitze der Elfen und Feen dachte man sich an vielerlei verborgenen Orten: in Bergen und Hügeln, auf dem Grund von Seen und des Meeres, aber auch auf Inseln weit draußen im Ozean. Aus solchen Vorstellungen ging auch Avalon hervor, wohin der zu Tode verwundete König Arthur gebracht worden sein soll. Ansonsten war es schwierig, den Zugang zur Anderen Welt zu finden. Er konnte in einer Höhle versteckt sein, sich in einem Felsspalt verbergen, hinter einem mächtigen Stein liegen oder über eine einsame Ebene erreichbar sein, über der ein Zaubernebel lag. In Irland kannte man eine regelrechte Geografie der Síd, die am häufigsten in den vorgeschichtlichen Grabhügeln lokalisiert wurden. In ihnen nahmen die einzelnen Götter der Tuatha Dé Danann ihren Wohnsitz – so galt das prähistorische Hügelgrab von Newgrange nordwestlich Dublins unter der Bezeichnung Brug na Bóinne als ursprüngliche Herberge des Dagda, dem später dessen Sohn Oengus folgte.

Die Anderwelt lag folglich weder im Jenseits, noch war es eine schreckliche Hölle. Übliche Umschreibungen wie »Land der Jugend« oder »Land der Frauen« charakterisieren sie hingegen als einen Ort, an dem geradezu paradiesische Zustände herrschten. Denn ihre Bewohner verfügten mithilfe druidischer Zauberkünste über Dinge, die die Unterwelt zu einem Schlaraffenland machten: Dort standen Bäume, die stets voll reifer Früchte hingen, und selbst auf den beliebten Schweinebraten musste nicht verzichtet werden, weil sich das Fleisch des Tieres stets erneuerte. Darüber hinaus sorgten Kessel mit unerschöpflichem Met für die Wiedergeburt und ein glückliches Leben, bei dem ein ganz anderer Zeitbegriff herrschte als in der Menschenwelt.

Beide Sphären waren nicht hermetisch voneinander getrennt; es existierte eine Fülle gegenseitiger Kontakte, deren Geschehnisse zu den Lieblingsstoffen der mittelalterlichen Erzählungen gehörten. Unter anderem konnten sich die Elfen und Feen unsichtbar machen und zeitweilig ihre Hügel verlassen, um die Oberwelt aufzusuchen. Dies geschah vor allem zu Halloween, in der Nacht zum 1. November, sodass diese Zeit in den Ruf gefährlichen Geistertreibens kam.

Andererseits fühlten sich auch normale Sterbliche immer wieder vom schönen Volk und seinen prächtigen Behausungen angezogen. Einen Besuch in der Anderwelt schilderte zum Beispiel der walisische Gelehrte Giraldus Cambrensis. Der Geistliche hatte Ende des 12. Jahrhunderts entlegene Gebiete seiner Heimat bereist und dort die Geschichten des Volkes gehört. Unter anderem erzählte man sich von einem Jungen aus Südwales, der sich in einer Höhle an der Uferböschung des Flusses Neath versteckte. Dort litt er Hunger, bis auf einmal zwei kleine Männer die Höhle betraten und einen Korb Beeren sowie einen Krug Milch vor ihn stellten. Als der Junge gegessen hatte, boten sie ihm an, ihn in ein wunderschönes Land zu |198|bringen, wo nur Freude herrsche. Daraufhin folgte er ihnen einen Pfad entlang, der sie immer weiter in die Höhle hinein und schließlich in ein Land führte, in dem es grüne Bäume, blühende Sträucher und saftige Wiesen gab. Allerdings sah man dort weder Sonnen- noch Mondlicht, weshalb die Tage düster und die Nächte stockdunkel waren.

Seine beiden Führer brachten den Jungen vor ihren König, der zwar auch winzig war, aber seine Untertanen doch bei weitem überragte. Er stellte dem Gast viele Fragen über die Menschenwelt und erlaubte ihm dann, bei den Feen in der Anderwelt zu bleiben. Ein ganzes Jahr wohnte er bei den kleinen freundlichen Männern und Frauen, die wunderschön anzusehen waren. Sie ernährten sich nur von Milch und sahen Vertrauen als das höchste Gut an. Sogar der Knabe genoss so viel davon, dass man ihn immer wieder seine Mutter besuchen ließ. Sie hörte aus seinen Erzählungen vom Reichtum der Feen und überredete den Sohn, ihr einen Ball aus purem Gold zu bringen.

Das nächste Mal stahl er ihn und ging auf dem bekannten Pfad zur Menschenwelt. Bald schon hörte er kleine Schritte hinter sich und sah, dass ihn seine beiden bekannten Freunde verfolgten. Auf der Hausschwelle seiner Mutter stolperte er und verlor den Ball, den die Feen sofort ergriffen. Alles Bitten, man möge ihm verzeihen und ihn wieder mitnehmen, war umsonst: Die Männer verließen ihn, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Über viele Jahre ging der Junge zum Flussufer und suchte die Höhle mit dem Zugang zur Anderwelt – doch vergebens: Er fand sie niemals wieder. Später wurde er Mönch und erzählte sein Leben lang klagend von jener Welt der Feen, deren Vertrauen er gebrochen und die er darum auf immer verloren hatte.

Reisen in die Andere Welt

In Irland schätzte man derartige Erzählungen so sehr, dass Abenteuergeschichten und Reisen in die Andere Welt zu den beliebtesten Stoffen der Dichter gehörten. Als älteste und berühmteste Dichtung dieser Gattung gilt Brans Seefahrt, die im 8. Jahrhundert entstand.

Deren Held Bran mac Febail war eines Tages nahe seiner Burg allein unterwegs, als er Musik hinter sich vernahm. So oft er sich auch umsah, stets erklangen die süßen Töne hinter seinem Rücken. Darüber schlief er schließlich ein. Nach einiger Zeit erwachte er wieder und sah neben sich einen silbernen Zweig mit weißen Blüten. Den trug er in den Palast, dessen Königshalle voll von Gästen war. Unter ihnen stand auf einmal eine fremde Frau in seltsamem Gewand, von der niemand wusste, wie sie hereingekommen |199|war. Sie sang ein langes Lied über die Anderwelt: Der silberne Ast stamme von deren Apfelbaum auf einer fernen Insel. Dort herrschten weder Schmerz noch Kummer, gäbe es keine Krankheit und keinen Tod. Nur Bran könne dorthin gelangen und vielleicht sogar das Land der Frauen finden. Nach diesen Worten verschwand die Elfin, um die es sich offensichtlich handelte, aus der Halle mitsamt dem wunderbaren Apfelzweig.

Schon am nächsten Morgen stach Bran mit seinen Männern in See. Nach zwei Tagen erblickten sie einen Mann, der mit einem Streitwagen über das Meer fuhr. Bran gab er sich in einem Gesang als Manannán mac Lir zu erkennen, als Herrscher eines Meerreiches, der auf dem Weg nach Irland war. Bran sei hier in Mag Mell, den Gefilden der Glückseligkeit, voller Blumen und umgeben von unzähligen Pferden, die für ihn unsichtbar seien.

Nach dem Zusammentreffen stieß Bran bald auf eine Insel, die voll von Menschen war. Als diese das fremde Schiff erblickten, brachen sie in schallendes Gelächter aus und antworteten nicht auf Brans Fragen. Genauso verhielt es sich mit einem der Iren, den man auf dieser Insel der Fröhlichkeit zurücklassen musste. Dann traf Bran auf ein Land, wo ihn die Fürstin der Frauen begrüßte. Sie lud ihn ein, er möge doch zu ihr kommen. Als er noch zögerte, warf sie ihm ein Bindfadenknäuel zu und zog damit das ganze Boot an den Strand. Sie führte die Männer in ihren Palast, in dem für alle Liebesbetten bereit standen. Die Speisen wurden niemals weniger, und die Seefahrer wähnten sich dort ein Jahr; aber in Wirklichkeit waren in der Menschenwelt viele Jahre vergangen. Als die Männer Heimweh packte, warnte sie die Fürstin, nicht die Erde Irlands zu betreten.

Schließlich näherten sie sich der heimatlichen Küste, wo sich Menschen versammelt hatten und fragten, wer sie seien und woher sie kämen. Als dies beantwortet wurde, meinten sie, einen Bran würden sie nicht kennen. Allerdings erzählten sie sich eine alte Sage von der Seereise eines gleichnamigen Mannes, der niemals zurückgekehrt sei. Ein Begleiter Brans hielt es nicht länger an Bord und er sprang an Land. Doch dort verwandelte er sich sofort in einen Haufen Staub. Da erkannte Bran, dass er in Irland dem schnellen Tode geweiht wäre. Er erzählte den Versammelten seine Geschichte und stach wieder in See, ohne jemals wieder gesehen zu werden.

Wie ihm erging es vielen seiner Nachfolger, die den Weg zu den Wohnstätten der Elfen suchten. Nicht wenige mussten erfahren, dass für deren Genüsse ein hoher Preis zu zahlen war. Denn während weniger Stunden in der Anderwelt vergingen daheim Jahrhunderte, und so mancher Rückkehrer zerfiel wie Brans Gefährte zu Staub oder lebte doch zumindest von nun an einsam und arm unter fremden Menschen.

Dieses Schicksal blühte dem berühmten irischen Helden CúChulainn nicht, auch wenn er erkennen musste, wie gefährlich der Umgang mit den |200|zauberkundigen Bewohnern der Síd sein konnte. Die Erzählung seines Abenteuers in der Anderwelt schildert die große Versammlung, die die nordirischen Ulster-Krieger jedes Jahr an den Tagen um das Samain-Fest des 1. Novembers abhielten. Dabei führten sie ausgiebige Gespräche und vergnügten sich bei Gelagen und Spielen. Aber am liebsten prahlten sie mit ihren Heldentaten und legten als Beweis angeblich die Zungenspitzen der getöteten Gegner vor. Sprachen sie die Unwahrheit, kehrten sich ihre wundersamen Schwerter gegen sie selbst. Als sie während dieses Festes auf einem benachbarten See einen an Herrlichkeit unvergleichlichen Vogelschwarm erblickten, wünschten sich die Frauen diese Tiere.

Daraufhin fuhr CúChulainn mit seinem Streitwagen in den Schwarm, tötete alles mit seinem Schwert und brachte die Vögel zu der Versammlung – allein für seine eigene Frau blieb nichts übrig. Doch auf einmal gewahrte er zwei weitere Vögel auf dem See, die durch eine Kette verbunden waren und eine sanfte Melodie sangen. Als das Heer sie hörte, fiel es in einen tiefen Schlaf. Aber CúChulainn versuchte, die Vögel mit seiner Steinschleuder zu erlegen – zunächst ohne Erfolg. Als er schließlich einen verletzte, tauchten sie im Wasser unter. Der Held war davon so erschöpft, dass er sich an einen Stein lehnte und vom Schlaf übermannt wurde. Im Traum hatte er eine Vision von zwei Frauen, die in einem grünen und einem purpurnen Mantel zu ihm traten. Beide lächelten ihn an, schlugen ihn aber abwechselnd so lange mit einer Pferdepeitsche, bis er halbtot war. Dann verschwanden sie wieder.

Als CúChulainn aus diesem Traum erwachte, sprach er kein Wort, dabei blieb es ein ganzes Jahr. Am Tag vor dem nächsten Samain-Fest versammelten sich alle um den schweigenden Helden. Da erschien ein Abgesandter des Feenfürsten und sang ihnen ein Lied, demzufolge dessen Tochter Fand den jugendlichen Helden begehrte. Dann verschwand der Fremde so unvermittelt, wie er erschienen war. CúChulainn jedoch erwachte, erzählte seine Vision und erbat sich den Rat von König Conchobar. Ihm folgend, ging er zu der Steinsäule, an der er in den Schlaf gefallen war. Unverzüglich erschien die Frau im grünen Mantel und gab sich als Lí Ban aus der Anderwelt, dem »Land der Wonne«, zu erkennen. Er könne die Elfin Fand gewinnen, wenn er mit ihr komme und dem Elfenkrieger Labraid im Kampf gegen seine Feinde beistehe.

Nach langem Zögern und in Liebessehnsucht nach Fand entschloss sich CúChulainn, in den Síd aufzubrechen. Dort saß der Held Labraid unter vielen Leuten inmitten seines Feenhügels, umgeben von Massen an Waffen. Besonders schmückte ihn sein langes gelbblondes Haar, das ein Goldapfel zusammenhielt. Im königlichen Palast standen lange Reihen von Betten, deren Pfosten rot und deren Stützen weiß und vergoldet waren. Ein strahlender Edelstein spendete ihnen Licht. Vor dem westlichen Tor |201|weideten herrliche Pferde, vor dem östlichen wuchsen drei Bäume aus purpurnem Glas. Dort sangen Vögel immerzu ein sanftes Lied. Ein silberner Baum strahlte in blendendem Licht, und dicht an dicht standen weitere Bäume, die überreich köstlichste Früchte trugen. Eine reiche Quelle sprudelte aus goldenen Zapfen, und ein Fass mit Met ging niemals zur Neige. Dort wohnte die herrliche Jungfrau Fand mit weißblondem Haar, an deren Liebeszauber das Herz jeden Mannes zerbrechen musste. Das ganze Land wurde von bildschönen Frauen bewohnt und von glänzenden Kriegern mit ihren Furcht erregenden Waffen.

Im Elfenland zog CúChulainn auf das Schlachtfeld und stellte sich allein einem riesigen Heer. Nachdem er viele Krieger getötet hatte, griff Labraid selbst in den Kampf ein und zerstreute die Feinde endgültig. Doch der irische Held war so entfesselt, dass er erst in drei Fässer kalten Wassers steigen musste, um sich zu beruhigen. Mit diesem Sieg gewann er die Elfin Fand, bei der er einen Monat blieb und mit ihr schlief – worüber seine Ehefrau äußerst erzürnt war. Erst als ihnen Druiden Vergessenstränke reichten, lösten sie den Bann der Anderwelt, dem der Held unterlegen war.

So manche andere irische Erzählung handelte ebenso von derartigen Beziehungen zwischen Männern und Elfenfrauen. Zu ihnen gehört die Geschichte des Königssohnes Connla, der sich aus Liebe zu einer Fee entscheidet, die Menschenwelt zu verlassen. Ein gläsernes Schiff aus der Anderen Welt entrückt ihn in das Reich der Síd.

Die irische Heldengalerie

Die irischen Dichter und Schreiber des Mittelalters hatten außer den Erzählungen von den mythischen Einwanderungen und den Geschichten über die Andere Welt noch ein weiteres beliebtes Thema: die Abenteuer und Kämpfe der großen und verwegenen Heldengestalten. Ihre Schlachten und Schicksale wurden zumeist in den ersten Jahrhunderten nach Chr. angesiedelt, ohne dass man überlieferte historische Ereignisse damit verknüpfen könnte. Aber die freie und abgelegene Insel am Rande Europas bot mit ihren Stammesfehden genug Stoff, aus dem sich in den folgenden Jahrhunderten die Heldensagen entwickelten. An den Höfen ihrer unzähligen Häuptlinge und Könige pflegten deren Gefolgsleute ein Kriegerideal, das dem der alten Kelten auf dem Festland sehr nahe kam.

Die Erzählungen vermitteln in ihren fantasievoll gestalteten Szenen Eindrücke eines solchen heroischen Lebens, dessen Glanzpunkt der ehrenvoll kämpfende Held in seinem Streitwagen darstellte. Je mehr erbeutete Feindesschädel an ihm hingen, desto größer war der Ruhm des Kriegers. |202|Mit ihnen prahlte man beim Gelage in der Halle, dessen bestes Stück Schweinefleisch als so genannter Heldenbissen dem Helden vorbehalten blieb. Außer dem Zweikampf kennen die Heldengeschichten den Rinderraub als herausragenden Beweis kriegerischer Tapferkeit und Verwegenheit. Zur bekanntesten irischen Heldensage sollte die Erzählung eines solchen Viehdiebstahls werden, wie weiter unten zu lesen ist. Da die Rinderherden der Insel als wertvollstes Gut galten, boten sie sich als Beute an, deren Eroberung respektive Verteidigung dem Krieger Prestige einbrachte.

Unter der langen Heldengalerie Irlands, deren Krieger mit Namen wie Finn mac Cumaill und Cormac Conn Longas beeindruckten, ragt konkurrenzlos CúChulainn hervor, von dem bereits mehrere Episoden wiedergegeben wurden. Die Sagen verleihen ihm schon allein durch seine Herkunft eine besondere Rolle, weil seine Mutter aus einer königlichen Familie stammte und sein Vater jener Lug von den Tuatha Dé Danann war, der fast 2 000 Jahre vorher das Fomóri-Ungeheuer Balor getötet hatte. Diese Abstammung aus der Anderwelt trug zweifelsohne ihren Teil zu |203|CúChulainns ungewöhnlichen Fähigkeiten bei. Sein Name, der »Hund des Culann« bedeutet, verweist auf eines seiner Abenteuer, die er als Kind bestand. Einstmals besuchte König Conchobar mit seinem jungen Neffen, dem späteren CúChulainn, den Schmied Culann. Dieser besaß einen gefürchteten Kampfhund, den er von der Kette gelassen hatte, ohne zu ahnen, dass der Knabe im Hof spielte. Als König und Schmied voll Sorge hinauseilten, sahen sie, wie der kleine Junge mit dem Untier fertig geworden war: Er hatte ihm eine Silberkugel in den Rachen geschleudert, die seine Eingeweide durch das Hinterteil riss, und ihn anschließend gegen einen Stein geschlagen hatte, sodass nun die Überreste des Hundes in zwei Teilen herumlagen. Als der Schmied zu klagen begann, wer fortan seinen Hof schützen solle, erbot sich der Knabe, diese Aufgabe zu übernehmen, bis ein ebenso starker Wachhund wieder herangewachsen sei. Auf diese Weise wurde der junge Held zum »Hund des Culann«.

Wenn CúChulainn in Kampfwut geriet, verfiel er bereits als kleiner Junge in seine berüchtigte Wutverzerrung, eine Art von Raserei, bei der sich ihm |204|niemand in den Weg stellen durfte. Dann begann er an allen Gliedern zu zittern, seine Adern schwollen auf die Größe eines Kinderkopfes an und ein Auge versank im Kopf, während das andere übergroß heraustrat. Sein Mund verzerrte sich, und das Herz klopfte so laut wie das Bellen eines Kampfhundes. Auch als er schon dutzendfach Feinde getötet hatte, konnte sich der derart entfesselte Held nicht beruhigen und musste mehrmals abgekühlt werden.

Zu einem Helden dieses Kalibers gehörte ein früher und dramatischer Kampfestod. Deshalb verwehrte CúChulainn sich nicht der Schlacht, obwohl ihm üble Vorzeichen wie sein von der Wand fallendes Schwert und drei Hexen am Wegesrand das Ende ahnen ließen. Während des Kampfes gegen zahlreiche Feinde starben sein Wagenlenker und sein edelstes Pferd, bis den Helden selbst die Erfüllung einer Weissagung traf: Ein Speer zerriss ihm den Bauch und ließ seine Eingeweide hervortreten. Um aufrecht und bis zum letzten Atemzug kämpfen zu können, schleppte sich CúChulainn zu einem hohen Stein, an dem er sich mit seinem Gürtel festband und |205|schließlich starb. Wie es sich gehörte, schlugen ihm die Sieger den Kopf ab und nahmen ihn mit sich.

|202|Tiere – Pflanzen – Monster

Den Kelten wird eine besonders intensive Beziehung zur Natur nachgesagt, und ihre Druiden gelten als Weise, die mehr als andere mit den Geheimnissen ihrer Umwelt vertraut waren. Das moderne Keltenbild ist bewiesenermaßen von neuzeitlicher Romantik geprägt und hat sehr wenig mit der historischen Wirklichkeit zu tun.Trotzdem entwickelte sich die frühgeschichtliche Kultur in engster Umgebung ihrer Natur, der sie zahlreiche Motive entnommen hat und religiös verehrte. Gewiss zollte man der Fauna und Flora der unmittelbaren und wilden Nachbarschaft Respekt und sogar Anbetung. Die keltische Fantasie bediente sich vieler dieser Lebewesen, um sichVorstellungen von monströsen Ungeheuern zu schaffen. Die vielgestaltige Kunst der La Tène-Zeit stellte derartige Wesen dar und verschmolz damit Menschen, Tiere und Pflanzen.

Davon abgesehen, gab es offensichtlich erheblich mehrTierdarstellungen als solche von menschengestaltigen Wesen. Ihre Bedeutung zeigt sich in der Masse von Opfertieren aller Art, mit denen Gottheiten gnädig und günstig gestimmt werden sollten.Diese Götter und Göttinnen trugen häufig die Beinamen undAttribute der mit ihnen verbundenTiere, manchmal konnten sie sogar deren Gestalt annehmen. So schien den Kelten das Überwirkliche überall in der Natur anwesend zu sein und seinen besonderen Ausdruck in gewissen Tieren zu finden.

Dazu gehörte der Hirsch, der damals wie heute als stolzes Wildtier angesehen wurde, das es mit Ehrfurcht zu bejagen galt.Er schien eng verbunden mit dem Gott Cernunnos zu sein, der sich durch ein Hirschgeweih auszeichnete. Diesen »Behornten« stellte man häufig dar, was für seine Bedeutung spricht.Wahrscheinlich galt er als ein Herr der Tiere, dessen Macht bei der Jagd und bei der rituellen Versöhnung |203|mit dem erlegten Tier besonders zu beachten war. Oft hält er ein typisch keltisches Mischwesen in der Hand, eine so genannte Widderkopfschlange, die vermutlich die dunklen Mächte des Erdreichs symbolisierte. Mit ihrer Begleitung erweist sich Cernunnos als naturnahe und erdverbundene Gottheit.

Der Bär war zur Zeit der Kelten in Mitteleuropa ein anderes Jagdwild, das man aber bei weitem nicht so intensiv wie den Hirsch religiös verehrte.Gleichwohl galt er als Tier zweier Göttinnen, die mit ihm dargestellt wurden: Artio und Andarta (»die einen Bären in sich hat«). Aber das mächtige Raubtier wurde natürlich gefürchtet. Seine Stärke und Tapferkeit dienten dem Krieger alsVorbild, und in Irland bezeichnete man einen beherzten Kämpfer als Bären.

Ähnliches erzählten sich die Kelten von den angriffslustigen Wildschweinen, derenWut ebenso vorbildlich war. Dies belegen die häufigen Eberdarstellungen als Figuren, auf Münzen, Helmzieren und vielem anderen. Der Ardennengöttin Arduenna diente der Eber sogar als Reittier. Überhaupt spielten Schweine in der keltischen Kultur eine gewichtige Rolle, stellten sie doch nach dem Rind die verbreitetste Haustierart, deren Überreste immerhin als Grabbeigaben gefunden wurden.

Das eindrucksvollste Zeugnis für das Ansehen des Stiers kommt aus Irland: In der mittelalterlichen Heldenerzählung des Rinderraubs von Cuailnge symbolisieren der mächtige Donn und der gewaltige Findbennach die Provinzen Ulster und Connacht. Für die irische Stammesgesellschaft drückte sich Macht und Reichtum nicht zuletzt in solchenTieren und der Größe der Rinderherden aus.Dass der Stier auch unter den Festlandkelten einen wichtigen Ruf genoss, zeigt eine Fülle von Darstellungen.

Das Pferd genoss hohes Ansehen, stand es doch als Reit- und Zugtier der |204|späteren Streitwagen in engster Beziehung zur keltischen Kriegerkaste. Ihre Angehörigen scheinen sich deshalb ausdrücklich der Pferdezucht gewidmet zu haben, um die prächtigstenTiere ihr Eigen nennen zu können. Folgerichtig dienten Pferde auch als häufige Opfertiere und wurden manchmal sogar mit ihren Herren bestattet. In gallo-römischer Zeit sorgte die Pferdegöttin Epona für die Popularität dieser Tiere. Mit ihr symbolisierten sie nicht mehr das keltische Kriegertum, sondern Überfluss und Wohlergehen.

Neben den Pferden erfreuten sich noch andere Tiere der keltischen Verehrung. Dazu gehörten die Hunde, die sowohl als Attribut der Fruchtbarkeit schenkenden Muttergottheiten galten, als auch den Kriegern verbunden waren. Magische Bedeutung sprach man offensichtlich zahlreichenVögeln zu, so dem Kranich, der Gans, dem Schwan und anderenWasservögeln.Krähen und Raben galten als Tiere des Todes.

Im südfranzösischen Noves bei Marseille fand man die Figur der »Meereskatze« (mutmaßlich aus dem 1. Jahrhundert vor Chr.), deren aufgerichteter Phallus auf große Fruchtbarkeit verweist.

Aus der Tierwelt entnahmen die Kelten die Bestandteile für ihre Dämonen und Ungeheuer, die sich als fantastische Mischwesen in der Ornamentik der La Tène-Kunst zeigen. Erschreckenden Monsterwesen widmete man sogar große  |205|Plastiken, wie sie sich am eindrucksvollsten in der südfranzösischen Darstellung der »Tarasque« von Noves findet.Sie zeigt ein löwenartiges Untier mit Zügen eines Reptils, das seine Vorderpranken auf zwei abgeschlagene Menschenköpfe stützt, während aus seinem aufgerissenen Rachen ein menschlicher Arm hervorragt. Welche Bedeutung dieses Schreckwesen hatte, ist ungewiss.

Die viele Jahrhunderte später entstandenen irischen Erzählungen nehmen es mit ihren Monstern jedenfalls mit der Tarasque auf. Darin greifen die Fomóri als urzeitliche Wesen die Einwanderer der grünen Insel an und schrecken sie mit ihrem furchtbaren Aussehen. RiesigeWesen sind sie in unvollständiger menschlicher Gestalt. Außer ihnen bevölkern zahlreiche Ungeheuer die Sagenwelt der Inselkelten: Werwölfe und Wolfskrieger, dämonische Katzen und Rieseneber, Seeungeheuer und Gespenster in allerlei Gestalt. Schier unübersehbar ist außerdem die Zahl der Erscheinungen, die die Grenzen der natürlichen Welt aufheben: Wesen mischen sich, können ihre Gestalt wechseln, Tiere haben übernatürliche Fähigkeiten oder entpuppen sich als verzauberte Menschen. Im Reich des Schreckens schienen der keltischenVorstellungskraft keine Grenzen gesetzt zu sein.

Friedvoller erwies sich die Pflanzenwelt, aus der bekanntlich besonders die Mistel dieVerehrung der Druiden genoss. Außerdem kam den Bäumen in der keltischen Kultur und Religion eine bedeutende Rolle zu. In ihren Wäldern und heiligen Hainen rief man die überirdischen Mächte an oder betete den Baum sogar selbst als Gott an – so die ausdrücklich verehrte Eiche unter dem Namen Robur. Ebenso kannte man in Irland heilige Bäume, die mit dem Wohl einzelner Stämme verbunden wurden und auf keinen Fall verletzt oder schlimmstenfalls gefällt werden durften.

|205|CúChulainn und der große Rinderraub

Seine bedeutendste Rolle fiel dem heldenhaften CúChulainn in der langen Erzählung Der Rinderraub von Cuailnge zu, die als bekannteste irische Heldensage gilt. Ihr Thema sind die Rivalitäten der beiden Königreiche von Ulster und Connacht, die im Wettstreit der berühmtesten Stiere beider Provinzen gipfeln. Das Geschehen beginnt mit einem Streit am Königshof von Connacht, den König Ailill und seine Gemahlin Medh miteinander austragen. Jeder will den anderen an Reichtum und Macht übertreffen, weshalb die Königin danach trachtet, den herrlichsten Stier Irlands zu gewinnen: den Donn, den »Braunen«, von Cuailnge (Cooley) an der Ostküste. |206|Fünfzig junge Kühe pflegt er jeden Tag zu bespringen, die schon am nächsten Morgen Kälber werfen. Fünfzig Knaben können auf seinem Rücken spielen, und hundert Kriegern bietet er unter sich Schutz vor Kälte und Hitze. Jeden Mittag und Abend lässt er sein melodisches Gebrüll ertönen, das man weithin vernimmt. Allerdings gehört dieses Wundertier zum Gebiet des Königs Conchobar von Ulster, der nie und nimmer darauf verzichten wird.

Also ruft Medh ein großes Heer zusammen und geht auf Kriegszug gegen Ulster. Indessen liegt das angegriffene Reich schutzlos vor den Feinden, weil sich seine Krieger in einem Schwächezustand befinden, der sie periodisch überkommt und auf einen Fluch zurückzuführen ist. In dieser Situation schlägt die Stunde des Knaben CúChulainn, der als Einziger bei Kräften ist und sich den Kriegerscharen aus Connacht entgegenstellt. Zuvor gibt er ihnen ein unübersehbares Zeichen dafür, dass sie nicht ungeschoren in Ulster einmarschieren können. Der Knabe mit den ungewöhnlichen Kräften hat einen Baum geschlagen und ihn zu einer Gabel mit vier Zinken zurechtgehauen. Dabei überraschen ihn zwei junge Connachter Krieger mit ihren Wagenlenkern, die ihren vermeintlich ersten erbeuteten Kopf vor sich sehen. Aber CúChulainn vereitelt ihre Pläne und es ist an ihm, den vier Feinden die Köpfe abzuschlagen. Anschließend spießt er jeden auf eine der vier Gabelzinken, die inmitten einer Furt von seiner Tat künden. Die Pferde und Streitwagen der Erschlagenen lässt er mit deren blutigen Überresten zum Heer der Feinde zurückfahren.

Im Folgenden führt der einsame Kämpfer Ulsters einen verwegenen Streit gegen das große Feindesheer, in dem er sogar Königin Medh bedroht. Immerhin macht er seine Drohung war, einen Stein in ihre Nähe zu schleudern: Mit zwei Würfen trifft er sowohl den zahmen Vogel als auch das Frettchen, die auf ihrer Schulter sitzen. Obwohl der junge Held viele Krieger aus Connacht tötet, kann er den Raub des prächtigen Stieres Donn nicht verhindern. Aber er kämpft weiter, kann jedoch seine Erschöpfung und Schwäche kaum noch verbergen. Da erhält er die Hilfe des Sídvolkes: Ein junger Elfenkrieger kommt geradewegs durch das feindliche Heer zu ihm – wie von Zauberhand ungesehen und unbehindert von den Connachtern. Er ist ein großer schöner Mann mit blond gelocktem Haar, dessen grüner Mantel von einer Silbernadel geschmückt wird. Sein schwarzer Schild ist mit weißer Bronze beschlagen, und in der Hand hält er einen Spieß. Der Krieger aus der Anderwelt lässt CúChulainn drei Tage und drei Nächte schlafen, währenddessen er für ihn wacht und seine Wunden mit elfischen Heilkräutern und Zaubersprüchen heilt.

Danach setzt »der Hund des Culann« über Hunderte von Seiten der Heldenerzählung seinen Kampf fort, bis endlich König Conchobar mit seinem Ulster-Heer erwacht. Die Entführung des Stieres können sie nicht |207|mehr verhindern, aber sie setzen den Feinden nach und schlagen sie in einer gewaltigen Schlacht, in der sogar die Kriegsdämonin Morrígain in das Geschehen eingreift. Unterdessen kommt der umkämpfte Donn nach Connacht, wo er auf dessen Stier Findbennach, »den weißen Gehörnten«, stößt. Zwischen den beiden Tieren kommt es zu einem mythisch anmutenden Kampf: Beide sehen einander, scharren wütend mit den Hufen und werfen Erde über sich. Sie schleudern diese über die Schultern, ihre Augen glühen wie feurige Kugeln. Dazu blähen sich ihre Backen und Nüstern wie Blasebälge. Krachend stoßen sie aufeinander und versuchen sich gegenseitig zu durchbohren, niederzustoßen und zu vernichten. Die ganze Nacht kämpfen die Stiere erbittert, wobei sie durch Irland jagen und in der Dunkelheit ihr Kampfgetöse vernehmen lassen. Letztendlich trägt der Donn den Sieg davon, indem er den Gegner mit seinen Hörnern durchbohrt. Danach erliegt auch er dem furchtbaren Kampf und stirbt an gebrochenem Herzen – womit die Erzählung des Rinderraubes von Cuailnge endet.

In der irischen und walisischen Dichtung des Mittelalters finden sich keine konkreten Wiedergaben historischer Ereignisse – soweit man davon noch etwas wissen kann. Dennoch führen die Sagen von den Dämonen und Göttern, von der Anderwelt sowie von den Königen und Helden in eine ferne Vergangenheit zurück, deren Spuren sich hinter den fantastischen Erzählungen verbergen. So enthalten die Einwanderungsmythen anscheinend Erinnerungen an reale geschichtliche Migrationen, deren letzte tatsächlich greifbar ist. Denn mit ihr setzten sich die Kelten respektive ihre kulturellen Einflüsse endgültig in Irland durch. Damit verbreitete sich bekanntermaßen das Eisen als Waffen- und Gebrauchsmetall. Hinsichtlich dessen mag es mehr als ein Zufall sein, dass die im Mythos in die Unterwelt vertriebenen Tuatha Dé Danann Eisen verabscheuen!

Unter den Namen vieler Sagengestalten geben sich zudem alte keltische Gottheiten zu erkennen, wofür an dieser Stelle die Connacht-Königin Medh ein Beispiel bieten soll: Sie hält man für eine Nachfahrin der Muttergottheiten, die in der Matronenverehrung des römischen Rheinlandes einen Niederschlag fanden. Das häufige Auftreten bestimmter Tiere wie Eber, Hirsch oder Stier erinnert zudem offensichtlich an deren traditionelle Verehrung, die viele Darstellungen auf archäologischen Funden belegen. Dass darüber hinaus die irischen Heldengestalten in der Tradition keltischer Kriegerideale stehen, wurde schon an mehreren Stellen verdeutlicht.

Folglich greifen die gelehrten mittelalterlichen Erzählungen der Inselkelten bei aller fantasiereichen Ausgestaltung ihrer eigenen Zeit auf alte Mythen zurück, deren Figuren und Motive sie auf diese Weise dem keltischen Erbe erhalten.

|208|Elfen, Kobolde und Zaubernebel: Sagen und Märchen der keltischen Völker

Allerdings schrieben nicht nur gelehrte Geistliche und berufsmäßige Dichter die zahlreichen Sagenerzählungen nieder. Diese erfreuten sich genauso wie die Geschichten um König Arthur unter den Inselkelten großer Beliebtheit und wurden schließlich sogar Bestandteile in deren mündlich erzählten Sagen und Märchen. Deshalb lauschten die Menschen auf der grünen Insel ebenso wie auf den mit ihr verwandten Hebriden und in den schottischen Highlands nur zu gern ihren Geschichtenerzählern, die ein wenig Freude und Abwechslung in das ansonsten karge Leben der Fischer und Bauern brachten. Besondere Spannung herrschte in den Hütten und Häusern, wenn eine Geschichte anhob von den Abenteuern des Finn mac Cumaill, eines alten irischen Kämpfers. Er war der Anführer einer verschworenen Kriegerschar, die in Friedenszeiten der Jagd nachging und im Kriegsfall für ihren König kämpfte. Finn galt gemeinsam mit seinem Sohn Oisín und dem Enkel Oscar als der populärste Held der Schotten und Iren, der zahlreiche Kämpfe gegen menschliche Feinde, Riesen und Ungeheuer zu bestehen hatte.

Neben den Heldengeschichten gehörten vor allem die Märchen über das Volk der Anderwelt zu dem Erzählgut, das als typisch keltisch angesehen wurde. Das schottische Märchen über den Mann vom Elfenhügel greift dabei das alte Thema auf, wie gefährlich der Besuch in einem Síd sein kann: Als ein Mann aus einem grünen Hügel die herrlichste Musik erklingen hörte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen und ging ihr nach. Er entdeckte einen großen Stein, wälzte ihn weg und vor ihm lag eine prächtige Treppe, die er hinabstieg, bis er in eine große Halle kam. Dort herrschte ein buntes Treiben mit vielen Leuten, und von dort kam auch die Musik. Man spielte auf Flöten, Fiedeln, vielerlei Harfen und überhaupt auf allen Instrumenten, die es je auf Erden gegeben hatte. Der Besucher erblickte einen kleinen alten Mann mit einem langen wallenden Bart, der ihn einlud, Platz zu nehmen. Unverzüglich wurden ihm die besten Speisen serviert.

Nach einer Weile gab man ihm zu verstehen, es sei nun an der Zeit, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Am Ende der Treppe solle er den Stein an seinen alten Platz setzen. Der Mann tat so und ging nach Hause. Aber dort gab es nichts mehr als verfallene Mauern und wüstes Land mit Unkraut. Daran erkannte er, dass er in einen Elfenhügel geraten war und dass mittlerweile in der Menschenwelt eine lange Zeit verstrichen war. Er unterhielt sich mit einem alten Mann und erzählte ihm, erst gestern Abend sei er in einen Elfenhügel geraten und nun erkenne er nichts mehr wieder. Der Alte antwortete: »So seid Ihr wohl der Mann, von dem mein Großvater |209|immer erzählt hat, er wäre zum Strand hinuntergegangen und nie wieder gesehen worden.« Da fühlte der Mann sein Lebenskräfte schwinden und bat um einen Priester. Als der ihm die letzte Ölung gegeben hatte, fiel er tot zu Boden.

Die so genannten kleinen Leute der Elfenhügel wurden auch außerhalb der Märchen durchaus ernst genommen und traten in vielerlei Gestalt auf. Dabei war jedoch wenig von den stolzen Gestalten der Tuatha Dé Danann übrig geblieben. Zwar zierte die Elfen noch langes blondes Haar, trugen sie grüne Kleider und konnten plötzlich verschwinden und erscheinen – jedoch waren sie gewissermaßen geschrumpft und zu winzigen Geistern geworden. Trotzdem galt der Umgang mit ihnen als problematisch, weil sie zum einen den Menschen wohl gesonnen waren und ihnen allerlei Hilfe zuteil werden ließen – etwa bei Krankheiten. Zum anderen konnten sie ebenso schweren Schaden zufügen, indem sie etwa ein Menschenkind durch einen Wechselbalg austauschten, der sich zunehmend als hässliches und bösartiges Wesen entpuppte.

Im Gefolge der Elfen fand sich eine Vielzahl böser und freundlicher Geister, wie etwa der zu den Letzteren zählende schottische Brownie. Dieser kleine pelzige Hausgeist verrichtete Hofarbeiten wie das mühsame Korndreschen und braute sogar Bier. Dafür wollte er aber auch belohnt werden, was er in Form von Käse und Milch gern annahm. Überhaupt gehörte es sich während der Ernte, die letzten Früchte als »Früchte für die Elfen« zurückzulassen. Die bösen Geister umfassten übel gesinnte Kobolde, Hexen, die sich in Gestalt riesiger Katzen zeigten, und Verhängnisvolles verheißende weiße Frauen. Sie alle benutzten mit den Geistern der Verstorbenen die Halloween-Nacht vor Allerheiligen, um in der Menschenwelt Angst und Schrecken zu verbreiten. Aber über die Heimat der guten wie der bösen überirdischen Erscheinungen senkte sich häufig ein märchenhafter Zaubernebel, der den Zugang zum Land der Wunder ermöglichte und zu einem wichtigen Attribut der keltischen Fantasiewelten wurde.

In welcherlei Erscheinungsformen man sich die Wesen der Anderwelt dachte, zeigt unter anderem das walisische Märchen vom Zusammentreffen Einions mit der Frau vom Grünen Wald: Einion streifte eines Tages durch die Wälder, als er auf einmal einer schönen Frau begegnete. Deren Haut übertraf an Schönheit das Weiß des Schnees auf den hohen Bergen und das Rot der Morgendämmerung. Wie er sie so sah, überfiel ihn große Liebe. Sie erwiderte seinen Gruß sehr freundlich und beide sprachen höflich miteinander. In seiner Verliebtheit nahm er nicht wahr, dass sie statt Füßen Hufe hatte. Denn die Dame vom Grünen Wald war in Wahrheit ein Goblin, eine Art Kobold, und hatte Einion verzaubert: Er musste ihr von nun an überall hin folgen, und sie begleitete ihn unter die Menschen, ohne dass sie von anderen gesehen wurde.

|210|Nachdem er lange unter dem Zauberbann gestanden hatte, traf er eines Tages einen Mann in einem weißen Gewand, der auf einem schneeweißen Pferd ritt. Mit einem Stab half er Einion, die Sinnestäuschung des Goblin zu durchschauen. Als dieser die wahre Gestalt der Dame vom Grünen Wald erkannte, schrie er vor Schreck auf. In Wirklichkeit war sie ein abstoßendes Wesen, widerlicher als die schrecklichsten Dinge der Welt. Allerdings konnte das Ungetüm jegliche Gestalt annehmen. So trat es als mächtiger Edelmann bei Einions verlassener Frau auf und machte sie glauben, dass ihr Mann schon lange tot sei. Dann bewirkte es einen Liebeszauber und bereitete die Hochzeit vor. Erst Einion konnte die Verzauberung seiner Frau mithilfe des magisches Stabes brechen, den ihm der Mann in Weiß überlassen hatte. Außerdem war er der Einzige, der die herrliche Harfe, die seine Halle zierte, zu stimmen vermochte. So wurde aus der Hochzeitsfeier ein großes Fest über die Befreiung vom Bann des Goblin.

Die irischen Elfen und die Brüder Grimm

Die Elfen und die bunte Schar inselkeltischer Geister und Helden waren schon länger auf dem Kontinent bekannt und populär – worauf das folgende Kapitel eingeht –, als die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, Märchensammler und Gründungsväter der germanistischen Wissenschaft, 1825 das Buch Irische Elfenmärchen veröffentlichten. Sie hatten ihrerseits die Fairy Legends des irischen Gelehrten Thomas C. Crocker kennen gelernt und waren von der Fantasie des irischen Volksglaubens so begeistert, dass sie das Werk ins Deutsche übertrugen. Sie sorgten damit für eine weite Verbreitung der Elfenvorstellungen, und beide Bücher gaben deren Bilder wieder, wie sie noch heute in England, Deutschland und anderen Ländern bestimmend sind.

Die Grimms machen recht genaue Angaben über das Aussehen der Elfen: Sie seien nur wenige Zoll hoch, hätten fast durchsichtige Körper von einer wunderbaren Schönheit und seien so leicht, dass ihr Gewicht keinen Tautropfen auseinander laufen lasse. Außerdem trügen sie schneeweiße und silberglänzende Kleidung, wozu sie gern die Blütenglocken des Fingerhuts aufsetzten. Immer seien sie in großen Gesellschaften anzutreffen, aber gleichwohl den Menschen unsichtbar. Deshalb sei stets Vorsicht geboten, wenn man über sie spreche. Nur der darum Wissende nehme sie wahr: »Sieht man auf der Landstraße große Wirbel von Staub aufsteigen, so weiß man, dass sie im Begriffe sind, ihre Wohnsitze zu verändern und nach einem andern Ort zu ziehen, und man unterlässt nicht, die unsichtbaren Reisenden durch ehrfurchtsvolles Neigen zu grüßen.«

|211|Diese Wohnsitze fänden sich in Steinklüften, Felsenhöhlen und alten Riesenhügeln, wie die Brüder Grimm die Hügelgräber bezeichnen: »Innen ist alles aufs Glänzendste und Prächtigste eingerichtet, und die liebliche Musik, die zuweilen nächtlich daraus hervordringt, und noch jeden entzückt, der so glücklich gewesen ist, sie zu hören.« In den Sommernächten der Erntezeit versammelten sich die Elfen zum Mondschein allerdings auch außerhalb ihrer Behausungen und tanzten an heimlichen Orten wie Bergtälern, Flussufern und Kirchhöfen. Dort ruhten sie dann gern unter großen Pilzen aus.

Ihre Zaubermacht sei schier unbegrenzt. Sie könnten jede Gestalt annehmen, selbst die Schrecken einflößendste, und in Windeseile große Entfernungen überbrücken. Darum solle sich ein Mensch nicht von der Freundlichkeit und Grazilität ihres Wesens täuschen lassen: »Sie lassen sich auch wohl in menschlicher Gestalt sehen oder jemand, der nachts zufällig unter sie geraten ist, teil an ihren Tänzen nehmen; aber etwas Gefährliches liegt allzeit in dieser Berührung: Der Mensch erkrankt danach und fällt von der unnatürlichen Anstrengung, da sie ihm etwas von ihren Kräften zu verleihen scheinen, in ein heftiges Fieber. Vergisst er sich und küsst der Sitte gemäß seine Tänzerin, so schwindet in dem Augenblick, wo seine Lippen sie berühren, die ganze Erscheinung.«

Andererseits hätten manche Familien ihre eigenen Elfen, denen sie ergeben seien und dafür deren Hilfe erhielten, etwa bei Krankheiten und in Lebensgefahr. Nach dem Tod fielen die Menschen den Elfen zu und träten in deren Welt ein.

Die Elfen hätten eine lichte, gute und eine dunkle, böse Seite. Diese treibe sie zu heimtückischen und Verderben bringenden Streichen gegen die Menschen. Denn ihre Schönheit und die Pracht ihrer Wohnungen seien nur ein falscher Schein. Ihre wahre Gestalt zeige sich dagegen in abschreckender Hässlichkeit. Erblicke man sie einmal am helllichten Tag, so offenbarten sie ihr altersrunzliges Gesicht, das an einen welken Blumenkohl erinnere.

Wie übel sie einem Menschen mitspielen können, der sie nicht ernst nimmt, zeigt das folgende Elfenmärchen aus der Sammlung der Brüder Grimm: Es handelt von Caroll O’Daly, einem jungen Burschen aus der Provinz Connaught, der sich durch seine Stärke und sein prahlerisches Wesen auszeichnete. Niemals zeigte er Furcht und traute sich gar des Nachts auf einen verfallenen Kirchhof oder einen anderen Platz, wo die Elfen angeblich tanzten. Eines Tages traf er bei einbrechender Nacht in der Grafschaft Limerick am Fuße des Berges Knockfierna einen Mann auf einem weißen Pferd. Der vertraute ihm an, er reite auf die Bergspitze wegen des stillen Volkes, den Elfen also. Damit verabschiedete er sich. Doch der junge O’Daly vermutete anderes hinter diesem seltsamen nächtlichen |212|Ausritt, denn an die Elfen wollte er nicht so recht glauben und Angst vor ihnen hatte er schon gar nicht.

Darum schlich er dem Reiter heimlich hinterher und erreichte nach einem mühsamen Aufstieg einen grünen Rasen auf der Spitze des Berges. Dort fand er nur das weiße Pferd, das neben einer schwarzen Öffnung friedlich graste. Der Bursche packte einen schweren Stein und warf ihn hinein – um an der Haustüre zu klopfen und zu sehen, ob die Geister daheim seien, wie er sich sagte. Als er ihm in den Schacht nachschaute, kam der Stein mit ungeheurer Wucht zurückgeschossen und traf ihn mit solcher Gewalt im Gesicht, dass er Hals über Kopf den ganzen Abhang hinabrollte: »Am folgenden Morgen fand man Caroll O’Daly neben seinem Pferd liegend, seine Haut war geschunden und zerrissen, die Augen geschlossen, und die eingedrückte Nase entstellte ihn auf sein Lebtag.«

Somit erweist sich auch die biedermeierlich-possierliche Gestalt der Elfen als äußerst trügerisch. Nichtsdestotrotz bietet sie heutzutage das weit verbreitetste Bild jener überirdischen Geschöpfe der inselkeltischen Fantasie, deren Gestalten mannigfaltige Formen annehmen konnten. Aber in Irland blieb der ursprüngliche Elfenglaube zu Hause, und mit den Millionen irischer Auswanderer kam er sogar nach Nordamerika und in andere Teile der Welt – wofür Halloween das bezeichnendste Beispiel bietet. Die geistige Welt der Inselkelten erschloss ihren Geschöpfen sogar neue Gebiete und ließ sie nach Amerika fahren. Darüber erzählte man sich Märchen wie das von Seán Palmer, der mit den Elfen respektive Feen über den Atlantik reiste:

Er vermisste nämlich eines Abends seinen geliebten Tabak so sehr, dass ihm das Abendessen gleichgültig wurde. Gegen die Einwände seiner Frau machte er sich auf den Weg ins nächste Dorf, um sich dort Tabak zu kaufen. Und so ging er nur mit Jacke und Hose bekleidet los. Auf der Straße begegnete er zwei unbekannten Männern, die nicht nur seinen Namen kannten, sondern auch wussten, dass er Tabak holen wollte. Sie verwiesen ihn auf ein kleines Boot unten am Kai, in dem zwei Männer ihm sicherlich etwas geben könnten. Seán ging zu ihnen und fragte höflich nach Tabak, der ihm freundlich gewährt wurde. Er solle nur an Bord kommen und sich schon eine Pfeife stopfen. Bald saß er so zufrieden in seinem Tabakqualm, dass er kaum wahrnahm, wie die beiden anderen Männer von der Straße ins Boot stiegen und wie die Segel gehisst wurden.

Während das Boot nur so übers Wasser schoss, sprachen weder die vier Männer noch Seán ein Wort. Wenig Zeit war verstrichen, als sie Lichter erblickten. Als sich der Gast an Bord fragte, zu welchem Ort sie gehörten, antwortete einer der Männer, sie hielten auf den Kai von New York zu und würden gleich anlegen. In seiner ärmlichen Kleidung ging Seán verwirrt an Land. Zwei der Männer aus dem Boot nahmen sich seiner an und begleiteten |213|ihn durch die riesige Stadt. Sie rieten ihm, Verwandte und alte Freunde zu besuchen, die nach Amerika ausgewandert waren. Alle freuten sich über den unerwarteten Besucher aus der Heimat, und Seán kehrte schließlich reich beschenkt zu dem kleinen Boot zurück: Er trug einen feinen Anzug, hatte etliche Dollarscheine in der Tasche und nannte nun ein ganzes Tabakkistchen sein Eigen.

Seine vier Begleiter hatten es sehr eilig, liefe doch, wie sie meinten, ihre Zeit ab und man müsse alle Segel setzen. Schnell schoss das Boot aufs Meer hinaus und schon bald erkannte man die heimatlichen Lichter Irlands. Als Seán ausgestiegen war, drehte er sich um und wollte sich bei den Männern bedanken. Doch weit und breit konnte er kein Boot mehr sehen, das wie vom Meer verschlungen schien. Als er nach Hause ging, hörte er die Hähne krähen. Und in der Tat war in der Zwischenzeit lediglich die Nacht vergangen, sodass seine Frau vermutet hatte, er habe im Dorf noch Karten gespielt.

Trotz der vielen Geschenke wollte sie seinem Bericht von der Reise nach New York lange nicht glauben. Erst als Briefe der Verwandten in Amerika Seáns Besuch bestätigten, wurde allen klar, dass er nur durch die Hilfe der Feen diese fantastische Reise unternommen haben konnte.