|226|10. Die Kelten allerorts – Teil der modernen Welt

Die antiimperialistische Rede eines schottischen Häuptlings

Seit zweieinhalb Jahrtausenden bieten die Kelten mit ihren hundertfachen Stammesnamen eine Projektionsfläche, derer man sich bedient, um die eigenen Hoffnungen, Ängste und Vorstellungen auszudrücken. Von den Furcht einflößenden Barbaren der Antike bis zu den edlen Kriegern des vermeintlichen Barden Ossian reichte die Palette der Keltenbilder und war damit beileibe nicht ausgeschöpft. Um einen weiteren Aspekt zu veranschaulichen, sei noch einmal auf die Berichte des römischen Geschichtsschreibers Tacitus zurückgegriffen. In seinem Werk über den britannischen Statthalter Julius Agricola findet sich die Schilderung der oben erwähnten Schlacht im Norden Schottlands. Dort kam es im Jahr 84 nach Chr. zum Aufeinandertreffen zwischen den vorrückenden römischen Truppen und den Verbänden der Kaledonier, die als wildeste Stämme jener fernen Keltenwelt galten. Vor dem Beginn des Kampfes lässt Tacitus einen ihrer Häuptlinge mit Namen Calgacus hervortreten und eine Rede an seine Krieger halten:

Er macht ihnen die entscheidende Bedeutung der anstehenden Schlacht klar, in der es um nicht mehr oder weniger als die Freiheit ganz Britanniens gehe. »Denn ihr alle seid hier zusammengekommen, ungeknechtet, hinter uns endet das Land und selbst das Meer bietet keine Sicherheit, weil uns dort die römische Flotte droht … Uns hier am Rand der Erde, uns letzte Söhne der Freiheit, hat gerade unsere Entlegenheit und Verborgenheit vor der Welt bis zum heutigen Tag verteidigt – und alles Unbekannte gilt für großartig. Doch jetzt liegt die Grenzmark Britanniens offen – kein Volk weiter ist mehr hinter uns, nichts als Wogen und Felsen und noch feindlicher die Römer; und ihrem Frevelmut sucht man vergeblich durch Fügsamkeit und Bescheidung zu entrinnen.«

Dann holt der Kaledonier zu einer mächtigen und eindringlichen Anklage dessen aus, was man mit modernen Worten als römischen Imperialismus bezeichnen kann: »Als Räuber der Welt durchspüren sie jetzt auch das Meer, nachdem diesen alles Verwüstenden die Länder ausgingen – habgierig, wenn der Feind reich, ruhmsüchtig, wenn er arm ist. Weder der |227|Osten noch der Westen hat sie gesättigt, und als einziges von allen Völkern begehren sie Fülle wie Leere mit gleicher Leidenschaft. Stehlen, Morden, Rauben nennen sie mit falscher Bezeichnung Herrschaft, und wo sie Einöde schaffen, heißen sie das Frieden. Dass einem jeden seine Kinder und Verwandten das Liebste sind, hat die Natur gewollt; aber gerade sie werden als Sklaven außer Landes verschleppt. Unsere Ehefrauen und Schwestern werden, wenn sie der Gier des Feindes entkamen, unter dem Namen der Freundschaft und des Gastrechts geschändet. Güter und Vermögen werden zum Tribut, des Ackers jährlicher Ertrag zur Fruchtabgabe, die Leiber selbst und Hände unter Schlägen und Schimpf dazu verbraucht, Wälder und Sümpfe gangbar zu machen.«

Darum verheißt Calgacus den Stämmen Schottlands im Falle einer Niederlage ein trauriges Schicksal. Denn wie beim Gesinde der neueste Sklave den Mitsklaven zum Gespött diene, so würden in diesem alten Sklavenhaufen Weltkreis sie als die Jungen und Wohlfeilen bis zur Vernichtung heimgesucht. Sie nämlich hätten keine Felder oder Bergwerke oder Häfen, die zu betreiben man sie erhalten müsse. Weiterhin seien Tapferkeit und Wildheit von Unterworfenen den Herrschenden unlieb und gerade Ferne und Abgeschiedenheit umso verdächtiger, je mehr sie Schutz böten. Aber den Römern brächten die Uneinigkeit und Zwietracht der Kaledonier und sämtlicher Britannier ihren Siegesvorteil, denn sie wandelten die Fehler ihrer Feinde um in den Ruhm für ihr Heer. Sobald dieses jedoch auf Widrigkeiten stoße, werde es sich auflösen, weil es aus den verschiedensten Völkern zusammengetrieben wurde.

Deshalb endet die Rede mit einem eindringlichen Aufruf, hier und jetzt die Römer zu besiegen und aus ganz Britannien zu vertreiben – und vielleicht ihrem selbstherrlichen Imperium ein Ende zu bereiten: »Es schrecke euch nicht der eitle Anblick und das Blitzen von Gold und Silber, das weder schützt noch verwundet. In der feindlichen Schlachtreihe werden wir unsere Verstärkungen finden: Erkennen werden die Britannier ihre eigene Sache, erinnern werden sich die Gallier ihrer früheren Freiheit, im Stich lassen werden die Germanen sie … Hier ist ein Führer und ein Heer – dort Auflagen und Bergwerksfron und andere Sklavenplagen; ob wir diese ewig tragen oder sofort ahnden, darüber wird auf diesem Feld entschieden! Zieht also nun in die Schlacht und gedenkt eurer Ahnen und Nachfahren.«

Obwohl Calgacus’ Appell nicht die erwünschten Früchte trug und die Römer gemäß Tacitus das Treffen in den Highlands für sich entschieden, blieb den besiegten Kaledoniern doch das vorausgesagte Los erspart. Die überlebenden Kämpfer zogen sich zu ihren Stämmen zurück und verschwanden mit ihnen in der kalten Unwirtlichkeit des Nordens.

Die bewegende Ansprache des keltischen Häuptlings gilt heutzutage als eine ausdrückliche Anklage des römischen Eroberungsstrebens. Aber man |228|lasse sich nicht täuschen – ohne Zweifel stammt der überlieferte Wortlaut dieser Rede nicht von Calgacus, sondern von Tacitus selbst. Der gebildete Gelehrte und Politiker beherrschte die rhetorischen und literarischen Stilmittel seiner Zeit. Dazu gehörte die fiktive Rede, derer man sich auch in einem historischen Werk bediente. Da der Römer sich zu einer gewissen Glaubwürdigkeit verpflichtet fühlte, schrieb er das, was einem von der Unterwerfung bedrohten Barbaren an Gedanken zuzutrauen war. Tacitus übte mitnichten grundsätzliche Kritik am römischen Herrschaftsanspruch – allenfalls an politischen Entscheidungen oder seiner zeitgenössischen Gesellschaft. Was davon blieb, ist eine nicht unzeitgemäß wirkende Kritik am Imperialismus.

Der Römer fand mit seiner fiktiven Anklage eines Kelten fast zweitausend Jahre später eine Vielzahl von Nachfolgern. Im Zeitalter des Kolonialismus wurde es seit dem 18. Jahrhundert geradezu modern, mit den einem Exoten unterstellten Worten Kritik an der europäischen Gesellschaft zu üben – sei es hinter der Maske eines Indianers, Chinesen oder Südseeinsulaners. Mittlerweile sind an deren Stelle oftmals die frühgeschichtlichen Kelten getreten.

Das Kelten-Spiel

Diese erleben seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen regelrechten Boom, der Züge einer Keltomanie angenommen hat, einer Begeisterung, die an den Ossian-Kult erinnert und doch weit darüber hinaus geht. Überall in Europa finden Menschen aller Gesellschaftsschichten Interesse an jenem Volk, das es als Vorfahren zu entdecken gilt. Dies wird insbesondere von den Funden und Forschungsergebnissen der Archäologen gefördert, die immer wieder neue Seiten der mehr als 2 000 Jahre alten Kultur ans Tageslicht bringen. In Frankreich, Deutschland und vielen anderen Ländern stieß man auf Gräber, Tempel und monumentale Anlagen, die zu Recht als sensationell und rätselhaft bezeichnet werden. Man denke nur an die Funde von Hochdorf, Glauberg und in Nordostfrankreich, die gleichsam die Spitze einer unterirdischen Keltenwelt zu bilden scheinen, denn Jahr für Jahr kommen überraschende Entdeckungen hinzu.

Vieles davon wird in spektakulären Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert und findet nicht selten eine Heimstatt in neu errichteten Museumsbauten. Zudem verbinden sich mit derartigen archäologischen Funden zunehmend regionale und wirtschaftliche Interessen. Während sich die Franzosen seit jeher auf die Gallier als ihre Vorfahren berufen, beginnen viele Deutsche erst damit, die Kelten als Teil ihrer Geschichte wahrzunehmen|229|. Diese tauchen hinter den Germanen und deren Großstämmen wie den Franken und Alamannen gewissermaßen aus dem historischen Dunkel auf und wirken wegen der überwiegenden Schriftlosigkeit ihrer Kultur umso schwerer verständlich und damit reizvoller. Außerdem erweisen sich immer mehr Regionen als Teil der untergegangenen keltischen Welt auf dem europäischen Festland. Neben den Süden und Südwesten Deutschlands ist mittlerweile Hessen getreten, und sogar in Thüringen hat man keltische Siedlungsspuren gefunden. Entlang solcher Spuren und Reste entstehen »Keltenstraßen« und »Keltenerlebniswege«, die an die Zeugnisse der fernen Vergangenheit erinnern – und sich im Zeitalter der europäischen Einigung auf ein Volk berufen, das als jenes der frühen Europäer bezeichnet wird. Deren vermeintliche Nachfahren suchen ihre Nähe nicht selten auf dem Weg des Spiels, dem sie sich in möglichst authentischen Formen hingeben – bevorzugt als keltische Krieger und Kriegerinnen, die auf den zahlreichen Keltenfesten die Attraktionen bilden.

Bei diesen sich wissenschaftlichen Erkenntnissen verpflichtet fühlenden Aktivitäten scheint, wie bei den im Folgenden zu besprechenden, das herkömmliche Bild von den Kelten einen wichtigen Anreiz zu bilden. Danach repräsentieren sie seit der Antike das Andere, das der herrschenden Zivilisation gegenübersteht – so wie die Barbaren den Griechen und Römern. Damals waren sie als irrational, wankelmütig und unzuverlässig verschrien, darüber hinaus als ausschweifend und irgendwie unbegreiflich. Mit der Ossian-Begeisterung und der Romantik verklärte man diese Eigenschaften zu Gegebenheiten, die mancher noch heute als typisch irisch oder walisisch |230|sieht. Dementsprechend gelten Kelten als noch unverbildete Angehörige einer originalen Kultur, die uralte Relikte am stillen Rand Europas bewahrt hat. Deren Menschen seien emotional und spontan, während sie betonter Disziplin, politischer Organisation und dem Übergewicht kühler Vernunft eher ablehnend gegenüber stünden. Ihre Gemeinsamkeiten sieht man vor allem in den Sprachen wie in der Kultur, wobei sich die Musik besonderer Beliebtheit erfreut.

Der Umgang mit dem angeblichen keltischen Erbe zeichnet sich jedoch nicht nur durch derartige Meinungen oder Vorurteile aus. Verbreitet ist ein esoterisches Spiel mit den Kelten und ihrer Kultur, das darauf beruht, ihnen Eigenschaften und Fähigkeiten zu unterstellen, die streng wissenschaftlich keinesfalls erwiesen und oft schlichtweg falsch sind. Die Anhänger dieses Kelten-Spiels nehmen sich gleichwohl sehr ernst und verweisen auf numinose Erkenntnisquellen, die meistens allein ihnen zugänglich sind. Sie schöpfen aus mehreren Traditionen, die in den letzten Jahrhunderten aufkamen und sich ihr eigenes Bild von den Kelten machten. Danach standen diese der Natur noch unmittelbar nahe und die sagenhaften Druiden verfügten über ein Wissen, das den modernen Menschen verloren gegangen ist – nicht allerdings den Eingeweihten der Esoterik, was schließlich Geheimlehre bedeutet.

Sie verehren eine keltische Spiritualität und Religion, nach der die Natur voll von Kräften und Wesen ist, mit denen man sich austauschen kann – Berge und Quellen, Steine wie Bäume und so genannte starke Plätze, die den Gläubigen inspirieren und an der Macht des Numinosen teilhaben |231|lassen. Demnach ist die Welt der keltischen Esoterik geprägt von den Requisiten der Natur, von Hünen- und Hügelgräbern, von uralten Steinsetzungen und natürlich auch von Stonehenge, wo selbst ernannte Druiden und Neuheiden die Sommersonnenwende feiern. Und auf manchem spirituellen Weg an mystischen Steinen, Bäumen und Kraftplätzen vorbei ist der keltische Schamane nahe. Eingeweihte Frauen wie Männer vermögen auf diesem Weg zu helfen und einen ganzheitlichen Blick auf das Selbst und das Universum zu verschaffen. Dabei erübrigt sich fast der Hinweis, wie reich das Angebot an Hilfsmitteln dafür ist. Es erstreckt sich von Keltensteinen und Amuletten mit den keltentypischen Symbolen bis zu Erlebnisberichten und Ratgebern oder Workshop-Veranstaltungen. Doch stets ist der esoterische Zugang der keltischen oder pseudokeltischen Kultur und Religion Glaubenssache, der wissenschaftliche Fakten nicht beikommen können.

Mag das Publikum davon überzeugt sein oder nicht – diese Art des Kelten-Spiels bedient und befriedigt die Bedürfnisse des modernen Menschen. Die Kelten dienen dabei der Projektion seiner Wünsche und Visionen: als Utopie in der Vergangenheit. Wenig haben sie mit dem halbwegs sicheren Bild der historischen Wirklichkeit zu tun, viel dagegen mit der Gegenwart. Denn nach weit verbreiteten Anschauungen repräsentieren sie einen gesellschaftlichen Zustand, in dem der Mensch mit der Natur eins war und über ein ganzheitliches Weltbild verfügte. Das Leben war überschaubar und gut, es verlief einfach, friedlich und gesund. Wo Hilfe nötig schien, wurde sie von den weisen und uneigennützigen Druiden geleistet. |232|Dieses Bild gleicht sich insofern den politisch korrekten Bedürfnissen der Gegenwart an, als die Frau in der keltischen Gesellschaft anscheinend eine respektierte und herausragende Rolle spielte. Die Kelten repräsentieren solcherart die bessere Seite der europäischen Vergangenheit, in der sie als Verlierer des Krieges und der Politik zu Gewinnern der Träume und der Utopie werden.

|229|Keltische Musik

Musik spricht die Gefühle und Stimmungen ihrer Zuhörer besonders stark an und bietet ihnen die Möglichkeit, sich jenseits von Sprache und historischer Situation mit dem Gehörten zu identifizieren. Darum trifft die keltische Musik offensichtlich auf offene Ohren und boomt in den europäischen Ländern – und weit darüber hinaus.

Nach dem wenigen, was man von der Musik der frühgeschichtlichen Kelten weiß, stieß diese bei ihren Nachbarn auf keine Begeisterung. Ihr typisches Instrument war die so genannte Karnyx, eine Kriegstrompete. Sie bestand aus einer langen Metallröhre, deren Schallbecher in einen Tierrachen mündete, beispielsweise in der Form eines Eberkopfes.Obwohl man nicht mit Sicherheit sagen kann, welche Töne die Kelten diesem Instrument zu entlocken wussten, so erzeugten sie doch auf mehreren einen Höllenlärm. Deshalb trug die Karnyx mit ihrerTiergestalt und ihrer Lautstärke zweifelsohne zum erschreckenden Eindruck bei, den die keltischen Heere unter ihren Feinden hervorriefen.

Ansonsten glaubt man, den Kelten des europäischen Festlands ein leierartiges |230|Saiteninstrument zusprechen zu können, das den Gesang der Barden begleitete, also Lieder über die Helden der Vergangenheit und Gesänge zum Lob oder Spott der Zeitgenossen.

Die Inselkelten des Mittelalters schätzten die Harfe ganz außerordentlich, wovon in den irischen Heldenerzählungen so manches zauberkräftige Instrument zeugt. Die älteste Harfe Irlands wurde traditionell König Brian Boru aus dem 11. Jahrhundert zugeschrieben,auch wenn sie erst aus der Zeit um 1500 stammt.Trotzdem spricht sie für die Beliebtheit und Verehrung, die dieses Instrument in Irland und anderen keltischen Ländern seit jeher genoss. Die als Dudelsack vornehmlich den Schotten zugeordnete Sackpfeife ist unter den Inselkelten erst seit dem 16. Jahrhundert bezeugt.

Auf dieseTraditionen greift die moderne, sich als keltisch verstehende Musik zurück und bereichert sie in unterschiedlichem Maße mit fremden und zeitgenössischen Elementen. In den sechziger Jahren erfuhr sie in der Folkmusik eine Wiederbelebung, zu der dieAufnahme von Elementen aktueller Rockmusik beitrug.Für die keltischen Länder ist die Musik heute ein bedeutendes Mittel zur Darstellung ihrer eigenen kulturellen Identität. Zu diesen Ländern zählen sich nicht nur Irland, |231|Schottland, Wales und die Bretagne (nebst Cornwall und der Insel Man), sondern auch die nordspanischen Regionen Galizien und Asturien. Sie alle verfügen über eine mehr oder weniger reiche Musikszene keltischer Prägung, deren Künstler auf Tourneen gehen und sich zu Wettbewerben und einer großen Zahl beliebter Festivals treffen.

Das alljährliche Interkeltische Festival im bretonischen Lorient bildet gleichsam den Höhepunkt dieser zahlreichen Aktivitäten. Dort treffen sich jeweils im August Vertreter aus aller Kelten Länder und bietenTänze und Balladen im Konzert ihrer eigentümlichen Musikinstrumente: der Harfen, der vielfältigen Sackpfeifen, der Flöten und Pfeifen, der mitTierhaut bespannten Rahmentrommeln, der Fiedeln und Akkordeons, um nur einige zu nennen. Ihre Musik sehen sie als bedeutenden Bestandteil ihres gemeinsamen keltischen Erbes, in dem jedes Land seine Wurzeln sucht. Darüber hinaus bedienen sich zahlreiche Solisten und Bands derartiger keltischer Motive und Elemente.Weltweit sprechen sie mit ihrer keltisch gestylten Musik Menschen an, die sich an die Magie und Sehnsucht der Länder am Rande Europas erinnert fühlen.

|232|Die wahren Grünen und ihr Baumkalender

In den Zeiten eines aufmerksamen »ökologischen Bewusstseins« greift man insbesondere in Fragen der natürlichen Umwelt und der eigenen Gesundheit auf das vermeintliche Wissen der Kelten zurück. Denn ihnen und ihren Druiden wurden tief gehende Kenntnisse der Naturgeheimnisse nachgesagt, wofür sinnbildlich die besondere Verehrung der Mistel steht. Obwohl über die Heilkunst der keltischen Priester- und Gelehrtenkaste nur Mutmaßungen angestellt werden können, bieten heutzutage etliche Vertreter einer so genannten Druidenmedizin ihre Dienste an. Auch für sie als Bestandteil des Kelten-Spiels gilt, dass allein der Glaube zählt – von den authentischen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Druiden ist leider kaum etwas überliefert worden.

Noch größerer Beliebtheit erfreut sich die den Kelten nachgesagte besondere Verehrung der Bäume – wofür es in der Tat zahlreiche Zeugnisse gibt. Nach ihnen kannte man nicht nur heilige Haine und ebensolche Baumarten, sondern auch Baumgötter und deren Mythen. Aber keine archäologische oder schriftliche Quelle bescheinigt den Kelten eine Zeitrechnung, die sich ausdrücklich an einzelnen Baumarten orientierte. Diesen Eindruck erweckt lediglich eine große Zahl so genannter keltischer Baumkalender und -horoskope. Sie berufen sich auf einen angeblichen Baumkreis, mit dessen Hilfe die Jahresabschnitte bestimmten Bäumen zugeordnet werden – und zwar ganz im Sinne der Kelten. Ohne hier weiter auf dieses System einzugehen, sei lediglich auf die angewandten Entsprechungen zwischen Baum und jeweiligem Geburtstag hingewiesen. Ihnen zufolge gibt es beispielsweise Kastanienfrauen, Eschenmänner und Apfelbaummenschen, die allesamt die Eigenschaft ihres Baumes mit auf den Lebensweg bekommen haben. Je nachdem sind sie strebsam, selbstkritisch, schöpferisch und so weiter.

Bei der herrschenden Vorliebe für Bäume und deren ständiger Bedrohung durch das Waldsterben greifen viele Menschen auf das Angebot derartiger Ratgeber zurück, die ihnen ein besonderes Verhältnis zu Bäumen verheißen. Sie stehen zumal für eine ehrliche Natürlichkeit, der man |233|nach dem Motto »Bäume lügen nicht« vertrauen kann. Der Baum erweist sich in der komplizierten und unüberschaubaren Welt als guter Freund, dessen Verständnis die sich auf ihn berufenden Kalender und Horoskope fördern wollen.

Trotzdem haben auch sie nichts mit den Kelten zu tun. Mittlerweile glaubt man sogar, ihre Herkunft zurückverfolgen zu können. Diese Erkenntnisse führen nicht in die Zeit vor zwei oder zweieinhalb Jahrtausenden, sondern in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Damals erfand eine Journalistin den »keltischen Baumkalender« für eine französische Frauenzeitschrift, die ihren Leserinnen ein neuartiges Horoskop bieten wollte. Aus Frankreich gelangte die Erfindung angeblich in einen polnischen Gartenkalender, dem sie schließlich für ihre Verwendung in Deutschland entnommen wurde.

Doch diesen frühgeschichtlichen Europäern einen schonenden und gewissermaßen ökologischen Umgang mit der Natur zu unterstellen, ist sehr zweifelhaft. Ihre Handwerker waren bekanntlich die Meister der Eisenproduktion, für deren Schmelzöfen sie Unmengen an Holzkohle benötigten. Darum gehörten die Kelten zu den frühen Baumfällern, denen der heimische Wald massenhaft zum Opfer fiel. Die meisten ihrer Siedlungen und Dörfer lagen inmitten eines stark entwaldeten Umlandes. Darüber ist gegebenenfalls schon lange wieder Wald gewachsen. Aber außer ihren materiellen Erzeugnissen hinterließen sie einen anderen, weit langlebigeren Überrest. Die keltischen Schmiede verwendeten nämlich bei der Metallschmelze Blei als Zusatzstoff. Dieses giftige Metall ist noch heute nach 2 000 Jahren an seiner hohen Konzentration nachweisbar und kündet davon, dass die Kelten unter anderem auch die ersten Umweltsünder Europas waren.

Fantasy ist Keltenland

Die keltische Kultur bietet mit ihren Überlieferungen aber nicht nur Stoff für mehr oder weniger dubiose Esoteriklehren. Die inselkeltischen literarischen Zeugnisse und in ihrem Gefolge die Geschichten um König Arthur bieten eine Fülle von Motiven, die literarisch verwendet und neu gestaltet werden. Sie prägten in besonderem Maße die Fantasyliteratur, die ihren Ausgang auf den Britischen Inseln nahm und in Lewis Caroll einen frühen Vorgänger fand.

Die Autoren dieser populären Gattung, deren Bücher häufig als Filmvorlage dienen, siedeln die Handlungen ihrer Abenteuergeschichten zumeist in Welten an, die mit der unsrigen offensichtlich nichts zu tun |234|haben. Sie spielen in einer imaginären Vergangenheit, die an die frühgeschichtlichen und mittelalterlichen Epochen der realen Historie erinnert. Dort kämpfen die Helden und Heldinnen in Fantasieländern, die das Christentum noch nicht kennen und heidnisch-barbarische Verhältnisse wiedergeben. Ihre typischsten Figuren stellen die Krieger und Zauberer, die gegen allerlei Unholde, Geister und Bösewichter kämpfen müssen. Aber letztendlich bleiben die Guten stets Sieger, nicht zuletzt wegen ihrer Tapferkeit und ihren magischen Fähigkeiten. Zur Fantasy gehört auch das Spiel mit zwei verschiedenen Welten, deren Grenzen überschritten werden. Demzufolge gelangen die Helden wie Alice im Wunderland in eine Anderwelt und bestehen dort zahlreiche Abenteuer.

Diese Literaturgattung bediente sich von Anfang an keltischer Stoffe, wie der irischen Heldenerzählungen, der walisischen Sagengeschichten und der Überlieferungen um König Arthur. Darin finden sich etliche Vorbilder an Magiern, Kämpfern und gefährlichen Untieren. Die Popularität dieser Stoffe hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die weite Verbreitung keltischstämmiger Motive gesorgt, ohne dass sich die Leser |235|dessen bewusst wären. Gleichwohl ist das Fantasiereich der inselkeltischen Kulturen weltweit vertreten und weit verbreitet.

Dabei bedient man sich in Literatur und Film besonders häufig der Erzählungen von König Arthur, Merlin und dem heiligen Gral, wie sie Sir Thomas Malory in Der Tod Arthurs zusammengefasst hat. Moderne Fantasyautoren berufen sich in ihren Neubearbeitungen weniger auf die mittelalterliche Atmosphäre als auf eine stärkere Betonung der älteren keltischen Elemente. So schuf der Engländer T.H. White (1906 –1964) mit seiner Arthur-Version Der König auf Camelot zwar ein Werk, das sich mit den aktuellen Themen von Gerechtigkeit und Frieden auseinander setzt, das aber anscheinend auch auf Motive der Inselkelten zurückgreift. Deren Stimme wird vernehmbar, wenn Merlin, hier Arthurs Hauslehrer, seinen Zögling in einen Fisch verwandelt, damit dieser die Welt besser begreifen lerne – was an die Gestaltwechsel irischer Erzählungen erinnert.

Merlin verwandelt den Jungen auf dessen Wunsch in einen Barsch, indem er seinen Zauberstab erhebt. Daraufhin erscheint über der Burg mit einem Getöse von Muscheln und Schnecken ein fröhlicher, beleibter Mann, |236|der splitternackt ist und auf einer Wolke reitet. Er richtet seinen Dreizack auf Arthur und lässt ihn von der Zugbrücke in den Burggraben fallen, wobei sich dieser in den besagten Fisch verwandelt. Nur mühsam gewöhnt er sich an seine neue Gestalt und an die ungewöhnlichen Eindrücke. Seine Beine waren mit dem Rückgrat zu einem Ganzen verwachsen, die Füße hatten die Gestalt einer Schwanzflosse angenommen; ebenso waren aus den Armen Flossen geworden. Der junge Arthur bestaunt seinen olivgrünen Körper, dessen kräftiger Schuppenpanzer ihm seltsam anmutet. Mehr noch beschäftigt ihn jedoch die Kunst der Bewegung, da er die Orientierung weitgehend verloren hat. Er fragt sich, wo bei ihm eigentlich hinten und vorn sei, wo rechts und links. Nach den Anweisungen Merlins, der als Schlei neben ihm schwimmt, versucht er in Bewegung zu bleiben und eine Richtung einzuschlagen. Erst dann entdeckt er ein völlig neues Universum, eine andere Welt, die zweigeteilt scheint in einen Horizont oberhalb und unterhalb des Wassers. Da die Wasseroberfläche das, was unter ihr ist, in Teilen widerspiegelt, offenbart sich dem jungen Arthur eine ungeahnte Fülle an Farben, durch die er im Wasser dahinfliegt.

|237|1982 sorgte die Amerikanerin Marion Zimmer Bradley (1930 –1999) mit dem Roman Die Nebel von Avalon für eine dickleibige Neubearbeitung des Arthur-Stoffes, die zu einem Weltbestseller geworden ist. Die Autorin traf offensichtlich den Zeitgeist und die Lesewünsche und Träume zahlreicher Leserinnen, indem sie die Geschichte einer gleichsam feministischen Neuinterpretation unterzog. Sie erzählt die sagenhaften Ereignisse aus weiblicher Perspektive und macht Morgaine zur eigentlichen Heldin des Geschehens, die Halbschwester Arthurs, der unwissentlich mit ihr einen Sohn zeugt. Bradley macht sie zu einer großen und guten Zauberin, zu einer weisen Frau, die einem ganzen Priesterinnenstand angehört und einer Welt, deren Ende nahe ist.

Denn Britannien ist zweigeteilt in die Welt der Christen unter dem einen Gott und Christus und in die Welt der Großen Mutter, die hinter und neben der Christenwelt zu finden ist. In dieser Anderwelt lebt das Alte Volk, das die Göttin verehrt. Ihm wird es ergehen wie einstmals dem Volk der Feen, der leuchtenden Wesen, die sich auch aus der Welt zurückzogen. Sie entschwanden für immer in den Nebeln, und ab und zu trifft sie ein Wanderer in den Bergen. Über das Alte Volk herrscht die große Muttergöttin mit ihrem Gefährten, dem Gehörnten, dessen Figur an den Keltengott Cernunnos erinnert. Ihre Welt verschwindet zusehends und mit ihr die legendenhafte Insel Avalon. Morgaine erzählt von der Verdrängung der vorchristlichen Welt und ihrer Götter. Für die Priester des Christengottes ist die Große Göttin nicht mehr als ein böser Geist, der seine Macht vom Teufel bekam. Morgaine beschreibt jedoch eine Welt, in der zwischen den mythischen Landschaften von Glastonbury und Avalon die Tore in den Nebeln noch offen standen, jene Pforten, die Menschen- und Anderwelt miteinander verbanden. Auf diese Weise rückt das Schicksal König Arthurs und seiner Ritter an den Rand, während im Mittelpunkt der Konflikt zwischen zwei Frauen steht: Morgaine vertritt die alte Naturreligion der Priesterinnen in einer matriarchalisch geprägten Welt; Gwenhwyfar hingegen, Arthurs Gattin, steht für das Christentum, den Boten einer neuen patriarchalisch bestimmten Kultur und Gesellschaft. Da die Priester der neuen Religion den Sieg davontragen, entschwindet zum Schluss auch Morgaine in die Nebel von Avalon.

Marion Zimmer Bradleys Fantasyklassiker entlehnte ohne Zweifel eine Vielzahl von Motiven und Elementen der keltischen Überlieferung, deren Bedeutung sie selbstredend ihren schriftstellerischen Absichten anpasste. Die sagenhaften Nebel keltischer Märchen verschmelzen mit den Vorstellungen des Feenvolkes und der Anderwelt zu einem farbenprächtigen Roman. Wenn darüber hinaus in der breiten Öffentlichkeit die keltische Kultur das matriarchalische Prädikat erhielt, so ist dies auch ein Verdienst der Nebel von Avalon – jenseits jeglicher historischer Begründung.

|234|Asterix & Co.

Der weltweit berühmteste und beliebteste Kelte ist der kleine Gallier Asterix, der mit seinen Freunden der römischen BesatzungsmachtWiderstand leistet – zumindest in der gleichnamigen französischen Comicserie, die seit den sechziger Jahren ein Millionenpublikum begeistert.Deren Erfinder, der ZeichnerAlbert Uderzo und derTexter René Goscinny, hatten nach einem »französischenThema« gesucht, das gegen die Flut amerikanischer Comics à la Micky Mouse und Superman Erfolg versprechend schien. Sie entschieden sich für die ferne Vergangenheit der Gallier, deren Stämme der Grande Nation ohnehin seit langem als Vorfahren galten. Und so erblickten die Zeichenstifthelden 1959 in einer Jugendzeitschrift das Licht der Welt. Zwei Jahre später erschien das erste Album Astérix le Gaulois (Asterix der Gallier), dem seither in Frankreich und zahlreichen anderen Ländern mehr als dreißig Ausgaben folgten. Ihre knallbunten, fröhlichen und eigensinnigen Protagonisten entwickelten sich überall zu ausgesprochenen Sympathieträgern und beeinflussten das moderne Keltenbild.

Uderzo und Goscinny boten einen entscheidenden Grund dafür, indem sie – natürlich augenzwinkernd – die Gallier anders sahen als etwa Kaiser Napoleon III. Er hatte der monumentalen Bronzestatue des Vercingetorix auf dem Plateau von Alesia den Aufruf beigefügt, man solle die glühende und ernste Liebe dieses gallischen Häuptlings bewundern, mit der er für die Unabhängigkeit seines Landes kämpfte; aber man dürfe auch nicht vergessen, dass es derTriumph der römischen Armeen war, dem die Franzosen ihre Zivilisation verdanken. Die komisch-humorvolle Darstellung der Bildergeschichten lässt dagegen jedes Album mit dem gleichen |235|Prolog beginnen, der den Widerstand gegen die Besatzer und deren Kultur propagiert. Denn ihm zufolge ist zwar im Jahr 50 vor Chr. ganz Gallien von den Römern besetzt – mit der Ausnahme des Dorfes der unbeugsamen Gallier, die nicht aufhören, dem Eindringling Widerstand zu leisten und den Legionären das Leben zu erschweren.

Da der erfolgreiche Kampf einer Hand voll gallischer Krieger gegen eine tausendfache römische Übermacht selbst in einem Comic unglaubhaft erscheint, verfügen Asterix und seine Gefährten über eine Geheimwaffe: den Zaubertrank ihres Druiden Miraculix, der gewaltige Kräfte verleiht und die Krieger des kleinen Dorfes unbesiegbar macht.Deshalb können sie die unzähligen Eroberungsversuche Caesars abwehren und ihre keltischen Traditionen bewahren. Dazu gehören ein Dorfidyll ohne die Hektik der großen Städte wie Lutetia (Paris) oder Rom, die typische Männertracht der bunt gemusterten Hose und die Unterscheidung zwischen einheimischen und römischen Namen, wobei erstere auf -ix und letztere auf -us enden. Obwohl übrigens von wissenschaftlicher Seite den Verfassern vielfach historisch korrekte Darstellungen bescheinigt wurden, nehmen sie einige Details nicht so genau: DieVorliebe für menschliche Schädel überlässt man denWikingern aus dem Norden, und der Federschmuck gallischer Helme entstammt eher einer Lohengrinoper. Schließlich machen sie Asterix’ Freund Obelix zu einem Hinkelsteinlieferanten, der also Menhire-Steinsäulen bearbeitet, die wie Stonehenge in der Jungsteinzeit entstanden.

Aber derartige künstlerische Freiheiten sind natürlich bei einem Szenario erlaubt, dessen eigentlicher Reiz in den Charakteren der gallischen Helden liegt. Die Franzosen haben sie zu Recht als Karikaturen der ihnen nachgesagten Eigen- und |236|Unarten erkannt, wiewohl sie auch den Kelten zugeschrieben wurden.Demzufolge einigt die kleine Schar unbesiegbarer Gallier zwar der Wunsch, »Römer zu verdreschen«, während sie ansonsten ein liebenswerter, aber äußerst zerstrittener und undisziplinierter Haufen sind. Der kleine Asterix repräsentiert dabei Mut und Vernunft, die sich meistens mit der List verbinden – worin ihm Miraculix beisteht, dessen französischer Name Panoramix auf derart klugeWeitsicht hindeutet. Aber sein bester Freund ist genannter Obelix, dick (was er energisch bestreitet) und schwerfällig, gutmütig und stets hungrig aufWildschweinbraten.Weil er als Kind in den Kessel mit Zaubertrank fiel, verfügt er über gewaltige Kräfte und erhält als Einziger nichts mehr von dem Gebräu des Druiden.Der Chef des Dorfes ist Majestix, ein wackerer Krieger und sympathischer Phrasendrescher, der nichts fürchtet, außer dass ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Mit dieser einzigen Häuptlingssorge griffen die Autoren auf ein authentisches Zitat des antiken Historikers Strabon zurück, nach dem keltische Gesandte gegenüber Alexander dem Großen diese einzige Furcht äußerten.Das ganze Dorf sorgt sich allerdings vor dem furchtbaren Gesang seines BardenTroubadix, der eine Karikatur des sagenhaften Ossian ist, weil ihn niemand hören will.

Umso größere Resonanz genossen die Comicalben, nach derenTitelfigur sogar ein französischer Satellit benannt wurde. Weit über die französischen Grenzen festigten die liebenswerten und unbesiegbaren Gallier das positive Klischee der Kelten. Danach widerstanden beide als Minderheit einer Übermacht und behaupteten sich über die Zeiten.

|238|Von Elben, Orks und Hobbits – Keltisches in Mittelerde

Motive und Figuren, die man keltischen Überlieferungen zuschreiben kann, finden sich allerorten, ohne dass ihre Herkunft so offensichtlich wäre wie bei T.H. White und Marion Zimmer Bradley. Unter anderem stößt man auf sie in dem erstmals 1954/55 erschienen Roman The Lord of the Rings, Der Herr der Ringe, der mittlerweile als das bekannteste und meistgelesene Fantasywerk gilt. Seine viel beachtete dreiteilige Verfilmung sorgte ein knappes halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung für eine nochmalige Steigerung seiner Berühmtheit – und damit für die weltweite Verbreitung einer Anzahl ursprünglich keltischer Elemente.

Denn darauf hatte der englische Hochschulprofessor J.R.R.Tolkien (1892 –1973) reichlich zurückgegriffen, als er sich im Laufe von Jahrzehnten eine fiktive Welt schuf – mit einer eigenen Geografie, einer jahrtausendealten Geschichte und einer Vielzahl von Lebewesen, für die er eigenständige Sprachen und Mythen entwickelte. Für den Universitätslehrer aus Oxford wurde die fantasievolle Spielerei zusehends zu einer ernst genommenen Passion, an deren Ende ein umfassendes Universum stand, eine Welt für sich. Deren Mittelpunkt bildet Mittelerde, ein ganzer Kontinent, bewohnt von Wesen wie den uralten Elben, den in der Erde nach Schätzen suchenden Zwergen, den bedrohten und zerstrittenen Menschen, den von einer bösen Macht künstlich erschaffenen Orks und, um nur die wichtigsten zu nennen, den Hobbits – unscheinbaren kleinen Leuten aus dem abseits gelegenen Auenland, die sich durch ihre behaarten Füße auszeichnen. Diese Welt ist durch einen Kampf zwischen Gut und Böse zerrissen: Dem dunklen Herrscher Sauron, dem Abscheulichen, mit seinen Orkscharen und anderen finsteren Verbündeten stehen die noch freien Völker Mittelerdes gegenüber, insbesondere die Menschen, Elben und Zwerge. Als deren Anführer erweisen sich im letzten Kampf der Zauberer Gandalf und der Krieger und Thronerbe Aragorn.

Die Haupthandlung des Herrn der Ringe vollzieht sich nur über wenige Monate, bildet aber gleichwohl den Höhepunkt in Tolkiens fiktiver Geschichte. Dabei fällt ausgerechnet dem unauffälligen Hobbit Frodo Beutlin die Aufgabe zu, den einen Ring zu vernichten, der absolute Macht verspricht. Dies kann nur in den feurigen Klüften des Schicksalsberges mitten im Land Saurons geschehen, der selbst den Ring mit aller Kraft sucht. Und obwohl das Gute siegt und Sauron vernichtet wird, herrscht ein zutiefst melancholischer Grundton vor: Ein ganzes Zeitalter geht nämlich zu Ende, die letzten Elben verlassen Mittelerde, um in die unsterblichen Lande jenseits des westlichen Meeres zu segeln – und mit ihnen der heldenmütige Hobbit Frodo. Er hat die ursprüngliche Unschuld seines Auenlandes verloren und wird von einer tiefen Sehnsucht erfüllt. Mit dem letzten elbischen |239|Schiff erlischt die alte Welt und an ihre Stelle tritt die Herrschaft der Menschen.

J.R.R. Tolkien als Schöpfer dieses vielschichtigen Mythenuniversums sah in Mittelerde seine Heimat England in einer weit zurückliegenden Vergangenheit – natürlich nicht als historische Wirklichkeit, sondern als Mythologie des Nordwestens Europas und damit der Britischen Inseln. Deshalb schuf er seine fiktive Welt aus eigenständigen Elementen sowie aus einer Vielzahl von Namen, Figuren und Motiven aus germanischen und keltischen Überlieferungen. Der Professor für mittelalterliche englische Sprache und Literatur galt ohnehin als deren profunder Kenner. Er beherrschte nicht nur die historischen angelsächsischen Mundarten, das mittelalterliche Englisch, das isländische Altnordisch und Gotisch, sondern kannte auch die inselkeltischen Sprachen wie das Altirische und das Walisische. Dessen mittelalterliche Form des Mittelkymrischen, die Sprache der walisischen Sagenaufzeichnungen, schätzte Tolkien besonders und ließ sie in die Schöpfung seiner Kunstsprachen einfließen. Darüber hinaus galt er als Kenner der nordwesteuropäischen Sagen- und Mythenwelt – der Arthur-Überlieferungen, der isländischen Sagas und Eddas, des altenglischen Heldenepos Beowulf und des walisischen Mabinogion wie der altirischen Heldenerzählungen.

Sie boten allesamt reichliche Vorlagen, die Tolkien in seine Fantasywelt einbaute, wodurch er eine Durchdringung von Fantasie und Überlieferung erreichte. So entnahm er den Begriff von Mittelerde der germanisch-altnordischen Mythologie, aus deren Eddaliedern auch der Zauberername Gandalf und die Bezeichnungen der Zwerge stammen.

Über Tolkiens weniger offensichtliche Vorlagen kann nur spekuliert werden, weil er nirgendwo detailliert darüber Rechenschaft ablegte: Die Aufzeichnungen um den so genannten Ringkrieg des Herrn der Ringe will er einem von den Hobbits geschriebenen Roten Buch der Westmark entnommen haben – womit er das beliebte literarische Stilmittel einer fiktiven Quelle anwendet. Dieser Titel hat ein reales Vorbild im Roten Buch des Hergest, einer umfangreichen walisischen Handschrift mit vielen Sagen. Die Gestalt des Zauberers Gandalf vereint Züge des nordgermanischen Gottes Odin mit denen Merlins und des Archetyps vom weisen Druiden. In der Liebe zwischen dem Thronerben Aragorn und der Halbelbin Arwen thematisiert Tolkien ein schon andernorts erwähntes irisches Sagenmotiv, nämlich die Beziehung eines sterblichen Menschen zu einer unsterblichen Überirdischen. Und hinter den unsterblichen Landen weit über dem Meer im Westen schimmert jene sagenhafte Insel durch, von der die irischen Geschichten des Mittelalters häufig erzählen und die sich auch in König Arthurs Avalon wiederfindet.

Am schönsten zeigt sich der Einfluss inselkeltischer Mythen und Erzählungen |240|in Tolkiens Vorstellung des Elbenvolkes, das schon mit seinem Namen auf die Nähe zu den irischen Elfen und Feen verweist. In den Geschichten um Mittelerde sind sie ein Volk, dessen Zeit vorüber ist und das sich im Aufbruch nach Westen befindet. Für menschliche Zeitvorstellungen sind sie unsterblich, wiewohl von Gestalt menschenähnlich, nur in allem schöner und edler. Insofern kennzeichnen Weisheit und Kunstverständnis das elbische Wesen, das auch zur Natur und zu vermeintlich toten Dingen eine intensive Beziehung unterhält – denn auch in Bäumen, Tieren, Waffen und Schmuck sehen sie besondere Kräfte walten. Tolkien greift für seine Elben auf Elfenvorstellungen der irischen Heldenerzählungen zurück. Denn die kleinen geflügelten Wesen der späteren Zeit, wie man sie in den irischen Elfenmärchen der Grimms findet, waren ihm zuwider. Seine Gestalten erinnern an die in die Anderwelt vertriebenen Tuatha Dé Danann, die er stark idealisiert und ihrer dunklen Seiten beraubt.

Diese lichte Seite der Elben Tolkiens verdeutlicht eine Szene des Herrn der Ringe, in der Frodo Beutlin und seine Begleiter zum ersten Mal auf Angehörige des geheimnisvollen Volkes treffen: Von ihnen geht ein eigentümlicher Zauber aus, der sogar die Schwarzen Reiter bannt, die Furcht erregenden Diener des dunklen Herrn. Denn eben haben sich die Hobbits noch im Schatten hoher Eichen versteckt, verstört vom Geräusch sich nähernder Hufe und bang auf einen schwarzen Schatten starrend, der auf sie zukroch. Da erklingt auf einmal ein Gesang heller lachender Stimmen, die die Mächte der Dunkelheit vertreiben. Dann nähern sich die Stimmen mit ihrem Lied in der Elbensprache, das Elbereth, die göttliche Sternenkönigin besingt. Die Elben gehen langsam ihres Wegs und schreiten an den Hobbits vorbei. Obwohl sie kein Licht tragen, scheint ein Schimmer wie das Mondlicht auf sie zu fallen. Der letzte der Gruppe spricht Frodo an, dessen Namen er kennt: Die Elben wüssten viele Dinge, obwohl sie selten gesehen würden. Auf die wenigen Kenntnisse ihrer Sprache, über die die Hobbits verfügen, reagieren sie amüsiert und nennen sie Elbenfreunde. Sie nehmen sie für die Nacht in ihre Obhut, entzünden ein Feuer und laden sie zu Essen, Unterhaltung und Fröhlichkeit ein. Unter dem Leuchten der elbischen Gesichter und dem Klang ihrer schönen Stimmen vergessen die Hobbits die Gefahr.

Auf diese Weise geht von Tolkiens Schöpfungen ein Zauber aus, der schon lange vorher mit der keltischen Welt verbunden wurde. Dass diese magische Wirkung weniger mit den Kelten als mit unseren Wünschen und Sehnsüchten zu tun hat, erkannte der poetische Professor selbst. Denn in jüngeren Jahren äußerte er den Wunsch, sein Werk solle »die helle, entrückte Schönheit besitzen …, die manche ›keltisch‹ nennen (obwohl sie sich in echten altkeltischen Dingen nur selten findet).«

|241|Die keltischen Surrealisten

Die keltische Kultur erweist sich nicht nur als eine geradezu unverzichtbare Hauptquelle der Fantasyliteratur und des entspechenden Films. Zahlreiche Stimmen vertreten darüber hinaus die Ansicht, die Kelten seien mit ihrer so bezeichnenden wie eigenartigen La Tène-Kunst frühe Vorläufer der modernen Malerei gewesen. Und sie verdienten das Prädikat der gleichsam ersten Surrealisten.

In der Tat verstießen sie gegen alle Regeln der klassischen Kunst, wie sie die Griechen schufen und wie sie als vorbildliches Ideal über weit mehr als 2 000 Jahre in Europa ästhetische Normen vorgab. Die Kelten mussten den Hellenen und Römern auch in solchen Fragen als abstoßende Barbaren erscheinen: Nichts fand sich in den Werken ihrer Feinschmiede, etwa den Fibeln, Kannen und Statuetten, von der stillen Erhabenheit und Würde griechischer Statuen, nichts vom idealisierenden Realismus athenischer Götterdarstellungen und nichts von den Tugenden des Gleichmaßes und der Ausgewogenheit. Darum hätten die Vertreter der deutschen Klassik wie Johann Joachim Winckelmann, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller ihr epochales Motto von der »edlen Einfalt und der stillen Größe« der antiken Kunstwerke niemals auf die der Kelten angewendet.

Deren Darstellungen verlassen die Welt der Wirklichkeit mit ihren festen Gesetzmäßigkeiten der Natur und Logik. Die kleinformatige Kunst der La Tène-Zeit verliert sich mit ihren Ornamenten und Figuren in einer diffusen Traumwelt, in der das Überwirkliche und Irrationale zu herrschen scheinen. Die Kelten selbst begriffen die Zeichen und Symbole, die dem modernen Interpreten voller Rätsel sind und ihn an die Geheimnisse des Unbewussten gemahnen.

Deshalb erinnern ihn die überschwellenden Pflanzenmotive und die fremdartigen Fabelwesen an fantastische Elemente der abendländischen Kunst. Dort finden sie sich im Skulpturenschmuck der gotischen Kathedralen ebenso wie in den Illustrationen der prächtigen mittelalterlichen Handschriften. Die infernalischen Schreckwesen des Hieronymus Bosch folgen dieser Tradition um 1500 und geben sie weiter an die ungeheuerlichen Skulpturen des Zaubergartens von Bomarzo. Ob im Barock des 17. Jahrhunderts oder im Symbolismus kurz vor 1900 – überall stößt man auf antiklassische Tendenzen, denen die alten griechischen Ideale nicht mehr das Maß aller Dinge sind. In der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts verkörpern die Surrealisten diese Darstellungsart, so Maler wie Salvador Dalí und René Magritte mit ihren Traumwelten, die sich einem offenkundig verstandesmäßigen Zugang verschließen. Ihre Werke lassen sich wie die kunstvollen Arbeiten der keltischen La Tène-Künstler nicht unmittelbar verstehen. Beide enthalten fremdartige und oftmals erschreckende |242|Botschaften einer Anderwelt der menschlichen Imagination, in der die Grenzen zwischen den Dingen aufgehoben sind – so als strömten die Gespenster der Anderen Welt des Unbewussten in die reale Welt. Die barbarischen Kelten waren die frühen Meister dieser Anderwelt und begründeten neben den Griechen eine zweite Schule der späteren abendländischen Kunst und Kultur.