|11|1. Die Kelten – Ein frühgeschichtliches Volk ist hochaktuell

Wie Wesen einer anderen Welt

Die Kelten – fern im Norden jenseits der Gebirge und Wälder hausten sie, karg waren ihre Hütten und ihr ganzes Leben, nackt und kampfwütig traten sie dem Feind entgegen, Todesfurcht kannten weder ihre Männer noch Frauen, Kopfjäger waren sie, und die Krieger suchten untereinander ihre sexuelle Lust zu befriedigen, doch Kindern glichen sie in der Gier nach Essen und Trinken, in der hemmungslosen Prahlerei … Den Griechen und Römern galten sie als höchster Ausbund des Unzivilisierten, als die Barbaren schlechthin. In dieser Rolle schildern die antiken Gelehrten aus Rom und Athen die Kelten in ihren Werken, denen die erwähnten Eigenarten |12|entnommen sind. Seitdem mussten diese mit einer Fülle von Klischees und Vorurteilen leben, was sie selbst herzlich wenig kümmerte. Aber die Nachwelt, die ihren verwitterten Spuren folgte, hatte in den Schriften der alten Geschichtsschreiber zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Von Anfang an stieß sich das Bild, das sich andere von den Kelten ausmalten, mit deren eigentlicher Wirklichkeit, die zwischen antiken Kommentaren und archäologischen Funden zu suchen ist.

Doch ohne die Griechen Hekataios und Herodot, die als Erste die vermeintlichen Barbaren des Nordens erwähnten, sowie ihre zahlreichen Nachfolger wären die Kelten ein Volk ohne Namen geblieben. Ähnlich wie die älteren Großsteingräber- oder die Streitaxtleute wären sie zweieinhalbtausend Jahre später nach einem archäologisch greifbaren Charakteristikum benannt worden: als Volk der Fürstengrabhügel oder Eisenschwertleute, als Menschen der Barbarenstädte oder Europas Kopfjäger. Aber dieser Auswahl bedurfte es nicht; denn die Kelten sind das älteste Volk nördlich der Alpen, dessen Name bekannt geblieben ist. Dagegen kennt man nicht die Namen derer, die lange vor ihnen das Heiligtum des südenglischen Stonehenge erbauten, oder derjenigen, welche die so genannte Himmelsscheibe von Nebra im heutigen Sachsen-Anhalt benutzten. Die Kenntnis des Namens schafft ein Gefühl von Vertrautheit und Identität, das allerdings |13|trügerisch sein kann. Bei den Kelten erweckt es den Eindruck, die Existenz und Wesensart dieses Volkes lasse sich über mehr als zweieinhalb Jahrtausende bis in die Gegenwart verfolgen.

Streng genommen drückt deren Bezeichnung recht wenig aus: Die Griechen und Römer übernahmen wahrscheinlich die von den barbarischen Stämmen verwendeten Eigennamen Kelten, Gallier und Galater, was soviel wie »die Herausragenden« und »Mächtigen« bedeutete. Diese knüpften an den weit verbreiteten Brauch an, sich selbst möglichst vorteilhaft zu benennen. Die Menschen der mediterranen Hochkulturen bezeichneten damit unterschiedslos eine Vielzahl von Stämmen im Norden, die sie unter anderem durch die oben beschriebenen Eigenschaften charakterisierten. Heute verwendet man die Namen in folgender Bedeutung: Den der Kelten sieht man als allgemeinen Oberbegriff an, während als Gallier die keltischen Bewohner des heutigen Frankreichs benannt werden und die Galater für jene Stämme stehen, die nach einer langen Wanderung in Anatolien eine neue Heimat fanden.

Aber die Kelten blieben noch in einem anderen Namen verewigt. Ihre germanischen Nachbarn nannten sie nach dem Stamm der gallischen Volker, woraus sich schließlich das Wort der »Welschen« entwickelte. Später wandte man die Bezeichnung auf die romanisierten Gallier an, dann auf |14|die französischsprachigen Romanen, was sich noch im Namen des Schweizer Kantons Wallis, bei den belgischen Wallonen und im Wort Walnuss findet. In Großbritannien bezeichnet man mit Wales und Cornwall bis heute die alten keltischen Gebiete.

Ein rätselhaftes Volk aus dem Dunkel?

Neben dem Namen weckt seit alters her die Frage nach dem Ursprung der Kelten die Neugier und das Interesse. Viele historische Stämme und Völkerschaften gaben sich selbst eine Erklärung über ihre Herkunft in einem so genannten Abstammungsmythos – man denke an die Rückführung Roms auf Romulus und Remus. Höchstwahrscheinlich kannten auch die Kelten respektive ihre einzelnen Stämme derartige Ursprungsgeschichten. Da sie diese jedoch nicht niederschrieben, ging das Wissen darüber verloren. Deshalb muss man sich wiederum mit den Angaben der antiken Autoren begnügen.

Unter ihnen betonte Caesar – der Eroberer Galliens und damit ein Augenzeuge – den gallischen Stolz darauf, dass man von Dis Pater abstamme, |15|dem Gott der Unterwelt. Jahrhunderte später gab der römische Historiker Ammianus Marcellinus eine weiter gehende Auskunft: »Die Ureinwohner, die in diesen Gegenden, wie manche behaupten, erschienen, hießen Kelten nach dem Namen eines beliebten Königs und nach dem seiner Mutter Galater – so heißen die Gallier in griechischer Sprache. Nach der Meinung anderer sollen sie einem älteren Herkules als dem dorischen gefolgt sein und die Gebiete am Ozean besiedelt haben. Wie die Druiden behaupten, ist tatsächlich ein Teil des Volkes von Urbeginn an hier ansässig, aber andere sind auch von entfernten Inseln zusammengeströmt und aus den Gebieten jenseits des Rheins, wenn sie durch häufige Kriege oder Überschwemmungen bei Sturmfluten aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Manche behaupten sogar, nach der Zerstörung Trojas hätten einige wenige auf der Flucht vor den Griechen sich überall verstreut und diese damals unbewohnten Gebiete in Besitz genommen.«

Der spätantike Geschichtsschreiber griff unter anderem auf weit bekannten Sagenstoff zurück, um den Kelten einen Ursprungsmythos angedeihen zu lassen. Dazu gehörte nach dem Vorbild Roms die Rückführung der Volksnamen auf Herrschernamen, die Einwanderung unter der Führung des griechischen Helden Herkules und die Herkunft von den vertriebenen Trojanern – kaum ein Volk Europas sollte nicht von ihnen abstammen. |16|Darüber hinaus sollte ein Teil des Volkes seit jeher in seiner Heimat gesiedelt haben, während andere aus Germanien einwanderten und anscheinend zu Kelten wurden.

Gegenüber neuzeitlichen Theorien über die keltische Herkunftsfrage wirkt die Sage des Ammianus Marcellinus geradezu unspektakulär. Denn jenen zufolge glaubte man lange Zeit, die Kelten stammten aus den Tiefen Eurasiens und hätten sich auf eine lange Wanderung gemacht, um schließlich weite Teile Europas zu besiedeln. Mancher sah mit blühender Fantasie das Volk der Steppenreiter vor den dunklen Wäldern des Abendlandes zurückschrecken, während die Druiden-Schamanen in deren Dunkelheit verschwanden und den Weg ebneten. Obwohl dies zu den kräftigsten Fabeleien gehört, glaubte man, mit einer Einwanderung aus dem Osten manchen exotischen Zug der Kelten besser erklären zu können.

Die Vielzahl archäologischer Funde und moderne DNA-Analysen an vorgeschichtlichen menschlichen Überresten stützen die eher gewöhnliche Erklärung des römischen Historikers. Nach ihrem Befund hatten die Kelten und deren Vorfahren seit langem in Europa gesiedelt, und es kam in ihrer Zeit zu keinen massenhaften Einwanderungen. Das viel berufene Dunkel um den keltischen Ursprung scheint sich demnach zu lichten, ohne dass sich jedoch völlige Klarheit ergibt. Im Gegenteil: Der Rätsel und Geheimnisse um dieses Volk sind sogar mehr geworden – wie in diesem Buch gezeigt werden wird.

Jedenfalls verlieren sich die Wurzeln der Kelten nicht in fernen Ländern, sondern in den schriftlosen Tiefen der europäischen Vorgeschichte. Dort vermutet man um 2000 vor Chr. in der Tat eine große Einwanderung aus den östlichen Steppengebieten – die der so genannten Streitaxtleute. Diese Menschen, die nach sprachlichen Kriterien auch Indogermanen genannt werden, trafen in vielen Gebieten auf die Großsteingräberleute, deren markante Zeugnisse wie Stonehenge oder die Menhire in der Bretagne später fälschlich den Kelten zugeschrieben wurden. Die Zugewanderten mischten sich mit den Alteingesessenen, prägten von nun an das Geschick des Kontinents und wurden zu Trägern der Bronzezeitkultur. Diese wirkt mit ihren vortrefflichen handwerklichen Erzeugnissen, reichen Häuptlingsgruppen und regen Handelsbeziehungen in alle Himmelsrichtungen wie eine Vorwegnahme der späteren keltischen Kultur. Schließlich kam es im Laufe des 13. Jahrhunderts vor Chr. zu einer revolutionären Neuerung im Umgang mit den Toten. Statt der bis dahin üblichen Beerdigung ihrer Körper verbrannte man die sterblichen Überreste und setzte sie in Urnen bei. Diese haben der bis 800 vor Chr. währenden Epoche den Namen gegeben: die Urnenfelderzeit.

In jener Epoche lagen die unmittelbaren Wurzeln der keltischen Kultur. In diesen Anfängen zeigte sich, wie notwendig auch fremde Anregungen |17|waren, um eine eigenständige Zivilisation entstehen zu lassen. Die Männer und Frauen der späten Bronzezeit erwiesen sich offen gegenüber Neuerungen in allen Lebensbereichen. Schon seit mehr als 1 000 Jahren hatten Schiffe an den westlichen Küsten Europas verkehrt und das Mittelmeer und den Norden bis einschließlich der Britischen Inseln miteinander verbunden. Dort hatten Gold sowie das zur Bronzegewinnung notwendige Zinn das Interesse der Händler geweckt. Diese uralten Routen zu Wasser und zu Land befuhren noch in der späten Bronzezeit die Händler und Siedler, Krieger und Söldnergruppen. Zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer entwickelten sich ein reger Austausch und wirtschaftliche wie kriegerische Aktivitäten, zu deren fernen Auswirkungen sogar die Invasion Ägyptens durch Barbarenvölker und die Zerstörung Trojas zu zählen sind.

Aber neben Krieg und Vernichtung prägten vor allem kontinentweite Veränderungen diese Epoche, die durch die überall geschätzte Technik der Bronzeherstellung ein einheitliches Profil annahm. Ohne dass man an ihrem Ende schon von den Kelten sprechen kann, bildeten sich zu jener Zeit deren Grundlagen heraus. Dazu gehörten weiträumige Verbindungen und die Fähigkeit, Neues aufzunehmen und nach eigenen Maßstäben umzuformen. Die Kelten sollten es darin zur Meisterschaft bringen, wie sich schon in den frühesten ihnen zugeschriebenen Funden zeigt. Als solche sieht man die prächtigen Beigaben an, die verstorbenen Fürsten mit in ihr Hügelgrab gegeben wurden. Deren Macht- und Einflussgebiete erstreckten sich um das 6. Jahrhundert vor Chr. vom östlichen Frankreich nach Südwestdeutschland und in die Nordschweiz. Dieses Gebiet gilt mittlerweile als Ausgangsregion der eigentlichen keltischen Kultur – die damit ihre Heimat nicht in fernen Ländern, sondern im Herzen Europas gehabt hätte.

Das Dunkel lichtet sich; doch in der Morgendämmerung ihrer Entstehung bleiben die Kelten ein Volk voller Rätsel. An die Stelle abenteuerlicher Einwanderungserklärungen ist etwas getreten, was als das Geheimnis des keltischen Geistes bezeichnet werden kann – oder ihrer Seele. Denn was jene Menschen im letzten Jahrtausend vor Chr. glaubten und dachten, bleibt weiterhin in vielen Einzelheiten ungeklärt. So ist Europa gebannt und fasziniert von seinen Vorfahren und deren Kultur, die ihm nah scheinen und deren Überreste doch rätselhaft und fremdartig sind.

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Das verborgene keltische Erbe in der Sprache und in den geografischen Namen

In sprachlichen Zeugnissen bleibt das keltische Erbe präsent, obwohl es nicht offensichtlich ist. Dies gilt auch für eine germanische Sprache wie das Deutsche, von dem hier allein gesprochen werden soll. In ihm lassen sich unter anderem die folgenden Wörter auf die Kelten zurückführen:

 

Amt: Hinter dieser wichtigen Bezeichnung verbirgt sich das keltische Wort ambaktos »Gefolgsmann«. Im Englischen ist daraus embassy und im Französischen ambassade geworden, was beides die Botschaft als diplomatische Vertretung bezeichnet.

 

Brünne: Mit diesem Wort bezeichneten die mittelalterlichen Ritter ihren metallenen Brustpanzer; viel früher hatten es schon germanische Stämme aus der keltischen Sprache übernommen.

 

Budget: Erst im 18. Jahrhundert entlehnte man diesen Begriff aus dem Englischen (auch wenn man ihn französisch aussprach) und verwendete ihn anstelle des deutschen »Haushaltsplans«. Schon zu Zeiten der Gallier scheint das keltische Ursprungswort auf Geld bezogen worden zu sein, bezeichnete es doch einen Geldsack.

 

|12|Eisen: Die Germanen übernahmen bereits sehr früh das keltische Wort isarno, woraus im Deutschen schließlich Eisen wurde. Damit bezeugte es die Meisterschaft der Kelten in der Eisenherstellung.

 

Karren: Die für ihre vier- und zweirädrigen Wagen berühmten Kelten lieferten das Ursprungswort für diese Wagenbezeichnung, das ebenso im englischen car »Auto« fortlebt.

 

Lanze: Diese Waffenbezeichnung stammt zwar von den französischen Rittern, geht aber ursprünglich auf die Kelten zurück.

 

Reich: Auch wenn die Keltenstämme nie ein Reich gründeten, gaben sie doch die ursprüngliche Bezeichnung für »Herrschaft« an die Germanen weiter, von wo aus sie ins Deutsche gelangte.

 

Slogan: Der in der Werbesprache häufige Begriff für »Schlagwort« stammt aus dem Gälischen der Schotten, wo er ursprünglich »Kriegsruf« bedeutete.

 

Dass auch keltische Personennamen gebräuchlich sind, belegen zum Beispiel Brigitte, Donald und Oskar, die alle aus dem Irischen stammen.Während der Name der heiligen Brigit sich mit deren Verehrung schon im Mittelalter auf dem Festland ausbreitete, stammt »Oscar« aus James Macphersons Ossian-Dichtung.

Außer in Sachwörtern und Personennamen verbergen sich keltische Wörter |13|vor allem in geografischen Ortsnamen, nämlich in den Bezeichnungen von Gebirgen und einzelnen Bergen, von Gewässern sowie von Städten. Deren Herkunft ist allerdings selten offensichtlich und muss darum rekonstruiert werden – mit häufig umstrittenen Ergebnissen. Die folgenden Ortsnamen stammen überwiegend aus festlandkeltischen Gebieten – insbesondere Deutschland –, deren keltische Kultur bereits vor 2 000 Jahren unterging. In Frankreich leben zahlreiche gallische Stammesnamen in Landschafts- und Stadtbezeichnungen fort, die wie andernorts erwähnt, in der Spätantike die lateinischen Namen verdrängten. (Viele dieser französischen Ortsnamen führt dasVerzeichnis der keltischen Stämme an.)

 

Gebirgs-, Berg- und Gewässernamen

Der Name »Ardennen« erinnert zweifelsohne an die Kelten. In der Antike bezeichnete man mit Arduinna das große Mittelgebirge zwischen Maas und Rhein, das sich heute in Ardennen und Eifel teilt. Das keltische Wort bedeutete »Hochland«. Daneben führt man auch die Namen »Taunus« und »Vogesen« auf die Kelten zurück.Dem »Schwarzwald« sieht man diese Beziehung nicht mehr an;seine antike Bezeichnung Abnoba dürfte hingegen keltischer Herkunft gewesen sein.

Die Hohe Acht als höchste Erhebung der Eifel ist sicherlich auf einWort akaunon zurückzuführen, mit dem die Kelten einen Fels bezeichneten. Ungewisser ist die Deutung des Belchen im südlichen Schwarzwald, der in der weiteren Umgebung vier Gipfel desselben Namens als Nachbarn hat – einen Schweizer Jura-Belchen |14|und drei in denVogesen.Ob ihre Namen auf den des keltischen Gottes Belenus zurückgeführt werden können, sei dahingestellt; jedenfalls glaubt man die fünf namensgleichen Berge durch ein astronomisches Beobachtungssystem verbunden. Demzufolge ging je nach Standort hinter einem der Gipfel die Sonne auf – und zwar genau zurTagundnachtgleiche und zu Mittsommer wie -winter. Ob die Druiden dieses natürliche Phänomen zur Himmelsbeobachtung genutzt haben, ist eine faszinierende Theorie, für die bisher archäologische Beweise fehlen.

Gewisses gilt für das benachbarte Schwarzwaldflüsschen Dreisam, das die Kelten einstmals als »die sehr Schnelle« bezeichneten. Überhaupt glaubt man in zahlreichen Flussnamen die Sprache des frühgeschichtlichenVolkes entdecken zu können. Das gilt auch für den großen europäischen Rheinstrom, dessen Name den Kelten schlichtweg »Fluss« bedeutete.In Deutschland schreibt man unter anderem folgende Flussbezeichnungen ursprünglich den Kelten zu: Donau, Neckar, Main, Isar, Lech, Lahn, Lippe und Ruhr. In Frankreich zählen dazu Marne, Seine und Somme.

 

Siedlungsnamen

Während den Ortsnamen gewöhnlich eine vorgeschichtliche Herkunft bescheinigt wird, sind Städtenamen zumeist erst mit der Römerzeit greifbar. Ob sie auf Kelten zurückgehen oder ob lediglich keltische Bezeichnungen verwendet wurden, bleibt bei ihnen oft ungeklärt. Trotzdem offenbaren die Siedlungsnamen ein Netz der |15|alten Kultur, das sich im Großen und Ganzen mit deren überlieferter Ausdehnung deckt. Dementsprechend finden sich in Deutschland Bezeichnungen keltischer Herkunft im Süden und Westen bis zum Niederrhein und in Italien vor allem im Norden, wohin keltische Stämme eingewandert waren. Überall gab man den Siedlungen bevorzugt Namen mit Bestandteilen wie Dunum (Festung, Oppidum), Bona (Burg), Briga (Berg) oder Magus (Ebene).

Eine Vielzahl europäischer Städte birgt in ihren Namen derartige Hinweise auf die Kelten.Zu ihnen gehören unter anderem in Deutschland: Andernach am Rhein, Bad Cannstatt bei Stuttgart, Bonn, Boppard am Mittelrhein, Cochem an der Mosel, Daun in der Eifel, Dormagen bei Köln, Düren, Jülich, Kempten im Allgäu, Mainz, Regensburg, Remagen bei Bonn, Worms undTrier, das als römische Gründung nach dem Stamm der Treverer benannt wurde (französisch Tréves). In der Schweiz und Österreich zählt man dazu Bern, Bregenz am Bodensee, Genf, Lausanne, Wien und Zürich; in Italien Bologna, Brescia, Mailand, Modena, Parma und Verona. Ebenso haben die niederländischen Städtenamen Heerlen, Leiden und Nijmegen keltische Wurzeln, denen sich aus England Dover, Lincoln, London undYork zur Seite stellen.

Diese Namen müsste man um die überlieferten und üblichen Bezeichnungen Frankreichs und der Inselkelten ergänzen, um das weite europäische Gebiet zu erkennen, in dem die Kelten und ihre Sprache zwar verborgene, aber doch erkennbare Spuren hinterlassen haben.

|18|Die Kelten – Kein Volk, aber eine Kultur- und Sprachgemeinschaft

Die Kelten prägten mit ihrer Kultur die meisten Gebiete nördlich der Alpen, während sie als Krieger und auf der Wanderschaft im 4. und 3. Jahrhundert vor Chr. die antiken Staaten bedrohten: 387 vor Chr. verwüsteten sie Rom und ein Jahrhundert später (279 vor Chr.) standen sie vor dem zentralen griechischen Heiligtum von Delphi. In jener Zeit erlebten sie den Höhepunkt ihrer Macht und ihre weiteste territoriale Ausdehnung: von Spanien bis Anatolien und von Italien bis Irland. Danach wurden die keltischen Krieger von den griechischen und römischen Soldaten Schritt für Schritt zurückgedrängt und schließlich sogar in ihren Heimatgebieten unterworfen – wofür symbolhaft die gallische Niederlage von Alesia im Jahr 52 vor Chr. steht, die das Ende der unabhängigen Kelten des europäischen Festlandes markierte. Fortan behaupteten sie ihre Freiheit nur noch auf den Britischen Inseln, bis sie auch dort in entlegene Randgebiete abgedrängt wurden. Selten erstritt sich ein Volk so viel Ruhm und erlitt so viele Niederlagen wie die Kelten!

Dabei ist es eine große Vereinfachung, sie überhaupt als Volk zu bezeichnen. Denn niemals existierte so etwas wie eine nationale oder ethnische Identität aller Kelten, die zudem zu keinem Zeitpunkt ein gemeinsames Reich gründeten. Ihre politische und gesellschaftliche Grundgröße blieb stets der Stamm – und davon gab es Aberhunderte; selbst das verhältnismäßig kleine Irland akzeptierte nur mit Mühe und formell einen Oberkönig für die ganze Insel. Obwohl es im Lauf ihrer Geschichte immer wieder zu Stammesbündnissen kam, bekriegte man sich doch ebenso oft untereinander. Diese angebliche Eigenart der keltischen Mentalität trug entscheidend zu ihrem Untergang bei. Denn anders als Jahrhunderte später die ebenso zersplitterten Germanen gelang es ihnen nicht, größere Gruppierungen zu schaffen und auf diese Weise militärisch stärker zu werden. Ihr weit gehendes Beharren im Stammesdenken stellte einen jener rätselhaften Züge dar, die für die Kelten typisch waren: Einerseits blieben sie konservativ den Traditionen treu, andererseits waren sie derart innovativ und Neuheiten gegenüber offen, dass sogar der moderne Mensch darüber staunt.

Wenn die so genannten Barbaren des Nordens auch niemals ein Volk waren oder ein Reich bildeten, so schufen sie sich doch eine kulturelle Gemeinschaft. Sie wies unter den unzähligen Stämmen eine beachtliche Einheitlichkeit auf und führte dazu, dass auch andere Gruppen wie etwa Germanen sich der keltischen Kultur anpassten. Deren Übergewicht in Europa rechtfertigt die chronologische Gliederung in die Hallstatt- und La Tène-Zeit, die jeweils nach Fundorten benannt sind und sich vor allem |19|durch kulturelle Charakteristiken auszeichnen. Auf deren Fülle soll andernorts eingegangen werden, aber zu den offenkundigsten Elementen gehörte die Herstellung eines neuen Metalls: des Eisens, dessen Kenntnis man aus dem Südosten übernahm. Überhaupt zeigten die keltischen Schmiede und Kunsthandwerker ein solches Geschick, dass ihre Produkte manche Arbeit der antiken Hochkulturen in den Schatten stellten. Die Kunst ihrer einmaligen Ornamentik zeichnet sie noch heute aus, wohingegen weniger bekannt ist, dass die Kelten die Fibel, die Gewandspange und Vorläuferin der Sicherheitsnadel, anstelle der Nadel populär machten.

Dieser kulturellen Entwicklung entsprach ein Geben und Nehmen im Kontakt mit anderen Völkern und Kulturen; so bemerkenswert die keltischen Leistungen auch sind, ohne äußere Anregungen und Entlehnungen wären sie nicht möglich gewesen. Offensichtlich wurde dies in den intensiven Beziehungen mit den Griechen und Etruskern, aber auch im Austausch mit dem asiatischen Steppen- und Reitervolk der Skythen. Von diesen übernahm man den Gebrauch des Reitpferdes ebenso wie die Hose der Reitertracht, die am Mittelmeer unbekannt war. Diese und viele andere Einflüsse trafen bei den Keltenstämmen zusammen und verbanden sich mit deren Traditionen und Vorstellungen zu einer neuen Zivilisation, wie es sie vorher nördlich der Alpen nicht gegeben hatte.

Deren Nutznießer war in erster Linie eine reiche Adelsschicht, die im Laufe der Jahrhunderte vom Handel und Wandel in Europa profitierte. Zwar traten innerhalb der Stämme durchaus Spannungen und Machtkämpfe auf, aber allenfalls wechselte eine Sippe die andere mehr oder weniger gewaltsam ab. Die Aristokratie blieb die tonangebende Gruppe in der keltischen Gesellschaft. Mit ihr und ihren Kriegern verbanden sich Luxus, Wohlstand und Prestige, die das keltische Leben für viele Barbarenvölker attraktiv machten. Deshalb breiteten sich die Kelten während ihrer Blütezeit weniger durch kriegerische Eroberungen als durch friedliche Übernahmen ihrer Kultur aus. Die Bewohner der Britischen Inseln, der Iberischen Halbinsel und später etliche Germanenstämme mussten nicht unterworfen werden – sie wollten zu Kelten werden. Sie übernahmen deren Kultur einschließlich der Sprache und keltisierten sich bis auf wenige Reste. Dieser Prozess vollzog sich über mehrere Generationen und führte letztlich zur Ausbreitung der keltischen Kultur.

Ihre Zivilisation stand allen offen und bot eine gemeinsame Grundlage, ohne auf ethnische Unterschiede zu achten. Hinzu kam, dass die meisten ihrer Angehörigen ähnliche Sprachen benutzten und sich miteinander verständigen konnten.

|20|Die keltischen Sprachen

Die Sprachen, in denen sich die Kelten in den Jahrhunderten vor Christi Geburt miteinander verständigten, gehörten allesamt zur so genannten indoeuropäischen oder indogermanischen Sprachfamilie. Deren Sprecher siedelten von den europäischen Atlantikküsten bis auf den indischen Subkontinent und hatten als vermeintliche Urheimat die Steppen nördlich des Kaspischen Meeres – wobei diese Theorie ebenso umstritten ist wie die alten Ursprungshypothesen der Kelten. Gewiss scheint indes, dass die oben erwähnten Streitaxtleute um 2000 vor Chr. als erste Indogermanen nach Europa kamen. Aus ihrer gemeinsamen Sprache entwickelten sich im Laufe der Jahrtausende fast alle europäischen Sprachen – Griechisch, das Lateinische mit Tochtersprachen wie Italienisch und Französisch, die germanischen Sprachen des Deutschen, Englischen, Niederländischen und der meisten skandinavischen Idiome, die slawischen Sprachen von Tschechisch bis Russisch und schließlich auch die keltischen Sprachen.

Deren gegenwärtige geografische Verteilung spiegelt die Geschichte der Kelten und ihrer Kultur wider. Denn als so genannte inselkeltische Sprachen sind sie an den Rand Nordwesteuropas gedrängt, während vom Verbreitungsgebiet des »Festlandkeltischen« außer wenigen Spuren nichts übrig blieb. Dessen Sprachen entstanden wahrscheinlich in der ersten Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrtausends und breiteten sich mit ihren Trägern und deren Kultur aus. Gallisch sprach man im heutigen Frankreich, Lepontisch in Oberitalien, die keltiberischen Dialekte in Spanien und Galatisch in Kleinasien. Die keltischen Sprachen des Festlands existierten teilweise über ein Jahrtausend bis sie schließlich um 500 nach Chr. im Großen und Ganzen ausgestorben waren. Da ihre Sprecher keine umfangreichen schriftlichen Aufzeichnungen hinterließen, sind sie bis auf geringe Reste verloren gegangen.

Anders dagegen das Inselkeltische, das sich in den Randgebieten bis heute erhalten hat. Zu dessen in vielen Zügen altertümlichen Sprachen zählt das Irische, das seit dem frühen Mittelalter in Handschriften überliefert wurde und zur Literatursprache der umfangreichen Heldenerzählungen der grünen Insel wurde. Sein enger Verwandter ist das Gälische Schottlands, das in seinen Ursprüngen auf irische Einwanderer zurückzuführen ist, die das Nachbarland besiedelten. Von den beiden genannten unterscheidet sich bis zur Unverständlichkeit die kymrische Sprache der Waliser, die ebenfalls auf eine reiche mittelalterliche Schrifttradition zurückblicken kann. Schließlich zählt auch das Bretonische der Bretagne zu den inselkeltischen Idiomen, weil diese Sprache auf Kelten zurückgeführt wird, die um 500 nach Chr. England verließen und auf dem Kontinent eine neue Heimat fanden. Neben diesen vier überlebenden Sprachen der |21|Kelten, die seit langem und vielfach vom Englischen respektive Französischen bedrängt und an den Rand des Aussterbens gebracht wurden, zählt man das Manx der Insel Man und das Kornische Cornwalls zum Inselkeltischen. Doch diese Sprachen sind ausgestorben oder werden kaum noch gesprochen.

Eine Kultur auf dem Weg

Wie man die keltische Kultur in den letzten 2500 Jahren einschätzte und beurteilte, ist sehr zwiespältig und gleicht der Doppelgesichtigkeit mancher ihrer Götterbilder. Denn die Römer und Griechen sahen nach der obigen Darstellung in den Stämmen des Nordens nicht mehr als bloße Barbaren – gleichsam kulturlose Wilde, die in großer Primitivität in der Kälte vor sich hin vegetierten. Heutzutage überschlagen sich hingegen aufgrund immer neuer und sensationeller Funde die Kommentare über die Stämme nördlich der Alpen und sie erhalten manchmal sogar das Attribut einer Hochkultur.

Der historischen Wahrheit kommt am nächsten, dass die Kelten zwischen 600 vor Chr. und der Zeitenwende sowohl Barbaren waren als auch Eigenschaften einer Hochkultur entwickelten. Beides basiert nicht auf eigener Einschätzung, sondern jeweils auf der Sicht anderer – nämlich der antiken Nachbarn des Südens und der modernen Europäer. Dabei galt den Griechen als den Schöpfern dieses Begriffs ursprünglich jeder als Barbar, der nicht ihrer Sprache mächtig war. Sie verknüpften damit das Rohe und Unzivilisierte, das fern der hellenischen Kultur stand und schlimmstenfalls diese sogar bedrohte. Dafür boten die keltischen Stämme mit ihren wilden Kriegern bekanntlich das Paradebeispiel.

Doch eigentlich geschah ihnen damit Unrecht; denn die Kelten zeigten ein ungemein großes Interesse an den mediterranen Kulturen – seien es die der Griechen, Etrusker oder Römer. Deren Vorbild wirkte so anziehend, dass ohne es die keltische Kultur nicht zu dem geworden wäre, was sie heute berühmt macht. Um einige Beispiele zu nennen: Die faszinierende Statue vom Glauberg beruhte wahrscheinlich wie die anderen steinernen Großplastiken der Kelten auf dem Vorbild der griechischen Bildhauerei – für Mitteleuropa stellten sie etwas ganz Neues dar. Ebenso übernahmen barbarische Künstler viele Motive der südlichen Kunst und gaben ihnen ein eigenes Gepräge. Sogar der Lebensstil reicher und mächtiger Fürsten nördlich der Alpen orientierte sich an der Mittelmeerwelt, deren Wein man trank und deren Tischgefäße man benutzte. Aber der Süden lieferte nicht nur eine Fülle an prestigeträchtigen Luxuswaren, sondern auch die |22|griechische und andere Schriften, deren Buchstaben die Kelten übernahmen. Die zunehmende Nähe griechischer und römischer Stützpunkte führte jedoch noch weiter: Dort lernten die Kelten das Geldwesen kennen, woraufhin sie eigene Münzen prägten. Und mit der Zeit entstanden im Umfeld ihrer traditionell bäuerlich und dörflich geprägten Kultur große Siedlungen, in denen mehrere tausend Menschen wohnten.

Trotzdem verfügten die Kelten über keine Hochkultur im eigentlichen Sinn dieses Begriffs, wie sie das alte Ägypten, Mesopotamien oder Rom repräsentierten. Denn im Unterschied zu diesen kannten sie weder Steinarchitektur noch deren monumentale Anlagen und ganze Städte, die die Zentren jener Reiche darstellten. Die keltische Gesellschaft basierte immer noch auf den bäuerlichen Grundlagen ihrer Vorfahren und wies etwa keinen ausgefeilten Beamtenapparat auf. Einem Besucher aus Rom oder Marseille mussten selbst die stadtähnlichen Oppida der Gallier einfach und primitiv erscheinen.

Doch dieser Eindruck wurde der keltischen Kultur und ihrer Geschichte nicht gerecht. In Wahrheit befand sie sich auf dem Weg von einer so genannten antiken Randkultur zu einer Hochkultur nach dem Vorbild Roms. Deren Status sollte sie nie erreichen, aber für unterentwickeltere Nachbarn wie die Germanen war sie eine reiche Zivilisation mit beneidenswerten Lebensbedingungen. Die frühgeschichtlichen Keltenstämme des Festlandes lebten in einer Jahrhunderte währenden Zeit des Übergangs, in der ihre Kultur die unterschiedlichsten Verbindungen zwischen Alt und Neu, archaischen und innovativen Elementen einging. Wie eine keltische Hochkultur ausgesehen hätte, ist ungewiss. Die gallischen Stämme zwischen Atlantik und Rhein befanden sich im 1. Jahrhundert vor Chr. auf dem kürzesten Weg dorthin. Caesars Legionen jedoch verwehrten ihnen dieses Ziel. Dabei ist von besonderer Tragik, dass den römischen Eroberern das nutzte, was die entwickelte Zivilisation Galliens ausmachte: Sie marschierten auf den Wegen eines erschlossenen Landes, das man beherrschte, wenn man dessen Städte einnahm. So endete die Geschichte der keltischen Kultur auf dem europäischen Festland.

Von der Vorzeit in die Gegenwart

Obwohl die meisten Kelten unter römische Herrschaft gerieten und in großem Maß romanisiert wurden, war dies nicht das völlige Ende ihrer Geschichte und Kultur. Denn am westlichen Rand Europas bestanden die erwähnten keltisch geprägten Gemeinschaften fort – die Iren, Waliser, Schotten und Bretonen. Sie bewahrten sich bis ins Mittelalter ihre Unabhängigkeit |23|und darüber hinaus gewisse Eigenarten bis in die frühe Neuzeit. Zwar wäre es ohne Zweifel falsch, diese späten inselkeltischen Kulturen mit der alten des Festlandes gleichzusetzen. Doch vor allem in Irland, das niemals von Rom besetzt worden war, hielten sich altertümliche Elemente noch viele Jahrhunderte – die Gliederung in zahlreiche Stämme, das keltische Kriegerideal, die Vorliebe für die Kopfjagd und anderes mehr.

So manches davon wurde vom Christentum toleriert und fand seinen Niederschlag in den Heldenerzählungen, die während des Mittelalters niedergeschrieben wurden. Die Waliser und Bretonen schufen sich mit den Geschichten um den sagenhaften König Arthur und den Zauberer Merlin einen literarischen Stoff, der eine Vielzahl keltischer Motive enthielt und populär machte. Spätestens mit der Romantik kam die Wiederentdeckung dieser Dichtungen, die die Aufmerksamkeit auf die keltische Kultur lenkten. Die Namen und Mythen der Inselkelten spricht man seitdem der sprach-, weil schriftlosen Mythologie der Gallier und anderer Stämme zu. In vielen Fällen ist dieses Vorgehen zweifelhaft und von manchen Wissenschaftlern wird es rundherum abgelehnt, weil sich in Irland und den anderen inselkeltischen Gebieten eine ganz unterschiedliche Kultur entwickelt hätte.

Andererseits bleibt festzustellen, dass sich in jenen Gebieten keltische Sprachen erhalten haben und mit ihnen Geschichten von Göttern und Helden, die zumindest teilweise ihre gallischen Entsprechungen finden. Bei allen Vorbehalten erstreckt sich damit die Kultur der Kelten von der Vorzeit bis in die Gegenwart. Denn in den Gebieten am Atlantik bezeichnen sich moderne Menschen zu Recht als Kelten. Mehr als zweieinhalb Jahrtausende trennen sie von den Anfängen der frühgeschichtlichen Kultur, die auch mit diesem Namen verbunden wird. Und trotzdem glaubt man, Ähnlichkeiten feststellen und Parallelen ziehen zu können. Darin drückt sich eine außerordentliche Besonderheit der keltischen Geschichte aus. Denn andere historische Völker Europas können eine derartige Kontinuität nicht aufweisen. So ist zwar das römische Erbe in vielfältiger Form präsent – sei es in der lateinischen Sprache oder in der klassizistischen Architektur –, aber als Römer würde sich heute kein Italiener außerhalb der Hauptstadt bezeichnen. Und die germanischen Sprachen wie Englisch und Deutsch werden zwar von Abermillionen Menschen gesprochen, doch eine spezifisch germanische Kultur ist nicht mehr zu erkennen, weswegen sich auch niemand wertfrei als Germane bezeichnet.

Anders eben die Kelten, die zwar mit einigem Recht als Verlierer der Geschichte bezeichnet werden können, aber als moralische Sieger die Sympathien vieler Menschen genießen. Diese verbinden mit deren Namen nicht selten die Vorstellung einer idealen Ursprünglichkeit und die Vision einer besseren Welt.

|24|Wir sind die Kelten!

Auf diese Weise entfernt man sich von der historischen Wirklichkeit der frühgeschichtlichen Kelten in der Mitte Europas. Aber zu einem Buch dieses Themas gehört notwendigerweise die Rolle, die dieses Volk im modernen Europa spielt. Seit dem 19. Jahrhundert bilden archäologische Ausgrabungen die Grundlage des modernen Keltenbildes – mit aller gebotenen wissenschaftlichen Sachlichkeit. Dabei fiel schon bald auf, dass sich die den Kelten zugeschriebenen Objekte an weit voneinander entfernten Orten fanden und diese Verteilung durchaus den Berichten der antiken Geschichtsschreiber entsprach. Demzufolge siedelten und kämpften die Kelten in vielen Teilen Europas und ihre Kultur erstreckte sich über erstaunlich weite Gebiete, die oben bereits genannt wurden.

Im Zeitalter des zusammenwachsenden Europas kam dieser Beobachtung eine neue Bedeutung zu. Nun gelten die unzähligen Stämme, vormals als barbarisch verschrien, als frühe Europäer und historische Vorreiter der kontinentalen Einigung. Ob in Frankreich oder Österreich, in Deutschland oder Italien – große Ausstellungen feierten in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Kelten in dieser Rolle. Und vielerorts fiel auf, dass die vor 2 000 Jahren verschwundenen Festlandkelten offenkundig nicht ausgerottet worden waren und ihre Nachkommen immer noch leben. Die Franzosen zählten die Gallier schon seit langem zu ihren Vorfahren, während die germanisch geprägten Deutschen trotz aller Ausgrabungen im Südwesten und Süden Deutschlands weniger mit den Kelten anfangen konnten. Doch durch zahlreiche spektakuläre Funde hat sich dies geändert, und die Entdeckungen am Glauberg, unweit Frankfurts am Main, machen auch Hessen zu einem Land mit keltischer Vergangenheit.

Dort wie in anderen Regionen Deutschlands und in vielen Teilen Europas wächst so etwas wie ein keltisches Bewusstsein, das lauten könnte: Wir sind die Kelten! Diese Bezeichnung enthält überwiegend positive Bedeutungen und schließt meistens – um ein Beispiel zu nennen – die typische Kopfjagd aus. Heutzutage gelten die Kelten als Weise im Umgang mit der Natur, die in der Vergangenheit eine Utopie für die Zukunft bieten. Damit wird die Welt der Kelten hochaktuell – ganz gleich, ob sie der historischen Wirklichkeit entspricht oder eine Wunschvorstellung ist.