|105|4. Römische Städte und keltische Waldheiligtümer – Die gallo-romanische Kultur

Das römische Gallien

»Gallien blüht und gedeiht überall so gut wie Italien selbst.« Die Schiffe fuhren nicht mehr nur auf der Rhône und Saône, sondern auch auf der Maas, der Loire, auf dem Rhein und sogar auf dem Ozean. Gegenden, an deren bloße Existenz man niemals geglaubt habe, seien für Rom erobert worden – soweit Marcus Antonius in einem Nachruf auf den 44 vor Chr. ermordeten Caesar, zu dessen besten Offizieren und engsten Vertrauten er gehört hatte. Wenige Jahre nach der blutigen Eroberung des Keltenlandes entwarf der Römer ein beschönigendes Bild der Verhältnisse, denn ohne Zweifel lag das riesige Gebiet zutiefst erschöpft darnieder. Doch in der Tat sollte es nur wenige Jahrzehnte währen, bis sich die Situation der Gallier durchaus mit der Italiens vergleichen ließ.

Den Anfang machte im Jahr 27 vor Chr. Kaiser Augustus, der neben der bereits bestehenden südfranzösischen Provincia Narbonensis drei neue Provinzen einrichtete: Aquitanien, Belgien und das alte keltische Hauptland, das nach seiner Hauptstadt Lugdunum (Lyon) benannt wurde. Dort hatte man am Zusammenfluss von Rhône und Saône eine römische Kolonie gegründet. Sie beherbergte nicht nur den zentralen Tempel für die Göttin Roma und den vergöttlichten Augustus, sondern auch den Landtag der Provinz, in dem Delegierte von 60 Stämmen zusammenkamen. Allerdings repräsentierten sie nicht das ganze Volk; in der Versammlung Galliens trafen sich lediglich die Adligen der traditionellen Führungsschicht. Denn ihnen gewährte der Imperator eine Fülle von Privilegien und Gunsterweisen, insofern sie sich loyal verhielten. In diesem Fall wurden ihnen sogar wichtige Ämter in der Provinzialverwaltung anvertraut. Diese Bevorzugung war der entscheidende Grund, dass sich die meisten Angehörigen der gallischen Stammesaristokratien am rasantesten der römischen Zivilisation öffneten. Indem man seine Söhne auf die überall im Land gegründeten Lateinschulen schickte, beförderte man diesen Prozess der Romanisierung.

Schließlich erhielten fast ein Jahrhundert nach der Eroberung Galliens die Adligen der Haeduer die vollen römischen Bürgerrechte, womit sie |106|sogar Senatoren in Rom werden konnten und zur politischen Führungsschicht des Imperiums aufstiegen.

Doch anscheinend fanden sich die Gallier insgesamt mit Roms Herrschaft ab und entwickelten keinen Widerstand, um wieder in den alten Verhältnissen zu leben. Zwar hatte man etliche Bräuche verboten: die Kopfjagd, Menschenopfer, nach einigen Jahrzehnten auch die Druiden, deren Organisation wahrscheinlich als zu politisch eingeschätzt wurde. Andererseits endeten mit der Zugehörigkeit zum Imperium auch die endlosen und blutigen Fehden zwischen den zahlreichen gallischen Stämmen und ihren Adligen. In der Tat herrschte nun die Pax Romana, der Frieden innerhalb des Reiches, der nicht gebrochen werden durfte. In dieser Friedensordnung konnten sich Handel und Wandel entwickeln und die gallischen Provinzen zu Reichtum und Wohlstand führen.

Dies zeigte sich in ganz Gallien, wo allenthalben die Oppida aufgegeben und neue Städte in der Ebene oder im Tal gegründet wurden – Zentren wie Arles, Orange und Nîmes in der Provence, Bordeaux am Atlantik, Paris an der Seine und Trier an der Mosel, um nur einige zu nennen. Sie wurden von einem Straßennetz durchzogen, entlang dessen Steinhäuser errichtet wurden. Eine ausgebaute Kanalisation sorgte für hygienische Verhältnisse, und die Bürger selbst schätzten den erholsamen Besuch in den prächtigen Thermenanlagen, wo man sich dem Bad, der Körperpflege und dem Müßiggang hingab. Anschließend konnte man in Paris, Lyon oder Trier ein Theater besuchen oder sich im Amphitheater die Gladiatorenkämpfe anschauen, jene spezifisch römische Art des Menschenopfers, das nicht verboten war.

Auch das Reisen wurde im römischen Gallien bequemer: Statt der einfachen Wege der Keltenzeit durchzogen ausgebaute Straßen das ganze Land, an denen Poststationen und Rasthäuser zu einer Pause einluden. Immer noch lebten die meisten Menschen auf dem Land – in Dörfern, kleinen Landstädten und in den Landhäusern. Solch eine Villa rustica bildete oft das Zentrum riesiger Latifundien, wo Tagelöhner, Pächter, Kleinbauern und Sklaven ihrer Arbeit nachgingen. Wer es sich leisten konnte, setzte moderne Geräte wie Räderpflug und Mähmaschinen ein. Oder er investierte in eine der vielen fabrikähnlichen Manufakturen, in denen Textilien oder Keramik produziert wurden. Diese Güter waren in Rom ebenso begehrt wie Wein, Schinken, Käse oder Gänsedaunen aus Gallien.

In jahrhundertelangen Friedenszeiten entwickelte sich das Land auf diese Weise zu einer reichen Provinz, in der die römische Kultur mit ihrer Sprache und ihren Sitten tonangebend war. Erst die Wanderungen der germanischen Stämme sollten im 5. Jahrhundert diesen Zustand beenden.

|107|Die Schattenseiten der römischen Herrschaft: Unruhen in Gallien

Die blühende Wirtschaft und der hohe Zivilisationsgrad Galliens zeigten allerdings schon bald ihre Schattenseiten. Denn der römische Fiskus benötigte nicht nur Geld, um Straßen und Wasserleitungen zu bauen und zu unterhalten, ihm war natürlich auch daran gelegen, möglichst viel Gewinn aus den prosperierenden Provinzen zu schöpfen. Dementsprechend bürdete man den Menschen eine schwere Last an Steuern und anderen Abgaben auf. So mancher Gallier fand sich in einer hoffnungslosen Schuldenfalle wieder, und die ohnehin bescheiden lebenden Landarbeiter der Latifundien verarmten zusehends. Deshalb gehörten sie zu den Ersten, unter denen es schon wenige Jahrzehnte nach der Eroberung Caesars zu Unruhen kam, die jedoch immer recht schnell niedergeschlagen wurden.

Ein größeres Ausmaß scheint ein Aufstand des Jahres 21 nach Chr. angenommen zu haben, von dem der Historiker Tacitus in seinen Annalen berichtet. Danach verbündeten sich der Treverer Julius Florus und der Haeduer Julius Sacrovir, zwei angesehene Männer ihrer Stämme, um wegen der drückenden Schuldenlast etwas zu unternehmen. Der Römer Tacitus spricht in übelsten Tönen von ihnen und ihren Anhängern, die er teilweise als kriminelle Elemente bezeichnet. Zudem bezichtigt er sie der Absicht, sie hätten die Freiheit Galliens wiedergewinnen wollen. Ob Florus und Sacrovir wirklich so weit gehen wollten, ist fraglich. Durchaus glaubwürdig klingt dagegen, was vom Verlauf der Geschehnisse überliefert wird. Demzufolge hielten die beiden geheime Versammlungen ab, agitierten aber auch auf Marktplätzen gegen die Last der Schuldzinsen und das hochmütige Verhalten der Römer. Auf diese Weise gewannen sie eine große Zahl von Anhängern, mit denen sie unter anderem an der Loire und in den Ardennen losschlugen.

Während Florus rasch besiegt wurde, besetzte Sacrovir im Gebiet der Haeduer die Stadt Autun, deren Lateinschule das höchste Ansehen genoss und dementsprechend zahlreiche junge Männer beherbergte. Die Aufständischen versuchten sie für ihre Sache zu gewinnen oder zumindest – nach den Angaben des Tacitus – als Geiseln zu nehmen, um gegen deren vornehme Familien ein Druckmittel zu haben. Doch auch dies nützte Sacrovir nichts; denn letztlich verfügte er über zu wenig gut ausgerüstete Soldaten. Die meisten seiner Anhänger waren lediglich mit Jagdwaffen versehen und konnten gegen die römischen Legionäre nichts ausrichten. Darum endete der Aufstand mit dem Selbstmord des Anführers und der Niederlage seiner Anhänger. Zu keinem Zeitpunkt war er wie ein Flächenbrand über Gallien gerast; letztendlich blieb er auf wenige lokal gebundene Aktionen beschränkt.

|108|Der Bataveraufstand – Gallier und Germanen gegen Rom

Fast vier Jahrzehnte später befand sich das Imperium Romanum in einer ernsten Krise, von der auch Gallien und das Rheinland betroffen waren. Tacitus schildert in bewegten Worten den Niedergang des Reiches, der seinen Ausdruck fand in einer Fülle von Unglücken und blutigen Kämpfen, in Zwietracht und Hass, in Aufständen, Kaisermorden und regelrechten Bürgerkriegen. Der bis heute als Mutter- und Gattinnenmörder, Brandstifter Roms und Christenverfolger verschriene Kaiser Nero hatte entscheidend zu dieser Situation beigetragen. Sein Despotismus weckte im Senat wie in den Provinzen den Widerstand, der 68 nach Chr. zum offenen Aufstand der Legionen in Spanien, Nordafrika und Gallien führte. Nachdem der spanische Statthalter Servius Sulpicius Galba zum Gegenkaiser ausgerufen worden war und unter den führenden römischen Politikern große Unterstützung erfuhr, nahm sich Nero das Leben. Doch damit fanden die schlimmen Zustände in Rom und den Provinzen noch lange kein Ende. Die ausbrechenden Kämpfe um den Kaiserthron brachten eine schnelle Folge von Herrschern mit sich, deren Anzahl das so genannte Vier-Kaiser-Jahr 69 verdeutlicht. Aus diesen Auseinandersetzungen ging letzten Endes Titus Flavius Vespasianus, der Befehshaber im Osten des Imperiums, als Sieger hervor, während seine drei Vorgänger alle einen gewaltsamen Tod erlitten. Der neue Kaiser musste sich sofort dem Norden des Reiches widmen, denn Teile Galliens und das ganze Rheinland befanden sich in hellem Aufruhr.

Eine Schlüsselrolle spielte dabei ein Germane namens Julius Civilis, der als hoher Offizier in römischen Diensten Hilfstruppen seines Bataverstammes befehligte. Mit ihnen war er in die Machtkämpfe um den Kaiserthron verwickelt, wobei sich der Unmut der Soldaten auch generell gegen die Herrschaft in Rom richtete. Ihrem Aufstand fielen große Teile des Verteidigungssystems am Rhein zum Opfer, fast kein Legionslager oder Kastell blieb ungeschoren. Die Historien des Tacitus sind die einzige schriftliche Quelle über die oft schwer zu überblickenden Ereignisse der Jahre 69 und 70.

Dem Aufstand der Bataver schlossen sich überraschend gallische Stammesgruppen an, obwohl sie sich wegen der ihnen verliehenen Bürgerrechte und Steuererleichterungen Rom hätten verpflichtet fühlen müssen. Doch die Unruhen und Kämpfe um den Sturz Neros und das folgende Vier-Kaiser-Jahr hatten längst auf Gallien übergegriffen – Verwüstungen römischer Soldaten und Massaker unter einigen Stämmen waren die Folge. Darum meldeten sich wahrscheinlich Stimmen gegen die Herrschaft Roms zu Wort, von denen Tacitus behauptet, sie hätten sich für eine nationale Erhebung ausgesprochen. Immerhin registrierte man genau, was in der  |109|Hauptstadt des Imperiums geschah. Dort waren die Straßen »voll von Erschlagenen, blutbefleckt die öffentlichen Plätze und die Tempel«. Schließlich war sogar das altehrwürdige Kapitol in Brand geraten, das Herz der Stadt und der Tempel der höchsten Götter. Dieses Geschehen sah man als ungeheuerliches Fanal einer Zeitenwende an: Der Brand des Kapitols sei ein Zeichen, dass das Ende des Römischen Reiches gekommen sei. Einst sei die Hauptstadt zwar von den Galliern erobert worden; aber da Jupiters Sitz unzerstört geblieben sei, habe das Reich weiter bestanden. Jetzt sei das Feuer des Kapitols als Zeichen himmlischen Zorns zu verstehen und der Besitz der Welt sei den jenseits der Alpen wohnenden Völkern verkündet. So lauteten die »eitlen, abergläubischen Prophezeiungen der Druiden«, wie Tacitus sie nennt.

Der Martberg oberhalb der Moselorte Pommern und Karden (hier eine Rekonstruktion des typischen gallo-römischen Umgangstempels) gilt als herausragendes Beispiel dafür, wie eine keltische Kultstätte über ein halbes Jahrtausend fortbestand.

In Gallien herrschte demzufolge durchaus eine antirömische Stimmung, deren herausragender Vertreter der Treverer Julius Classicus wurde. Dieser Offizier einer treverischen Reiterabteilung, die zu den regulären römischen Truppen gehörte, stammte aus einem königlichen Geschlecht. Deshalb zeichnete er sich vor den meisten durch seine hohe Herkunft und seinen Reichtum aus. Seine Vorfahren hatten erbittert gegen Rom gekämpft, wessen sich der Gallier angeblich gern rühmte. Was immer er beabsichtigt haben mag, jedenfalls knüpfte er Kontakte mit Männern der Treverer und |110|des Lingonenstammes, dessen Gebiet an der Marne lag. Außerdem tauschte er mit dem Bataver Julius Civilis Botschaften aus, die gewissermaßen die Korrespondenz zweier Offiziere in römischen Diensten darstellten.

Darüber hinaus verhandelten auch Privatleute über das weitere Vorgehen, und man kam in der römischen Ubierstadt Köln zu geheimen Gesprächen zusammen. Neben der Mehrzahl der Treverer und Lingonen waren einige Ubier und Tungrer anwesend. Auf der tumultösen Versammlung riefen die Anführer der Verschwörer dazu auf, die Alpenpässe zu besetzen und loszuschlagen – jetzt, wo in Rom selbst gekämpft werde. Dem entsprach man und beschloss, bisher gegnerische Verbände auf die eigene Seite zu ziehen. In alle Teile Galliens wurden Geheimboten entsandt, um weitere Verschwörer zu gewinnen.

In der Nähe des Römerlagers Vetera bei Xanten am Niederrhein schlossen Classicus und Civilis ein Abkommen zwischen gallischen und germanischen Verbänden. Den Römern fiel auf, dass sich die Gallier eigene Lager errichteten und sich dorthin zurückzogen. Die Revolte lag in der Luft, daher sah sich der römische Befehlshaber Vocula zu einer Reaktion veranlasst. Er betonte, Roms Macht sei immer noch stark genug, um die Feinde in einer einzigen Schlacht zu unterwerfen. Dieser undiplomatische Appell zeigte keinen Erfolg. Darum zogen sich die Römer in das befestigte Neuss zurück, während die Gallier in der Nähe ihr Lager aufschlugen. Was dann folgte, nennt Tacitus eine »Schandtat«; Offiziere wie Mannschaften seien zu den Galliern übergelaufen und hätten sich kaufen lassen. Schließlich wurde Vocula ermordet – angeblich auf Anweisung des Classicus, der in das Römerlager mit den »Abzeichen eines römischen Oberfeldherrn« kam. Alle verpflichteten sich nun der »Herrschaft Galliens«, und von Köln bis Mainz legten die Truppenverbände den gleichen Eid ab. Wer sich dem verweigerte, wurde weiterhin von den Soldaten des Civilis und Classicus belagert.

Schließlich befanden sich große Teile Nordostgalliens und das Rheinland in germanischer und gallischer Hand. Der Bataver Civilis hatte das zwischenzeitlich eroberte Lager Vetera zu seiner Zentrale gemacht, während der mit ihm verbündete Treverer Julius Classicus in seiner Heimatstadt Trier regierte. Obwohl sich beide Anführer für den endgültig in Rom herrschenden Kaiser Vespasianus erklärt hatten, ließ dieser ein großes römisches Heer an Rhein und Mosel aufmarschieren. Für ihn stellten sie unberechenbare Partner dar, die nicht unter Roms Kontrolle waren. Deshalb setzte der Imperator sechs Legionen aus Italien, Spanien und Britannien in Bewegung, zu deren Oberbefehlshaber er seinen Verwandten Petilius Cerialis ernannte.

Den konzentrierten römischen Kräften standen Gegner gegenüber, die sich in wenigem einig waren. Allein unter den gallischen Aufständischen |111|machte sich Zwietracht wegen der Frage breit, welcher Mann und welcher Stamm die Führung übernehmen sollte. Andere wie die Sequaner beteiligten sich überhaupt nicht an dem Plan eines gallischen Reiches und fügten dessen Truppen sogar eine Niederlage zu. Darüber hinaus konnten sich die führenden Bataver und Treverer nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen – Civilis zog durchs unwegsame Belgerland, während sich Classicus »meistens dem faulen Nichtstun hingab«. Nachdem seine Treverer an der Nahe besiegt worden waren, verstreuten sie sich in alle Richtungen, und die Anführer versuchten sogar, ihre Teilnahme an der Revolte zu vertuschen. Zwar legten nun etliche ihren Eid auf Vespasianus ab, doch immer noch blieb eine große Anzahl auf Seiten der Aufständischen.

Mittlerweile war Petilius Cerialis nach Mainz gekommen, von wo er in drei Tagesmärschen nach Riol an die Mosel zog. Dieser Platz wurde von Treverern gehalten, die ihn durch einen Graben und zusätzliche Steinbefestigungen gesichert hatten. Cerialis ließ ihn von seinen Legionären und der Reiterei in einem Überraschungsangriff einnehmen. Anschließend zog er nach Trier, in die Heimat des Classicus. Nur mit Mühe konnte er seine Truppen von der Plünderung und Zerstörung der Stadt abhalten. Als ihm dies gelungen war, versuchte er, die ihm gegenüberstehenden Treverer und Lingonen durch eine Ansprache zur Aufgabe zu bewegen. Sie sollten doch bedenken, dass unter ihnen stets Despotentum und Krieg geherrscht hätten, bis sie sich dem römischen Rechtsbereich angeschlossen und die gleichberechtigte Teilnahme am römischen Staat gewonnen hätten. Aber mit diesen Worten konnte der römische Oberbefehlshaber die Gallier nicht überzeugen. Civilis und Classicus waren noch nicht geschlagen, im Gegenteil: Sie versammelten ihre Truppen in der Nähe und stellten sie zur Schlacht auf.

In der Mitte wurden die Ubier und Lingonen platziert, auf dem rechten Flügel die Bataver, links die germanischen Brukterer und Tenkterer. Ein Teil stürmte über die Berge heran, der Rest griff ungestüm im Moseltal an. Im Sturm brachen die Gallier und Germanen in das Lager der Legionen ein, schlugen die Reiter in die Flucht und besetzten die Moselbrücke bei Trier. Nach Tacitus war es dem ruhigen Blut und der raschen Reaktion des Cerialis zuzuschreiben, dass die Brücke mit Mühe zurückerobert werden konnte. Er rief die bereits fliehenden Truppen zurück und spornte sie an, den Feinden standzuhalten. Eine gewöhnliche Schlachtordnung konnte es nicht mehr geben, denn man kämpfte schon längst mitten im römischen Lager. Classicus selbst feuerte seinerseits Gallier und Germanen an.

Schließlich stoppte eine Legion den ungestümen Angriff und das Blatt wendete sich. Nun waren die Soldaten des Classicus und Civilis auf der Flucht. Noch am gleichen Tag gelang es Cerialis, das feindliche Lager einzunehmen und zu zerstören. Doch noch immer waren die germanischen |112|und gallischen Truppen nicht besiegt; Classicus konnte erneut eine römische Reitereinheit schlagen. Letztlich musste er dennoch das Trevererland aufgeben und zog mit Civilis zum Niederrhein. Dort kam es bei Xanten zur Entscheidungsschlacht zwischen den Germanen und Römern, an der die Gallier kaum beteiligt waren. Sie endete mit dem Sieg des Cerialis und seiner kaisertreuen Truppen, womit der gesamte Aufstand der Bataver und ihrer Verbündeten zusammenbrach.

Was die gallische Beteiligung daran angeht, so scheint der einzige Gewährsmann Tacitus auf alte Barbarenklischees zurückgegriffen zu haben, die wenig mit den tatsächlichen Ereignissen zu tun hatten. Denn innerhalb Galliens blieb Julius Classicus mit seinen Verbündeten erstaunlich isoliert und wirkungslos. Eine Aufstandswelle, die der des Jahres 52 vor Chr. mit ihrem Anführer Vercingetorix vergleichbar gewesen wäre, blieb aus. Zudem ist fraglich, ob sich der Treverer überhaupt als keltischer Separatist sah, der die Trennung vom Römischen Reich anstrebte. Fast 120 Jahre waren seit der Niederlage von Alesia vergangen, die – wie dargelegt – aus Gallien ein romanisiertes Gebiet gemacht hatten. Wahrscheinlich strebte Classicus, der Treverer mit dem römischen Namen und den Offizierswürden des Imperiums, ein gallisches Sonderreich an, mit dessen Hilfe er beim Machtpoker am Tiber kräftig mitmischen wollte. Doch selbst damit war ihm kein Erfolg beschieden, weil sich ihm die überwiegende Mehrzahl der Gallier verwehrte – zum Teil sogar mit Waffengewalt.

In den folgenden zwei Jahrhunderten durchlebte Gallien eine lange Friedenszeit, in der es kaum innere Unruhen oder germanische Angriffe gab. Anschließend erwuchsen Probleme aus der Instabilität des gesamten Reiches, die um 260 zur Begründung eines gallisches Teilreiches führten. Dessen Zugehörigkeit zum Imperium Romanum wurde allerdings nie bestritten. Wenige Jahrzehnte später formierte sich die Bewegung der so genannten Bagauden, was vermutlich »Kämpfer« bedeutete. Unter dieser Bezeichnung sammelten sich bis ins 5. Jahrhundert immer wieder desertierte Soldaten, verarmte Landarbeiter und entlaufene Sklaven, die teils Verbesserungen ihrer Situation forderten, teils als Räuberbanden das Land unsicher machten. Größere Erfolge konnten die ziellosen Scharen nicht verzeichnen – mit Ausnahme der Aremorica. In der späteren Bretagne wehrten diese sich gegen germanische Eindringlinge und vertrieben die römischen Beamten gleich mit. Damit legten sie wahrscheinlich einen gewichtigen Grund für die spätere Einwanderung keltischer Bevölkerungsteile, die von den Britischen Inseln kamen.

|113|Die gallo-römische Zivilisation

Bis zum Ende des Imperium Romanum im 5. Jahrhundert, dessen unmittelbare Nachfolge die oströmischen Kaiser Konstantinopels und mehrere Germanenreiche antraten, waren die gallischen Provinzen ein loyaler und sicherer Bestandteil seiner Herrschaft. Dafür sprach allein der fortgeschrittene Grad der Romanisierung, der römische Gelehrte von der Provence sagen ließ, sie ähnele Italien mehr, als dass sie eine eroberte Provinz sei. Die römische Kultur mit ihren wirtschaftlichen und politischen Vorteilen schloss den Wunsch nach einer Wiedergeburt des »barbarischen« Gallien so gut wie aus. Das bedeutete jedoch nicht, dass gewisse Überlieferungen und Erinnerungen aus der keltischen Zeit nicht weiter gepflegt wurden. Die römische Toleranz gegenüber dem Privatleben der Untertanen ermöglichte regionalen Eigenheiten innerhalb des Reiches freie Entfaltung. Darum wurde Gallien über Jahrhunderte zutiefst römisch geprägt und brachte zugleich eine so genannte gallo-römische Zivilisation hervor, die manches keltische Erbe bewahrte und weiter entwickelte.

Ganz offensichtlich zeigte sich dies in der Verwaltungsgliederung, die sich an den gallischen Stammesgebieten orientierte. Deshalb bewahrten deren Bewohner das Bewusstsein ihrer alten Stammeszugehörigkeit und sahen sich nicht nur als römische Bürger, sondern beispielsweise auch als Haeduer, Sequaner, Remer oder Treverer. Als in der Spätantike die Macht Roms schwächer wurde und man verstärkt auf eigene Traditionen zurückgriff, verdrängten sogar die alten Stammesnamen die römisch geprägten Namen vieler Städte: Lutetia benannte man nach den Parisiern Paris, Durocortorum wurde nach den Remern Reims genannt, Autricum erhielt den Namen der Karnuten und hieß seitdem Chartres.

Die Menschen erinnerten sich nicht nur der keltischen Namen, sie sprachen ebenso noch lange Gallisch. Obwohl das Lateinische schon bald dominierte, scheint doch in breiten Bevölkerungskreisen und besonders auf dem Land das alte Idiom weiterhin benutzt worden zu sein. So berichtete der christliche Bischof Irenaeus von Lyon am Ende des 2. Jahrhunderts, er müsse in seiner Diözese auf Gallisch predigen, sonst werde er von seinen Gemeinden kaum verstanden. Und noch 200 Jahre danach schrieb der schon erwähnte heilige Hieronymus von der treverischen Sprache in Trier, an die ihn das Galatische Kleinasiens erinnerte. Dass selbst der römische Staat die alten Sprachgewohnheiten akzeptieren musste, belegen die höchstoffizielle Anerkennung von Testamenten, die in keltischer Sprache verfasst wurden, ebenso wie die mit lateinischen Buchstaben geschriebenen gallischen Weiheinschriften. Doch letztendlich konnte sich das Keltische gegen das Übergewicht des Romanischen nicht behaupten. Als um 500 die germanischen Franken die neuen Herren Galliens wurden, |114|dürfte dessen alte keltische Sprache kaum noch gesprochen worden sein. Darum hat sie im Französischen nur wenige Spuren hinterlassen.

Über die materiellen Zeugnisse der keltischen Kultur im Gallo-Römischen wurde viel gemutmaßt, so über spezifische Ausprägungen in der kunsthandwerklichen Ornamentik. Am greifbarsten wird dieser Einfluss in der Tracht: Wenn der Gallier unter Roms Herrschaft neben den gebräuchlichen Hosen auch zur römischen Toga griff, so verwendete er doch weiterhin ebenso den Kapuzenmantel, der aus einem Umhang mit angenähter Kopfbedeckung bestand. Er wurde geradezu zum Kennzeichen gallo-römischer Alltagskleidung. Die wohlhabenden Gallierinnen bevorzugten außerdem den traditionellen Schmuck des Torques-Halsrings und eines Fibelpaars, die man schon seit etlichen Jahrhunderten kannte und schätzte.

Selbst in der Architektur schufen sich die Gallier respektive Gallo-Romanen ihre eigenen Formen. Diese fanden ihren deutlichsten Ausdruck im so genannten Umgangstempel, den man in Italien nicht kannte. Darunter war ein hoher, meist quadratischer Mittelraum zu verstehen, dessen Außenwände von einem gedeckten Gang umgeben waren. Mehrere Säulen trugen das Dach dieses Umgangs, der den Gläubigen Schutz gewährte. |115|Diese Gebäudeart gehörte mit vielen anderen Zeugnissen zum religiösen Leben, in dem die gallo-römische Eigenart ihre herausragendste Ausprägung fand.

|114|Die Götterwelt der Kelten

Caesar weist in seinen Schriften ausdrücklich darauf hin, dass alle gallischen Stämme sehr religiös seien und zahlreiche Gottheiten verehrten. Deren höchste benennt er nach der zu seiner Zeit üblichen Interpretatio Romana mit den Namen und Eigenschaften seiner römischen Götter : »Unter den Göttern verehren sie Merkur am meisten.Von ihm besitzen sie besonders viele Götterbilder, ihn halten sie für den Erfinder aller Künste, für den Führer auf allen Straßen und Wegen, und von ihm glauben sie, er habe den größten Einfluss auf den Erwerb von Geld und auf den Handel. Auf Merkur folgen Apollo, Mars, Jupiter und Minerva. Der Glaube an diese Götter hat etwa denselben Inhalt wie bei den übrigen Völkern: Apollo vertreibt Krankheiten, Minerva lehrt die Anfangsgründe des Handwerks und der Künste, Jupiter hat die Herrschaft über die Himmelsbewohner, und Mars lenkt die Kriege.«

Die Götterwelt der Kelten war zweifelsohne vielgestaltig und ähnelte den religiösen Vorstellungen anderer indoeuropäischer Völker wie der Griechen, Römer oder Germanen. Über die Namen und Bedeutungen dieser Gottheiten kann man allerdings für viele Jahrhunderte nur Mutmaßungen anstellen, weil sie erst in den Schriften der antiken Autoren und in gallo-römischen Inschriften genannt werden. Jedenfalls stellte man in der schriftlosen La Tène-Zeit göttliche Wesen häufig sitzend mit untergeschlagenen Beinen dar, in der so genannten Buddha-Haltung.Wie viele dieser und anderer Götter und Göttinnen angebetet wurden, ist ungewiss – die späteren Inschriften nennen mehr als 400 Namen. Die meisten davon verehrte |115|man lediglich an bestimmten heiligen Orten, in begrenzten Gegenden und unter einzelnen Stämmen.

Insofern erwies sich die zeitweise europaweite Götterwelt der Kelten als ebenso uneinheitlich wie ihre zahlreichen Stämme.Weiterhin wirken die Eigenschaften undAufgaben einzelner Gottheiten selten streng voneinander getrennt, sodass der Eindruck des Fließenden und Unbestimmten entsteht. Anscheinend unternahm man erst in der Römerzeit gewisse Ordnungsversuche, wodurch sich einige Namen herauskristallisierten.

Dazu gehörte Teutates, der die Züge eines Stammvaters mit denen des Kriegsgottes Mars und des Handelsgottes Merkur vereinte. Esus wurde als bärtiger Mann dargestellt, der einen Baum fällt.Taranis galt als Gott des Donners und entsprach darum Jupiter, dem obersten römischen Himmelsherrscher.Neben diesen drei gallischen Hauptgöttern, die der römische Dichter Lucan im 1. Jahrhundert nach Chr. anführt, gehörten zu den weiter verbreiteten Gottheiten: Belenus, der mit dem Heilgott Apollo gleichgesetzt wurde; der ein Hirschgeweih tragende Cernunnos, dessen Gestalt vermutlich auf sehr alte Vorstellungen zurückzuführen ist; der Handwerkergott Lugus, dessen Spuren sich in Ortsnamen wie Lugdunum (Lyon) erhalten haben, und Ogmios, der ein Gott der Unterwelt war, dem aber auch die Kraft der Rede zugeschrieben wurde.

Wie rätselhaft dieser Letztere wirkte, belegt der Bericht eines griechischen Geschichtsschreibers. Nach seinen Worten stellten sich die Gallier den Helden Herakles, der unter ihnen Ogmios heiße, höchst seltsam vor. Obwohl er die heroischen Attribute eines Löwenfells, des Bogens und Köchers sowie der Keule |116|trage, sei er ein uralter, glatzköpfiger Mann mit faltiger und verbrannter Haut, der den Gewährsmann an Charon, den Fährmann der griechischen Unterwelt, erinnerte. Der gallische Gott zog viele Menschen hinter sich her, deren Ohren mit Ketten aus Gold und Bernstein an seiner Zunge befestigt waren und die ihm offensichtlich voller Freude folgten. Gemäß den Erläuterungen eines Druiden sollte sich in diesem Bild die Kraft des gesprochenen Wortes zeigen, die erst im Greisenalter zur höchsten Entfaltung käme.

Außer den männlichen Gottheiten kannten die Kelten eine große Anzahl von Göttinnen. Zu ihnen zählte die mit Minerva gleichgesetzte Belisama ebenso wie Epona, die populäre Schutzgöttin der Pferde.Besonderer Beliebtheit erfreuten sich jene höheren weiblichen Mächte,die man an bestimmten Orten als heimisch ansah. Dort repräsentierten sie Gebirge, Flüsse und Quellen, so Abnoba den Schwarzwald, Arduinna Eifel und Ardennen sowie Sequana und Matrona die Seine und die Marne.Wie wichtig den Kelten dieAnrufung solcher Mächte war, belegt dieVielzahl heiliger Quellen, an denen man ihnen Opfer darbrachte. Eine späte Erinnerung an den Kult von Ortsgottheiten birgt die irische Vorstellung von den Elfen, deren Anderwelt man sich unter anderem in den Hügeln der Großsteingräber dachte.

In gallo-römischer Zeit pflegte man dieVerehrung der keltischen Götter weiter, wobei sie auf mannigfaltige Weise mit fremden Gottheiten verbunden wurden. Im erwähnten Matronenkult der Fruchtbarkeit gewährenden Mütter flossen vor allem gallische und germanische Vorstellungen zusammen, während sich römische Einflüsse in Namenskombinationen und Götterpaaren fanden.So rief man Lenus-Mars imTrevererland um heilende Hilfe an, wohingegen in Aachen Apollo-Grannus diese |117|Aufgabe übernahm.Die überirdischen Mächte traten oft zusammen mit einer Göttin auf, wie etwa Sucellus, der als Gott der Toten wie des Reichtums galt, mit Nantosuelta, einer Schutzgöttin des Hauses, und Apollo-Grannus mit Sirona, die auch an Heilquellen angerufen wurde.

Diese und viele hundert andere Gottheiten standen zu allen Zeiten der keltischen Geschichte im Mittelpunkt des menschlichen Lebens, das man sich in sämtlichen Bereichen von jenen höheren Mächten bestimmt dachte.Umso mehr bemühte sich der Einzelne wie der ganze Stamm, die Götter und Göttinnen milde zu stimmen und ihre Unterstützung zu erlangen. Man opferte ihnenWaffen und Schmuck, Münzen und Statuetten und – in vorrömischer Zeit – Tiere und Menschen. Zudem schrieb man ihnen besondere Symbole und göttliche Tiere zu und beging ihnen zu Ehren heilige Festtage.

So zahlreich die überlieferten gallo-römischen Götternamen sind, so wenig ist über die Mythen bekannt, die sich die Gallier und andere keltische Stämme erzählten. Dies waren wahrscheinlich Geschichten vom Anfang der Welt und der Entstehung der Götter und Menschen, Erzählungen von den Kämpfen zwischen den höheren Wesen und Dämonen sowie Untieren, Abenteuer von Gottheiten und Erklärungen über die Phänomene derWelt – die Gestirne und Gewässer,die Berge, Pflanzen undTiere.Manchmal hat eine Szene die Zeiten überdauert, deren dazugehöriger Mythos jedoch nicht – dies gilt etwa für die Darstellung eines Stieres mit drei Reihern, die in Teilen Galliens bekannt war.

Erst die mehr als ein Jahrtausend später niedergeschriebenen Erzählungen der Iren und Waliser enthalten Gestalten und Motive, die im Kern Relikte der keltischen |118|Götterwelt und Mythologie sind. Doch die mittlerweile gläubigen Christen hatten aus den heidnischen Gottheiten menschliche Helden oder dämonischeWesen gemacht und die alten Mythen ihrer Heimat am Rand Europas angepasst. So wurde aus dem gallischen Gott Sucellus der irische Dagda, ein mächtiger Anführer derTuatha Dé Danann, jenes zauberkundigen Geschlechts der grünen Insel, das der Sage nach von den Kelten in die Anderwelt vertrieben wurde. An den Attributen dieses Herrschers zeigt sich die Erinnerung an seine göttliche Macht: ein stets voller Kessel und eine Keule, die nicht nur töten, sondern auch zum Leben erwecken kann.

Ebenso lebte nach vielfacher Verwandlung der gallische Lugus in den inselkeltischen Mythen fort.Darin ist er als Lug mac Ethnenn ein Kämpfer des oben erwähnten Geschlechts, der die dämonischen Fomóri besiegt und aus Irland vertreibt. Deshalb und als Vater des Helden CúChulainn genoss er ein hohes Ansehen, das sich auch in der Benennung des Herbstanfangs nach ihm ausdrückt. Als sein Halbbruder galt Ogma, der keltische Gott Ogmios, den die Iren als Erfinder ihrer nach ihm benannten Ogam-Schrift ansahen.

Auch in vielen Frauenfiguren der inselkeltischen Dichtungen glaubt man alte Göttinnen erkennen zu können – so die Pferdegöttin Epona in der Rhiannon der walisischen Sammlung von den Vier Zweigen des Mabinogi. Uralte Vorstellungen einer Herrschaftsgöttin scheinen sich in der Figur der Medh zu verbergen, die als Königin von Connacht den Rinderraub von Ulster anzettelt und zur erbitterten Feindin des irischen Helden CúChulainn wird.

|115|Die Gottheiten der Wälder, Berge und Quellen

Der römische Staat verlangte von seinen Untertanen die Verehrung des Kaisers und Opfer für die offiziellen Staatsgötter wie Jupiter, von deren Wohlwollen das Gemeinwesen abhängig war. Welche Gottheiten die Gallier außerdem privat anriefen, blieb jedem Einzelnen überlassen, insofern er die Autorität Roms anerkannte. Diese religionspolitische Toleranz endete bei den Druiden, die Kaiser Claudius im Jahr 54 nach Chr. verbot. Inwieweit diese einstmals mächtige Priesterkaste im Geheimen fortbestand, ist ungewiss. Vornehme Gallier zählten deren Angehörige durchaus mit Stolz zu ihren Ahnen, aber politischen Einfluss übten sie im römischen Gallien augenscheinlich nicht mehr aus.

|116|Ansonsten vermischten sich neue römische mit alten keltischen Vorstellungen und es entstand eine ganz typische gallo-römische Religion, die in der Götterverehrung, an heiligen Plätzen und in Kultbauten ihren Ausdruck fand. Zwar ordneten die Römer die Aufgabe der auf den Höhen gelegenen Oppida an und gründeten in den Tälern und Ebenen Städte, die verkehrsgünstiger lagen. Doch auf den Bergen blieben oftmals die keltischen Kultplätze zurück, deren Mächte weiterhin von den Gläubigen angerufen wurden.

Ein prägnantes Beispiel dafür stellt der Martberg oberhalb der Untermosel dar, der ein altes Zentrum der Treverer war und in römischer Zeit zu Ostgallien gehörte. Dieser Stamm hatte einst auf dem lang gestreckten Plateau, das fast durchgehend in Steilhängen abfällt, eine große Siedlung angelegt; ein Oppidum, das von mächtigen Befestigungsmauern geschützt wurde. Nach Caesars Eroberung entwickelte sich aus diesem politischen Mittelpunkt ein großes Areal mit mehreren gallo-römischen Umgangstempeln und vielen anderen Gebäuden. Sie alle wurden nach römischer Sitte aus Stein errichtet. Dort hinauf zog es über mehrere Jahrhunderte die gallischen Gläubigen, um Lenus-Mars Opfer darzubringen, dem traditionellen |117|Stammesgott der Treverer. Zudem galt er als Gottheit mit heilenden Kräften, von der man sich Gesundung von diversen Krankheiten versprach. Darum verband man auf dem Martberg den religiösen Kult mit der medizinischen Betreuung. Tier- oder Menschenopfer waren von den Römern verboten worden. Die pilgernden Männer und Frauen gaben keltische und römische Münzen aus Bronze und Silber, kleine Tonväschen, Statuetten oder kleine Räder, die schon die freien Gallier als Götterattribute benutzten. Der viel besuchte Tempelbezirk auf der Moselhöhe fand erst um 400 ein Ende, als die Bewohner die heidnische Verehrung aufgaben und die im Tal entstehenden christlichen Kirchen besuchten.

Gerade im ostgallischen Gebiet der Treverer und Mediomatriker, deren Hauptstädte Trier und Metz waren, pflegte man die alten heiligen Kultplätze. Häufig lagen sie in den weiten Wäldern des Mittelgebirges, von den Vogesen über den Hunsrück bis zu Eifel und Ardennen. Keltische Naturkulte verbanden sich mit römischen Steinbauten, Stelen und aus hohen Schieferfelsen herausgehauenen Reliefbildern. Noch heute finden sich in Eichenwäldern Reste von Weihedenkmälern, von denen ein eigentümlicher Zauber ausgeht. Die Treverer errichteten sie etwa für Diana, die römische |118|Göttin der Jagd und des Wildes, die man mit der keltischen Arduinna gleichsetzte, der Gottheit des Gebirges gleichen Namens, das sich heute über Ardennen und Eifel erstreckt.

Überhaupt verschmolzen die Gallo-Römer bevorzugt einheimische mit fremden Göttern. Anfangs nannte man noch die alten Gottheiten mit ihrem Namen. Dies belegt ein monumentaler Stein, den die Schiffer von Paris während der Regierungszeit des Kaisers Tiberius (14 – 37 nach Chr.) dem höchsten Gott Jupiter errichteten. Gleichzeitig stellt das Denkmal jedoch auch gallische Götter dar und bezeichnet sie in lateinischen Inschriften unter anderem als Esus und Cernunnos. Später verehrte man Götter mit keltisch-römischen Doppelnamen, wie den des treverischen Lenus-Mars oder des Apollo-Grannus, der auch als Heilgott galt. Weiterhin gab es Vorstellungen von Paaren, die aus einem römischen Gott und einer gallischen Göttin bestanden. Im Saarland blieben zum Beispiel die Reste eines Felsbildes erhalten, das ursprünglich die keltische Nantosuelta mit Sucellus verband, der mit dem römischen Waldgott Silvanus identifiziert wurde. Die gallo-römische Götterwelt bot eine Fülle derartiger Verschmelzungen, die sehr oft an bestimmten Plätzen in der Natur angesiedelt |119|und dementsprechend verehrt wurden. Dies kam besonders in der Vorstellung von Quellgottheiten zum Ausdruck, die man sich in weiblicher Gestalt dachte. Eine ihrer berühmtesten Vertreterinnen war Sequana, die Seine-Göttin, an deren Quelle in der Nähe Dijons ein bedeutendes Heiligtum errichtet wurde.

Weibliche Mutter- und Fruchtbarkeitsgottheiten genossen eine herausragende Verehrung. Das galt besonders für die so genannten Matronen (»Mütter«), denen man im östlichen Gallien und in der Provinz Niedergermanien viele Weihesteine und Altäre widmete. Ihr Kult war unter romanisierten Germanen und Galliern stark verbreitet und stellte eine Vermischung römischer mit keltischen und germanischen Traditionen dar. Viele ihrer Weihesteine zierten lateinische Inschriften und Darstellungen der Matronen. Zumeist stellte man sie sich als drei sitzende Frauen vor, die zum Teil die Kopfhauben der Ehefrauen, zum Teil das offene Haar der Unverheirateten trugen. Auf ihrem Schoß hielten sie reich beladene Fruchtkörbe, dazu kamen als Umrahmung weitere Opferschalen mit Obst, Opfer von Schweinen und Fischen, Weihrauch sowie Pflanzen und Bäume. In den Jahrzehnten um 200 nach Chr. erfreuten sich diese Muttergottheiten größter Beliebtheit und Verehrung. In vielen kultischen Zentren und Tempelbauten opferten ihnen Frauen und ganze Familien, die sie um Fruchtbarkeit auf den Feldern, beim Vieh und bei den Menschen baten. Sie galten als Beschützerinnen der Familie und wurden auch bei Geburten um Hilfe angerufen.

Die kleine Bronzestatuette aus Trier stellt einen treverischen Bauern der gallo-römischen Zeit dar. Typisch keltisch ist der kurze Kapuzenumhang des Landmannes.

Wer über die gut ausgebauten Römerstraßen durch Ostgallien reiste, nahm demnach eine Fülle von Zeugnissen der gallo-römischen Religion wahr. Er sah auf den Höhen und im Tal die Umgangstempel, die mit anderen religiösen und profanen Gebäuden sogar große Bezirke bilden konnten. Er kam an Matronenheiligtümern vorüber und konnte an einer Quelle ein kleines Opfer darbringen, bevor er unter schattigen Baumkronen ein ehrwürdiges Weihedenkmal betrachtete. An manchem Straßenrand erhob sich ein mächtiges Monument, das man als Jupitergigantensäule bezeichnet hat. Hoch oben zeigte sie den höchsten römischen Gott, wie er gepanzert und zu Pferd einen Giganten, einen Riesen, niederreitet. Diese Art der Jupiterdarstellung kannte man in Rom nicht; auch sie war typisch für ostgallische und niedergermanische Reichsgebiete. Die Gallier setzten ihn mit ihrem alten Himmels- und Donnergott Taranis gleich, dessen Radsymbol er manchmal hält. Auf den Säulen waren zudem neben einem Schuppenmuster stilisierte Eichenblätter zu erkennen – ein deutlicher Hinweis auf den vorrömischen Kult dieses den Kelten heiligen Baumes.

|120|Zur gallo-römischen Glaubenswelt gehörten nicht nur die mehr oder weniger lichten Gottheiten der Wälder, Berge und Quellen. Sie äußerte sich auch in dunklen Vorstellungen des Aberglaubens, der Magie und Hexerei. Nur wenige Zeugnisse blieben davon bewahrt, und römische zeitgenössische Schriftsteller erhielten nur selten Nachrichten über diese geheimnisumwitterten Vorgänge. Unter anderem wirft eine Bleitafel ein schwer zu deutendes Licht darauf, die um das Jahr 100 nach Chr. auf einer Graburne befestigt worden war. Auf die Platte aus dem südfranzösischen Larzac hat man mit lateinischen Buchstaben über 160 Wörter in gallischer Sprache geritzt. Leider ist dieser recht lange Text nur schwer verständlich. Offensichtlich ging es darin um den »Zauber von Frauen«, die ihr magisches Wissen zum Schaden anderer Frauen ausübten. Die so genannte Fluchtafel bietet dafür einen Gegenzauber. Anscheinend bezieht sich der Text auf eine Auseinandersetzung zwischen zwei sich bekämpfenden gallischen Hexengruppen. Damit bezeugt er die Vielfalt der gallisch-römischen Kulturmischung und den weit reichenden Einfluss keltischer Überlieferungen.

Dies alles belegt, dass auch unter der Herrschaft Roms zahlreiche keltische Elemente weiter existierten und sich mit der fremden Kultur vermischten. Letztlich bewirkte erst das Christentum, dass römisches wie gallo-römisches Heidentum ein Ende nahmen. Mit ihm enden die letzten Erinnerungen an die Kelten des Festlandes, deren Spuren erst viele Jahrhunderte später wieder aufgenommen werden.