|214|9. Die Kelten in der Neuzeit – Von Ossian und Highland-Nebeln

Die Wiedergeburt einer verschwundenen Kultur

In der Epoche der Renaissance, die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert das Kultur- und Geistesleben vieler europäischer Länder prägte, erfuhr die antike Vergangenheit eine Wiedergeburt – so die Bedeutung des französischen Wortes –, die sich bis heute auswirkt. Nachdem als Erste italienische Dichter und Gelehrte die griechische und römische Geschichte und Kunst gleichsam wiederentdeckten, folgten ihnen die so genannten Humanisten nördlich der Alpen. In den Bibliotheken fand man alte Handschriften mit den Werken antiker Autoren wie Caesar und Tacitus. Aus ihren Schriften zogen die Gelehrten Schlüsse mit weit reichenden Konsequenzen: Wo die Italiener in den ruhmreichen Römern ihre Vorfahren sahen, führte man sich im Norden auf die einst gefürchteten Gallier und Germanen zurück. Letztere wurden zu den Vorvätern der Deutschen erklärt, während sich die Franzosen als Nachfahren der Gallier sahen. Und die in ihrer Mehrzahl stark alemannisch – also germanisch – geprägten Schweizer Kantone entdeckten in Caesars Bellum Gallicum jene mutigen Helvetier für sich, die Rom blutig unterlegen waren. Mit dem Namen der einstmals erschreckenden Belger sollte später sogar eine ganze Nation bezeichnet werden, als sich 1831 die Provinzen der bis dahin so genannten südlichen Niederlande um Brüssel, Gent und Namur als Belgien für unabhängig erklärten.

Seit den Entdeckungen der Renaissance kannte man die Namen der Gallier respektive Kelten und ihrer zahlreichen Stämme und man wusste zumindest von den Ereignissen ihrer Geschichte, die Caesar und andere antike Autoren schilderten. Richtige archäologische Zuordnungen konnten allerdings erst viel später vorgenommen werden. Bis ins 19. Jahrhundert behalfen sich die Gelehrten mit größtenteils fantasievollen Erklärungen, was denn als keltisches Erbe angesehen werden könnte. Die bis in die Gegenwart beliebteste Fehlinterpretation galt der jungsteinzeitlichen Stonehenge-Anlage in Südengland, die man als Heiligtum der Druiden ansah.

Doch bei allem wachsenden Interesse an dem antiken Barbarenvolk |215|stand es lange völlig außer Frage, dass es Kelten und ihre Nachfahren nur auf dem europäischen Festand gab. Erst als sich Forscher mit den wenigen Resten des Gallischen beschäftigten und die Sprachen der Iren, Schotten, Waliser und Bretonen untersuchten, fiel ihnen auf, dass sie starke Gemeinsamkeiten aufwiesen und offensichtlich alle zur keltischen Sprachfamilie gehörten. Die Kelten waren demzufolge nicht nur ein untergegangenes Volk der Antike, sondern lebten am Nordwestrand Europas noch immer. Diese Erkenntnis setzte sich ausgerechnet unter den Inselkelten nur langsam durch, vor allem bei den Iren: Sie, die heute als Kelten par excellence gelten, identifizierten sich letztlich erst im 19. Jahrhundert mit diesem Begriff. Was also neben den archäologischen Funden das typische Keltische ausmacht, beruht auf einer verhältnismäßig jungen Erkenntnis und Identifikation.

Seitdem gelten die Sprachen und Bräuche der betreffenden Völker als keltisch. Doch schon zuvor war man der eigenen Geschichte und Kultur nachgegangen. In Irland beschäftigte man sich mit der alten Ogam-Schrift und ahmte den Stil frühmittelalterlicher Handschriften nach. Dort wie in Schottland erwachte das Interesse an Harfenmusik, worauf kostbare Instrumente gefertigt wurden. Sie gelten wie etwa die Brian-Boru-Harfe in Dublin als nationale Schätze. Seit dem 18. Jahrhundert widmete man sich besonders auf der grünen Insel und in Wales der Pflege kultureller Traditionen, was zu einer – später so genannten – keltischen »Wiedergeburt« führte. Ein neu erwachtes Bewusstsein behauptete mit Mühe die eigene Sprache gegen das übermächtige Englisch. Walisische Poeten belebten beispielsweise im 19. Jahrhundert das Eisteddfod wieder, das als großes Dichtertreffen noch immer in Form sommerlicher Literatur- und Musikfestspiele begangen wird.

Das schottische Hochland galt als Heimat lebendiger Traditionen, wofür das Clanwesen stand. Unter diesem Begriff fühlten sich Menschen einander zugehörig, weil sie sich auf einen gemeinsamen Ahnherrn zurückführten und diese Beziehung durch einen Gemeinschaftsnamen ausdrückten, dem das typische Mac für »Sohn« vorausging. An ihrer Spitze stand seit alters her ein Häuptling. Mit der keltischen Renaissance sah man in der bodenständigen Institution des Clans ein Fortleben der Stammesgliederung, wie sie schon aus der Antike überliefert wurde. Während demnach die Clans sehr alt sind, kam der berühmte Schottenrock, der Kilt, mit seinen clanspezifischen Farben erst im 18. Jahrhundert auf.

Ob zu Recht oder nicht – das Keltische erblickte man zunehmend bei den Inselkelten und deren Sitten und Gebräuchen. Es drückte sich im irischen Elfen- und bretonischen Feenglauben aus, in der Harfenmusik und in den stimmungsvollen Landschaftsbildern des kargen schottischen Hochlands, der walisischen Berge oder der irischen Einsamkeit.

|216|Ossian: das Keltische als Mode

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfreuten sich inselkeltische Motive und Stoffe in Europa so großer Beliebtheit, dass man von einer regelrechten Modeerscheinung sprechen kann. Deren Ursachen lagen einerseits in einem neuen Zeitgeist, der sich von der Vernunftbetonung der Aufklärung distanzierte. Englische Dichter und ihr Publikum begannen damit, Interesse an der Vergangenheit des Mittelalters zu zeigen und alte oder wieder errichtete Burgen ebenso zu schätzen wie die Geschichten darüber. Gleichzeitig wollte man mehr von den Überlieferungen des einfachen Volkes wissen, seien es dessen Lieder oder Märchen. Dem kam zu Gute, dass in Frankreich Jean-Jacques Rousseau das Bild des edlen Wilden schuf, das im Barbaren das Vorbild eines einfachen und glücklichen Lebens sah. Auch in Deutschland nahm man zusehends Abstand von der nüchternen Sachlichkeit der Aufklärung. Die Dichter des Sturm und Drang schufen einen Kult um das menschliche Gefühl – nicht Verstand war gefragt, sondern Emotionen, nicht der kluge Poet, sondern das stürmische Genie. In dieser Zeit trafen sich die Gebildeten an den kleinen deutschen Höfen und in den gediegenen Bürgerhäusern, lasen einander vor und rezitierten empfindsame Gedichte. Wenn allesamt darauf in Tränen der Rührung ausbrachen, mussten sich weder Frauen noch Männer genieren; es gehörte gewissermaßen zum guten Ton.

Damals war unter der europäischen Bildungsschicht die Zeit reif für die große Dichtung, die die Herzen massenhaft bewegte und eine Welle ungeahnter Gefühle auslöste. Der Mann, dem dies gelingen sollte, war der Schotte James Macpherson (1736 –1796), der aus dem Hochland stammte und seinen Lebensunterhalt als Dorf- und Hauslehrer bestritt. Er hatte zu Beginn der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts einige längere Gedichte veröffentlicht, die er nach eigenem Bekunden unter der Bevölkerung der Highlands gesammelt und schließlich aus dem Gälischen ins Englische übersetzt hatte. Ursprünglich sollten sie das Werk eines keltischen Barden aus der Zeit um 300 nach Chr. sein. Im Jahr 1765 erschienen sämtliche dieser Works of Ossian, der Gedichte des alten gälischen Barden Ossian.

Dieser zieht als blinder Greis über das Hochland, ein Sohn des schottischen Königs Fingal und der letzte Überlebende aus dessen heldenhafter Kriegerschar. Sogar den Tod des eigenen Sohnes Oscar musste Ossian erleben, den nun seine Schwiegertochter Malvina umherführt – der einzige ihm verbliebene Trost. Er besingt auf der Harfe die Kämpfe und Heldentaten jener Zeiten, in denen sein Vater dem irischen König Cormac und dessen Heerführer Cuthullin gegen einfallende Nordmänner beistand. Kämpfe, Schicksalsschläge und dramatische Verstrickungen gibt es in Ossians Gesängen zuhauf. Aber mehr als die – für den modernen Geschmack |217|– schwülstig und trivial geschilderte Handlung beeindruckte die Leser des 18. Jahrhunderts jene melancholische Stimmung, die der rauen und nebelverhangenen Landschaft des Nordens zu entsprechen schien. Aus den Wolken blicken die Geister der Vorväter herab und empfangen den gefallenen Helden.

Wer noch lebt, gibt sich elegischen Gedanken dieser Art hin: »Ich sitz’ bei der moosigten Quelle; am Gipfel des stürmischen Hügels. Über mir braust ein Baum. Dunkle Wellen rollen über die Heide. Die See ist stürmisch darunter. Die Hirsche steigen vom Hügel herab. Kein Jäger wird in der Ferne geseh’n. Es ist Mittag, aber Alles ist still. Traurig sind meine einsamen Gedanken …« Die heroische Landschaft Schottlands, die Schicksalsträchtigkeit des Geschehens, der elegische Grundton und das zutiefst melancholische Leitmotiv trafen den Nerv der Zeit, die all dies mit dem Namen Ossians verband und auf ihre Gefühle und Sehnsüchte bezog.

Deshalb las man den Ossian überall in Europa und nahm ihn als Stimme einer längst vergangenen Zeit, in der die Dichter den Ton der Natur trafen und damit authentisch waren. Der keltische Barde drückte die Gefühle und Empfindungen der modernen Menschen des 18. Jahrhunderts aus, die ebenso authentisch sein wollten. Zu den unzähligen Begeisterten gehörte der junge Johann Wolfgang von Goethe, der Ossian in seinem Erfolgswerk Die Leiden des jungen Werthers gebührende Referenz erwies. Der Held dieses 1774 erschienenen Romans, der an sich, der Welt und einer unglücklichen Liebe leidet, findet in der keltisch-schottischen Dichtung einen Ausdruck seiner eigenen Gefühle:

»Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Heide, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören vom Gebirge her, im Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren Höhlen, und die Wehklagen des zu Tode sich jammernden Mädchens, um die vier moosbedeckten, grasbewachsenen Steine des Edelgefallnen, ihres Geliebten. Wenn ich ihn dann finde, den wandelnden grauen Barden, der auf der weiten Heide die Fußstapfen seiner Väter sucht und, ach, ihre Grabsteine findet und dann jammernd nach dem lieben Sterne des Abends hinblickt, der sich ins rollende Meer verbirgt, und die Zeiten der Vergangenheit in des Helden Seele lebendig werden, da noch der freundliche Strahl den Gefahren der Tapferen leuchtete und der Mond ihr bekränztes, siegrückkehrendes Schiff beschien. Wenn ich den tiefen Kummer auf seiner Stirn lese, den letzten verlassenen Herrlichen in aller Ermattung dem Grabe zuwanken sehe …« – dann möchte Werther gleich einem edlen Waffenträger das Schwert ziehen, seinen Fürsten von der Qual des langsam absterbenden Lebens auf einmal befreien und dem befreiten Halbgott |218|seine eigene Seele nachsenden. Als Werther der unglücklich geliebten Lotte die von ihm übersetzten Gesänge Ossians vorliest, übermannen ihn seine Gefühle, »ein Schauer überfiel ihn, als er sie in die Hände nahm, und die Augen standen ihm voll Tränen, als er hineinsah«. Und während seiner Lesung bricht auch aus Lottes Augen »ein Strom von Tränen«.

Der junge Goethe war nur einer von unzähligen europäischen Künstlern und Intellektuellen, die von Ossian ergriffen wurden und dem Stoff Übersetzungen, Nachdichtungen, Liedvertonungen, Opern und Bilder widmeten. Dass sogar ein politischer Machtmensch sich dem Fieber der Begeisterung um den keltischen Barden nicht entziehen konnte, bewies Napoleon, General, Konsul und Kaiser der Franzosen: Er schätzte nicht nur Goethes Werther über alles, sondern auch die Gesänge Ossians.

Es tat dem allen keinen Abbruch, als sich im Laufe der Jahrzehnte herausstellte, dass die Works of Ossian mitnichten originale Lieder aus dem 3. Jahrhundert waren. James Macpherson – mittlerweile zu Ruhm und Reichtum gelangt – hatte sie sehr frei nachgedichtet und dafür auf irische Heldengestalten zurückgegriffen: Aus der populären Sagenfigur des Kriegers Finn mac Cumaill und seinem Sohn Oisín machte er Fingal und Ossian, der jugendliche Kämpfer CúChulainn diente dem literarischen Heerführer Cuthullin als Vorbild. Um diese Figuren hatte der schottische Lehrer eine Geschichte erdichtet – im Übrigen auf Englisch, denn gälische Originale existierten nicht. Erst später übersetzte man die englischen Kunstlieder in die keltische Sprache Schottlands.

Letztlich verzieh die Öffentlichkeit Macpherson seinen Schwindel. Denn er hatte ein Erfolgsrezept entdeckt, von dem er ursprünglich selbst nichts ahnte. Er griff auf schottisch-keltische Motive zurück und verband sie mit der oben angesprochenen Stimmung einer elegischen Melancholie, die der originalen keltischen Überlieferung fremd war. Damit traf er genau den vorherrschenden sentimentalen Zeitgeist, den er schlichtweg auf die 1500 Jahre zurückliegende Vergangenheit projizierte. Seitdem verband man die nebelverhangenen Buchten und Berge Schottlands mit den gefühlsbetonten Vorstellungen über die Kelten der Britischen Inseln.

Walter Scott und die Highland-Romantik

Macphersons Works of Ossian lenkt das Interesse auf das ursprüngliche keltisch-gälische Schottland, dessen Volkslieder und Balladen zusehends gesammelt wurden und Nachdichtungen erlebten. Allerdings sorgten im Zeitalter der Romantik vor allem die historischen Romane Sir Walter Scotts (1771 –1832) für die weiter wachsende Begeisterung an schottischen |219|Motiven. Der Anwalt aus Edinburgh wurde weit über seine Heimat hinaus ein früher Bestsellerautor, dessen 1820 erschienener Ivanhoe die Zeit der Kreuzzüge aufgriff und noch immer bekannt ist.

Bereits zehn Jahre früher hatte die Verserzählung der Dame vom See (The Lady of the Lake) der Schottland-Begeisterung einen unerhörten Aufschwung gebracht. In der im 16. Jahrhundert angesiedelten Handlung stehen die Auseinandersetzungen zwischen dem schottischen König und dem Hochland-Clan der Douglas im Mittelpunkt. Während der König versucht, die unbotmäßigen Highland-Bewohner zu unterwerfen, entfaltet sich ein dramatischer Bilderbogen von Kämpfen, Ehre und großer Liebe. Scott griff auf den mittelalterlichen Arthur-Stoff zurück und drückte dies in dem Titel Die Dame vom See aus, womit in den alten Epen eine Fee bezeichnet wurde. Doch wie im Ossian begeisterten insbesondere die Schilderungen der schottischen Landschaft und deren gefühlvolle Stimmungen die Leserschaft.

Der Roman Rob Roy rühmt einen Freiheitshelden, der schon lange in den Balladen des Volkes besungen wurde: Der Aufrührer vom Clan der Macgregor erlebt im 18. Jahrhundert Aufstand und Niederlage der gälischen Clans gegen die englischen Truppen. Rob Roy wird zum Straßenräuber, weil ihm die unbarmherzigen Gläubiger Haus und Hof nahmen. Darum tritt er als schottischer Robin Hood auf, der gegen das Unrecht der Engländer kämpft, dabei viele Abenteuer besteht, gefangen genommen wird und eine waghalsige Flucht unternimmt. Einem derartigen Helden flogen nicht nur in den Highlands alle Herzen zu, sondern in ganz Europa.

Allenthalben kannte man nun die aufrechten und tapferen Bewohner des schottischen Hochlands, die gälischen Erben einer großen Vergangenheit. Wie im 18. Jahrhundert Ossian kam zur Zeit der Romantik und darüber hinaus das Schottische in Mode, wofür seitdem stellvertretend der Kilt mit seinen Mustern steht. Die Clans dienten in ihrer rauen und gleichwohl schönen Heimat zunehmend als Gegenbild zu den Fabrikschloten und Arbeitermassen der sich besonders in Großbritannien ausbreitenden Industrie. Die Impressionen der Wälder und Berge, der Seen und Inseln verband man mit einer einzigartigen Stimmung unverfälschter Gefühle, die ihren Ausdruck im Gleichklang von Landschaft, Geschichte und Menschen fand. Auf diese Weise entdeckte man im 19. Jahrhundert die derart idealisierten Inselkelten als »anderes Ich«, gewissermaßen als Alternative zum technischen und gesellschaftlichen Fortschritt.

|220|Alice im Wunderland der Cheshire-Katze

Im Gefolge der Romantik mit ihrem starken Interesse an Märchen, Sagen und den Überlieferungen des Mittelalters breitete sich eine Fülle ursprünglich keltischer Stoffe und Motive aus – von den Geschichten um Arthur und die Tafelrunde bis zu den irischen Heldenerzählungen, von den walisischen Sagen des so genannten Mabinogion bis zu schottischen Märchen und von den Feengeschichten der Bretagne bis zu den Geheimnissen um den Zauberer Merlin. Dass die Brüder Grimm Irlands Elfenmärchen entdeckten und übersetzten, ist beispielhaft dafür, wie sich Figuren und Vorstellungen der inselkeltischen Mythen- und Sagenwelt überall auf den Britischen Inseln und auf dem europäischen Festland verbreiteten. Die Geschichten von der Anderwelt und ihren Bewohnern, von den Feen, Elfen, Kobolden und Zauberern beflügelten zusehends die Imagination der Dichter und Dichterinnen, die überdies noch einen weiteren Aspekt der Überlieferung entdeckten: Die überreiche Fülle des Skurrilen und Absurden wurde neben unlogischen Wortspielen als herausragendes Kennzeichen des Keltischen und seiner Kunst angesehen – und erfreute sich besonders auf den Britischen Inseln weit verbreiteter Beliebtheit.

Dort fand es seinen Niederschlag unter anderem in einem der beliebtesten Kinderbücher der Weltliteratur, in Alice im Wunderland. Der Oxforder Mathematikdozent Lewis Carroll (1832 –1898) veröffentlichte Alice’s Adventures in Wonderland 1865 und erzielte damit einen großen Erfolg. Ob er die seltsamen Traumerlebnisse eines kleinen Mädchens bewusst aus keltischen Traditionen schöpfte, sei dahingestellt – jedenfalls ähneln sie ihnen stark. Alice gerät in eine andere Welt voll Wunderwesen wie sprechende Tiere und Spielkarten. Den Zugang dazu findet sie durch ein weißes Kaninchen mit roten Augen – in Wales galten weiß und rot als Kennzeichen von Wesen der Anderwelt –, das eine Uhr aus seiner Westentasche zieht und vor sich hin murmelt: »Jemine! Jemine! Ich komme bestimmt zu spät.« Alice läuft ihm in den Kaninchenbau nach und fällt einen abgrundtiefen Schacht hinunter, bis sie schließlich nach langem Fall auf einem Blätterhaufen landet. Schon bald gewöhnt sie sich an ihre Körpergröße, die sich stets den Verhältnissen anpasst und sie einmal kleiner, das andere Mal größer werden lässt. Dementsprechend scheinen sämtliche Naturgesetze auf den Kopf gestellt zu sein.

Zu den wunderlichsten Wesen des »Wunderlandes« gehört die Cheshire-Katze (Grinsekatze), die sich durch ein beständiges breites Grinsen auszeichnet und ihre Welt derart kommentiert: »Hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.« Diese Katze besitzt eine weitere außergewöhnliche Eigenschaft, taucht sie doch mehrmals wie aus dem Nichts auf, in das sie ebenso wieder entschwindet. Nachdem dies mehrmals geschehen |221|ist, beobachtet Alice, wie sie ganz allmählich verschwindet, »von der Schwanzspitze angefangen bis hinauf zu dem Grinsen, das noch einige Zeit zurückblieb, nachdem alles andere schon verschwunden war«. Betrachter der La Tène-Kunst, die in den letzten Jahrhunderten vor Chr. den Höhepunkt der keltischen Kreativität darstellte, verwiesen auf die Ähnlichkeiten zwischen deren Zeugnissen und der mehr als 2 000 Jahre jüngeren Cheshire-Katze des Lewis Carroll. Auch die frühgeschichtlichen keltischen Künstler ließen Motive wie Menschenköpfe, Dämonen, Tiere und maskenhafte Fratzen in den Ornamenten auftauchen, verschwinden und sich verwandeln.

In einem zweiten Band mit den Abenteuern der kleinen Alice unter dem Titel Alice hinter den Spiegeln oder Through the Looking Glass muss sich die Heldin in einem Spiegelland voller Absurditäten und Doppeldeutigkeiten durchschlagen, in dem sie Teil eines Schachspiels wird. In diese Anderwelt gelangt man nicht durch ein Kaninchenloch, sondern durch einen Zaubernebel, wie er auch in schottischen Märchen bekannt ist: »Tun wir doch so, als ob aus dem Glas ein weicher Schleier geworden wäre, dass man hindurchsteigen könnte. ›Aber es wird ja tatsächlich zu einer Art Nebel! Da kann man ja mit Leichtigkeit durch –‹, und während sie das sagte, war sie schon auf dem Kaminsims, sie wusste selbst nicht wie, und wirklich schmolz das Glas dahin, ganz wie ein heller, silbriger Nebel.«

Erzählungen dieser Art wurden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Markenzeichen britischer Schriftsteller – bis heute. Zu ihnen gehörte der weithin wenig bekannte Schotte George MacDonald (1824 –1905), der mit Lewis Carroll befreundet war. Er verfasste etliche Kinderbücher, Märchen und Romane, deren Helden ebenfalls in rätselhafte Wunderwelten vordringen. Doch wo Carroll sich augenzwinkernd über die zeitgenössische viktorianische Gesellschaft Englands lustig macht, führt MacDonald die Leser in völlig fremdartige, mythisch anmutende Anderwelten, zum Beispiel in Die Prinzessin und der Kobold. Carroll wie MacDonald legten den Grund für jenes fantastische Erzählen, das offensichtlich keltisches Erbe aufnahm, verarbeitete und weitergab.

Die »Rückkehr« der Druiden

Die wachsende Beschäftigung mit der Vergangenheit und ihrem den Kelten zugeschriebenen Erbe sollte nicht nur einen Niederschlag in den Künsten finden. Das, was die antiken Geschichtsschreiber über die Gallier mitteilten, erweckte ein ebenso großes Interesse an typischen Bräuchen und Einrichtungen der vermeintlichen Vorfahren. Dabei ging von den Druiden die intensivste Faszination aus, glaubte man doch in ihnen weise Priester und |222|Philosophen entdeckt zu haben. Sie schienen den Denkern der Griechen oder den weisen Brahmanen der Inder ebenbürtig, wenn nicht überlegen gewesen zu sein. Deshalb vermischten sich seit dem 17. Jahrhundert in den britischen Ländern und anderen Teilen Europas verschiedene Vorstellungen zum Druidenklischee, das noch heutzutage vorherrscht. Dazu gehörten die weiße Druidentracht, die bereits des Öfteren erwähnte Verbindung mit dem Stonehenge-Monument und die Vorstellung Merlins als berühmtesten Priester und Magier.

Eine wahre Druidenbegeisterung fand Unterstützung in der Ossian-Mode und in der romantischen Vorliebe für das Nordeuropäische, sei es Keltisch oder Germanisch. Die Grenzen zwischen beiden Völkergruppen verliefen beliebig, sodass ein keltischer Druide durchaus ein Priester des germanischen Gottes Wodan sein konnte. Einen viel gehörten und -gesehenen Ausdruck hat das seinerzeit moderne Druidenbild in der romantisch-tragischen Oper Norma des Italieners Vincenzo Bellini gefunden, die 1831 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde. Ihre Heldin wird im römisch besetzten Gallien in die Auseinandersetzungen zwischen den Legionären und den einen Aufstand vorbereitenden Galliern verstrickt. Denn Norma ist die Tochter des Oberhauptes der Druiden und selbst Druidenpriesterin und Seherin. Folglich agiert sie auf der Bühne in einem heiligen Hain, wo sie die Mondgöttin anbetet und Misteln bricht. Ein tragisches Geschick erfährt sie durch die Liebe zum römischen Prokonsul, wodurch sie nicht nur Verrat an ihrem Volk begangen, sondern sogar ihr priesterliches Keuschheitsgelübte gebrochen hat. Nach vielerlei Verwicklungen lässt sie einen Scheiterhaufen errichten und gibt sich in dessen Feuer selbst den Tod.

Opern, Dichtungen und bildliche Darstellungen vermittelten ein im Großen und Ganzen romantisches Druidenbild dieser Art. Aber die Entdeckung der keltischen Priesterkaste nahm noch ganz andere Formen an. Im Umfeld der am Altertum interessierten Briten, unter denen es auch anglikanische Geistliche gab, setzte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts der Gedanke durch, man müsse das Druidentum wieder beleben. Mancher von ihnen hatte augenscheinlich eine Art Erweckungserlebnis und glaubte, er sei ein wieder geborener Druide und stehe in einer Jahrtausende alten Tradition. Andere griffen im Zeitalter der Aufklärung ganz bewusst auf vermeintliche druidische Überlieferungen zurück und stellten sie in den Dienst der herrschenden Vernunft. In diesem Sinn gründete sich 1781 in London ein erster Druiden-Orden, der letzthin eine Freimaurerloge war. Solche druidische Logen fühlten sich der Aufklärung und liberalem Denken verpflichtet und fanden Nachfolger in Deutschland, anderen europäischen Ländern, in den USA und Australien, wo sie überall bis heute aktiv sind.

Andere Neu-Druiden folgten den erwähnten Erweckungserlebnissen |223|und kreierten eine heidnische Religion, was in ihren Augen einer »Wiederbelebung« des alten keltischen Kults entsprach. Als Bruderschaften in dessen Diensten sahen sie sich als die Erben und Fortführer der Druidentradition. Unter dem Anspruch ungebrochener Authentizität versammelte man sich in Stonehenge zu Sonnenwendfeiern und kleidete sich in eine angeblich druidische Tracht. Darüber hinaus entstanden aber auch neue Heiligtümer, die gleichwohl als uralt angesehen wurden – ähnlich wie vermeintlich altbritannische Schriftzeichen, die frei erfunden waren. Seit dem 18. Jahrhundert entstand eine Vielzahl von neuheidnischen, esoterischen und okkultistischen Vereinigungen, die sich allesamt – wenn auch häufig untereinander zerstritten – in einer Tradition westeuropäischer Spiritualität sahen und dies bis in die Gegenwart fortsetzen.

Die »Rückkehr« der Druiden entpuppt sich damit als Konstrukt der Fantasie, das zwar seinen Ausgangspunkt in den wenigen historischen Zeugnissen fand, diese aber gehörig anreicherte. Ihre Anhänger glauben an Dimensionen, die weit über die nachweisbare Keltenzeit hinausreichen und alle Großsteinbauten wie Stonehenge in Südengland und das irische Newgrange für die Druiden vereinnahmen. Das historische Vorbild der keltischen Priester erweist sich auf diese Weise als Quelle von Spekulationen, die gleichwohl das neuzeitliche Keltenbild mitprägen.

Archäologische Entdeckungen und die moderne keltische Wiedergeburt

Die Entdeckung und Erschließung des keltischen Erbes auf dem europäischen Festland gelang durch eine wachsende Anzahl von Funden, die man mit großer Sicherheit dem Kulturkreis der Kelten zuordnen konnte. So gelang es beispielsweise, die eigenartige und charakteristische Kunst der vormals Barbaren genannten frühen Europäer zu rekonstruieren. Dass das 19. Jahrhundert eine große Zeit der Archäologie war, bewies der französische Kaiser Napoleon III. durch sein persönliches Interesse an Forschungen dieser Art. Er veranlasste die Ausgrabungen der Oppida von Bibracte, Gergovia und Alesia, die während Caesars gallischem Krieg von überragender und schicksalschwerer Bedeutung waren. Der Kaiser zeichnete auch dafür verantwortlich, dass seit 1865 ein monumentales Denkmal des Vercingetorix über dem Schlachtfeld von Alesia thront, wo das Haupt des gallisches Aufstandes vor den römischen Legionen kapitulieren musste. Weil man das historische Aussehen des Helden nicht kannte, gab man ihm einfach die Gesichtszüge des dritten Napoleon.

Die heldenhaft-tragische Gestalt des Vercingetorix bot ohnehin Grund |224|für viele künstlerische und literarische Darstellungen, die natürlich besonders in Frankreich populär waren. Im deutschsprachigen Raum hat der Schweizer Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) in seiner Ballade vom Geisterross dem Arverner ein literarisches Denkmal gesetzt. Darin begleitet er den gallischen Häuptling auf dessen letztem Weg auf Caesars Triumphzug durch die Straßen Roms:

»Unberührt vom Hohn der Stunde, Starren, traumgefüllten Blicks, Geht, ein Singen auf dem Munde, Ruhig Vercingetorix – Fremde Weise, fremde Worte, Mit dem Geist an fremdem Orte.«

Er gedenkt seines Pferdes Ellid, das geopfert wurde, um ihn als Geisterross zur Stunde seines Todes abzuholen:

»Sterbend pack ich Ellids Haare, Ein Befreiter spring ich auf, Fahre, schwarzer Ellid, fahre! Nach der Heimat nimm den Lauf! …«

Aber schon viel früher hatten die Franzosen, denen der Stamm der germanischen Franken den Landesnamen La France gab, ihre keltische Vergangenheit entdeckt, die sie in Gallien, La Gaule, fanden. Während der Revolution von 1789 setzte man den verhassten Adel mit den fränkischen Eroberern gleich und verband im Gegensatz dazu das breite Volk mit den alten Galliern. So wurde im revolutionären Frankreich alles Keltische chic – wozu die Ossian-Mode ihren Teil beitrug. Dieses Beispiel belegt, wie im Zeitalter des erwachenden national betonten Patriotismus auch das frühgeschichtliche Volk der Kelten respektive der Gallier vereinnahmt wurde. Auf diesen Gedanken waren im Übrigen etliche Jahrzehnte vorher schon die Engländer gekommen, als sie nach der formalen Vereinigung mit Schottland im Jahr 1707 das gesamte Land als Great Britain »Großbritannien« bezeichneten und somit auf die alte keltische Benennung zurückgriffen.

Die kleineren Nationen wie Irland und Wales, die sich mit einigem Recht als keltisch bezeichnen durften, entwickelten im 19. Jahrhundert ein Nationalbewusstsein, mit dessen Hilfe vor allem die grüne Insel ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erkämpfte. Dieses neue Selbstbewusstsein zeigte sich nicht nur in dem Versuch, die irische Sprache gegen das Englische zu behaupten, sondern auch in der Erschließung der reichen mittelalterlichen Literatur. Ihre Erzählungen wurden zunehmend bekannt und boten der Kunst eine Fülle von Anregungen. In jener Zeit griff man in Irland weiterhin auf die charakteristischen Motive und Ornamente der frühmittelalterlichen Kunst zurück, wie sie sich vor allem in den prächtigen Buchmalereien erhalten hatten. Davon stellte man Kopien her, ebenso wurden von filigranen Fibeln Reproduktionen geschaffen. Sie und die in Mode kommenden Hochkreuze vermittelten einem großen Publikum auf |225|den Britischen Inseln und dem Festland den Eindruck einer typisch keltisch-irischen Kunst, die an Popularität bis heute nichts eingebüßt hat.

In den Jahrzehnten um 1900 entwickelte sich darüber hinaus unter irischen Intellektuellen eine so genannte keltische Renaissance, die auch als Celtic Dawn oder »Keltisches Erwachen« bezeichnet wurde. Damit verbanden sie eine Rückbesinnung auf die originale irische Kultur, die man mittlerweile bewusst als keltisch betrachtete. Von den engagierten Männern und Frauen dieser Bewegung sei allein der spätere Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats (1865 –1939) erwähnt. Er griff in vielen seiner Werke auf die bekannten Heldenerzählungen zurück, an deren Spitze für ihn CúChulainn stand. Doch der keltische Einfluss reichte weit über den bloßen Rückgriff auf die alte Überlieferung hinaus, denn er war offensichtlich auch an der Entstehung der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts beteiligt. Man vermutet ihn dort, wo Texte den üblichen Realismus verlassen und fantastische und surreale Ausdrucksformen annehmen – leider sind sie oft dementsprechend schwer zu verstehen.

Ein Beispiel dafür bot der Waliser Dylan Thomas (1914 –1953), dessen Hörspiel Unter dem Milchwald (Under Milk Wood) 1954 in England und Deutschland erstmals im Radio gesendet wurde. Darin steht eine kleine fiktive Stadt in Wales im Mittelpunkt des Geschehens, die den Namen Llareggub trägt. An einem einzigen Frühlingstag lernt man die Bewohner mit ihren alltäglichen Freuden und Sorgen kennen. Doch nicht deren unspektakuläre Schicksale und kleinbürgerlichen Tagesläufe charakterisieren den Milchwald als keltisch geprägt, sondern die Art der Darstellung: Da werden Menschen mit Tieren verglichen und bewegen sich in einer symbolischen und grotesken, von märchenhaften Elementen durchdrungenen Atmosphäre, die sich auszeichnet durch den spielerischen Umgang mit der Sprache. Selbstredend fehlt es nicht an Erwähnungen von Barden und Druiden und der Berg der Stadt sei wie ein Maulwurfsbau »neben Bergen, in denen altersgrau König Artus liegt, schlafgebannt«. Um ihn spannt sich jene zauberhafte Stimmung, die der keltischen Welt nicht fremd ist: »Der Llareggub-Berg, jener mystische Tumulus, das Mahnmal von Völkern, die in der Gegend von Llareggub gewohnt haben, noch ehe die Kelten das Land des Sommers verließen; der Berg, auf dem die alten Hexenmeister sich aus Blumen eine Frau machten.«