George R.
R. Martin
Aussichtslose Varianten
UNSOUND
VARIATIONS
Nachdem sie von der Interstate abgebogen waren, wurde die Straße schmal und zweispurig und wand sich in einer Reihe von Serpentinen, jede steiler als die vorhergehende, einen verschlungenen Pfad durch die Berge. Gipfel erhoben sich rings um sie her, kiefernbestanden und von Schnee und Eis gekrönt, während schnell fließende, kalte Wasserfälle kaum sichtbar auf beiden Seiten vorbeihuschten. Der Himmel bestand aus einem strahlend hellen Blau. Es war eine aufmunternde Landschaft, doch sie trug nicht dazu bei, Peters Stimmung zu heben. Er konzentrierte sich blind auf die Straße und verlor sich in den unbeseelten Reflexen des Fahrens.
Als die Berge höher wurden, wurde der Radioempfang schlechter, schwankte mit jeder Straßenwindung zwischen besser und schwächer hin und her, bis sie zu guter Letzt überhaupt nichts mehr hereinbekommen konnten. Kathy suchte die Skala von einem Ende zum anderen ab und dann wieder zurück. Schließlich schaltete sie das Radio verärgert aus. „Ich schätze, du wirst einfach mit mir reden müssen“, sagte sie.
Peter brauchte sie nicht anzusehen, um die Schärfe aus ihrem Tonfall heraushören zu können, die bittere Intensität des Sarkasmus, der schon vor langer Zeit die Zärtlichkeit in ihrer Stimme ersetzt hatte. Sie suchte den Streit, das wußte er. Sie war auf das Radio wütend, und sie nahm ihm übel, daß er sie auf diese Reise mitgeschleppt hatte, und vor allem nahm sie ihm übel, daß sie mit ihm verheiratet war. Manchmal, wenn er sich selbst sehr leid tat, machte er ihr deswegen nicht einmal Vorwürfe. Als Ehemann hatte er sich als nicht sonderlich günstiges Geschäft erwiesen: ein gescheiterter Schriftsteller, ein gescheiterter Journalist, ein Geschäftsmann, der nichts taugte, deprimiert und deprimierend. Er war jedoch noch immer ein lebhafter Sparring-Partner. Vielleicht versuchte sie deshalb so oft, einen Streit zu provozieren. Nachdem das ganze böse Blut abgelassen worden war, würde einer von ihnen, oder beide, anfangen zu weinen, und dann würden sie wie üblich miteinander schlafen, und das Leben war ein oder zwei Stunden lang angenehm. Das war so ziemlich alles, was sie noch hatten.
Aber nicht heute. Peter fehlte die Energie, und seine Gedanken waren bei anderen Dingen. „Worüber möchtest du reden?“ fragte er sie. Er hielt seinen Tonfall liebenswürdig und den Blick auf die Straße gerichtet.
„Erzähl mir von diesen Clowns, die wir besuchen“, sagte sie.
„Das habe ich doch schon. Sie waren meine Teamkameraden im Schachteam, als ich damals am Northwestern war.“
„Seit wann ist Schach eigentlich ein Mannschaftssport?“ fragte Kathy. „Was habt ihr gemacht – über jeden Zug abgestimmt?“
„Nein. Beim Schach ist ein Mannschaftsspiel in Wirklichkeit eine Anzahl individueller Spiele. Für gewöhnlich vier oder fünf Bretter, zumindest im College-Spiel. Es gibt keine Beratung oder so etwas. Das Team, das die meisten Einzelspiele gewinnt, gewinnt den Turnier-Punkt. Wie es funktioniert …“
„Ich verstehe“, sagte sie scharf. „Ich bin vielleicht keine Schachspielerin, aber ich bin nicht dumm. Du und diese anderen drei, ihr wart also das Northwestern-Team?“
„Ja und nein“, erwiderte Peter. Der Toyota mühte sich ab, denn an derart steile Steigungen war er nicht gewöhnt, und er war nicht an diese Höhen angepaßt worden, bevor sie von Chicago aufgebrochen waren. Er fuhr vorsichtig. Sie waren jetzt hoch genug, um vereiste Flächen und Schnee, der über die Straße wehte, anzutreffen.
„Ja und nein“, sagte Kathy sarkastisch. „Was heißt das?“
„Das Northwestern hatte damals einen großen Schachclub. Wir beteiligten uns an zahllosen Turnieren – lokalen, staatlichen, nationalen. Manchmal haben wir mehr als ein Team eingesetzt, deshalb war die Aufstellung bei jedem Turnier ein bißchen anders. Es war davon abhängig, wer spielen konnte und wer nicht, wer ein Zwischensemester hatte, wer im letzten Spiel gespielt hatte – eine Menge Dinge. Wir vier waren diese Woche vor zehn Jahren in den nordamerikanischen College-Mannschaftsmeisterschaften die B-Mannschaft des Northwestern. Northwestern war Veranstalter dieses Turniers, und ich leitete es – das war so gut wie spielen.“
„Was meinst du mit B-Mannschaft?“
Peter räusperte sich und lenkte den Toyota in eine scharfe Kurve, wobei Schottersteine gegen die Unterseite des Wagens prasselten, als ein Rad die Böschung streifte. „Eine Schule war nicht nur auf eine Mannschaft beschränkt“, sagte er. „Wenn man das nötige Geld hatte und eine Menge Leute, die spielen wollten, dann konnte man mehrere aufstellen. Die vier besten Spieler bildeten die A-Mannschaft, den tatsächlichen Bewerber. Die zweiten vier waren die B-Mannschaft und so weiter.“ Er machte eine kurze Pause und fuhr dann mit einem leisen Unterton von Stolz in der Stimme fort. „Die nationalen Meisterschaften im Northwestern waren die größten, die bis zu diesem Zeitpunkt abgehalten worden waren, obwohl dieser Rekord später gebrochen wurde. Aber wir haben einen zweiten Rekord aufgestellt, und der besteht noch immer. Weil das Turnier auf unserem heimischen Gelände stattfand, hatten wir eine Menge Spieler zur Verfügung. Wir brachten sechs Teams ein. Keine andere Schule hat je mehr als vier Teams in den Nationalen gehabt.“ Dieser Rekord brachte noch immer ein Lächeln aufsein Gesicht. Vielleicht war es kein großartiger Rekord, aber es war der einzige, den er errungen hatte, und es war seiner. Viele Leute leben und sterben, ohne irgendeine Art von Rekord aufzustellen, überlegte er still. Vielleicht sollte er Kathy sagen, daß sie ihm seinen Rekord auf den Grabstein setzen sollte: HIER RUHT PETER K. NORTEN. ER LIESS SECHS MANNSCHAFTEN ANTRETEN. Er kicherte.
„Was ist so komisch?“
„Nichts.“
Sie hakte nicht weiter nach. „Du hast also dieses Turnier geleitet, sagst du?“
„Ich war der Club-Präsident und der Vorsitzende des örtlichen Komitees. Das Turnier selbst habe ich nicht geleitet, aber ich habe die Bewerbung zusammengestellt, die die Nationalen nach Evanston brachte, und alle vorbereitenden Vorkehrungen getroffen. Und ich habe unsere sechs Mannschaften zusammengestellt, entschieden, wer in welcher spielte, die Mannschaftskapitäne ernannt. Aber während des Turniers selbst war ich nur der Kapitän der B-Mannschaft.“
Sie lachte. „Du warst also ein großes As beim zweiten Eisen im Feuer. Das paßt. Die Geschichte unseres Lebens.“
Peter verkniff sich eine scharfe Antwort und sagte nichts. Der Toyota schwenkte in eine weitere Haarnadelkehre, und ein weites Colorado-Bergpanorama tat sich vor ihnen auf. Es ließ ihn seltsam unberührt.
Nach einer Weile sagte Kathy: „Wann hast du aufgehört, Schach zu spielen?“
„Ich habe es kurz nach dem College aufgegeben. Eigentlich keine wirklich bewußte Entscheidung. Ich bin einfach irgendwie abgetrieben. Ich habe seit fast neun Jahren an keinem Schachturnier mehr teilgenommen. Wahrscheinlich bin ich mittlerweile ziemlich eingerostet. Aber damals war ich recht gut.“
„Wie gut ist recht gut?“
„Ich war wie jeder andere in unserer B-Mannschaft als A-Klasse-Spieler eingestuft.“
„Was heißt das?“
„Das heißt, daß meine USCF-Einstufung bedeutend höher war als die der großen Mehrheit von Turnier-Schachspielern im Land“, sagte er. „Und die Turnier-Spieler sind im allgemeinen viel besser als die unklassifizierten Holzschieber, denen man in Bars und Kaffeehäusern begegnet. Die Einstufungen reichten bis hinunter zur Klasse E. Über der A-Klasse waren noch die nationalen Meister, die internationalen Meister sowie die Großmeister angesiedelt, aber davon gab es nicht viele.“
„Drei Klassen über dir?“
„Ja.“
„Dann könnte man also sagen, du warst in deiner allerbesten Zeit ein viertklassiger Schachspieler.“
Daraufhin schaute Peter zu ihr hinüber. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht. „Stänkerin“, sagte er. Er war plötzlich wütend.
„Paß auf die Straße auf!“ fauchte Kathy.
Er riß den Wagen so hart er konnte in die nächste Biegung, und drückte auf das Gas. Sie haßte es, wenn er schnell fuhr.
„Mein Mann, die große Nummer“, sagte sie. Sie lachte. „Ein viertklassiger Schachspieler, der in der zweitklassigen Uni-Mannschaft gespielt hat. Und obendrein ein fünftklassiger Fahrer.“
„Halt den Mund“, sagte Peter wütend. „Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest, verdammt noch mal. Vielleicht waren wir nur die B-Mannschaft, aber wir waren gut. Wir haben besser abgeschnitten, als irgendjemand ein Recht hatte zu erwarten, nur einen halben Punkt hinter der Northwestern A. Und beinahe hätten wir eine der größten Überraschungen der Geschichte erlebt.“
„Sag bloß.“
Peter zögerte, und er bedauerte seine Worte bereits. Diese Erinnerung war wichtig für ihn, fast so wichtig wie sein dummer kleiner Rekord. Er wußte, was es bedeutete, wie weit sie gekommen waren. Aber sie würde das nie verstehen, es wäre nur ein weiteres Versagen, über das sie lachen könnte. Er hätte es nie erwähnen sollen.
„Nun?“ stocherte sie. „Was ist mit dieser großen Überraschung, mein Lieber? Erzähl mir davon.“
Es war zu spät, begriff Peter. Jetzt würde sie ihm keine Ruhe mehr lassen. Sie würde ihn sticheln und sticheln, bis er es ihr erzählte. Er seufzte und sagte: „Diese Woche ist es zehn Jahre her. Die nationalen Meisterschaften haben immer zwischen Weihnachten und Neujahr stattgefunden, wenn alle Ferien hatten. Ein Acht-Runden-Mannschaftsturnier, zwei Runden pro Tag. Alle unsere Teams hielten sich recht gut. Unsere A-Mannschaft ist auf den siebten Platz des Gesamtplacements gekommen.“
„Du warst in der B-Mannschaft, Süßer.“
Peter verzog das Gesicht. „Ja. Und wir haben uns bis zu einem gewissen Punkt ausgezeichnet gehalten. Wir sorgten für ein paar hübsche Überraschungen gegen Ende des Turniers. Das brachte uns in eine seltsame Lage. Als es in die letzte Runde ging, lag die Universität von Chicago mit einem Spielstand von 6: 1 an erster Stelle. Sie hatten außer ihren anderen Opfern auch unsere A-Mannschaft geschlagen, und sie verteidigten den Siegertitel der nationalen Meisterschaft. Hinter ihnen folgten drei andere Hochschulen mit 5 ½: 1 ½. Berkeley, die Universität von Massachusetts und – ich weiß nicht, noch eine andere, es spielt keine Rolle. Was jedoch eine Rolle spielte war, daß alle diese drei Mannschaften schon gegen die UvC gespielt hatten. Dann hatte man noch einen ganzen Haufen Mannschaften mit 5: 2, die Northwestern A und B eingeschlossen. Eine der 5: 2-Mannschaften mußte in der Endrunde gegen Chicago aufgestellt werden. Ein launiger Zufall sorgte dafür, daß wir diese Mannschaft waren. Jeder dachte, das würde das Turnier für sie entscheiden.
Es war wirklich ein ungleiches Spiel. Sie waren die Titelverteidiger und hatten eine ehrfurchtgebietende Mannschaft. Drei internationale und einen nationalen Meister, wenn ich mich richtig erinnere. Sie standen auf jedem Brett um Hunderte von Punkten besser als wir. Es hätte einfach sein müssen. War es aber nicht.
Es war nie einfach zwischen der UvC und dem Northwestern. In meiner ganzen College-Zeit waren wir die beiden großen Schach-Favoriten des Mittelwestens, und wir waren Erzrivalen. Der Chicagoer Kapitän, Hai Winslow, wurde ein guter Freund von mir, aber ich habe ihm eine Menge Kopfschmerzen bereitet. Chicago hatte immer ein stärkeres Team als wir, aber wir haben ihnen dennoch manchen Schrecken eingejagt. Wir sind uns in der Chicagoer College-Liga begegnet, auf Landesturnieren, auf Bezirksturnieren und mehrere Male auf den nationalen. Chicago hat die meisten davon gewonnen, aber nicht alle. Einmal haben wir ihnen die Stadtmeisterschaft abgeknöpft und auch noch ein paar andere große Überraschungserfolge aufgestellt. Und in jenem Jahr sind wir bei den Nationalen so nahe …“ – er hielt zwei Finger hoch, kaum voneinander entfernt – „… an unseren allergrößten Erfolg herangekommen.“ Er legte seine Hand auf das Lenkrad zurück und blickte finster drein.
„Weiter“, sagte sie. „Ich bin ganz außer Atem, weil ich ja so gespannt bin, wie es weitergeht.“
Peter ignorierte den Sarkasmus. „Nach einer Stunde Spieldauer hatten wir die Hälfte der Turnierzuschauer um unsere Tische versammelt. Jeder konnte sehen, daß Chicago in Schwierigkeiten war. Wir hielten auf zwei Brettern eindeutig überlegene Stellungen, und auf den anderen beiden standen wir gleich.
Es wurde besser. Ich spielte auf dem dritten Brett gegen Hai Winslow. Wir hatten eine flaue, gleich starke Aufstellung, und wir einigten uns auf ein Remis. Und auf dem vierten Brett wurde E. C. allmählich an die Wand gespielt und gab schließlich in einer völlig verlorenen Position auf.“
„E.C.?“
„Edward Colin Stuart. Wir haben ihn alle E.C. genannt. Ein Original. Du wirst ihn oben bei Bunnish kennenlernen.“
„Er hat verloren?“
„Ja.“
„Das hört sich für mich nicht nach einem sonderlich sensationellen Erfolg an“, meinte sie trocken. „Aber vielleicht ist es für deine Begriffe ein Triumph.“
„E. C. hat verloren“, sagte Peter, „aber mittlerweile hatte Delmario seinen Gegner auf Brett zwei eindeutig erledigt. Der Bursche zog es in die Länge, aber schließlich bekamen wir den Punkt, was den Stand auf 1½: 1½ brachte, bei noch einem laufenden Spiel. Und wir waren dabei, das zu gewinnen. Es war unglaublich. Bruce Bunnish spielte an unserem ersten Brett. Ein echter Knallfrosch, aber ein halbwegs passabler Spieler. Er war ebenfalls ein A-Spieler, und er hatte ein phänomenales Gedächtnis. Fotografisch. Kannte jede Eröffnung rückwärts und vorwärts. Er spielte gegen Chicagos großen Mann.“ Peter lächelte verzerrt. „Groß in mehr als einer Hinsicht. Ein internationaler Meister namens Robinson Vesselere. Verdammt starker Schachspieler, aber er muß 180 Kilo gewogen haben. Er pflegte absolut unbeweglich dazusitzen, während man gegen ihn spielte, die Hände auf seinem Bauch verschränkt, die kleinen Augen schielten auf das Brett. Und dann überwältigte er einen. Er hätte Bunnish mit links schlagen müssen. Verdammt, er war vierhundert Punkte höher eingestuft. Aber das ist nicht gelaufen. Mit seinem raffinierten Gedächtnis hatte Bunnish Vesselere irgendwie mit einer obskuren Variante der sizilianischen Verteidigung ausgetrickst. Er bedrängte ihn überall. Ein unglaublicher Angriff. Die Stellung war komplizierter als alles, was ich je gesehen hatte, sehr raffiniert und taktisch genial. Vesselere inszenierte einen Gegenangriff auf der Damen-Seite, der auch einen gewissen Druck hatte – aber das war nichts gegen die Bedrohungen, die Bunnish auf der Königs-Seite aufgezogen hatte. Es war ein gewonnenes Spiel. Dessen waren wir uns alle sicher.“
„Ihr habt die Meisterschaft also beinahe gewonnen?“
„Nein“, sagte Peter. „Nein, das war es nicht. Wenn wir das Spiel gewonnen hätten, wären wir zu Chicago und ein paar anderen Teams bei 6:2 punktgleich aufgerückt, aber der Meistertitel wäre an jemand anders gegangen, an eine Mannschaft mit 6½ Spielpunkten. An Berkeley vielleicht oder Massachusetts. Für uns ging es nur darum, sie aus der Fassung zu bringen. Es wäre unglaublich gewesen. Sie waren die beste College-Schachmannschaft im Land. Wir waren nicht einmal die beste unserer Schule. Wenn wir sie geschlagen hätten – das wäre eine Sensation gewesen. Und wir sind so nahe daran gewesen.“
„Was ist passiert?“
„Bunnish hat es verpatzt“, sagte Peter mürrisch. „Da war eine kritische Stellung. Bunnish war in der Klemme, eine seiner Figuren war ein potentielles Opfer, weißt du. Eigentlich waren es zwei Opfer. Sehr hart, aber der Zug hätte Vesseleres Königs-Seite kaputtgemacht und seinen König ins Freie hinausgetrieben. Aber Bunnish war dafür zu ängstlich. Statt dessen schaute er ständig auf Vesseleres Angriff auf der Damen-Seite, und schließlich machte er einen schwachen Abwehrzug. Vesselere setzte eine weitere Figur in die Damen-Seite, und Bunnish wehrte wieder ab. Statt seinen Vorteil zu nutzen, machte er eine ganze Reihe vorsichtiger kleiner Anpassungen an die Situation, und bald hatte sich sein Angriff in Luft aufgelöst. Danach hat ihn Vesselere natürlich geschlagen.“ Selbst jetzt, nach zehn Jahren, spürte Peter, wie sich die Enttäuschung in ihm aufbaute, während er sprach. „Wir haben das Spiel 2½: 1½ verloren, und Chicago hatte eine weitere nationale Meisterschaft gewonnen. Hinterher gab sogar Vesselere zu, daß er erledigt gewesen wäre, wenn Brucie an der kritischen Stelle ‚Springer schlägt Bauer* gespielt hätte. Verdammt.“
„Ihr habt verloren. Das ist alles, was zählt: Ihr habt verloren.“
„Wir sind nahe daran gewesen.“
„Nahe zählt nur beim Hufeisen-Werfen und bei Granaten“, sagte Kathy. „Ihr habt verloren. Selbst damals warst du ein Verlierer, mein Lieber. Ich wünschte, ich hätte es gewußt.“
„Bunnish hat verloren, verdammt noch mal“, sagte Peter. „Das sah ihm ähnlich. Er hatte eine A-Klassen-Einstufung und dieses raffinierte Gedächtnis, aber als Mannschaftsspieler war er wertlos. Du hast keine Ahnung, wie viele Spiele er für uns hat platzen lassen. Wenn der Druck da war, dann konnten wir immer damit rechnen, daß Bunnish versagte. Aber dieses eine Mal – das war das schlimmste, dieses Spiel gegen Vesselere. Ich hätte ihn umbringen können. Obendrein war er noch ein arrogantes Arschloch.“
Kathy lachte. „Ist dieses arrogante Arschloch nicht derjenige, den zu besuchen wir uns jetzt beeilen?“
„Es ist zehn Jahre her. Vielleicht hat er sich geändert. Und selbst wenn er sich nicht geändert hat, nun, jetzt ist er ein Multimillionärs-Arschloch. Elektronik. Außerdem will ich E.C. und Steve wiedersehen, und Bunnish hat gesagt, sie wären da.“
„Köstlich“, sagte Kathy. „Tja, dann beeil dich. Ich möchte dieses Treffen nicht verpassen. Es ist vielleicht meine einzige Gelegenheit, vier Tage mit einem Arschloch von Millionär und drei Verlierern zu verbringen.“
Peter erwiderte nichts, aber er drückte das Gaspedal durch, und der Toyota raste die Bergstraße hinunter, immer schneller, und er klapperte, als seine Geschwindigkeit zunahm. Immer runter, dachte Peter, immer abwärts. Genau wie mein gottverdammtes Leben.
Vier Meilen fuhren sie auf Bunnishs Privatstraße, dann kamen sie endlich in Sichtweite des Hauses. Peter, der nach einem Jahrzehnt des Wohnens in billigen Appartements noch immer davon träumte, sich ein eigenes Haus zu kaufen, brauchte nur einmal hinzusehen und wußte, daß er ein Dreimillionen-Dollar-Stück Eigentum anstarrte. Es gab drei Stockwerke, die alle so gut mit dem Berghang verschmolzen, daß man sie kaum bemerkte; das Prachtstück war aus natürlichem Holz und einheimischem Gestein und gefärbtem Glas gebaut. Ein riesiges Solar-Gewächshaus war die auffallendste Besonderheit. Unter dem Haus war eine Vier-Wagen-Garage direkt in den Berg eingelassen.
Peter fuhr auf die letzte leere Stelle, zwischen einen brandneuen silbernen Cadillac Seville, der offensichtlich Bunnish gehörte, und einen alten, verrosteten VW-Käfer, der ihm offensichtlich nicht gehörte. Als er den Schlüssel aus dem Zündschloß zog, schlossen sich die Garagentüren automatisch hinter ihnen und sperrten das Tageslicht und das großartige Bergpanorama aus. Die Tür fiel mit einem widerhallenden, metallischen Klang zu.
„Jemand weiß, daß wir hier sind“, bemerkte Kathy.
„Nimm die Koffer“, zischte Peter.
Im hinteren Teil der Garage entdeckten sie den Aufzug, und Peter drückte den oberen der beiden Knöpfe. Als sich die Aufzugtüren wieder öffneten, erstreckte sich ein gewaltiges Wohnzimmer vor ihnen. Peter trat hinaus und blickte auf eine Wildnis von Topfpflanzen unter einem gewölbten Dachfenster, auf dicke, braune Teppiche, feine Holztäfelung, auf Bücherschränke, die mit ledergebundenen Büchern vollgepackt waren, einen großen Kamin und Edwin Colin Stuart, der sich aus einem lederbezogenen Armlehnen-Sessel am anderen Ende des Zimmers erhob, als sich der Aufzug öffnete.
„E. C“, sagte Peter und stellte seinen Koffer ab. Er lächelte.
„Hallo, Peter“, sagte E. C. und kam rasch auf sie zu. Sie schüttelten sich die Hände.
„Du hast dich in den zehn Jahren kein gottverdammtes bißchen verändert“, stellte Peter fest. Es stimmte. E.C. war noch immer schlank und untersetzt, mit buschigen, sandfarbenen, blonden Haaren auf dem Kopf und einem großartigen Lenkstangen-Schnauzer. Er trug Jeans und ein tailliertes, purpurnes Hemd mit einer schwarzen Weste, und er kam ihm genauso vor wie vor einem Jahrzehnt: lebhaft, adrett, tüchtig. „Kein verdammtes bißchen“, wiederholte Peter.
„Um so schlimmer“, sagte E. C. „Man soll sich doch verändern, glaube ich.“ Seine blauen Augen waren so unergründlich wie eh und je. Er wandte sich Kathy zu und sagte: „Ich bin E. C. Stuart.“
„Oh, Verzeihung“, sagte Peter. „Dies ist meine Frau, Kathy.“
„Erfreut“, sagte sie, nahm seine Hand und lächelte ihm zu.
„Wo ist Steve?“ fragte Peter. „Ich habe seinen VW unten in der Garage gesehen. Hat mich verblüfft. Wie lange fährt er das Ding jetzt schon? Fünfzehn Jahre?“
„Nicht ganz“, erwiderte E. C. „Er ist irgendwo im Haus und mixt sich wahrscheinlich einen Drink.“ Seine Lippen verzogen sich leicht, als er das sagte, was Peter eine ganze Menge mehr sagte, als dies seine Worte taten.
„Und Bunnish?“
„Brucie ist bis jetzt noch nicht in Erscheinung getreten. Ich glaube, er hat deine Ankunft abgewartet. Ihr wollt jetzt wahrscheinlich eure Zimmer sehen.“
„Wie finden wir sie, wenn unser Gastgeber fehlt?“ erkundigte sich Kathy trocken.
„Ah“, sagte E. C, „ihr seid noch nicht mit den Wundern von Bunnishland bekannt gemacht worden. Schaut mal da hinüber.“ Er zeigte zum Kamin.
Peter hätte geschworen, daß an der Wand über der Kaminöffnung ein Gemälde gehangen hatte, als sie eingetreten waren – eine Art surreale Landschaft. Jetzt gab es dort einen großen, rechteckigen Bildschirm, auf dem Worte zu sehen waren, ein leuchtendes Rot auf Schwarz, WILLKOMMEN, PETER. WILLKOMMEN, KATHY. EURE SUITE LIEGT IN DER ZWEITEN ETAGE, ERSTE TÜR. BITTE MACHT ES EUCH BEQUEM.
Peter drehte sich um. „Wie …“
„Zweifellos vom Aufzug ausgelöst“, sagte E. C. „Ich bin genauso begrüßt worden. Brucie ist ein Elektronik-Genie, vergiß das nicht. Dieses Haus ist voller Apparaturen und Spielereien. Ich habe es ein bißchen erforscht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum packt ihr beide nicht aus und kommt dann wieder hierher? Ich gehe nicht weg.“
Sie fanden ihre Zimmer recht leicht. Das riesige, geflieste Bad entpuppte sich als Innenhof im Freien mit einer heißen Wanne, und die Suite hatte ein eigenes Wohnzimmer mit Kamin. Darüber war ein abstraktes Gemälde angebracht, aber als Kathy die Zimmertür schloß, verblaßte es und wurde von einer weiteren Mitteilung ersetzt: ICH HOFFE, IHR FINDET DIES ZUFRIEDENSTELLEND.
„Reizender Bursche, unser Gastgeber“, sagte Kathy, nachdem sie sich auf die Bettkante gesetzt hatte. „Hoffentlich sind diese Fernsehschirme – oder was immer das für Dinger sind – nicht zwei-wegig. Ich habe nicht vor, für irgendeinen elektronischen Voyeur eine Show abzuziehen.“
Peter runzelte die Stirn. „Würde mich nicht überraschen, wenn das Haus wirklich voller Wanzen wäre. Bunnish war immer ein komischer Typ.“
„Wie komisch?“
„Es fiel schwer, ihn zu mögen“, antwortete Peter. „Er war großspurig, hat immer damit geprahlt, was für ein guter Schachspieler er doch sei, wie schlau er sei, diese Art von Sachen. Niemand hat ihm wirklich geglaubt. Seine Noten waren gut, schätze ich, aber den Rest der Zeit wirkte er ziemlich bescheuert. E. C. hatte immer allerlei gerissene Streiche und Schabernacks auf Lager, und Bunnish war sein Lieblingsopfer. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir auf seine Kosten gelacht haben. Bunnish war auch wirklich der Idiot in Person. Plump, rundgesichtig, mit fleischigen Hängebacken wie eine Art Streifenhörnchen, sein Haar trug er im Bürstenschnitt. Er war im ROTC. Ich habe nie jemanden gesehen, der in einer Uniform lächerlicher ausgesehen hat. Er hatte nie Verabredungen.“
„Schwul?“
„Nein, wohl kaum. Asexuell trifft es wohl besser.“ Peter blickte sich im Zimmer um und schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es Bunnish geschafft hat, derart groß herauszukommen. Ausgerechnet er.“ Er seufzte, öffnete den Koffer und begann auszupacken. „Delmario hätte ich es vielleicht zugetraut“, fuhr er fort. „Steve und Bunnish waren beide mit Technik befaßt, aber Steve kam mir immer viel schlauer vor. Wir dachten alle, er sei ein richtiger Könner. Bunnish wirkte nur wie arrogantes Mittelmaß.“
„Er hat euch getäuscht“, sagte Kathy. Sie lächelte süßlich. „Natürlich ist er nicht der einzige, der euch getäuscht hat, oder? Auch wenn er vielleicht der erste war.“
„Genug“, sagte Peter und hängte das letzte seiner Hemden in den Schrank. „Komm, gehen wir wieder hinunter. Ich möchte mit E. C. reden.“
Kaum waren sie aus ihrer Suite hinausgetreten, als eine Stimme sie begrüßte. „Pete?“
Peter drehte sich um, und der große Mann, der in der Tür am hinteren Ende des Flurs stand, lächelte ihm ein entstelltes Lächeln zu. „Erkennst du mich nicht, Pete?“
„Steve?“ sagte Peter verwundert.
„Sicher, he, was denkst du, wer sonst?“ Er trat ein wenig unsicher aus seinem Zimmer, und schloß die Tür hinter sich. „Dies muß die Ehefrau sein, eh? Habe ich recht?“
„Ja“, sagte Peter. „Kathy, dies ist Steve Delmario. Steve, Kathy.“
Delmario kam zu ihnen und quetschte enthusiastisch ihre Hand, nachdem er Peter kräftig auf den Rücken geklopft hatte. Peter merkte, daß er große Augen machte. Wenn sich E. C. in den vergangenen zehn Jahren so gut wie gar nicht verändert hatte, dann sorgte Steve für den Ausgleich. Peter hätte seinen alten Team-Partner auf der Straße nie erkannt.
Der alte Steve Delmario hatte für Schach und Elektronik gelebt. Er war ein wild entschlossener Gegner, und er liebte es, Dinge zusammenzubasteln, jedoch war er enttäuschend desinteressiert an allem, was außerhalb seiner engbegrenzten Leidenschaften lag. Er war ein großer, hagerer Junge gewesen, mit unglaublich scharfen, hinter Colaflaschen-Linsen in schwerem, schwarzem Gestell gefangengehaltenen Augen. Sein schwarzes Haar war immer entweder zerwühlt oder ungekämmt oder – wenn er sich einen seiner Do-it-yourself-Haarschnitte gegönnt hatte – grotesk zersägt gewesen. Gleichermaßen achtlos hatte er es mit seiner Kleidung gehalten. Das meiste war Heilsarmee-Chic minus den Chic gewesen: ausgebeulte braune Hosen mit Aufschlägen, zehn Jahre alte Hemden mit durchgescheuerten Kragen, eine formlose graue Strickjacke mit Reißverschluß, die er überall trug. Einmal hatte E. C. bemerkt, daß Steve Delmario aussah wie der letzte auf Erden am Leben gebliebene Mensch nach einer nuklearen Katastrophe, und daraufhin hatte der ganze Club Delmario fast für die Dauer eines ganzen Semesters ‚der letzte Mensch auf Erden’ genannt. Er nahm es mit Humor. Trotz all seiner Eigenheiten hatte man Delmario gern gemocht.
Die vergangene Zeit jedoch war grausam zu ihm gewesen. Die Colaflaschen-Brillengläser im schwarzen Gestell waren dieselben, und die Kleider waren ebenso wahllos zusammengestellt – fadenscheinige braune Cordhosen, ein kurzärmeliges weißes Hemd mit drei Filzstiften in der Tasche, eine ausgebleichte Strickweste, Knopf für Knopf zugeknöpft, abgenutzte Hauslatschen – aber der Rest hatte sich vollkommen verändert. Steve hatte etwa 25 Kilo zugenommen, und er sah aufgebläht und aufgeschwemmt aus. Er war fast völlig kahl, nichts war mehr da von dem wilden, schwarzen Haar – außer einigen schwächlichen Strähnen um die Ohren. Und seine Augen hatten ihre fieberhafte Intensität verloren und waren statt dessen von einer Verschwommenheit erfüllt, die Peter schrecklich beunruhigend fand. Am schockierendsten aber war der Gestank von Alkohol in seinem Atem. E. C. hatte es angedeutet, aber Peter fiel es noch immer schwer, das zu akzeptieren. Im College hatte Steve Delmario außer einem gelegentlichen Bier keinen Tropfen angerührt.
„Schön, dich wiederzusehen“, sagte Peter, obwohl er sich nicht mehr ganz sicher war, ob das stimmte. „Gehen wir hinunter? E. C. wartet.“
Delmario nickte. „Sicher, sicher, tun wir’s.“ Er schlug Peter wieder auf den Rücken. „Habt ihr Bunnish schon gesehen? Verdammt, das ist ein Laden, den er hier hat, was? Hast du diese Mitteilungsschirme gesehen? Geschickt, wirklich geschickt. Hätte mir nie träumen lassen, daß Bunnish so weit kommen würde, nicht unser alter Funny Bunny, eh?“ Er kicherte. „Ich hab’ mir in den letzten Jahren immer wieder mal ein paar seiner Patente angeschaut, weißt du. Wirklich genial. Echt starke Arbeit. Und von Bunnish. Schätze, man kann eben nie wissen, oder?“
Als sie die Wendeltreppe hinuntergingen, flutete ihnen aus dem Wohnzimmer klassische Musik entgegen. Peter erkannte die Komposition nicht; Rock war eher nach seinem Geschmack. Aber klassische Musik war eine von E. C.s Leidenschaften gewesen, und jetzt saß er in einem Armlehnensessel, die Augen geschlossen, und hörte zu.
„Drinks“, sagte Delmario. „Ich werde uns allen ein paar Drinks machen. Ihr müßt durstig sein. Bunny hat eine gut bestückte Bar direkt hinter dieser Treppe hier. Was wollt ihr?“
„Was steht zur Wahl?“ fragte Kathy.
„Meine Güte, er hat alles, was man sich nur denken kann“, sagte Delmario.
„Dann einen Beefeater-Martini“, sagte sie. „Sehr trocken.“
Delmario nickte. „Pete?“
„Oh“, sagte Peter. Er zuckte mit den Schultern. „Ein Bier, schätze ich.“
Delmario marschierte hinter die Treppe, um ihre Drinks zuzubereiten, und Kathy hob ihre Augenbrauen und sah zu ihm hoch. „Ein soo verfeinerter Geschmack“, sagte sie. „Ein Bier!“
Peter ignorierte sie, ging zu E. C. Stuart hinüber und setzte sich neben ihn. „Wie, zum Teufel, hast du den Plattenspieler gefunden?“ fragte er. „Ich sehe ihn nirgends.“ Die Musik schien geradewegs aus den Wänden zu kommen.
E. C. öffnete die Augen, zeigte ein eigenartiges kleines Lächeln und zwirbelte mit einem Finger ein Ende seines Schnauzers. „Der Mitteilungsschirm hat mir das Geheimnis ausgeplaudert“, sagte er. „Die Armaturen sind in die Wand dort hinten eingebaut er machte eine Bewegung mit dem Kopf – „… und die ganze Anlage ist versteckt. Sie wird auch stimmaktiviert. Computergesteuert. Ich habe ihr gesagt, welche Platte ich hören wollte.“
„Beeindruckend“, gab Peter zu. Er kratzte sich am Kopf. „Hat nicht Steve damals im College eine stimmaktivierte Stereo-Anlage zusammengebastelt?“
„Dein Bier“, sagte Delmario. Er stand vor ihnen und hielt ihm eine kalte Flasche Heineken hin. Peter nahm sie, und Delmario – einen Drink in der Hand – setzte sich auf den kunstvoll gekachelten Kaffeetisch. „Ich hatte eine Idee“, sagte er. „Allerdings ist sie noch ziemlich unfertig. Denkt mal zurück, ihr Burschen habt mich deswegen immer aufgezogen.“
„Du hattest einen guten Tonabnehmer gekauft“, sagte E.C., „aber er wurde von dir an einem Tonarm befestigt, den du aus einem verbogenen Kleiderbügel angefertigt hattest.“
„Es hat funktioniert“, protestierte Delmario. „Das Ganze wurde auch stimmaktiviert, wie du schon sagtest, war aber natürlich primitiv. Nur ein und aus, das war alles, und man mußte richtig laut sprechen. Ich dachte damals, ich könnte es nach Beendigung des Studiums verbessern, aber ich habe es nie getan.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nicht vergleichbar mit dem hier. Dies ist wirklich hoch entwickelt.“
„Habe ich bemerkt“, sagte E. C. Er reckte seinen Kopf leicht hoch und sagte mit sehr lauter, klarer Stimme: „Ich habe jetzt genug Musik gehört, danke.“ Die Stille, die folgte, war schlicht verblüffend. Peter fiel nichts ein, was er hätte sagen können.
Schließlich wandte sich E. C. ihm zu und sagte ganz ernst: „Wie hat Bunnish dich hergeholt, Peter?“
Peter war verwundert. „Mich hergeholt? Er hat uns einfach eingeladen. Was meinst du damit?“
„Er hat Steves Fahrt bezahlt, weißt du“, sagte E. C. „Was mich betrifft, so habe ich diese Einladung abgelehnt. Brucie gehörte nie zu den Leuten, die ich wirklich gerne mochte, das weißt du. Er hat gewisse Drähte gezogen, um mich umzustimmen. Ich bin bei einer Werbeagentur in New York beschäftigt. Er hat eine dicke Brieftasche vor deren Nase baumeln lassen, und man hat mir gesagt, ich soll hierherfahren – andernfalls würde ich meinen Job verlieren. Interessant, nicht wahr?“
Kathy hatte auf dem Sofa gesessen, an ihrem Martini genippt und gelangweilt dreingeschaut. „Das hört sich ja fast so an, als sei ihm dieses Treffen wichtig“, bemerkte sie.
E. C. stand auf. „Kommt her“, sagte er. „Ich will euch etwas zeigen.“ Die anderen erhoben sich gehorsam und folgten ihm durch den Raum. In einer von Bücherschränken umgebenen schattigen Ecke war ein Schachbrett aufgestellt worden, und die Figuren darauf befanden sich in einer entwickelten Spielposition. Das Brett war aus Quadraten in hellem und dunklem Holz gefertigt und sorgfältig in einen großartigen viktorianischen Tisch eingelegt. Die Figuren waren aus Elfenbein und Onyx. „Seht euch das mal an“, sagte E.C.
„Das ist ein schönes Spiel“, sagte Peter bewundernd. Er griff hinunter, um die schwarze Dame zu einer näheren Begutachtung hochzuheben, und knurrte überrascht. Die Figur bewegte sich nicht.
„Zieh daran“, sagte E.C. „Es wird dir nichts nützen. Ich habe es versucht. Die Figuren sind in dieser Stellung festgeleimt. Jede einzelne von ihnen.“
Steve Delmario umrundete das Brett, und seine Augen zwinkerten hinter den dicken Brillengläsern. Er stellte seinen Drink auf den Tisch und sank in den Sessel vor der weißen Spielerseite. „Die Stellung“, sagte er, die Stimme vom Alkohol ein wenig verschwommen. „Ich kenne sie.“
E. C. Stuart lächelte dünn und wischte über seinen Schnauzer. „Peter“, sagte er und nickte zum Schachbrett hin. „Schau gut hin.“
Peter starrte darauf, und plötzlich wurde es ihm klar – die Aufstellung der Figuren auf dem Brett wurde ihm so bekannt wie seine eigenen Gesichtszüge in einem Spiegel. „Das Spiel“, sagte er, „von den nationalen Meisterschaften. Dies ist die kritische Stellung aus Bunnishs Spiel mit Vesselere.“
E. C. nickte. „Das dachte ich mir. Ich war meiner Sache nicht sicher.“
„Oh, ich bin meiner Sache sicher“, sagte Delmario laut. „Wie, zum Teufel, könnte ich nicht sicher sein? Dies ist genau die Stelle, an der Bunny die Sache geschmissen hat, wißt ihr noch? Er hat den König gezogen statt das Opfer. Das hat uns das Spiel gekostet. Ich, ich habe direkt neben ihm gesessen, und ich habe das verdammt beste Schachspiel gespielt, das ich je gespielt habe. Habe einen Meister geschlagen, und was hat’s genützt? Kein verdammtes bißchen, dank Bunnish.“ Er schaute auf das Brett, und seine Augen funkelten. „Springer schlägt Bauer, das war alles, was er hätte spielen müssen, sprengt Vesselere weit auf. Schach, Schach, Schach, Schach, und dann hätte es irgendwann ein Matt geben müssen.“
„Aber du warst nie in der Lage, den entscheidenden Zug herauszufinden, Delmario“, sagte Bruce Bunnish hinter ihnen.
Keiner von ihnen hatte ihn eintreten hören. Peter zuckte zusammen wie ein Einbrecher, den man beim Diebstahl des Familiensilbers überrascht hatte.
Ihr Gastgeber stand ein paar Meter entfernt in der Tür. Bunnish hatte sich ebenfalls verändert. Seit seiner College-Zeit hatte er Gewicht verloren, und sein Körper wirkte jetzt fest und gut in Form, obwohl er noch immer die großen, runden Wangen hatte, an die sich Peter erinnerte. Sein Bürstenschnitt war zu einem braunen Haarschopf ausgewachsen, sorgfältig frisiert und gefönt. Er trug eine große, getönte Brille und teure Kleidung. Aber er war immer noch Bunnish. Seine Stimme war laut und rauh, genau wie Peter sie in Erinnerung hatte.
Bunnish schlenderte beinahe lässig zu dem Schachbrett hinüber. „Du hast diese Stellung hinterher wochenlang analysiert, Delmario“, sagte er. „Du hast die Matt-Position nie gefunden.“
Delmario stand auf. „Ich habe ein Dutzend Mattpositionen gefunden“, sagte er.
„Ja“, sagte Bunnish, „aber keine einzige davon war erzwungen. Vesselere war ein internationaler Meister. Er wäre auf keine einzige deiner sogenannten Mattsetzungsstrategien hereingefallen.“
Delmario runzelte die Stirn und kippte seinen Drink hinunter. Er wollte noch etwas sagen – Peter konnte ihm ansehen, wie er nach Worten suchte –, aber E. C. stand auf und nahm ihm seine Chance. „Bruce“, sagte er, wobei er ihm die Hand reichte. „Nett, dich wiederzusehen. Wie lange ist es her?“
Bunnish drehte sich um und lächelte herablassend. „Ist das wieder einer von deinen Spaßen, E. C.? Du weißt, wie lange es her ist, und ich weiß, wie lange es her ist. Also – warum fragst du? Norten weiß es, und Delmario weiß es. Vielleicht fragst du für Mrs. Norten?“ Er sah Kathy an. „Wissen Sie, wie lange es her ist?“
Sie lachte. „Ich habe es gehört.“
„Ah“, sagte Bunnish. Er schwenkte zu E. C. zurück. „Dann wissen wir es alle, also muß es wieder einer von deinen Spaßen sein, und ich werde nicht antworten. Weißt du noch, wie du mich immer um drei Uhr morgens angerufen und mich gefragt hast, wie spät es ist? Dann habe ich es dir gesagt, und du hast mich gefragt, was das soll, dich um diese Uhrzeit anzurufen.“
E. C. runzelte die Stirn und ließ die Hand sinken.
„Nun“, sagte Bunnish in die peinliche Stille hinein, die folgte, „es hat keinen Sinn, hier um dieses dumme Schachbrett herumzustehen. Warum setzen wir uns nicht alle am Kamin drüben hin und reden.“ Er machte eine Handbewegung. „Bitte.“
Aber als sie sich gesetzt hatten, brach die Stille erneut herein. Peter nahm einen Schluck Bier und merkte, daß ihm mehr als nur unbehaglich war. Eine fühlbare Spannung hing in der Luft. „Hübsches Haus hast du hier, Bruce“, sagte er in der Hoffnung, die Atmosphäre zu säubern.
Bunnish blickte sich selbstgefällig um. „Ich weiß“, erwiderte er. „Mir ist es furchtbar gut ergangen, weißt du. Furchtbar gut. Ihr würdet nicht glauben, wieviel Geld ich habe. Ich weiß kaum, was ich damit alles anfangen soll.“ Er lächelte breit und albern. „Und wie steht es mit euch, meine Freunde? Hier prahle ich wieder einmal, wo ich doch eigentlich euch allen beim Aufzählen eurer Triumphe zuhören sollte.“ Bunnish sah Peter an. „Du zuerst, Norton. Du bist schließlich der Kapitän. Wie ist es dir ergangen?“
„Ganz gut“, sagte Peter unbehaglich. „Mir ist es gut ergangen. Mir gehört ein Buchladen.“
„Ein Buchladen! Wie wunderbar! Ich erinnere mich, daß du schon immer ins Verlagsgeschäft einsteigen wolltest, obwohl – ich habe eher gedacht, du würdest Bücher schreiben, statt sie zu verkaufen. Was ist nur mit diesen Romanen passiert, die du schreiben wolltest, Peter? Mit deiner literarischen Karriere?“
Peters Mund war sehr trocken. „Ich … Die Dinge ändern sich, Bruce. Ich habe nicht viel Zeit zum Schreiben gehabt.“ Es hört sich so dürftig an, dachte Peter. Ganz plötzlich wünschte er sich verzweifelt, daß er woanders wäre.
„Keine Zeit zum Schreiben“, echote Bunnish. „Schade, Norton. Du warst so vielversprechend.“
„Er ist noch immer vielversprechend“, warf Kathy bissig ein. „Er hat Versprechungen abgegeben, solange ich ihn kenne. Er schreibt nie, aber er gibt Versprechungen ab, und wie.“
Bunnish lachte. „Deine Frau ist sehr geistreich“, sagte er zu Peter. „Sie ist fast so ulkig wie E. C. damals im College. Du genießt es sicherlich, mit ihr verheiratet zu sein. Ich weiß noch, wie begeistert du von E. C.s kleinen Scherzen warst.“ Er sah E. C. an. „Bist du immer noch ein lustiger Mensch, Stuart?“
E. C. wirkte verärgert. „Ich bin hysterisch“, sagte er mit matter Stimme.
„Gut“, meinte Bunnish. Er wandte sich Kathy zu und sagte: „Ich weiß nicht, ob Ihnen Peter all die Geschichten über den alten E. C. erzählt hat, aber er hat uns wirklich einige erstaunliche Streiche gespielt. Ein übermütiger Mensch, das ist unser E. C. Stuart. Einmal, als unser Schachteam die Stadtmeisterschaft gewonnen hatte, ließ er eine seiner Freundinnen bei Peter anrufen und so tun, als sei sie eine Reporterin. Sie hat ihn eine Stunde lang interviewt, bis er endlich begriffen hat, was gespielt wurde.“
Kathy lachte. „Peter ist manchmal ein bißchen langsam“, sagte sie.
„Oh, das war nichts. Normalerweise war ich derjenige, dem E. C. gern Streiche spielte. Ich bin nicht viel ausgegangen, wissen Sie. Ich hatte eine Todesangst vor Mädchen. Aber E. C. hatte hundert Freundinnen, und jede einzelne war großartig. Einmal hat er Mitleid mit mir bekommen und mir angeboten, für mich eine blinde Verabredung zu treffen. Ich akzeptierte eifrig, und als das Mädchen an der Ecke ankam, wo wir uns treffen sollten, da hatte sie eine dunkle Brille auf und trug einen Stock. Damit hat sie herumgetastet. Sie wissen schon.“
Steve Delmario lachte schallend, versuchte, sein Lachen zu unterdrücken und erstickte beinahe an seinem Drink. „Entschuldigung“, keuchte er. „Tut mir leid.“
Bunnish winkte lässig ab. „Oh, mach weiter, lach nur. Es war komisch. Das Mädchen war nicht wirklich blind, wißt ihr, sondern eine Schauspielschülerin, die eine Rolle in einem Stück probte. Aber ich habe den ganzen Abend gebraucht, um das herauszufinden. Ich war solch ein Dummkopf. Und das war nur ein Spaß. Es gibt Hunderte von anderen.“
E. C. blickte finster drein. „Das war vor langer Zeit. Wir waren Kinder. Das liegt jetzt alles hinter uns, Bruce.“
„Bruce?“ Bunnish klang überrascht. „Oho, Stuart, das ist das erste Mal, daß du mich Bruce genannt hast. Du hast dich verändert. Du warst derjenige, der damit angefangen hat, mich Brucie zu nennen. Gott, wie habe ich diesen Namen gehaßt! Brucie, Brucie, Brucie, ich habe ihn verabscheut. Wie oft habe ich dich gebeten, mich Bruce zu nennen? Wie oft? Nun, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß noch, wie du nach drei Jahren schließlich auf einem Treffen zu mir kamst und sagtest, du hättest es dir überlegt und nun auch die Überzeugung gewonnen, daß Brucie wirklich kein passender Name für einen A-Klasse-Schachspieler wäre, einem Zwanzigjährigen, einem Offizier des ROTC. Das waren genau deine Worte. Ich erinnere mich an die gesamte Rede, E. C. Sie hat mich so überrascht, daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte, und deshalb habe ich geantwortet: ‚Gut, das wurde auch Zeit!’ Und dann hast du gegrinst und gesagt, Brucie sei nun out, du würdest mich nie wieder Brucie nennen. Von jetzt an, sagtest du, würdest du mich Bunny nennen.“
Kathy lachte, und Delmario würgte einen explosiven Ausbruch hinunter, aber Peter fühlte sich nur durch und durch kalt. Bunnishs Lächeln war ziemlich jovial, aber sein Ton war reines, gefrorenes Gift, als er von dem Vorfall berichtete. E. C. sah auch nicht belustigt aus. Peter nahm einen Schluck von seinem Bier und grübelte nach einer List, um die Unterhaltung in eine andere Bahn zu lenken. „Spielt irgend jemand von euch noch?“ hörte er sich selbst herausplatzen.
Alle sahen sie ihn an. Delmario machte einen beinahe berauschten Eindruck. „Spielen?“ sagte er. Er guckte blinzelnd auf sein leeres Glas hinunter.
„Füll dir selbst nach“, sagte Bunnish zu ihm. „Du weißt, wo.“ Er lächelte Peter an, als Delmario zur Bar hinüberging. „Du meinst natürlich Schach.“
„Schach“, sagte Peter. „Du erinnerst dich – Schach. Seltsamer kleiner Zeitvertreib, den man mit schwarzen und weißen Figuren und einer Menge Uhren mit zwei Zifferblättern spielt.“ Er sah sich um. „Sagt mir nicht, daß wir es alle aufgegeben haben!“
E. C. zuckte mit den Schultern. „Ich bin zu beschäftigt. Ich habe seit dem College kein klassifiziertes Spiel mehr gespielt.“
Delmario war zurückgekehrt, und Eiswürfel klingelten leise in einem Trinkglas voller Bourbon. „Ich habe nach dem College noch ein wenig gespielt“, sagte er, „aber in den letzten fünf Jahren nicht mehr.“ Er setzte sich schwerfällig hin und starrte in den kalten Kamin. „Das waren meine schlimmen Jahre. Meine Frau verließ mich, ich verlor einen Job nach dem anderen. Unser Bunny hier war mir weit voraus. Auf jede verdammte Idee, mit der ich angekommen bin, hatte er schon ein Patent angemeldet. Es kam soweit, daß ich mich völlig nutzlos fühlte. Damals habe ich angefangen zu trinken.“ Er lächelte, nahm einen Schluck. „Ja“, sagte er. „Genau an jenem Punkt. Und ich habe aufgehört, Schach zu spielen. Es kommt alles heraus, wißt ihr, auf dem Brett kommt alles heraus. Ich habe verloren, immer wieder verloren. Gegen all diese Würstchen, Gott, ich sage euch, ich konnte es nicht ertragen. Meine Einstufung wurde auf Klasse B hinuntergesetzt.“ Delmario nahm einen weiteren Schluck und sah Peter an. „Man braucht das gewisse Etwas, um gutes Schach spielen zu können, weißt du, was ich meine? Eine Art … verdammt, ich weiß nicht … eine Art Arroganz. Selbstvertrauen. Es ist ganz und gar mit Ego verkleidet, mit dieser Art von Zeug, und ich hatte es nicht mehr, was immer es auch war. Ich hab’s immer gehabt, aber dann habe ich es ganz verloren. Ich hatte Pech, und eines Tages hab’ ich mich umgeschaut, und es war weg, und meine Fähigkeit, Schach spielen zu können, war gleichzeitig verschwunden. Also habe ich aufgehört.“ Er hob das Glas an die Lippen, zögerte und leerte es ganz. Dann lächelte er sie an. „Aufgehört“, wiederholte er. „Hab’s aufgegeben. Hingeschmissen. Bin ausgestiegen.“ Er kicherte, stand auf und ging wieder zur Bar.
„Ich spiele“, sagte Bunnish eindringlich. „Ich bin jetzt internationaler Meister.“
Delmario blieb mitten in der Bewegung stehen und fixierte Bunnish mit einem derartigen Blick völliger Verachtung, daß er hätte töten können. Peter sah, daß Steves Hand zitterte.
„Ich freue mich sehr für dich, Bruce“, sagte E. C. Stuart. „Bitte, genieße nur deine Meisterschaft und dein Geld und Bunnishland.“ Er stand auf und zog stirnrunzelnd seine Jacke glatt. „Inzwischen werde ich gehen.“
„Gehen?“ sagte Bunnish. „Wirklich, E. C, so bald? Mußt du?“
„Bunnish“, sagte E. C, „du kannst die nächsten vier Tage damit verbringen, deine kleinen Ego-Spielchen mit Steve und Peter zu spielen, wenn du magst, aber ich fürchte, ich habe dafür nichts übrig. Du warst immer ein Pickelhirn, und ich habe bessere Sachen mit meinem Leben zu tun, als hierzu sitzen und dir zuzusehen, wie du zehn Jahre alten Eiter ausquetschst. Drücke ich mich klar genug aus?“
„Oh, vollkommen“, sagte Bunnish.
„Gut“, sagte E. C. Ersah die anderen an. „Kathy, es war nett, Sie kennenzulernen. Es tut mir leid, daß es nicht unter angenehmeren Begleitumständen geschah. Peter, Steve, wenn einer von euch in nächster Zukunft einmal nach New York kommt, hoffe ich, daß ihr mich besucht. Mein Name steht im Telefonbuch.“
„E.C., hast du nicht …“ fing Peter an, aber er wußte, daß es nutzlos war. E.C. Stuart war schon immer eigensinnig gewesen. Man hatte ihn nie zu etwas überreden oder ihm etwas ausreden können.
„Wiedersehen“, sagte er und unterbrach Peter. Er ging forsch zum Aufzug, und sie sahen zu, wie sich die holzvertäfelten Türen hinter ihm schlossen.
„Er wird zurückkommen“, sagte Bunnish, nachdem sich die Aufzugskabine in Bewegung gesetzt hatte.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Peter.
Bunnish stand auf und lächelte breit. Tiefe Grübchen erschienen in seinen dicken, runden Wangen. „Oh, aber er wird zurückkommen, Norten. Verstehst du – jetzt bin ich an der Reihe, die kleinen Spaße zu machen, und E.C. wird das bald herausfinden.“
„Was?“ fragte Delmario.
„Regt euch deswegen nicht auf, ihr werdet es bald genug verstehen“, meinte Bunnish. „Inzwischen entschuldigt mich doch bitte, Ich muß mich um das Abendessen kümmern. Ihr müßt alle einen Bärenhunger haben. Ich mache das Abendessen selbst, wißt ihr. Ich habe meine Bediensteten weggeschickt, damit wir ein nettes privates Treffen haben.“ Er schaute auf seine Uhr, eine schwere, goldene Schweizer Uhr. „Treffen wir uns alle im Eßzimmer – in, sagen wir, einer Stunde. Bis dahin müßte alles fertig sein. Wir können dann weiterreden. Über das Leben. Über Schach.“ Er lächelte und ging.
Kathy lächelte auch. „Tja“, sagte sie zu Peter, nachdem Bunnish den Raum verlassen hatte, „dies ist ja alles weit unterhaltsamer, als ich mir es hätte vorstellen können. Ich komme mir vor, als wäre ich geradewegs in ein Harold-Pinter-Stück hineingeraten.“
„Wer ist das?“ fragte Delmario und nahm seinen Platz wieder ein.
Peter beachtete ihn nicht. „Mir gefällt die Sache überhaupt nicht“, erklärte er. „Was, zum Teufel, hat Bunnish damit gemeint, als er sagte, er wolle sich mit uns einen Spaß machen?“
Auf eine Antwort brauchte er nicht lange zu warten. Während Kathy davonging, um sich noch einen Martini zu holen, hörten sie den Aufzug wieder und wandten sich erwartungsvoll den Türen zu. E. C. trat heraus, und er sah wütend aus. „Wo ist er?“ fragte er mit harter Stimme.
„Er wollte das Abendessen zubereiten“, sagte Peter. „Was ist los? Er hat etwas von einem Spaß gesagt …“
„Diese Garagentüren wollen nicht aufgehen“, sagte E.C. „Ich bekomme meinen Wagen nicht hinaus. Ohne Auto kommt man nicht weit. Nicht hier. Wir müssen gut fünfzig Meilen von der nächsten menschlichen Behausung entfernt sein.“
„Ich werde hinuntergehen und mit meinem VW durchbrechen“, erklärte Delmario hilfsbereit. „Wie im Film.“
„Mach dich nicht lächerlich“, sagte E. C. „Die Tür ist aus rostfreiem Stahl. Du hast keine Chance, sie niederzureißen.“ Erblickte finster drein und wischte dann ein Ende seines Schnauzers zurück. „Brucie in Stücke zu reißen ist allerdings ein viel erfolgversprechenderer Vorschlag. Wo, zum Teufel, ist die Küche?“
Peter seufzte. „Ich würde es nicht tun, wenn ich du wäre, E. C“, sagte er. „So wie er sich aufgeführt hat, würde er die Möglichkeit, dich ins Gefängnis werfen zu lassen, einfach zu gerne wahrnehmen. Wenn du ihn berührst, ist das ein tätlicher Angriff, das weißt du.“
„Ruft die Polizei“, schlug Kathy vor.
Peter schaute sich um. „Jetzt, da du es erwähnst – ich sehe nirgends ein Telefon in diesem Zimmer. Ihr etwa?“ Schweigen. „Auch in unserer Suite war kein Telefon, wenn ich mich recht entsinne.“
„He!“ sagte Delmario. „Das stimmt, Pete, du hast recht.“
E. C. setzte sich. „Er scheint uns schachmatt gesetzt zu haben“, sagte er.
„Das richtige Wort dafür“, meinte Peter. „Bunnish treibt eine Art Spiel mit uns. Das hat er selbst gesagt. Er macht sich einen Spaß.“
„Haha“, sagte E.C. „Was schlagt ihr also vor – was sollen wir tun? Lachen?“
Peter zuckte mit den Schultern. „Zu Abend essen, reden, unser Treffen abhalten, herausfinden, was Bunnish zur Hölle noch mal mit uns vorhat.“
„Das Spiel gewinnen, Jungs, das werden wir tun“, sagte Delmario.
E. C. starrte ihn an. „Was, zum Teufel, heißt das?“
Delmario nippte an seinem Bourbon und grinste. „Peter hat gesagt, daß Bunny eine Art Spiel mit uns spielt, stimmt’s? Okay, gut. Spielen wir. Schlagen wir ihn in diesem gottverdammten Spiel, was zum Teufel auch immer es für ein Spiel sein mag.“ Er gluckste. „Teufel, Jungs, wir spielen gegen den Funny Bunny. Möglich, daß er ein internationaler Meister ist, aber das kümmert mich einen ganz feuchten Kehricht, er wird trotzdem einen Weg finden, wie er es am Ende platzen läßt. Ihr wißt, wie es war. Bunnish hat die großen Spiele immer verloren. Er wird auch dieses verlieren.“
„Das ist die Frage“, sagte Peter. „Das ist die Frage.“
Peter hatte sich noch eine Flasche Heineken mit in die Suite genommen, saß im Innenhof in einem Liegestuhl und trank, während Kathy die Wanne ausprobierte.
„Das ist nett“, sagte sie aus der Wanne heraus. „Entspannend. Sogar sinnlich. Warum kommst du nicht auch herein?“
„Nein, danke“, sagte Peter.
„Wir sollten uns auch so eine zulegen.“
„Stimmt. Wir könnten sie in unser Wohnzimmer stellen. Die Leute in der Wohnung unter uns würden sich bedanken.“ Er nahm einen Schluck Bier und schüttelte den Kopf.
„Woran denkst du?“ fragte Kathy.
Peter lächelte grimmig. „Schach, glaub es oder glaub es nicht.“
„Oh? Laß hören.“
„Das Leben und Schach haben eine Menge gemeinsam“, sagte er.
Sie lachte. „Wirklich? Komisch, das habe ich nie bemerkt.“
Peter weigerte sich, ihre Stichelei in sich einsickern zu lassen. „Alles eine Sache von Entscheidungen. Bei jedem Zug sieht man sich vor Entscheidungen gestellt, und jede Entscheidung führt zu anderen Varianten. Es verzweigt sich und verzweigt sich wieder, und manchmal ist die Variante, die man gewählt hat, nicht so gut, wie sie ausgesehen hat, ist überhaupt nicht brauchbar. Aber das weiß man erst, wenn das Spiel vorbei ist.“
„Ich hoffe, daß du das wiederholst, wenn ich aus der Wanne herausgeklettert bin“, sagte Kathy. „Ich möchte das alles für die Nachwelt aufschreiben.“
„Ich weiß noch, damals im College – wie viele Möglichkeiten schien das Leben zu haben. Varianten. Ich habe natürlich gewußt, daß ich nur eines meiner Phantasieleben leben würde, aber damals hatte ich sie für ein paar Jahre alle, alle Verzweigungen, alle Varianten. Einen Tag konnte ich davon träumen, ein Romanautor zu sein, am nächsten Tag davon, ein Journalist zu sein, der aus Washington berichtete, am nächsten – oh, ich weiß nicht, ein Politiker, ein Lehrer, was auch immer. Meine Traumleben. Voller Traumreichtum und Traumfrauen. All die Sachen, die ich vorhatte, all die Orte, an denen ich wohnen würde. Natürlich haben sie sich gegenseitig ausgeschlossen, aber da ich keines von ihnen wirklich lebte, lebte ich sie in einem gewissen Sinne alle. Als würde man sich an ein Schachbrett setzen, um ein Spiel zu beginnen, und man weiß nicht, wie die Eröffnung aussieht. Vielleicht wird es eine sizilianische oder eine französische Verteidigung oder eine nach Ruy Lopez. Sie existieren alle nebeneinander, alle Varianten, bis man anfängt, die Züge zu machen. Man träumt immer davon zu gewinnen, egal, welchen Weg man wählt, aber die Varianten sind nach wie vor … verschieden.“ Er trank noch etwas Bier. „Wenn das Spiel erst einmal begonnen hat, sind die Möglichkeiten enger und enger und enger, die anderen Varianten verblassen, und es bleibt einem das, was man hat – eine Position, halb selbstgemacht, halb Zufall, wie er von jenem Fremden auf der gegenüberliegenden Seite des Brettes verkörpert wird. Vielleicht hat man ein gutes Spiel, vielleicht gerät man in Schwierigkeiten, aber auf jeden Fall gibt es genau die eine Position, von der aus man arbeitet. Die Hätte-sein-können-Alternativen sind verschwunden.“
Kathy stieg aus der Wanne und begann sich abzutrocknen.
Dampf stieg aus dem Wasser auf und bewegte sich sanft um sie herum. Peter merkte, daß er sie fast mit Zärtlichkeit ansah, etwas, das er seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Dann sprach sie und zerstörte es. „Du hast deinen Beruf verfehlt“, sagte sie, wobei sie mit dem Handtuch flott weiterrubbelte. „Du hättest Plakateschreiber werden sollen. Du hast eine Ader für Plakat-Tiefsinn. Weißt du, so etwas wie: ‚Ich bin nicht auf dieser Welt, um deinen Erwartungen ge…’“
„Genug“, sagte Peter. „Wieviel Blut mußt du noch abzapfen, verdammt?“
Kathy unterbrach sich und sah ihn an. Sie runzelte die Stirn. „Du bist wirklich kaputt, nicht wahr?“
Peter starrte hinaus auf die Berge und machte sich nicht die Mühe zu antworten.
Die Besorgnis verließ ihre Stimme so schnell, wie sie gekommen war. „Eine weitere Depression, was? Trink noch ein Bier, warum nicht? Genieße dein Selbstmitleid noch ein bißchen. Bis Mitternacht wirst du dich zu einem guten, heulenden Elend hochgearbeitet haben. Mach schon.“
„Ich denke immer noch an dieses Spiel“, sagte Peter.
„Spiel?“
„Bei den nationalen Meisterschaften. Gegen Chicago. Es ist sonderbar, aber ich habe ständig dieses eigenartige Gefühl, als … als wäre genau das der Zeitpunkt gewesen, an dem alles angefangen hat, sich negativ zu entwickeln. Wir hatten die Chance, etwas Großes zu tun, etwas Besonderes. Aber sie ist uns entglitten, und seitdem ist nichts mehr richtig gewesen. Eine verlierende Variante, Kathy. Wir haben eine verlierende Variante gewählt, und seitdem haben wir immer verloren. Wir alle.“
Kathy setzte sich auf den Wannenrand. „Ihr alle?“
Peter nickte. „Schau uns an. Ich habe als Romanautor versagt, habe als Journalist versagt, und jetzt habe ich einen miesgehenden Buchladen. Ganz zu schweigen von einer Miesmacherin als Frau. Steve ist ein Trinker, der nicht einmal genug Geld zusammenkratzen könnte, um die Fahrt von hier weg bezahlen zu können. E. C. ist ein alternder Angestellter – ein Buchhalter mit einer mittelmäßigen Personalakte, ohne Perspektiven. Verlierer. Du hast es gesagt, im Wagen.“
Sie lächelte. „Ah, doch was ist mit unserem Gastgeber? Bunnish hat damals härter verloren als jeder einzelne von euch, und seitdem scheint er alles gewonnen zu haben.“
„Hmmm“, machte Peter. Er nippte nachdenklich an seinem Bier. „Das wüßte ich auch gern. Oh, er ist ziemlich reich, das gebe ich zu. Aber er hat ein Schachbrett in seinem Wohnzimmer stehen, auf dem die Figuren in einer Position festgeleimt sind, damit er jeden Tag auf die Stelle starren kann, wo er in einem Spiel, das vor zehn Jahren ausgetragen wurde, etwas falsch gemacht hat. Das klingt mir nicht nach einem Gewinner.“
Sie stand auf und schüttelte ihr Haar frei. Es war lang und goldbraun, und es fiel prächtig um ihre Schultern, und Peter erinnerte sich an die süße Lady, die er vor acht Jahren geheiratet hatte, als er ein strahlender junger Schriftsteller gewesen war, der hart an seinem ersten Roman gearbeitet hatte. Er lächelte. „Du siehst hübsch aus“, sagte er.
Kathy schien verblüfft. „Du fühlst dich wirklich verdrießlich“, sagte sie. „Bist du sicher, daß du kein Fieber hast?“
„Kein Fieber. Nur eine Erinnerung und eine Menge Bedauern.“
„Ah“, sagte sie. Sie ging in ihr Schlafzimmer zurück und knallte im Vorbeigehen mit dem Handtuch nach ihm. „Komm, Kapitän. Deine Mannschaft wird warten, und das ganze schwere Philosophieren hat mir einen ziemlichen Appetit gemacht.“
Das Essen war gut, aber die Mahlzeit an sich war schrecklich.
Sie aßen dicke Scheiben ausgezeichneter Rippchen mit großen, gebackenen Kartoffeln und eine Menge frisches Gemüse. Der Wein sah teuer aus und schmeckte wunderbar. Hinterher hatten sie die Wahl zwischen drei Desserts sowie frisch aufgebrühtem Kaffee und mehreren köstlichen Likören. Aber die Stimmung bei Tisch ist angespannt und unangenehm, dachte Peter. Steve Delmario kam schon in ziemlich schlechter Verfassung zum Essen, und solange er da war, trank er Wein, als wäre es Wasser, und mit jedem Glas wurde er lauter und verworrener. E. C. Stuart war abweisend und still, seine Wut kaum hinter einer eisigen, distanzierten Haltung gezügelt. Und Bunnish machte jeden einzelnen von Peters Versuchen zunichte, die Unterhaltung auf sicheren, neutralen Boden zu bringen.
Sein joviales Mitteilungsbedürfnis war eine schlechte Maske für hämische Freude, und er beharrte darauf, alte Wunden aus ihrer College-Zeit aufzureißen. Jedesmal, wenn Peter eine Anekdote erzählte, die vergnüglich oder harmlos war, lächelte Bunnish und konterte mit einer, die nach Verletzung und Zurückweisung stank.
Schließlich, beim Kaffee, konnte es E. C. nicht mehr ertragen. „Eiter“, sagte er laut und unterbrach Bunnish. Das war ungefähr das dritte Wort, das er sich während der gesamten Mahlzeit gestattet hatte. „Eiter und noch mehr Eiter. Bunnish, was soll das? Du hast uns hergeholt. Du hast uns hier in der Falle, bei dir. Warum? Damit du beweisen kannst, daß wir dich damals im College schäbig behandelt haben? Ist das der Grund? Wenn ja, schön. Du hast dich verständlich gemacht. Du bist schäbig behandelt worden. Ich bin beschämt, ich bin schuldig. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Jetzt hören wir auf damit. Es ist vorbei.“
„Vorbei?“ sagte Bunnish lächelnd. „Vielleicht ist es das. Aber du hast dich verändert, E. C. Damals, als ich Zielscheibe deiner Spaße war, hast du sie wochenlang wiederholt. Vorbei war damals nicht so endgültig, nicht wahr? Und was ist mit meinem Spiel in den Nationalen – gegen Vesselere? Haben wir das vergessen, nachdem es vorbei war? Oh nein, das haben wir nicht. Das Spiel ist im Dezember ausgetragen worden, wie du dich erinnern wirst. Ich habe davon gehört, bis ich im Mai graduiert wurde. Bei jedem Treffen. Dieses Spiel war für mich nie vorbei. Delmario hat mir jedesmal, wenn wir uns begegnet sind, nur zu gern ein anderes Schachmatt gezeigt. Unser lieber Kapitän hat davon abgesehen, mich für den Rest des Jahres in irgendeiner Liga spielen zu lassen. Und du, E. C, du hast mich genüßlich begrüßt mit: ‚Sag mal, Bunny, irgendwelche großen Spiele in letzter Zeit verloren?’ Du hast dieses Spiel sogar in der Club-Zeitung abgedruckt und es an Chess Life eingeschickt. Zweifellos kommt euch dies alles wie ein alter Hut vor. Aber ich habe dieses Spezialgedächtnis. Ich kann die Dinge nicht ganz so leicht vergessen. Ich erinnere mich noch an alles. Ich weiß noch, wie Vesselere dasaß, die Hände über dem Bauch gefaltet, unbeweglich, wie er mich aus diesen seinen ekelhaften Froschaugen heraus anstarrte. Ich weiß noch, wie er seine Figuren bewegte, sehr vorsichtig, sehr zimperlich – er hat jede mit Daumen und Zeigefinger angehoben. Ich weiß noch, wie ich zwischen den Zügen in die Korridore hinausgegangen bin, um mir einen Schluck Wasser zu holen, und Norten drüben, an den Wandtabellen, gesehen habe, wie er mit Mavora aus der A-Mannschaft gesprochen hat. Wißt ihr, was er gesagt hat? Er gestikulierte mit den Händen, ganz nervös, und sagte zu ihm: Er wird es schmeißen, verdammt, er wird es schmeißen! Und Les hat zu mir herübergeschaut, als ich vorbeigegangen bin, und gesagt: Verliere dieses Spiel, und dein Arsch ist im Eimer, Bunny! Er war auch ein reizendes Herzchen. Ich erinnere mich an all die Leute, die ständig gekommen sind, um sich mein Spiel anzusehen. Ich erinnere mich an Norten, wie er mit Hai Winslow in der Ecke stand, die beiden mächtigen Kapitäne im hitzigen Gespräch. Winslow war ganz zerknittert und brauchte eine Rasur, und er hatte seinen Notizblock dabei und versuchte sich auszurechnen, wer ins Finale käme, wenn wir gewinnen oder unentschieden spielen oder verlieren würden. Ich weiß auch noch, was das für ein Gefühl war, als ich meinen König angetippt habe. Ich weiß noch, wie Delmario angefangen hat, gegen die Wand zu treten, wie E. C. mit den Schultern gezuckt und zur Decke hochgeblickt hat, und wie Peter zu mir herübergekommen ist und einfach nur Bunnish! gesagt und den Kopf geschüttelt hat. Seht ihr? Mein Gedächtnis ist so raffiniert wie immer, und ich habe nichts vergessen. Und ganz besonders das Spiel habe ich nicht vergessen. Wenn ihr wollt, kann ich euch sofort sämtliche Züge aufsagen.“
„Scheiße!“ sagte Steve Delmario. „Da gibt es nur einen wichtigen Zug aufzusagen, Bunny. Springer schlägt Bauern, das ist der Zug, den du aufsagen solltest. Das Opfer, das zum Sieg führende Opfer, der Zug, den du nicht gemacht hast. Ich habe vergessen, was für eine schwache Sache du statt dessen gemacht hast.“
Bunnish lächelte. „Mein Zug war: König zum Springer. Um meinen Turmbauern zu schützen. Ich hatte rochiert, und Vesselere bedrohte ihn. Er hätte ihn schnappen können.“
„Bauer, Schlauer“, sagte Delmario. „Du hättest ihn kaputtgemacht. Das Opfer hätte den Wal ausgeweidet wie nichts sonst, verdammt noch mal. Was das für ein Gelächter gewesen wäre. Das Bunny-Kaninchen schlägt den Wal. Der alte Hai Winslow wäre so erschrocken gewesen, daß er seinen Notizblock hätte fallen lassen. Aber du hast es verpatzt, weil du einen blödsinnigen kleinen Bauern geschützt hast. Du hast es verpatzt.“
„Das hast du mir gesagt“, sagte Bunnish. „Immer wieder gesagt und gesagt und gesagt.“
„Schau mal“, sagte Peter, „ich sehe keinen Sinn darin, all das wieder aufzutischen. Steve ist betrunken, Bruce. Das siehst du ja. Er weiß nicht, was er sagt.“
„Er weiß genau, was er sagt, Norten“, erwiderte Bunnish. Er lächelte dünn und nahm seine Brille ab. Peter erschrak, als er seine Augen sah. Der Haß darin war beinahe fühlbar, und da war auch noch etwas anderes, etwas Altes und Bitteres und irgendwie Eingeschlossenes. Der Blick dieser Augen glitt leicht über Kathy hinweg, die ruhig inmitten der alten Feindseligkeit saß, und berührte Steve Delmario, Peter Norten und E. C. Stuart – einen nach dem anderen – mit großer Abscheu und ebenso großer Belustigung.
„Schluß damit“, sagte Peter fast bittend.
„NEIN!“ sagte Delmario. Der Alkohol hatte ihn angriffslustig gemacht. „Es ist nicht Schluß damit, es wird nie Schluß damit sein, verdammt noch mal. Hol ein Spiel her, Bunny. Ich fordere dich heraus! Wir analysieren es sofort, wir gehen die ganze Sache noch einmal durch, und ich werde dir zeigen, wie du alles verpißt hast.“ Er stemmte sich hoch.
„Ich habe eine bessere Idee“, sagte Bunnish. „Setz dich, Delmario.“
Delmario blinzelte unsicher und fiel dann in seinen Sessel zurück.
„Gut“, sagte Bunnish. „Zu meiner Idee werden wir gleich kommen, aber zuerst werde ich euch allen eine Geschichte erzählen. Wie Archie Bunker einmal gesagt hat – Rache ist die beste Möglichkeit gleichzuziehen. Aber es ist keine Rache, wenn das Opfer nichts davon weiß. Also werde ich es euch sagen. Ich werde euch ganz genau erzählen, wie ich euer Leben ruiniert habe.“
„Oh, komm, hör auf damit!“ sagte E. C.
„Du hast Geschichten noch nie gemocht, E. C“, sagte Bunnish. „Weißt du, warum? Wenn nämlich jemand eine Geschichte erzählt, so wird er der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit hast immer du sein müssen, egal wo du auch warst. Aber jetzt bist du nicht der Mittelpunkt, du bist ein Nichts. Wie fühlt man sich, wenn man unbedeutend ist?“
E. C. schüttelte angewidert den Kopf und schenkte sich Kaffee nach. „Los, Bunnish“, sagte er. „Erzähl deine Geschichte. Du hast ein gebanntes Publikum.“
„Das habe ich, nicht wahr?“ lächelte Bunnish. „Also gut. Alles fängt mit diesem Spiel an. Ich und Vesselere. Ich habe dieses Spiel nicht geschmissen. Es war nicht zu gewinnen.“
Delmario ließ ein unverschämtes Geräusch ertönen.
„Ich weiß es“, fuhr Bunnish unbeirrt fort, „jetzt, aber damals wußte ich es nicht. Ich dachte, ihr hättet recht. Ich hätte alles kaputtgemacht, dachte ich. Es hat an mir gefressen. Jahre, viele Jahre lang, mehr Jahre, als ihr glauben würdet. Nacht für Nacht bin ich schlafen gegangen und dann habe ich dieses Spiel in meinem Kopf wieder und wieder durchgespielt. Dieses Spiel hat mein gesamtes Leben zunichte gemacht. Es wurde eine Besessenheit. Ich wollte nur eines – noch eine Chance. Ich wollte irgendwie zurückgehen, wollte einen anderen Weg wählen, wollte andere Züge machen, um als Gewinner aus der ganzen Sache herauszukommen. Ich hatte die falsche Variante gewählt, das war alles. Ich wußte, wenn ich noch eine Chance hätte, würde ich es besser machen. Mehr als fünfzig Jahre lang habe ich auf dieses Ziel hingearbeitet, und zwar allein auf dieses eine Ziel.“
Peter schluckte hastig einen Schluck kalten Kaffee herunter und sagte: „Was? Fünfzig Jahre? Du meinst fünf, oder?“
„Fünfzig“, wiederholte Bunnish.
„Du bist verrückt“, sagte E. C.
„Nein“, erwiderte Bunnish. „Ich bin ein Genie. Habt ihr schon einmal von der Zeitreise gehört – irgendjemand von euch?“
„Das gibt es nicht“, sagte Peter. „Die Paradoxa …“
Bunnish bedeutete ihm mit einer Geste, still zu sein. „Du hast recht und du hast unrecht, Norten. Sie existiert, aber nur auf eine begrenzte Art und Weise. Aber das reicht. Ich will euch nicht mit Mathematik langweilen, die keiner von euch verstehen kann. Analogie ist leichter. Man sagt, die Zeit sei die vierte Dimension, allerdings weicht sie von den drei anderen auf eine auffallende Weise ab – unser Bewußtsein bewegt sich daran entlang. Allerdings nur von der Vergangenheit zur Gegenwart. Die Zeit selbst fließt nicht, nicht mehr als, sagen wir, Breite fließen kann. Unser Verstand flackert von einem Augenblick der Zeit zum nächsten. Diese Analogie war mein Ausgangspunkt. Ich habe mir überlegt, daß, wenn sich das Bewußtsein in eine Richtung bewegen kann, es sich genausogut auch in die andere Richtung bewegen kann. Ich habe jedoch fünfzig Jahre gebraucht, um die Einzelheiten auszuarbeiten und das, was ich eine Rückblende nenne, möglich zu machen.
Das war in meinem ersten Leben, meine Herren, einem Leben des Versagens und der Lächerlichkeit und Armut. Ich habe mich um meine Besessenheit gekümmert und getan, was ich tun mußte, um mich zu ernähren. Und ich habe euch gehaßt, jeden von euch, in jedem Augenblick dieser fünfzig Jahre. Und meine Verbitterung wurde nur noch größer, als ich beobachtete, daß jeder von euch Erfolg hatte, während ich mich abmühte und versagte. Ich habe Norten einmal getroffen, zwanzig Jahre nach dem College – er hat eine Autogrammstunde gegeben. Du warst so gönnerhaft. Damals habe ich mich entschlossen, euch zu ruinieren, euch alle.
Und das habe ich getan. Ich habe mein Gerät im Alter von einundsiebzig Jahren vollendet. Es gibt keine Möglichkeit, Materie durch die Zeit zu bewegen, aber der Geist, der Geist ist eine andere Sache. Mein Gerät würde meinen Geist an jeden Punkt meines Lebens zurückschicken, den ich wählte, und mein Bewußtsein mit all seinen Erinnerungen das Bewußtsein meines früheren Ichs überlagern. Natürlich konnte ich nichts mitnehmen.“ Bunnish lächelte und klopfte sich bedeutsam an die Stirn. „Aber ich hatte noch immer mein fotografisches Gedächtnis. Das war mehr als genug. Ich prägte mir die Dinge ein, die ich in meinem neuen Leben wissen mußte, und blendete zurück in meine Jugend. Mir war eine zweite Chance gegeben, die Chance, ein paar andere Züge im Spiel des Lebens zu machen. Ich habe sie gemacht.“
Steve Delmario blinzelte. „Dein Körper“, sagte er undeutlich. „Was ist mit deinem Körper passiert, eh?“
„Eine interessante Frage. Die Wucht der Rückblende tötet den zukünftigen Zeitreisenden. Das heißt – den Körper. Die Zeitlinie selbst jedoch setzt sich fort. Jedenfalls weisen meine Gleichungen darauf hin, daß sie sich fortsetzt. Mittlerweile schaffen Veränderungen in der Vergangenheit eine neue, abweichende Zeitlinie.“
„Oh, Ausweichgleise“, sagte Delmario. Er nickte. „Ja.“
Kathy lachte. „Ich kann nicht glauben, daß ich hier sitze und mir all das anhöre“, sagte sie. „Und daß er …“ – sie zeigte auf Delmario – „… das ernst nimmt.“
E.C. Stuart hatte gleichgültig zur Decke hochgeschaut, mit einem hochmütigen, leicht toleranten Lächeln auf dem Gesicht. Jetzt richtete er sich auf. „Da stimme ich Ihnen zu“, sagte er zu Kathy. „Ich bin nicht so leichtgläubig wie du, Bruce“, wandte er sich an Bunnish, „und wenn du versuchst, ein paar Lacher zu erzeugen, indem du uns diesen Topf Scheiße schlucken läßt, dann laß dir sagen – es klappt nicht.“
Bunnish wandte sich an Peter. „Kapitän, wofür stimmst du?“
„Nun“, sagte Peter bedächtig, „dies alles ist ein wenig schwer zu glauben, Bruce. Du hast davon gesprochen, daß das Spiel eine Besessenheit für dich geworden ist, und ich denke, das stimmt. Ich denke, du solltest mit einem Profi darüber reden statt mit uns.“
„Mit was für einem Profi?“ fragte Bunnish.
Peter zappelte unbehaglich. „Du weißt schon. Mit einem Psychodoktor oder einem Berater.“
Bunnish kicherte. „Das Versagen hat dich nicht weniger gönnerhaft gemacht“, sagte er. „Damals im Buchladen, in der Linie, in der du dich als erfolgreicher Romanautor erwiesen hast, warst du genauso schlimm.“
Peter seufzte. „Bruce, siehst du denn nicht, wie kläglich deine Täuschungsmanöver sind? Ich meine, du hast offensichtlich einen ziemlichen Erfolg gehabt, und keinem von uns ist es so gut ergangen. Aber selbst das war dir noch nicht genug, also hast du all diese komplizierten Phantasien darüber konstruiert, daß du hinter unseren Fehlschlägen steckst. Stellvertretende, imaginäre Rache.“
„Weder stellvertretend noch imaginär, Norten“, fuhr Bunnish auf. „Ich kann euch genau erzählen, wie ich es gemacht habe.“
„Laß ihn seine Geschichten erzählen, Peter“, sagte E. C. „Dann läßt er uns vielleicht aus dieser Klapsmühle heraus.“
„Nun, danke, E. C“, sagte Bunnish. Erblickte sich mit selbstgefälliger Zufriedenheit am Tisch um, wie ein Mann, der kurz davor steht, einen Traum zu verwirklichen, den er lange, lange Zeit gehegt hat. Schließlich blieb sein Blick bei Steve Delmario hängen. „Ich werde mit dir anfangen“, erklärte er, „denn ich habe auch tatsächlich mit dir angefangen. Du warst leicht zu vernichten, Delmario, weil du schon immer beschränkt warst. In der ursprünglichen Zeitlinie warst du so reich, wie ich es in dieser hier bin. Während ich mein Leben damit verbrachte, mein Rückblendegerät zu perfektionieren, hast du in der weiten Welt dort draußen schnelles Geld gemacht. Elektronische Spiele zuerst, später grundlegenderes Zeug, Heimcomputer, diese Dinge. Du warst dazu geboren, und du warst der Beste im Geschäft, einfallsreich und genial.
Als ich zurückblendete, habe ich einfach deinen Platz eingenommen. Ich habe all deine frühen kleinen Spiele studiert, deine klügsten Ideen, die grundlegenden Patente, die später kamen und dich so reich gemacht haben. Und ich habe sie mir alle eingeprägt, zusammen jeweils mit dem Datum, an dem du mit jedem einzelnen davon herausgekommen bist. Erst dann habe ich mein Gerät benutzt. Zurück in der Vergangenheit, mit all diesem Vorauswissen bewaffnet, war es ein Kinderspiel, dir zuvorzukommen. Immer wieder. In diesen frühen Jahren, Delmario – ist es dir da nie seltsam vorgekommen, wie ich jeden einzelnen deiner kleinen Geistesblitze vorweggenommen habe? Ich lebe dein Leben, Delmario.“
Delmarios Hand hatte zu zittern begonnen, während er zuhörte. Sein Gesicht sah leblos aus. „Gottverdammter Hund“, flüsterte er. „Gottverdammter Hund!“
„Laß dich nicht von ihm verschaukeln, Steve“, warf E. C. ein. „Er denkt sich das alles nur aus, um zu sehen, wie wir uns winden. Das ist alles viel zu absurd, um Worte dafür zu finden.“
„Aber es ist wahr*’, jammerte Delmario, wobei er von E. C. zu Bunnish schaute und dann, hilflos, zu Peter. Die Augen hinter seinen dicken Brillengläsern funkelten wild. „Peter … was er gesagt hat … all meine Ideen … er war mir immer voraus, er, er, ich hab’s dir gesagt, er …“
„Ja“, sagte Peter fest, „und du hast es auch Bruce gesagt, vorhin, als wir uns unterhalten haben. Jetzt benutzt er nur deine Ängste gegen dich.“
Delmario öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus.
„Nimm dir noch einen Drink“, schlug Bunnish vor.
Delmario starrte Bunnish an, als wollte er gleich aufspringen und ihn erwürgen. Peter spannte sich an, um notfalls einzugreifen. Aber dann streckte Delmario statt dessen die Hand nach einer halbvollen Weinflasche aus und füllte nachlässig sein Glas.
„Das ist niederträchtig, Bruce“, sagte E. C.
Bunnish drehte sich zu ihm um. „Delmarios Ruin war leicht zu bewerkstelligen und dramatisch“, sagte er. „Du warst schwieriger, Stuart. Er hatte außer seiner Arbeit nichts, wofür er lebte, verstehst du, und als ich ihm das weggenommen habe, da ist er einfach zusammengebrochen. Ich brauchte ihm nur ein halbes dutzendmal zuvorzukommen, bis sein ganzer Glaube an sich selbst zerbrochen war. Den Rest hat er dann selbst erledigt. Aber du, E. C, du hast dir mehr zu helfen gewußt.“
„Mach weiter mit dem Märchen, Bunnish“, sagte E.C. in einem ergebenen Tonfall.
„Delmarios Ideen hatten mich reich gemacht“, sagte Bunnish. „Dieses Geld habe ich gegen dich verwendet. Dein Sturz war weniger zufriedenstellend und weniger eindrucksvoll als der von Delmario. Er fiel von ganz oben nach ganz unten. Du warst zunächst nur ein bescheidener Erfolg, und ich mußte mich damit zufriedengeben, dein Leben in einen mäßigen Fehlschlag zu verwandeln. Aber ich habe es geschafft. Ich habe hinter den Kulissen gewisse Drähte gezogen, und du hast eine Menge großer Aufträge verloren. Als du bei Foot & Cone warst, habe ich dafür gesorgt, daß eine andere Agentur euren Texter Allerd abwarb, und zwar unmittelbar bevor er mit einer Kampagne herauskam, die dir Renommee verschafft hätte. Und erinnerst du dich, damals, als du diese Stellung aufgegeben hast, um einen besser bezahlten Posten bei einer brandneuen Agentur anzunehmen? Erinnerst du dich, wie schnell diese Agentur erledigt war – und du keine Arbeit mehr hattest? Das war ich. Ich habe deiner Karriere zwanzig oder dreißig derartige kleine Stöße verpaßt. Hast du dich nie darüber gewundert, wie unfehlbar falsch die meisten deiner beruflichen Schachzüge gewesen sind, Stuart? Über dein Pech?“
„Nein“, erwiderte E. C. „Es geht mir gut genug, danke.“
Bunnish lächelte. „Ich habe dir noch einen weiteren kleinen Streich gespielt. Für diesen Herpes, den du dir letztes Jahr eingefangen hast, kannst du dich bei mir bedanken. Die Dame, die ihn dir verehrt hat, ist gut bezahlt worden. Ich mußte eine ganze Menge von Jahren Ausschau halten, bis ich die richtige Kombination gefunden habe – eine arbeitslose Schauspielerin, jung und großartig und genau dein Typ, aber verzweifelt genug, um so ungefähr alles zu tun, und außerdem mit einer unheilbaren Geschlechtskrankheit gesegnet. Wie hat sie dir gefallen, Stuart? Du bist selbst schuld, weißt du. Ich habe sie dir nur in den Weg gestellt, den Rest hast du selbst besorgt. Und ich habe mir gedacht, daß es wirklich passend ist, nach meiner blinden Verabredung und all dem.“
E. C.s Miene veränderte sich nicht. „Wenn du meinst, das wirft mich um oder ich würde dir jetzt glauben, dann bist du total auf dem Holzweg. Das alles beweist nur, daß du Nachforschungen über mich hast anstellen lassen und es geschafft hast, ein bißchen Dreck aus meinem Leben auszugraben.“
„Oh“, sagte Bunnish. „Immer so skeptisch, Stuart. Hast Angst, es könnte so ausgehen, daß du ziemlich dumm dreinschaust, wenn du mir glaubst. Ts ts ts.“ Er wandte sich Peter zu. „Und du, Norten. Du. Unser furchtloser Anführer. Du warst der Schwierigste von allen.“
Peter erwiderte Bunnishs Blick und sagte nichts.
„Ich habe deinen Roman gelesen, weißt du“, sagte Bunnish beiläufig.
„Ich habe nie einen Roman veröffentlicht.“
„Oh, aber ja doch! Das heißt – in der ursprünglichen Zeitlinie. War auch ein beachtlicher Erfolg. Den Kritikern hat er gefallen, und er erschien sogar kurz am unteren Ende der Bestsellerliste der Times“
Peter war nicht belustigt. „Dies ist so plump und erbärmlich“, sagte er.
„Er hieß Bestien im Käfig, glaube ich“, sagte Bunnish.
Peter hatte dagesessen und es voller Verachtung ertragen, einem kranken Mann zuzuhören. Jetzt setzte er sich plötzlich aufrecht hin, als wäre er geohrfeigt worden.
Er hörte, wie Kathy den Atem einsog. „Mein Gott“, sagte sie.
E. C. schien verwirrt. „Peter? Was ist los? Du siehst …“
„Niemand weiß etwas von diesem Buch“, sagte Peter. „Wie, zum Teufel, hast du es herausbekommen? Mein alter Agent, von ihm mußt du den Titel bekommen haben. Ja, nicht wahr?“
„Nein“, sagte Bunnish und lächelte selbstzufrieden.
„Du lügst!“
„Peter, was ist los?“ fragte E. C. „Warum bist du so bestürzt?“
Peter sah ihn an. „Mein Buch“, sagte er. „Ich … Bestien im Käfig war …“
„Es hat ein solches Buch gegeben?“
„Ja“, sagte Peter. Er schluckte nervös, fühlte sich verwirrt und ärgerlich. „Ja, hat es. Ich … Nach dem College. Mein erster Roman.“ Er lachte nervös. „Ich dachte, es wäre der erste. Ich hatte … hatte eine Menge Hoffnungen. Es war eine ehrgeizige Sache. Ein ernsthaftes Buch, aber ich dachte, es hätte auch einige kommerzielle Möglichkeiten. Der Zirkus. Es handelte vom Zirkus, du weißt, wie fasziniert ich immer vom Zirkus war. Eine Metapher für das Leben, habe ich gedacht, eine Art von Leben, aber auch sehr bunt und sterbend, eine sterbende Einrichtung. Ich habe gedacht, ich könnte den großen Zirkusroman schreiben. Nach dem College bin ich ein Jahr lang mit der Ringling Brothers’ Blue Show herumgereist und habe recherchiert. Ich war ein Butcher, ich … so nennt man die Verkäufer auf den Tribünen, verstehst du? Ein Jahr Recherchen, und zwei Jahre habe ich gebraucht, um den Roman zu schreiben. Hauptperson war ein junger Mann, der mit den Großkatzen arbeitete. Ich habe ihn schließlich beendet und an meinen Agenten abgeschickt, und weniger als drei Wochen, nachdem ich ihn zur Post gebracht habe, habe ich … ich …“ Er konnte nicht zu Ende reden.
Aber E. C. verstand. Er runzelte die Stirn. „Dieser Zirkus-Bestseller? Wie war der Titel?“
„Blue Show“, sagte Peter, die Worte bitter im Mund. „Von Donald Hastings Sullivan, einem alten Lohnschreiber, der fünfzig Horror-Romane und ein Dutzend Schablonenwestern geschrieben hatte – alle unter Pseudonymen. Solch ein Buch von solch einem Schriftsteller. Niemand konnte es glauben. E. C, ich konnte es nicht glauben. Es war mein Buch, unter einem anderen Titel. Oh, es stimmte nicht Wort für Wort überein. Bestien im Käfig war viel besser geschrieben. Aber die Geschichte, der Hintergrund, die Vorfälle, sogar ein paar von den Personennamen … es war beängstigend. Mein Agent hat mein Buch nie auf den Markt gebracht. Er hat gesagt, es sei Blue Show viel zu ähnlich, um veröffentlicht werden zu können – niemand würde es anrühren. Und selbst wenn ich es schaffen würde, damit herauszukommen, dann würde ich bestenfalls als Nachzieher und schlimmstenfalls als Plagiator bezeichnet werden. Es würde wie ein Diebstahl aussehen, sagte er. Drei Jahre meines Lebens – und er hat es einen Diebstahl genannt.
Es gab böse Worte. Er hat mich hinausgeworfen, und ich konnte keinen anderen Agenten dazu bringen, mich zu vertreten. Ich habe nie ein zweites Buch geschrieben. Das erste hatte zuviel aus mir herausgeholt.“ Peter wandte sich Bunnish zu. „Ich habe mein Manuskript vernichtet, jede Kopie verbrannt. Niemand außer meinem Agenten, mir und Kathy wußte von diesem Buch. Wie hast du es herausbekommen?“
„Ich habe es dir bereits gesagt“, sagte Bunnish. „Ich habe es gelesen.“
„Du verdammter Lügner!“ zischte Peter. In weißglühender Wut riß er ein Glas hoch und schleuderte es über den Tisch nach Bunnishs lächelndem Gesicht, weil er dieses selbstgefällige Grinsen auslöschen, es sich in Blut und Zerstörung auflösen sehen wollte. Aber Bunnish duckte sich, und das Glas zersprang an einer Wand.
„Ruhig, Peter“, sagte E.C. Delmario blinzelte in eulenhaftem Stumpfsinn, verloren in seinem alkoholischen Dunst. Kathy hielt sich an der Tischkante fest. Ihre Knöchel waren weiß geworden.
„Ich glaube, unser Kapitän protestiert zu sehr“, sagte Bunnish, wobei sich seine Grübchen zeigten. „Du weißt, daß ich die Wahrheit sage, Norten. Ich habe deinen Roman gelesen. Ich kann die ganze Handlung aufsagen, um es zu beweisen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und tatsächlich habe ich die ganze Handlung bereits aufgesagt. Und zwar vor Donald Hastings Sullivan, der in meinen Diensten Blue Show geschrieben hat. Ich hätte es selbst getan, aber ich habe keine Befähigung zum Schreiben. Sully war froh, eine solche Chance zu bekommen. Er hat ein hübsches, rundes Honorar kassiert, und die Tantiemen, die beträchtlich waren, haben wir uns geteilt.“
„Du Hurensohn“, sagte Peter, aber er sagte es kraftlos. Er fühlte, wie seine Wut versiegte und nur ein schreckliches kränkliches Gefühl zurückließ, die Gewißheit der Niederlage. Er fühlte sich betrogen und hilflos, und ganz plötzlich stellte er fest, daß er Bunnish glaubte, jedes Wort seiner absurden Geschichte glaubte. „Es stimmt, nicht wahr?“ sagte er. „Es stimmt wirklich. Du hast mir das angetan. Du. Du hast meine Worte gestohlen, meine Träume, alles.“
Bunnish sagte nichts.
„Und der ganze Rest“, sagte Peter, „die anderen Fehlschläge, das warst auch alles du, oder? Nach Blue Show, als ich mit dem Journalismus angefangen habe … diese große Story, die sich regelrecht vor meinen Augen verflüchtigt hat, alle meine Informanten, die plötzlich alles leugneten oder verschwanden, damit es so aussah, als hätte ich alles nur erfunden. Die Posten, die ich verloren habe, all diese Prozesse, Plagiatentum, Verletzung der Privatsphäre, Verleumdung, jedesmal, wenn ich mich nur umgedreht habe, bin ich verklagt worden. Zwei Jahre, und sie haben dich so ziemlich aus dem Beruf draußen. Aber es war kein Pech, nicht wahr? Du warst es. Du hast mein Leben gestohlen.“
„Man sollte dir ein Kompliment machen, Norten. Ich habe dich zweimal brechen müssen. Das erste Mal habe ich es geschafft, deine literarische Karriere mit Blue Show zu vernichten, aber dann, während ich dir den Rücken zukehrte, hast du es geschafft, ein schrecklich populärer Journalist zu werden. Preisträger, bekannt, beliebt, alles, und da war es schon zu spät, etwas zu unternehmen. Ich mußte noch einmal zurückblenden, um dich zu erwischen, alles von vornherein zu erledigen.“
„Ich sollte dich umbringen, Bunnish“, hörte sich Peter sagen.
E. C. schüttelte den Kopf. „Peter“, sagte er im Tonfall eines Mannes, der einem hochgradig Schwachsinnigen etwas erklärt, „das alles ist nur ein sorgfältig ausgeführter Schabernack. Nimm Bunny nicht so ernst.“
Peter starrte seinen alten Mannschaftskameraden an. „Nein, E. C. Es ist wahr. Alles ist wahr. Hör auf, dir darüber Sorgen zu machen, daß du das Opfer eines miesen Scherzes sein könntest, und denk darüber nach. Es hat einen Sinn. Es erklärt alles, was mit uns passiert ist.“
E.C. Stuart machte ein verächtliches Geräusch, runzelte die Stirn und betastete das Ende seines Schnauzers.
„Hör auf deinen Kapitän, Stuart“, riet Bunnish.
Peter wandte sich wieder an ihn. „Warum? Das ist es, was ich wissen möchte. Warum? Weil wir dir diese Streiche gespielt haben? Dich verkohlt haben? Vielleicht waren wir mies, ich weiß nicht, aber damals ist mir das nicht so fürchterlich vorgekommen. Du hast eine Menge davon auf dich gelenkt. Aber was immer wir dir angetan haben könnten, dies hier haben wir niemals verdient. Wir waren deine Mannschaftskameraden, deine Freunde.“
Bunnishs Lächeln erstarrte, und die Grübchen verschwanden. „Ihr wart nie meine Freunde.“
Daraufhin nickte Steve Delmario heftig. „Du bist nicht mein Freund, Funny Bunny, laß dir das von mir gesagt sein. Weißt du, was du bist? Ein Wichser. Du warst immer ein gottverdammter Wichser, deshalb hat dich niemand wirklich gemocht, du warst bloß ein verdammter Verliererwichser mit einem Bürstenhaarschnitt. Teufel, denkst du, du wärst der einzige, der je verkohlt worden ist? Was ist mit mir, dem letzten Menschen auf der Welt, he, was ist damit? Was ist mit den Streichen, die E. C. Pete, Les und all den anderen gespielt hat?“ Er nahm einen gierigen Zug. „Uns hierherzuholen, das ist eine weitere verdammte Wichsersache. Du bist derselbe Bunny, der du immer gewesen bist. War nicht genug, etwas zu tun, du hast damit angeben müssen, du hast es jeden wissen lassen müssen. Und wenn etwas falsch gelaufen ist, dann war das natürlich nie dein Fehler, nicht wahr? Du hast nur verloren, weil es im Raum zu laut war, weil die Beleuchtung schlecht war oder sonst was.“ Delmario stand auf. „Du machst mich krank. Nun, vielleicht hast du unser aller Leben ruiniert, und jetzt hast du uns davon erzählt. Schön für dich. Und du hast deinen verdammten Wichserspaß gehabt. Jetzt laß uns hier raus.“
„Ich unterstütze diesen Vorschlag“, sagte E. C.
„Nun, und ich denke nicht daran“, erwiderte Bunnish. „Jedenfalls jetzt noch nicht. Wir haben noch kein Schach gespielt. Ein paar Spiele um der alten Zeiten willen.“
Delmario blinzelte und bewegte sich leicht, stand da und hielt sich an der Stuhllehne fest. „Das Spiel“, sagte er, plötzlich an seine Herausforderung an Bunnish vor ein paar Minuten erinnert. „Wir werden das Spiel neu spielen.“
Bunnish faltete seine Hände ordentlich auf dem Tisch. „Wir können es besser machen“, erwiderte er. „Ich bin ein sehr fairer Mensch, versteht ihr. Keiner von euch hat mir je eine Chance gegeben, aber ich werde euch eine geben – jedem von euch. Ich habe euer Leben gestohlen. War es nicht das, was du gesagt hast, Norten? Nun, Freunde, ich werde euch einen Versuch lassen, dieses Leben zurückzugewinnen. Wir werden ein wenig Schach spielen. Wir werden das Spiel nachspielen – aus der kritischen Aufstellung heraus. Ich werde Vesseleres Seite einnehmen, und ihr könnt meine haben. Ihr drei könnt euch beraten, wenn ihr wollt, oder, wenn euch das lieber ist, werde ich einzeln gegen euch spielen. Es ist mir egal. Ihr braucht mich nur zu schlagen. Gewinnt das Spiel, von dem ihr sagt, ich hätte es gewinnen sollen, und ich werde euch gehen lassen und euch alles geben, was ihr haben möchtet. Geld, Besitztum, einen Job, ganz egal.“
„Fahr zur Hölle, Wichser“, sagte Delmario. „Ich bin nicht an deinem verdammten Geld interessiert.“
Bunnish nahm seine Brille vom Tisch und setzte sie auf; er lächelte breit. „Oder“, sagte er, „wenn ihr das vorzieht – ihr könnt eine Gelegenheit gewinnen, mein Rückblendgerät zu benutzen. Dann könnt ihr zurückgehen, mir zuvorkommen, alles neu gestalten, das Leben leben, für das ihr bestimmt gewesen seid, bevor ich mich eingemischt habe. Stellt euch das vor. Es ist die beste Gelegenheit, die ihr je bekommen werdet, jeder von euch, und ich mache es so leicht. Ihr braucht nur ein gewonnenes Spiel zu gewinnen.“
„Ein gewonnenes Spiel gewinnen ist eines der schwersten Dinge beim Schach“, sagte Peter finster. Aber noch während er dies sagte, raste sein Verstand, die Erregung wühlte tief in seinen Eingeweiden. Es ist eine Chance, dachte er, die Ruinen meines Lebens neu aufzubauen, es richtig ausgehen zu lassen. Die falschen Abzweigungen ungeschehen zu machen, den Wein des Erfolges zu kosten statt des Wermuts des Versagens, dem Hohn auszuweichen, zu dem seine Ehe mit Kathy geworden war. Tote Hoffnungen erhoben sich wie Gespenster, um wieder auf dem Friedhof seiner Träume zu tanzen. Er mußte es versuchen, das wußte er. Er mußte.
Steve Delmario kam ihm zuvor. „Ich kann dieses gottverdammte Spiel gewinnen“, dröhnte er betrunken. „Ich könnte es mit geschlossenen Augen gewinnen. Du bist dran, Bunny. Hol ein Spiel heraus, verdammt noch mal!“
Bunnish lachte und stand auf, wobei er seine großen Hände flach auf die Tischplatte legte und sie benutzte, um sich auf die Füße hochzustemmen. „Oh nein, Delmario. Wenn du verlierst, dann wirst du nicht die Ausrede haben, betrunken gewesen zu sein. Ich werde dich zermalmen, wenn du ganz und gar stocknüchtern bist. Morgen. Ich werde morgen gegen dich spielen.“
Delmario blinzelte wütend. „Morgen“, wiederholte er.
Später, als sie allein in ihrem Zimmer waren, wandte sich Kathy an ihn. „Peter“, sagte sie, „laß uns von hier verschwinden. Heute nacht. Jetzt.“
Peter saß vor dem Kaminfeuer. Er hatte in der obersten Schublade seines Nachtschränkchens ein kleines Schachspiel entdeckt und die kritische Aufstellung aus dem Vesselere-Bunnish-Spiel aufgebaut, um sie zu studieren. Ärgerlich über die Ablenkung schaute er auf und sagte: „Verschwinden? Wie, zum Teufel, sollen wir das anstellen, wenn unser Auto in dieser Garage eingeschlossen ist – was schlägst du vor?“
„Es muß hier doch irgendwo ein Telefon geben. Wir könnten es suchen, finden, Hilfe rufen. Oder, wenn das alles nichts nützt, einfach zu Fuß gehen.“
„Es ist Dezember, und wir sind in den Bergen, meilenweit von jedem anderen Haus entfernt. Wenn wir versuchen, zu Fuß hier herauszukommen, dann könnten wir erfrieren. Nein.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schachbrett zu und versuchte sich zu konzentrieren.
„Peter“, sagte sie ärgerlich.
Er schaute wieder auf. „Was?“ fauchte er. „Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin?“
„Wir müssen irgend etwas tun. Diese ganze Szenerie ist verrückt. Bunnish gehört eingesperrt.“
„Er hat die Wahrheit gesagt“, erklärte Peter.
Kathys Gesichtsausdruck wurde weich, und einen kurzen Moment lang gab es so etwas wie Nachdenklichkeit und Sorge darin. „Ich weiß“, sagte sie leise.
„Du weißt es“, äffte Peter heftig nach. „Du weißt es, ja? Nun, weißt du auch, was das für ein Gefühl ist? Dieser Bastard wird bezahlen. Er ist für jede miese Schweinerei verantwortlich, die mir passiert ist. Nach alldem, was ich jetzt weiß, ist er wahrscheinlich auch für dich verantwortlich.“
Kathys Lippen bewegten sich nur leicht, und ihre Augen bewegten sich überhaupt nicht, aber plötzlich waren die Besorgnis und Sympathie aus ihrem Gesicht verschwunden, und statt dessen sah Peter wieder wohlbekanntes Mitleid, feingeschliffene Verachtung. „Er wird dich einfach wieder brechen“, sagte sie kalt. „Er legt es darauf an, daß du nach dieser Chance gierst, weil er vorhat, sie dir vorzuenthalten. Er wird dich schlagen, Peter. Wie wird dir das gefallen? Wie wirst du damit leben – hinterher?“
Peter sah auf die Schachfiguren hinunter. „Das hat er vor, ja. Aber er ist ein Idiot. Dies hier ist eine gewonnene Stellung. Das Problem ist nur, den Zug zu finden, der zum Sieg führt, die richtige Variante. Und wir haben drei Ansatzpunkte. Steve kommt zuerst. Wenn er verliert, dann sind E. C. und ich in der Lage, aus seinen Fehlern zu lernen. Ich werde nicht verlieren. Ich habe vielleicht alles andere verloren, aber dies hier verliere ich nicht. Dieses Mal werde ich der Gewinner sein. Du wirst sehen.“
„Ich werde sehen, in Ordnung“, sagte Kathy. „Du erbärmlicher Bastard.“
Peter ignorierte sie und bewegte eine Figur. Springer schlägt Bauer.
Kathy blieb am nächsten Morgen in der Suite. „Geh dein verdammtes Spiel spielen, wenn du magst“, sagte sie zu Peter. „Ich werde mich in der heißen Wanne einweichen und lesen. Ich will mit deinem Spiel nichts zu tun haben.“
„Wie du meinst“, erwiderte Peter. Er schlug die Tür hinter sich zu und dachte wieder einmal daran, was er für ein Miststück geheiratet hatte.
Unten im gewaltigen Wohnzimmer stellte Bunnish soeben das Brett auf. Das Spiel, das er ausgewählt hatte, war nicht reich verziert und teuer wie das in der Ecke, bei dem die Figuren festgeklebt waren. Spiele wie dieses sahen für dekorative Zwecke gut aus, waren jedoch beim ernsthaften Spiel nutzlos. Statt dessen hatte Bunnish einen einfachen Holztisch in die Mitte des Raumes geschoben und ein Standard-Turnierspiel herausgeholt: ein Vinylspielfeld in Grün und Weiß, das er sorgfältig aufrollte, einen ziemlich abgenutzten Satz Drueke-Figuren im standardgemäßen Staunton-Design, aus schwarzem und weißem Plastik geformt, mit Bleigewichten im Fußteil und darunter mit Filz versehen, um ihnen einen guten Stand zu geben. Er setzte jede Figur aus dem Gedächtnis auf ihre Position, ohne auch nur einmal auf das Spiel zu sehen, das auf dem teuer eingelegten Brett auf der gegenüberliegenden Zimmerseite erstarrt war. Dann begann er, eine Schach-Uhr mit doppelseitigem Zifferblatt zu stellen. „Ich kann nicht ohne die Uhr spielen, weißt du“, sagte er lächelnd. „Ich werde genau die gleiche Zeit einstellen wie an jenem Tag in Evanston.“
Als alles vorbereitet war, überblickte Bunnish das Brett voller Zufriedenheit und setzte sich vor Vesseleres schwarze Figuren. „Fertig?“ fragte er.
Steve Delmario setzte sich ihm gegenüber hin, und er sah bleich und schrecklich verkatert aus. Er hielt ein großes Trinkglas voll Orangensaft, und seine Augen bewegten sich nervös hinter seinen dicken Brillengläsern. „Ja“, sagte er. „Fang an.“
Bunnish drückte den Knopf, der Delmarios Uhr in Gang setzte.
Sehr schnell streckte Delmario die Hand aus, spielte Springer schlägt Bauer – die Figuren klickten leise gegeneinander, als er sich seine Beute holte – und benutzte den Bauern, den er genommen hatte, um die Uhr zu drücken und damit seinen Zeitnehmer anzuhalten und den von Bunnish in Gang zu setzen.
„Das Opfer“, sagte Bunnish. „Was für eine Überraschung.“ Er schlug den Springer.
Delmario spielte Läufer schlägt Bauer und opferte eine weitere Figur. Bunnish war gezwungen, mit seinem König zu schlagen. Er wirkte gelassen. Er lächelte schwach, seine Grübchen bildeten leichte Falten in den dicken Wangen, die Augen blickten klar und scharf und fröhlich hinter seinen getönten Brillengläsern.
Steve Delmario lehnte sich nach vorn, über das Brett, die Blicke aus seinen dunklen Augen huschten über die Aufstellung hin und her, hin und her, immer und immer wieder, als würde er doppelt prüfen, daß wirklich alles an Ort und Stelle war, dort, wo er es haben wollte. Er schlug die Beine übereinander und löste sie wieder. Peter, der direkt hinter ihm stand, konnte die Spannung fast spüren, die Delmario in Wogen ausstrahlte, die ihn erfüllte. Selbst E. C. Stuart, der ein paar Schritte entfernt in einem großen, bequemen Lehnsessel saß, starrte aufmerksam auf das Spiel. Die Uhr tickte leise. Delmario hob seine Hand, wollte die Dame ziehen, zögerte jedoch mit über ihr schwebenden Fingern. Seine Hand zitterte.
„Was ist los, Steve?“ fragte Bunnish. Er stützte sein Kinn auf beide Hände und lächelte, als Delmario zu ihm aufschaute. „Du zögerst. Weißt du nicht mehr? Der, der zögert, ist verloren. Unsicher – so plötzlich? Bestimmt nicht. Du warst doch bisher immer so sicher. Wie viele Matt-Stellungen hast du mir gezeigt? Wie viele?“
Delmario blinzelte, runzelte die Stirn. „Ich werde dir eine weitere zeigen, Bunny“, sagte er wütend. Seine Finger schlossen sich um seine Dame, schoben sie über das Brett. „Schach.“
„Ah“, sagte Bunnish. Peter studierte die Stellung. Das Doppelopfer hatte die Bauern vor dem schwarzen König weggeräumt, und das Damen-Schach erlaubte keinen Rückzug. Bunnish ließ seinen König um ein Quadrat vormarschieren, auf die Brettmitte zu, auf die wartende weiße Armee. Damit stand fest, daß er jetzt verloren war. Seine Verteidiger standen ausnahmslos auf der Damen-Seite, und der Feind war rings um ihn her. Aber Bunnish schien nicht besorgt zu sein.
Delmarios Uhr tickte, während er die Aufstellung begutachtete. Er nippte an seinem Saft, bewegte sich unruhig auf seinem Sitz. Bunnish gähnte und grinste höhnisch. „Damals warst du der Tagessieger, Delmario. Hast einen Meister geschlagen. Der einzige Sieger. Und jetzt weißt du nicht, wie du Matt erzielen kannst? Wo sind all deine tollen Matt-Stellungen, he?“
„Es gibt so viele, daß ich gar nicht weiß, welche ich nehmen soll, Bunny“, sagte Steve. „Und jetzt halt den Mund, verdammt. Ich versuche nachzudenken.“
„Oh“, sagte Bunnish. „Verzeihung.“
Delmario verbrauchte zehn Minuten auf seiner Uhr, bevor er die Hand ausstreckte und seinen verbliebenen Springer zog. „Schach.“
Erneut schob Bunnish seinen König vor.
Delmario leckte sich die Lippen, schob seine Dame ein Quadrat voran. „Schach.“
Bunnishs König zog seitlich und damit in die Sicherheit der Damen-Seite hinüber.
Delmario ließ einen Bauern vorschnellen. „Schach.“
Bunnish mußte schlagen. Er wischte den angreifenden Bauern mit seinem König weg und lächelte dabei selbstgefällig.
Da jetzt die Front offen war, konnte Delmario seine Türme ins Spiel bringen. Erzog einen hinüber. „Schach.“
Bunnish zog wieder seinen gefährdeten König.
Jetzt zog Delmario den Turm nach vorn, schob ihn die ganze Reihe hoch, um ihn dem Feind von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustellen. „Schach!“ sagte er laut.
Peter sog seinen Atem laut ein, ohne es zu wollen. Der Turm war nicht gedeckt! Bunnish konnte ihn sich ohne weiteres wegschnappen. Er starrte über Delmarios Schulter auf die Stellung. Bunnish konnte den Turm mit seinem König schlagen, in Ordnung, aber dann würde der andere Turm herüberkommen, der König mußte zurückweichen, und wenn sich die Dame auch nur um ein Quadrat bewegte … Ja … Zu viele Matt-Drohungen in dieser Variante. Schwarz hatte viele Zufluchtsmöglichkeiten, aber sie endeten alle in der Katastrophe. Allerdings … wenn Bunnish mit seinem Springer statt mit seinem König schlagen würde, dann ließ er das Feld ungeschützt … Hmmm … Damen-Schach, König hoch, dann mit dem Läufer … Nein, so kam das Matt sogar noch schneller.
Delmario trank seinen Orangensaft aus und stellte das leere Glas mit selbstzufriedener Härte ab.
Bunnish zog seinen König diagonal nach vorn. Der einzig mögliche Zug, dachte Peter. Delmario lehnte sich vor. Hinter ihm lehnte sich Peter ebenfalls vor. Die weißen Figuren umschwärmten jetzt den isolierten schwarzen König, aber wie sollten sie das Matt-Netz verengen? Steve hat drei verschiedene Möglichkeiten, Schach zu erklären, dachte Peter. Nein, vier, den Zug konnte er auch noch tun. Er beobachtete und analysierte schweigend. Das Turm-Schach nützte nichts, der König würde sich einfach zurückziehen, und weitere Schach-Erklärungen würden ihn mühelos in Sicherheit treiben. Der Läufer? Nein, Bunnish konnte austauschen, mit seinem Turm schlagen – er hatte schließlich zwei Figuren mehr. Mehrere Untervarianten zweigten von den beiden Damen-Schachs ab. Peter versuchte immer noch, sich auszurechnen, wohin sie führten, als Delmario plötzlich die Hand ausstreckte, einen Bauern vor seinem König wegpackte und ihn zwei Quadrate vorzog. Er knallte ihn fest hin und schlug auf die Uhr. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte seine Arme. „Du bist am Zug, Bunny“, sagte er.
Peter studierte das Brett. Delmarios letzter Zug ergab kein Schach, aber der Vorstoß des Bauern schnitt ein wichtiges Fluchtquadrat ab. Jetzt war dieses bedrohte Turm-Schach nicht mehr harmlos. Statt in Sicherheit zurückgetrieben zu werden, wurde der schwarze König in drei Zügen mattgesetzt. Natürlich hatte es Bunnish jetzt eilig, das war sein Zug, er konnte einen Verteidiger aufbieten. Seine Dame konnte jetzt … Nein, dann kam Damen-Schach, König zurück, Turm-Schach, und die schwarze Dame fiel … Vielleicht der Läufer … Nein, dort Schach und Matt in einem – unaufhaltsam. Je länger Peter die Aufstellung ansah, desto weniger Abwehrchancen sah er für Schwarz. Bunnish könnte die Niederlage hinauszögern, aber er konnte sie nicht aufhalten. Er war erledigt!
Bunnish sah nicht erledigt aus. Sehr ruhig nahm er einen Springer auf und zog ihn zum Springer der Dame auf Feld sechs. „Schach“, sagte er gelassen.
Delmario starrte auf das Feld. Peter starrte auf das Feld. E. C. Stuart erhob sich aus seinem Sessel und kam heran, er betrachtete das Spiel, sein Finger wischte seinen Schnauzer zurück. Dieses Schach ist nur Zeitverschwendung, dachte Peter. Delmario konnte den Springer schlagen – dazu standen ihm zwei Bauern zur Auswahl –, oder er konnte einfach seinen König bewegen. Außer … Peter starrte finster drein … Wenn Weiß mit dem Läuferbauern schlug. Dame mit Schach angriff, König zum zweiten zog, Dame schlägt Turmbauern mit Schach, König … Nein, das nützte nichts. Weiß wurde gewaltsam mattgesetzt. Die andere Möglichkeit schien das Matt noch zu beschleunigen, nachdem die Dame aus der achten Reihe Schach erklärt hatte.
Delmario zog seinen König vor.
Bunnish schob einen Läufer in einer Diagonalen heraus. „Schach.“
Jetzt gab es nur einen Zug. Steve schob seinen König abermals nach vorn. Er wurde bedrängt, aber sein Matt-Netz würde auch dann noch intakt sein, wenn die Schach-Erklärungen erst einmal ihren Lauf genommen hatten.
Bunnish ließ seinen Springer zurückschnellen – ein weiteres Schach.
Delmario blinzelte und verschränkte unter dem Tisch seine Beine. Peter sah, daß Bunnish, wenn er seinen König zurückholte, eine erzwungene Folge von Schachs hinzunehmen haben würde, die schließlich zum Matt führten … Aber der schwarze Springer stand jetzt ungedeckt sowohl für Turm wie Dame erreichbar und … Delmario erbeutete ihn mit dem Turm.
Bunnish packte den vorgeschobenen Bauern von Weiß, womit er den Eckpfeiler des Matt-Netzes wegnahm. Jetzt konnte Delmario Dame schlägt Dame spielen, aber dann verlor er seine Dame in einem Zweifronten-Angriff, und nach dem Schlagabtausch, der daraufhin folgte, wäre er hoffnungslos kaputt. Statt dessen zog er seinen König zurück.
Bunnish machte ein Ts-ts-Geräusch und schlug den weißen Springer mit seiner Dame, forderte Delmario erneut heraus, sie zu nehmen. Da Springer und Bauer geschlagen waren, hatten sich alle Matt-Drohungen Delmarios aufgelöst, und wenn Weiß die schwarze Dame erwischte, gab es ein Schach, ein Bedrängen, ein Schlagen, Schlagen, Schlagen, und … Peter knirschte mit den Zähnen … Und Weiß wäre plötzlich im Finale, eine Figur nur noch, hoffnungslos verloren. Nein. Es mußte etwas Besseres geben. Diese Stellung hatte noch eine Menge Spielmöglichkeiten in sich. Peter starrte darauf und analysierte.
Auch Steve Delmario starrte darauf, während seine Uhr tickte. Diese Uhr war eines dieser phantastischen Geräte mit einem Zugzähler. Sie zeigte an, daß er sieben weitere Züge machen mußte, um das Zeit-Limit zu erfüllen. Ihm blieben etwas weniger als fünfzehn Minuten übrig. Leichter Zeitdruck, aber nichts Ernstes.
Es sei denn, Delmario saß nur da und ließ seine Blicke über das Brett flitzen und die Augen blinzeln. Er nahm seine schwere Brille ab und putzte sie methodisch an seinem Hemdzipfel. Als er sie wieder über die Nase schob, hatte sich die Aufstellung nicht verändert. Er starrte den schwarzen König konzentriert an, als sei er hartnäckig entschlossen, ihn so zu Fall zu bringen. Schließlich machte er Anstalten aufzustehen. „Ich brauche einen Drink“, sagte er.
„Ich werde ihn holen“, fuhr Peter dazwischen. „Setz dich. Du hast nur noch acht Minuten.“
„Ja“, sagte Delmario. Er setzte sich wieder.
Peter ging an die Bar und mixte ihm einen Screwdriver. Steve leerte die Hälfte davon in einem Schluck, den Blick nahm er dabei nicht ein einziges Mal vom Schachbrett.
Peter warf zufällig einen Blick auf E. C. Stuart. E. C. schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Kein Wort wurde gesprochen, aber Peter hörte die Botschaft: Vergiß es.
Steve Delmario saß da und wurde immer unruhiger. Als ihm auf seiner Uhr noch drei Minuten blieben, streckte er seine Hand aus, überlegte es sich anders und zog sie wieder zurück. Er rutschte auf seinem Sitz herum, zog die Beine an, beugte sich tiefer über das Brett, so daß seine Nase kaum mehr als ein paar Zoll über den Schachfiguren schwebte. Seine Uhr tickte.
Er starrte das Brett noch immer an, als Bunnish lächelte und sagte: „Damit wäre deine Fahne heruntergeholt, Delmario.“
Delmario schaute blinzelnd auf. Sein Mund hing offen. „Zeit“, sagte er eindringlich. „Ich brauche bloß Zeit, dann finde ich den richtigen Zug … muß irgendwo in dieser Stellung sein, muß einfach … all diese Schachs …“
Bunnish erhob sich. „Deine Zeit ist um, Delmario. Spielt ohnehin keine Rolle. Du hast total verloren.“
„NEIN! Nein, das habe ich nicht, verdammt, es gibt ein Matt …“
Peter legte eine Hand auf Steves Schulter. „Steve, nimm’s leicht“, sagte er. „Es tut mir leid. Bruce hat recht. In diesem Spiel bist du kaputt.“
„Nein“, beharrte Delmario. „Ich weiß, daß es eine Matt-Kombination gibt. Ich muß nur … muß … nur …“ Seine rechte Hand, über dem Brett ausgestreckt, begann zu zittern, und er stieß seinen eigenen König um.
Bunnish zeigte seine Grübchen. „Hör auf deinen Kapitän, du Super-Sieger“, sagte er. Dann schaute er von Delmario weg, dorthin, wo E. C. finster dreinblickend stand. „Du bist der nächste, Stuart. Morgen. Dieselbe Zeit, derselbe Ort.“
„Und wenn ich keine Lust habe zu spielen?“ meinte E.C. geringschätzig.
Bunnish zuckte mit den Schultern. „Ganz wie du willst“, sagte er. „Ich werde hier sein, und das Spiel wird hier sein. Ich setze deine Uhr rechtzeitig in Gang. Du kannst auf dem Brett verlieren – oder durch Verfall. Du verlierst so oder so.“
„Und ich?“ sagte Peter.
„Tja, Kapitän“, sagte Bunnish. „Dich spare ich mir als letzten auf.“
Steve Delmario war ein Wrack. Er weigerte sich, das Schachbrett zu verlassen, es sei denn, um sich neue Drinks zu mixen. Für den Rest des Vormittags und den größten Teil des Nachmittags blieb er an seinem Sitz kleben, trank wie ein Fisch und jagte die Schachfiguren wie ein Besessener herum, spielte das Spiel immer und immer wieder. Delmario schlang ein paar Sandwiches hinunter, die ihm Peter gegen Mittag machte, aber man konnte nicht mit ihm reden, ihn nicht besänftigen. Peter versuchte es. Wenn Delmario mit diesem Teufelszeug, das er in solch erschreckenden Mengen in sich hineinschüttete, weitermachte, dann würde er in spätestens einer knappen Stunde weggetreten sein.
Schließlich ließen E. C. und er Delmario in Ruhe und gingen in seine Suite hinauf. Peter klopfte an die Tür. „Bist du schicklich angezogen, Kathy? E. C. ist bei mir.“
Sie öffnete die Tür. Sie trug Jeans und ein T-Shirt. „So schicklich, wie ich nur sein kann“, erwiderte sie. „Kommt schon rein. Wie ist das große Spiel ausgegangen?“
„Delmario hat verloren“, antwortete Peter. „Aber es war eine knappe Sache. Einen Moment lang habe ich gedacht, wir hätten ihn.“
Kathy schnaubte.
„Also, was jetzt?“ sagte E. C.
„Du wirst morgen spielen?“
E. C. zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Ich habe nichts zu verlieren.“
„Gut“, sagte Peter. „Du kannst ihn schlagen. Steve hätte fast gewonnen, und wir kennen beide den Zustand, in dem er ist. Wir müssen das Spiel analysieren, wir müssen die Stelle finden, wo er seinen Fehler gemacht hat.“
E. C. fummelte an seinem Schnauzer herum. Er sah kühl und nachdenklich aus. „Dieser Bauernzug“, schlug er vor. „Derjenige, der kein Schach gebracht hat. Der hat Weiß die Gelegenheit zu diesem Gegenangriff geboten.“
„Er hat auch das Matt-Netz aufgebaut“, meinte Peter. Er schaute über die Schulter zurück, sah Kathy mit verschränkten Armen dastehen. „Könntest du das Schachbrett aus dem Schlafzimmer holen?“ fragte er sie. Als sie ging, wandte sich Peter wieder E. C. zu. „Ich glaube, Steve war bereits verloren, als er diesen Bauernzug gemacht hat. Der war angesichts der drohenden Gefahren der einzig mögliche gute Zug. Alles andere hätte sich nach ein paar Schachs einfach totgelaufen. Er hat sich vorher geirrt, denke ich.“
„All dieses Schachbieten“, sagte E. C. „Vielleicht war es zuviel des Guten?“
„Genau“, sagte Peter. „Statt ihn in ein Schachmatt zu treiben, hat ihn Steve in die Sicherheit getrieben. Du mußt irgendwo dazwischen variieren.“
„Einverstanden.“
Kathy kam mit dem Schachspiel an und stellte es auf den niederen Tisch zwischen ihnen. Als Peter rasch die kritische Stellung aufbaute, setzte sie sich auf den Boden und zog die Beine an den Körper heran. Aber es wurde ihr rasch langweilig, als sie zu analysieren begannen, und es dauerte nicht lange, bis sie mit einem verächtlichen Laut wieder hochkam. „Ihr seid beide verrückt“, sagte sie. „Ich werde mir etwas zu essen holen.“
„Bring uns etwas mit, ja?“ bat Peter. „Und ein paar Flaschen Bier.“ Aber als sie später das Tablett neben E. C. und ihm abstellte, bemerkte er es kaum.
Sie blieben bis tief in die Nacht. Kathy war die einzige, die zum Essen mit Bunnish hinunterging. Als sie zurückkehrte, sagte sie: „Dieser Mann ist ekelhaft“, und sie sagte es so nachdrücklich, daß Peter tatsächlich kurz vom Spiel abgelenkt war. Aber nur für einen Augenblick.
„Wie wär’s hiermit?“ sagte E.C. und zog einen Springer, und Peter schaute rasch wieder zurück.
„Ich sehe, du hast dich entschieden zu spielen, Stuart“, sagte Bunnish am nächsten Morgen.
E. C, der gepflegt und frisch aussah, eine Tasse voll dampfenden schwarzen Kaffees in der Hand, nickte forsch. „Du bist so gescheit wie immer, Brucie.“
Bunnish kicherte.
„Allerdings wäre da noch eine Sache“, sagte E. C. und hielt einen Finger hoch. „Ich glaube dein Ammenmärchen von dieser Zeitmaschine noch immer nicht. Wir spielen dieses Spiel zu Ende, in Ordnung, aber wir werden um Geld spielen, nicht um eine deiner Rückblenden. Verstanden?“
„Ihr Spaßvögel seid wirklich argwöhnische Typen“, sagte Bunnish. Er seufzte. „Alles, was du willst, natürlich. Du willst Geld. Also gut.“
„Eine Million Dollar.“
Bunnish lächelte breit. „Kleingeld“, sagte er. „Aber ich bin einverstanden. Schlage mich, und du wirst mit einer Million von hier weggehen. Du wirst einen Scheck annehmen, hoffe ich?“
„Einen beglaubigten Scheck.“ E.C. drehte sich zu Peter um. „Du bist mein Zeuge“, sagte er, und Peter nickte. Sie waren heute morgen nur zu dritt. Kathy beharrte auf ihrem Desinteresse, und Delmario war in seinem Zimmer, um seinen Rausch auszuschlafen.
„Fertig?“ fragte Bunnish.
„Los.“
Bunnish setzte die Uhr in Gang. E.C. streckte die Hand aus und spielte das Opfer. Springer schlägt Bauer. Seine Bewegungen waren zügig und genau bemessen. Bunnish schlug, und E. C. spielte das Springer-Opfer, ohne eine Sekunde zu zögern. Bunnish schlug wieder, drückte die Uhr.
E. C. Stuart wischte seinen Schnauzer zurück, griff hinunter und zog einen Bauern. Kein Schach.
„Ah“, sagte Bunnish. „Eine Verbesserung. Du hast etwas im Ärmel, nicht wahr? Natürlich hast du das. E.C. Stuart hat immer etwas im Ärmel. Der übermütige, unberechenbare E. C. Stuart. Solch ein Bursche. So einfallsreich.“
„Spiel Schach, Brucie“, fauchte E. C.
„Natürlich.“
Peter schob sich näher an das Brett heran, während Bunnish die Stellung studierte. Sie waren das Spiel letzte Nacht immer wieder durchgegangen und hatten schließlich entschieden, daß das Damen-Schach, das Delmario nach dem Doppelopfer gespielt hatte, falsch war. Es gab mehrere andere Möglichkeiten, in dieser Stellung Schach zu erklären, alle verlockend, aber nach stundenlanger Analyse hatten er und E. C. auch diese abgetan. Eine jede Möglichkeit bot eine Menge Fallen und Schachmatt-Züge, vorausgesetzt, Schwarz machte einen Fehler, aber jede schien zugleich in einem korrekten Spiel versagen zu müssen, und sie mußten annehmen, daß Bunnish korrekt spielen würde.
E. C.s Bauernzug war eine vielversprechende Linie. Subtiler. Solider. Er öffnete die Front für die Figuren von Weiß und setzte eine weitere Barriere zwischen den schwarzen König und die Sicherheit der Damen-Seite. Plötzlich war Weiß von überall her bedroht. Bunnish hatte jetzt an ernsthaften Schwierigkeiten zu kauen.
Er kaute nicht annähernd so lange daran, wie Peter erwartet hatte. Nachdem er die Stellung kaum ein paar Minuten studiert hatte, nahm er seine Dame auf und riß den ungeschützten Turmbauern der Damen-Seite von Weiß weg. Bunnish umschloß den Bauern mit seiner Hand, gähnte, sackte in seinen Sessel zurück und sah träge und gelassen aus.
E. C. erlaubte sich einen kurzen, finsteren Blick, als er die Aufstellung überblickte. Peter fühlte sich ebenfalls unbehaglich. Dieser Zug hätte Bunnish mehr verwirren sollen, als er es getan hat, dachte er. Weiß standen so viele Bedrohungen zur Verfügung … Gestern nacht hatten sie die Möglichkeiten erschöpfend analysiert, sie hatten jede Variante und Subvariante gespielt und wieder gespielt, bis sie sicher gewesen waren, daß sie die Matt-Kombination gefunden hatten. Peter war mit einem fast frohlockenden Gefühl schlafen gegangen. Bunnish hatte ein Dutzend möglicher Abwehrstellungen gegen ihren Bauernvorstoß. Sie hatten keine Ahnung, konnten nicht wissen, welche er wählen würde, deshalb hatten sie sich damit zufrieden gegeben, daß alle und jede einzelne letztendlich im Fehlschlag endete.
Nur, daß Bunnish sie jetzt zum Narren gehalten hatte. Er hatte keine der wahrscheinlichen Abwehrmöglichkeiten gespielt. Er hatte E. C.s Matt-Drohungen einfach ignoriert und war so munter wie der schlimmste Patzer auf Bauernfang gegangen. War ihnen etwas entgangen? Während E. C. über die beste Erwiderung nachdachte, zog sich Peter einen Stuhl an die Brett-Seite heran, damit er in Ruhe analysieren konnte.
Es gibt nichts, dachte er, nichts. Bunnish hatte im nächsten Zug die Möglichkeit, Schach zu bieten, und dazu mußte er seine Dame in die achte Reihe schieben. Aber es war bedeutungslos. E. C. hatte seine Damen-Seite nicht so geschwächt wie Steve gestern in seiner Eile, ein Matt herbeizuführen. Wenn Bunnish Schach bot, brauchte Stuart nur seinen König zur Dame vorzuziehen. Dann würde die schwarze Dame von einem Turm angegriffen und gezwungen werden, sich zurückzuziehen, oder einen weiteren wertlosen Bauern zu schlagen. Inzwischen würde Bunnish in der Mitte des Brettes schachmatt gesetzt werden. Je mehr Peter die Varianten durchging, desto überzeugter wurde er, daß es für Bunnish keine Möglichkeit gab, einen solchen Gegenangriff herauszuarbeiten wie den, mit dem er Steve Delmario geschlagen hatte.
E. C. schien nach einer langen und vorsichtigen Taxierung des Brettes zu demselben Schluß zu gelangen. Gelassen streckte er die Hand aus und setzte seinen Springer, womit er Bunnishs allein stehenden König ein für allemal einengte. Jetzt drohte er mit einem Damen-Schach, das in einem Zug zum Matt führen würde. Bunnish konnte den beherrschenden Springer schlagen, aber in diesem Fall schlug E.C. einfach mit einem Turm zurück, und dann war das Schachmatt unabänderlich, ganz gleich, wie sehr sich Bunnish noch am Haken winden mochte.
Bunnish lächelte seinem Gegner über das Brett hinweg zu und schob träge seine Dame ein Quadrat vor, in die letzte Reihe. „Schach“, sagte er.
E. C. wischte seinen Schnauzer zurück, zuckte mit den Schultern und zog seinen König vor. Mit einer betont gezierten Bewegung drückte er die Uhr. „Du bist verloren“, sagte er leise.
Peter war geneigt zuzustimmen. Dieses letzte Schach hatte nichts gebracht; genaugenommen schien es die Zwangslage von Schwarz noch verschlimmert zu haben. Die Matt-Drohungen waren noch immer vorhanden, so unaufhaltsam wie eh und je, und jetzt wurde auch noch die schwarze Dame angegriffen. Er konnte sie natürlich zurückziehen, aber nicht rechtzeitig genug, um mit der Abwehr Abhilfe zu schaffen. Bunnish hätte sich wie ein Rasender aufführen und sich elend fühlen müssen.
Statt dessen war sein Lächeln so breit, daß es seine Wangen entzweizureißen drohte. „Verloren?“ sagte er. „Ah, Stuart, diesmal ist dein Scherz ein Bumerang!“ Er kicherte wie ein Teenager und holte seine Dame die Reihe herunter, um den weißen Turm wegzuschnappen. „Schach!“
Peter Norten hatte seit langer, langer Zeit kein Turnier-Schach mehr gespielt, aber er erinnerte sich noch daran, wie man sich fühlte, wenn ein Gegner plötzlich einen unerwarteten Zug gemacht hatte, der das gesamte Antlitz eines Spieles veränderte: die kurze, anfängliche Verwirrung, dieses Was-soll-das?-Gefühl, dem die Panik folgte, wenn man die Stärke des nicht geahnten Zuges begriff, und dann die schreckliche, zunehmende Düsternis, die wuchs und wuchs, während man in seinem Schädel eine verlierende Variante nach der anderen durchdachte. Es gab keinen schlimmeren Augenblick im Schachspiel.
So fühlte sich Peter jetzt.
Sie hatten es total übersehen. Bunnish gab seine Dame für einen Turm auf, normalerweise ein unvorstellbares Opfer, aber nicht in dieser Stellung. E. C. mußte die angebotene Dame nehmen. Aber wenn er sie mit seinem König schlug, sah Peter mit einer abrupten schrecklichen Klarheit, dann hatte Schwarz eine Kombination, die zwar die Schlacht gewann, den Krieg jedoch verlor – eine Kombination, die darauf hinauslief, daß er den anderen Turm einsetzen und ihn von seiner lebenswichtigen Deckung des Springers in der Spielmitte abziehen mußte … und dann … Oh, Scheiße!
E. C. versuchte mehr als fünfzehn Minuten lang eine andere Alternative zu finden, aber es war keine Alternative zu finden. Er spielte Turm schlägt Dame. Bunnish ergriff rasch seinen eigenen Turm und schlug den Springer, der sich noch vor zwei Zügen so bedrohlich in Position gestellt hatte. Mit unbarmherziger Präzision erzwang Bunnish dann die Aufgabe einer Figur nach der anderen, vereinfachte es, indem er jede Gefahr vom Brett wegwischte. Unvermittelt waren sie im entscheidenden Finale. E. C. hatte eine Dame und fünf Bauern; Bunnish hatte einen Turm, zwei Läufer, einen Springer und vier Bauern, und ironischerweise nahm sein einst gefährdeter König jetzt eine mächtige Stellung in der Mitte des Brettes ein.
Stundenlang ging das Spiel weiter, da E. C. mit seiner aggressiven Dame entschlossen ein Schach nach dem anderen erklärte, darum kämpfte, jede ungedeckte Figur zu erledigen oder wenigstens eine Wiederholung zu erzwingen. Aber Bunnish war für derartige verzweifelte Taktiken zu geschickt. Es war nur eine Sache der Technik.
Schließlich kippte E. C. seinen König um.
„Und ich habe gedacht, wir hätten uns jede mögliche Verteidigung angesehen“, sagte Peter wie betäubt.
„Tja, Kapitän“, sagte Bunnish fröhlich. „Jeder Versuch zu verteidigen führt zum Verlieren. Die Verteidigungsfiguren schneiden Fluchtwege ab oder geraten in den Weg. Warum sollte ich helfen, mich selbst mattzusetzen? Das würde ich lieber dir überlassen.“
„Ich werde dich mattsetzen“, versprach Peter ärgerlich. „Morgen.“
Bunnish rieb seine Hände aneinander. „Ich kann es kaum erwarten!“
In dieser Nacht wurde der Kriegsrat in E. C.s Suite abgehalten, denn Kathy – die ihre verdrießliche Nachricht mit einem „Ich hab’s euch doch gesagt“ und einem verächtlichen Lächeln quittiert hatte – hatte erklärt, sie werde es nicht zulassen, daß sie in ihrer Gegenwart die halbe Nacht über ein Schachbrett gebeugt verbrachten. Sie sagte Peter, er führe sich wie ein Kind auf, und sie wechselten einige ärgerliche Worte, bevor er hinausstürmte.
Steve Delmario ging das verlorene Spiel des Morgens mit E. C. durch, als Peter sich zu ihnen gesellte. Delmarios Augen sahen schrecklich blutunterlaufen aus, aber ansonsten wirkte er nüchtern, wenn nicht ausgezehrt. Er trank Kaffee.
„Wie sieht es aus?“ fragte Peter, als er einen Sitz heranzog.
„Schlecht“, versetzte E. C.
Delmario nickte. „Teufel, schlechter als schlecht, es fängt an, so auszusehen, als sei dieses verdammte Opfer am Ende doch falsch. Ich kann es nicht glauben, ich kann es einfach nicht, es sieht alles so vielversprechend aus, es muß eine Möglichkeit geben. Es muß. Aber ich will verdammt sein, wenn ich sie finde.“
E.C. fügte hinzu: „Die Überraschung, die er heute hervorzauberte, ist eine Bedrohung in einer Vielzahl von Varianten. Vergiß nicht, wir haben zwei Figuren aufgegeben, um auf diese Position zu kommen. Unglücklicherweise heißt das, daß es sich Brucie leicht leisten kann, etwas von diesem Material zurückzugeben, um aus der Klemme herauszukommen. Er kommt immer noch mit einem Vorteil heraus und gewinnt das Finale. Wir haben heute morgen mit meinem Spiel ein paar Verbesserungen gefunden …“
„Dieser Springer braucht nicht zu fallen“, warf Delmario ein.
„… aber keine überzeugenden“, schloß E. C.
„Habt ihr schon einmal daran gedacht“, sagte Delmario, „daß Funny Bunny vielleicht recht gehabt haben könnte? Daß das Opfer wirklich nicht funktioniert, daß das Spiel vielleicht zu diesem Zeitpunkt überhaupt niemals gewonnen war?“ Seine Stimme hatte einen Klang finsteren Unglaubens in sich.
„Irgendein Zug ist falsch“, sagte Peter.
„Oh?“
„Vor zehn Jahren, nachdem Bunnish das Finale und das Spiel geschmissen hatte, hat Robinson Vesselere zugegeben, daß er schon verloren gewesen war.“
E. C. schaute nachdenklich drein. „Das stimmt. Das hatte ich vergessen.“
„Vesselere war fast ein Großmeister. Er mußte wissen, wovon er redete. Es gibt den Sieg. Ich habe vor, ihn zu finden.“
Delmario schlug seine Hände zusammen, und brüllte freudig: „Verdammt, ja, Pete, du hast recht! Also los!“
„Endlich kehrt der verlorene Gatte zurück“, sagte Kathy spitz, als Peter hereinkam. „Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?“
Sie saß in einem Sessel neben dem Kamin, obgleich das Feuer zu Asche und Glut heruntergebrannt war. Sie trug ein dunkles Kleid, und das Ende der Zigarette, die sie rauchte, war ein heller Punkt in der Dunkelheit. Peter war lächelnd hereingekommen, aber jetzt runzelte er die Stirn. Kathy war eine starke Raucherin gewesen, doch vor zwei Jahren hatte sie es aufgegeben. Jetzt zündete sie sich eine Zigarette nur dann an, wenn sie sehr zornig war. Wenn sie sich eine anzündete, dann hieß das für gewöhnlich, daß sie auf bestem Weg zu einem heftigen Streit waren.
„Es ist spät“, sagte Peter. „Ich weiß nicht, wie spät. Was spielt es für eine Rolle?“ Er hatte den größten Teil der Nacht mit E. C. und Steve verbracht, aber das war es wert gewesen. Sie hatten gefunden, wonach sie gesucht hatten. Peter war sehr müde, jedoch in gehobener Stimmung zurückgekehrt, in der Erwartung, seine Frau schlafend vorzufinden. Er war nicht in der Stimmung für Ärger. „Mach dir nichts aus der Zeit“, sagte er zu ihr und versuchte, sie zu beschwichtigen. „Wir haben es, Kath.“
Sie drückte ihre Zigarette methodisch aus. „Ihr habt – was? Einen neuen Zug, von dem ihr glaubt, er wird unseren psychopathischen Gastgeber schlagen? Versteht ihr denn nicht, daß mich dieses euer dummes Spiel einen Dreck interessiert? Hörst du auf gar nichts, was ich sage? Ich habe die halbe Nacht hier wach gesessen und gewartet, Peter. Es ist fast drei Uhr morgens. Ich möchte mit dir reden.“
„Ja?“ fauchte Peter. Ihr Tonfall hatte ihm das Rückgrat gestärkt. „Hast du je daran gedacht, daß ich vielleicht nicht zuhören will? Nun, dann denk einmal daran. Ich habe morgen ein großes Spiel. Ich brauche meinen Schlaf. Ich kann es mir nicht leisten, bis zum Tagesanbruch aufzubleiben und dich anzuschreien. Verstanden? Warum, zum Teufel, bist du überhaupt so scharf darauf, mit mir zu reden? Was könntest du denn möglicherweise auf dem Herzen haben, das es wert ist, wach zu bleiben – und das ich nicht schon zu hören bekommen habe, eh?“
Kathy lachte gehässig. „Ich könnte dir ein paar Dinge über deinen alten Freund Bunnish sagen, die du bisher noch nicht gewußt hast.“
„Das bezweifle ich.“
„So? Nun, hast du gewußt, daß er während der letzten beiden Tage versucht hat, mich in sein Bett zu bekommen?“
Sie sagte es höhnisch, schleuderte es ihm entgegen. Peter fühlte sich, als wäre er geschlagen worden. „Was?“
„Setz dich“, stieß sie hervor, „und hör mir zu.“
Betäubt tat er, worum sie gebeten hatte. „Und … hast du …?“ fragte er, wobei er ihre Silhouette in der Dunkelheit anstarrte, die vage, ominöse Gestalt, die seine Frau war.
„Habe ich – was? Mit ihm geschlafen, meinst du das? Mein Gott, Peter, wie kannst du das fragen? Verachtest du mich so sehr? Eher würde ich mit einer Küchenschabe schlafen. Daran erinnert er mich ohnehin.“ Sie ließ ein klägliches Kichern hören. „Er ist auch nicht gerade ein raffinierter Verführer. Er hat mir doch tatsächlich Geld angeboten.“
„Warum erzählst du mir das?“
„Um ein bißchen gottverdammte Vernunft in dich hineinzuprügeln! Kannst du denn nicht sehen, daß Bunnish versucht, dich zu vernichten, euch alle, auf jede ihm nur mögliche Art und Weise? Er wollte nicht mich. Er wollte nur an dich herankommen. Und du, du und deine idiotischen Teamkameraden, ihr spielt ihm direkt in die Hände. Ihr werdet so besessen von diesem idiotischen Schachspiel, wie er es ist.“ Sie lehnte sich vor. Undeutlich konnte Peter die Linien ihres Gesichts erkennen. „Peter“, sagte sie fast flehentlich, „spiel nicht gegen ihn. Er wird dich schlagen, Schatz, genau wie er die anderen geschlagen hat.“
„Das glaube ich nicht, Schatze, stieß Peter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Kosewort wurde zum Attribut, als er es zu ihr zurückschleuderte. „Warum, zum Teufel, bist du immer so bereit, für mich die Niederlage vorherzusagen, he? Kannst du niemals eine Unterstützung sein, nicht einmal für eine gottverdammte Minute? Wenn du mir nicht helfen willst, warum machst du dann nicht einfach eine Fliege? Ich kenne schon alles, was ich von dir ertragen muß, verdammt. Immer setzt du mich herunter, spottest. Ich weiß verdammt noch mal nicht, weshalb du mit mir verheiratet bist, wenn du mir nur mein Leben zur Hölle machen wolltest. Laß mich endlich in Ruhe!“
Nach Peters Ausbruch herrschte für einen langen Augenblick Stille. Wie sie da in dem verdunkelten Zimmer saß, konnte er ihren Zorn beinahe wachsen hören – jeden Augenblick erwartete er zu hören, wie sie zu schreien begann. Dann würde er zurückschreien, und sie würde aufstehen und irgend etwas kaputtmachen, und er würde sie packen, und dann würden die ganzen Aggressionen ernsthaft durchbrechen. Er schloß die Augen, zitterte, fühlte sich, als müsse er jeden Augenblick weinen. Ich will nicht heulen, dachte er. Wirklich nicht.
Aber Kathy überraschte ihn. Als sie sprach, war ihre Stimme verblüffend sanft. „Oh, Peter“, sagte sie. „Ich wollte dir nie weh tun. Bitte. Ich liebe dich.“
Er war betäubt. „Du liebst mich?“ sagte er verwundert.
„Bitte, hör zu. Wenn es noch irgend etwas zwischen uns gibt, dann hör mir bitte nur ein paar Minuten zu. Bitte.“
„In Ordnung“, sagte er.
„Peter, ich habe einmal an dich geglaubt. Bestimmt wirst du dich daran erinnern, wie gut die Dinge am Anfang standen? Damals war ich doch eine Unterstützung, oder? Die ersten paar Jahre, als du deinen Roman geschrieben hast? Ich habe gearbeitet, habe das Essen auf den Tisch gebracht, ich habe dir alle Zeit zum Schreiben gelassen.“
„Oh, ja“, sagte er, und die Wut schlich sich in seinen Tonfall zurück. Das hatte ihm Kathy schon einmal vorgeworfen, mit Gewalt hatte sie ihn daran erinnert, wie sie ihn zwei Jahre lang ernährt hatte, während er ein Buch geschrieben hatte, das sich gerade noch für eine Altpapiersammlung als geeignet erwiesen habe. „Erspare mir deine Vorwürfe, okay? Es lag nicht an mir, daß ich das Buch nicht habe verkaufen können. Du hast gehört, was Bunnish gesagt hat.“
„Ich habe dir keine Vorwürfe gemacht, verdammt!“ fauchte sie. „Warum bist du immer so bereit, in jedes Wort, das ich sage, Kritik hineinzudeuteln?“ Sie schüttelte den Kopf und bekam ihre Stimme wieder unter Kontrolle. „Bitte, Peter, mach es doch nicht schwerer als es ist. Wir haben so viele Jahre des Schmerzes zu überwinden, so viele Wunden zu verbinden. Hör mich nur zu Ende an.
Ich habe versucht, dir zu sagen, daß ich wirklich an dich geglaubt habe. Selbst nach diesem Buch, nachdem du es verbrannt hast … selbst dann noch. Aber du hast es mir schwergemacht. Ich habe nicht gedacht, daß du ein Versager bist, aber du, und das hat dich verändert, Peter. Du hast es an dich herankommen lassen. Du hast das Schreiben aufgegeben, statt einfach die Zähne zusammenzubeißen und ein anderes Buch zu schreiben.“
„Ich war nicht zäh genug, ich weiß“, sagte er. „Der Verlierer. Der Schwächling.“
„Halt den Mund! „sagte sie erbittert. „Das habe nicht ich gesagt, sondern du. Dann hast du mit dem Journalismus angefangen. Ich habe immer noch an dich geglaubt. Aber alles ging weiterhin schief. Du bist hinausgeworfen worden, du bist verklagt worden, du bist in Ungnade gefallen. Unsere Freunde haben damit angefangen, sich von uns zu distanzieren. Und die ganze Zeit über hast du darauf beharrt, daß nichts davon auf Fehler von dir beruhe. Du hast den letzten Rest deines Selbstvertrauens verloren. Du hast, bitter und unaufhörlich, über dein Pech gejammert.“
„Du hast mir nie geholfen.“
„Vielleicht nicht“, gab Kathy zu. „Ich habe es versucht, am Anfang, aber es wurde nur immer schlimmer, und ich konnte nicht damit fertig werden. Du warst nicht mehr der Träumer, den ich geheiratet hatte. Es war schwer, daran zurückzudenken, wie ich dich bewundert habe, wie ich dich respektiert habe. Peter, du hast dich selbst so sehr verachtet, daß es unmöglich war zu verhindern, daß diese Verachtung auf mich abgefärbt hat.“
„So?“ sagte Peter. „Was soll das, Kathy?“
„Ich habe dich nie verlassen, Peter“, sagte sie. „Ich hätte es tun können, das weißt du. Ich wollte es auch tun. Ich bin geblieben, die ganze Zeit, trotz all der Fehlschläge und all dem Selbstmitleid. Sagt dir das gar nichts?“
„Das sagt mir, daß du eine Masochistin bist“, platzte er heraus. „Oder vielleicht eine Sadistin.“
Das war zuviel für sie. Sie setzte zu einer Antwort an, aber ihre Stimme brach, und sie begann zu weinen. Peter blieb sitzen, wo er saß, und hörte ihren Schluchzern zu. Schließlich versiegten die Tränen, und sie sagte ruhig: „Verflucht. Verflucht. Ich hasse dich.“
„Ich dachte, du liebst mich. Entscheide dich.“
„Du Arsch. Du empfindungsloser Idiot. Begreifst du denn nicht, Peter?“
„Was soll ich denn begreifen?“ sagte er ungeduldig. „Du hast gesagt, hör zu, also habe ich zugehört, und alles, was du gemacht hast, war, all dieses alte Zeug wieder aufzuwärmen, all meine Mängel aufzuzählen. Ich habe das alles schon früher gehört.“
„Peter, siehst du denn nicht, daß diese Woche alles verändert hat? Wenn du nur aufhören würdest zu hassen, aufhören würdest, mich und dich selbst zu verachten, dann könntest du es vielleicht sehen. Wir haben wieder eine Chance, Peter. Wenn wir es versuchen. Bitte.“
„Ich sehe nicht, daß sich irgend etwas geändert hat. Ich werde morgen ein großes Schachspiel spielen, und du weißt, wieviel es für mich und meine Selbstachtung bedeutet, und es ist dir gleichgültig. Es ist dir egal, ob ich gewinne oder verliere. Du sagst mir immer wieder, daß ich verlieren werde. Du hilfst mir zu verlieren, weil du mich mit dir streiten läßt, obwohl ich schlafen sollte. Was, zum Teufel, hat sich geändert? Du bist und bleibst die gleiche verdammte Stänkerin, als die du dich seit Jahren präsentierst.“
„Ich werde dir sagen, was sich verändert hat“, erwiderte sie. „Peter, bis vor ein paar Tagen haben wir beide gedacht, du wärst ein Versager. Aber das bist du nicht. Es war nicht deine Schuld. Nichts von alldem. Kein Pech, wie du immer wieder gesagt hast, und auch keine persönliche Unzulänglichkeit, wie du in Wirklichkeit gedacht hast. Bunnish hat das alles gemacht. Kapierst du denn nicht, was das für einen Unterschied macht? Du hast nie eine Chance gehabt, Peter, aber jetzt hast du eine. Es gibt keinen Grund, weshalb du nicht an dich glauben solltest. Wir wissen, daß du etwas Großes schaffen kannst! Bunnish hat es zugegeben. Wir können von hier wegfahren, du und ich, und ganz von vorn anfangen. Du könntest ein neues Buch schreiben, Stücke schreiben, all das tun, was du tun möchtest. Du hast das Talent. Es hat dir nie gefehlt. Wir können wieder träumen, wieder glauben, einander wieder lieben. Verstehst du nicht? Bunnish hat prahlen müssen, um seine Rache zu vollenden, aber durch seine Prahlerei hat der dich befreit!“
Peter saß sehr still in dem dunklen Zimmer, seine Hand schloß sich um die Armlehne des Sessels und öffnete sich wieder, während Kathys Worte einsickerten. Er war so von dem Schachspiel eingenommen, so besessen von Bunnishs Besessenheit gewesen, daß er das nie gesehen, nie erwogen hatte. Das war nicht ich, dachte er verwundert. All diese Jahre war das nicht ich. „Es ist wahr“, sagte er mit schwacher Stimme.
„Peter?“ fragte sie besorgt.
Er hörte die Besorgnis, hörte mehr als das, er hörte Liebe in ihrer Stimme. So viele Leute, dachte er, machen so große Versprechungen, versprechen Besseres oder Schlimmeres, versprechen mehr oder weniger Reichtum und steigen aus, sobald sich die Dinge in irgendeiner Beziehung auch nur das geringste bißchen übler als vorhergesehen herausstellen. Aber sie war geblieben, die ganze Zeit, während all dieser Fehlschläge, der Schande, der grausamen Worte und der giftigen Gedanken, der wöchentlichen Kämpfe, der Armut. Sie war geblieben.
„Kathy“, sagte er. Die nächsten Worte waren sehr schwer. „Ich liebe dich auch.“ Er stand auf und ging zu ihr hinüber und begann zu weinen.
Sie kamen am nächsten Morgen zu spät herunter. Sie duschten zusammen, und Peter zog sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt an. Aus irgendeinem Grund fühlte er, daß es wichtig war, sich so gut wie möglich anzuziehen. Schließlich war es ein neuer Anfang. Kathy kam mit ihm. Sie betraten händchenhaltend das Wohnzimmer. Bunnish saß bereits am Brett, und Peters Uhr tickte. Die anderen waren auch da. E. C. saß ungeduldig in einem Sessel. Delmario ging auf und ab. „Beeil dich“, sagte er, als Peter die Treppe herunterkam. „Du hast schon fünf Minuten verloren.“
Peter lächelte. „Ruhig, Steve“, sagte er. Er ging hinüber und nahm vor den weißen Figuren Platz. Kathy stand hinter ihm. Sie sieht heute morgen großartig aus, dachte Peter.
„Du bist am Zug, Kapitän“, sagte Bunnish mit einem unangenehmen Lächeln.
„Ich weiß“, erwiderte Peter. Er bemühte sich nicht, sich zu bewegen, schaute überhaupt das Brett kaum an. „Bruce, warum haßt du mich? Ich habe darüber nachgedacht, und ich wüßte gern die Antwort. Bei Steve und E. C. kann ich es verstehen. Steve hatte die Unverschämtheit zu gewinnen, als du verloren hast, und er hat hinterher deine Nase in dieser Niederlage gerieben. E. C. hat dich zur Zielscheibe seiner Spaße gemacht. Aber warum ich? Was habe ich dir je angetan?“
Bunnish sah kurz verwirrt aus. Dann wurde sein Gesicht hart. „Du? Du warst der schlimmste von ihnen allen.“
Peter war verblüfft. „Ich habe nie …“
„Der große Kapitän“, sagte Bunnish sarkastisch. „An diesem Tag vor zehn Jahren hast du es kein einziges Mal versucht. Du hast ein schnelles Großmeister-Ziehen mit deinem alten Freund Hai Winslow hingelegt. Du hättest nach dem Sieg streben können, hättest weiterspielen können, aber du hast es nicht getan. Oh nein. Du hast dich nie darum gekümmert, wieviel Druck du uns allen auferlegt hast. Und als wir verloren haben, da hast du nichts von der Verantwortung übernommen, kein Stück davon, obwohl du einen halben Punkt vergeben hast. Alles war mein Fehler. Und damit noch immer nicht genug. Warum war ich am ersten Brett, Norten? Wir alle in der B-Mannschaft hatten annähernd die gleiche Einstufung. Wie bin ich zu der Ehre gekommen, an Brett eins zu spielen?“
Peter dachte einige Augenblicke lang nach, versuchte, sich an die Strategien zu erinnern, die ihn vor zehn Jahren motiviert hatten. Schließlich nickte er. „Du hast die großen Spiele immer verloren, Bruce. Es hatte seinen Sinn, dich an Brett eins zu setzen, wo du mit den großen Kanonen der anderen Mannschaften konfrontiert warst, mit denjenigen, die wahrscheinlich jeden geschlagen hätten, den wir dort eingesetzt hätten. Deshalb waren die rangniederen Bretter mit verläßlicheren Spielern besetzt, mit denjenigen, auf die wir zählen konnten, wenn es darauf ankam.“
„Mit anderen Worten“, sagte Bunnish, „ich war von vornherein abgeschrieben. Du hast erwartet, daß ich verliere, während ihr die Spiele auf den anderen Brettern gewinnt.“
„Ja“, gab Peter zu. „Es tut mir leid.“
„Leid“, spottete Bunnish. „Du hast mich verlieren lassen, hast damit gerechnet, daß ich verliere, und mich dann dafür gequält, daß ich verloren habe, und jetzt tut es dir leid. Du hast an diesem Tag nicht Schach gespielt. Du hast nie Schach gespielt. Du hast ein größeres Spiel gespielt, ein Spiel, das Jahre gedauert hat, ein Spiel zwischen dir und Winslow von der UvC. Und die Mannschaftsmitglieder waren eure Figuren und eure Bauern. Ich, ich war ein Opfer. Ein Gambit. Das war alles. Und es hat ohnehin nicht geklappt. Winslow hat dich geschlagen. Du hast verloren.“
„Du hast recht“, gab Peter zu. „Ich habe verloren. Ich glaube, jetzt verstehe ich, weshalb du all die Dinge getan hast, von denen du uns erzählt hast.“
„Du wirst jetzt wieder verlieren“, sagte Bunnish. „Zieh, bevor deine Uhr abläuft.“ Er nickte auf das karierte Ödland hinunter, das zwischen ihnen lag, das komplizierte Gewirr von schwarzen und weißen Figuren.
Peter blickte voller Desinteresse auf das Brett. „Wir haben es gestern nacht bis drei Uhr morgens analysiert, wir drei. Ich hatte eine neue Variante, ganz perfekt. Ein einzelnes Opfer statt des Doppelopfers. Ich habe Springer schlägt Bauern gespielt, aber auf das Läufer-Opfer verzichtet und statt dessen meine Dame herübergezogen. Das war der Grundgedanke. Er hat ziemlich gut ausgesehen. Aber er ist falsch, nicht wahr?“
Bunnish starrte ihn an. „Spiel es, und wir werden es herausfinden!“
„Nein“, sagte Peter. „Ich will nicht spielen.“
„Pete! „sagte Delmario bestürzt. „Du mußt! Was sagst du da? Schlag diesen verdammten Bastard!“
Peter sah ihn an. „Es nützt nichts, Steve.“
Stille entstand. Schließlich sagte Bunnish: „Du bist ein Feigling, Norten. Ein Feigling und ein Versager und ein Schwächling. Spiel das Spiel durch.“
„Ich bin an dem Spiel nicht interessiert, Bruce. Sag’s mir nur. Die Variante ist aussichtslos.“
Bunnish stieß einen angewiderten Laut aus. „Ja, ja“, platzte er heraus. „Sie ist aussichtslos. Es gibt ein Gegenopfer, ich gebe einen Turm auf, um deine Matt-Drohungen zu brechen, aber ein paar Züge später gewinne ich ein paar Figuren zurück.“
„Alle Varianten sind aussichtslos, nicht wahr?“
Bunnish lächelte dünn.
„Weiß hat überhaupt kein gewonnenes Spiel“, sagte Peter. „Wir hatten alle unrecht, die ganze Zeit. Du hast den Sieg nie kaputtgemacht. Du hattest nie einen Sieg in der Tasche. Nur eine Position, die oberflächlich gut aussah, aber nirgends hinführte.“
„Endlich Weisheit“, sagte Bunnish. „Ich habe von Computern jede mögliche Variante ausdrucken lassen. Sie brauchten ewig, aber ich hatte Zeit, mehr als ein Leben Zeit. Wenn ich zurückgeblendet habe – ihr macht euch keine Vorstellung davon, wie oft ich zurückgeblendet habe, um eine neue Idee nach der anderen auszuprobieren –, dann war dies eine immer mein Zielpunkt, dieser Tag in Evanston, das Spiel mit Vesselere. Ich habe jeden Zug probiert, der in dieser Stellung zu probieren ist, jede auch noch so verrückte Idee. Es macht keinen Unterschied. Vesselere schlägt mich immer. Alle Varianten sind aussichtslos.“
„Aber“, protestierte Delmario, der verwirrt aussah, „Vesselere hat gesagt, er sei verloren. Er hat es gesagt!“
Bunnish sah ihn voller Verachtung an. „Ich habe ihn in einem Spiel, das er leicht hätte gewinnen sollen, eine Menge schwitzen lassen. Er hatte einfach nachgelassen. Er war ein nachtragender Mensch, und er wußte, daß er, indem er dies sagte, den Verlust um so schmerzlicher machen würde.“ Er grinste affektiert. „Ich habe mich auch um ihn gekümmert, wißt ihr.“
E. C. Stuart erhob sich aus seinem Sessel und strich seine Jacke glatt. „Wenn wir damit fertig sind, Brucie, dann bist du jetzt vielleicht so freundlich, uns aus Bunnishland hinauszulassen?“
„Du kannst gehen“, sagte Bunnish. „Und dieser Säufer auch. Aber Peter nicht.“ Er zeigte seine Grübchen. „Tja, Peter hat fast gewonnen – in gewissem Sinne. Also werde ich großzügig sein. Weißt du, was ich für dich tun werde, Kapitän? Ich werde dich mein Rückblendgerät benutzen lassen.“
„Nein, danke“, sagte Peter.
Bunnish starrte ihn flackernd an. „Was meinst du damit – nein? Begreifst du nicht, was ich dir gebe? Du kannst all deine Fehlschläge auslöschen, es wieder versuchen, ein paar andere Züge machen. In einer anderen Zeitlinie erfolgreich sein.“
„Ich weiß. Natürlich würde das Kathy mit einer Leiche in dieser Zeitlinie zurücklassen, nicht wahr? Und dich mit der Befriedigung, mich zu etwas getrieben zu haben, das unheimlich an Selbstmord erinnert. Nein. Ich riskiere es mit der Zukunft statt mit der Vergangenheit. Mit Kathy.“
Bunnish ließ seinen Mund offenhängen. „Was sorgst du dich um sie? Sie haßt dich sowieso. Sie wird besser daran sein, wenn du tot bist. Sie wird die Versicherungssumme bekommen und du jemanden, der es besser mit dir meint, dem du etwas bedeutest.“
„Aber er bedeutet mir viel“, sagte Kathy. Sie legte eine Hand auf Peters Schulter. Er griff hinauf, berührte sie und lächelte.
„Dann bist du auch ein Dummkopf’, brüllte Bunnish. „Er ist nichts, er wird nie etwas sein. Dafür werde ich sorgen.“
Peter stand auf. „Das glaube ich irgendwie nicht. Ich glaube nicht, daß du uns noch etwas anhaben kannst. Keinem von uns.“ Er sah die anderen an. „Was meint ihr, Jungs?“
E. C. legte nachdenklich den Kopf zurück und fuhr mit einem Finger an der Unterseite seines Schnauzers entlang. „Weißt du“, sagte er, „ich denke, du hast recht.“
Delmario schien einfach verblüfft zu sein, bis ganz plötzlich die Erleuchtung über sein Gesicht hereinbrach und er grinste. „Du kannst keine Ideen stehlen, mit denen ich bisher noch nicht herausgerückt bin, oder?“ sagte er zu Bunnish. „Jedenfalls nicht in dieser Zeitlinie.“ Er ließ ein lautes, brüllendes Geräusch hören und trat an das Schachbrett heran. Er griff hinunter und stoppte die Uhr. „Schachmatt“, sagte er. „Schachmatt, schachmatt, schachmatt!“
Weniger als zwei Wochen später klopfte Kathy leise an die Tür seines Arbeitszimmers. „Warte eine Sekunde!“ rief Peter. Er tippte noch einen Satz, schaltete die Schreibmaschine aus und drehte sich in seinem Stuhl herum. „Komm rein.“
Sie öffnete die Tür und lächelte ihn an. „Ich habe einen Thunfischsalat gemacht, falls du zum Mittagessen eine Pause einlegen möchtest. Was macht das Buch?“
„Es geht gut voran“, sagte Peter. „Ich müßte heute mit dem zweiten Kapitel fertig werden, wenn ich dran bleibe.“ Sie hielt eine Zeitung, bemerkte er. „Was ist damit?“
„Ich habe mir gedacht, du solltest das hier sehen“, erwiderte sie und reichte ihm die Zeitung.
Sie hatte die Todesanzeigen aufgeschlagen. Peter nahm sie und las. Das millionenschwere Elektronik-Genie Bruce Bunnish war tot in seinem Heim in Colorado aufgefunden worden – an ein seltsames Gerät angeschlossen, das ihn anscheinend mit einem elektrischen Schlag getötet hatte. Peter seufzte.
„Er wird es wieder versuchen, nicht wahr?“ sagte Kathy.
Peter legte die Zeitung beiseite. „Der arme Teufel. Er kapiert es nicht.“
„Was denn?“
Peter nahm ihre Hand und drückte sie. „Alle Varianten sind aussichtslos“, sagte er. Es machte ihn traurig. Aber nach dem Mittagessen hatte er die Sache vergessen und ging wieder an die Arbeit.