Ge­or­ge R. R. Mar­tin
Aussichtslose Varianten
UN­SOUND VA­RIA­TI­ONS

 

Nach­dem sie von der In­t­er­state ab­ge­bo­gen wa­ren, wur­de die Stra­ße schmal und zwei­spu­rig und wand sich in ei­ner Rei­he von Ser­pen­ti­nen, je­de stei­ler als die vor­her­ge­hen­de, einen ver­schlun­ge­nen Pfad durch die Ber­ge. Gip­fel er­ho­ben sich rings um sie her, kie­fern­be­stan­den und von Schnee und Eis ge­krönt, wäh­rend schnell flie­ßen­de, kal­te Was­ser­fäl­le kaum sicht­bar auf bei­den Sei­ten vor­bei­husch­ten. Der Him­mel be­stand aus ei­nem strah­lend hel­len Blau. Es war ei­ne auf­mun­tern­de Land­schaft, doch sie trug nicht da­zu bei, Pe­ters Stim­mung zu he­ben. Er kon­zen­trier­te sich blind auf die Stra­ße und ver­lor sich in den un­be­seel­ten Re­fle­xen des Fah­rens.

Als die Ber­ge hö­her wur­den, wur­de der Ra­dio­emp­fang schlech­ter, schwank­te mit je­der Stra­ßen­win­dung zwi­schen bes­ser und schwä­cher hin und her, bis sie zu gu­ter Letzt über­haupt nichts mehr her­ein­be­kom­men konn­ten. Ka­thy such­te die Ska­la von ei­nem En­de zum an­de­ren ab und dann wie­der zu­rück. Schließ­lich schal­te­te sie das Ra­dio ver­är­gert aus. „Ich schät­ze, du wirst ein­fach mit mir re­den müs­sen“, sag­te sie.

Pe­ter brauch­te sie nicht an­zu­se­hen, um die Schär­fe aus ih­rem Ton­fall her­aus­hö­ren zu kön­nen, die bit­te­re In­ten­si­tät des Sar­kas­mus, der schon vor lan­ger Zeit die Zärt­lich­keit in ih­rer Stim­me er­setzt hat­te. Sie such­te den Streit, das wuß­te er. Sie war auf das Ra­dio wü­tend, und sie nahm ihm übel, daß er sie auf die­se Rei­se mit­ge­schleppt hat­te, und vor al­lem nahm sie ihm übel, daß sie mit ihm ver­hei­ra­tet war. Manch­mal, wenn er sich selbst sehr leid tat, mach­te er ihr des­we­gen nicht ein­mal Vor­wür­fe. Als Ehe­mann hat­te er sich als nicht son­der­lich güns­ti­ges Ge­schäft er­wie­sen: ein ge­schei­ter­ter Schrift­stel­ler, ein ge­schei­ter­ter Jour­na­list, ein Ge­schäfts­mann, der nichts taug­te, de­pri­miert und de­pri­mie­rend. Er war je­doch noch im­mer ein leb­haf­ter Spar­ring-Part­ner. Viel­leicht ver­such­te sie des­halb so oft, einen Streit zu pro­vo­zie­ren. Nach­dem das gan­ze bö­se Blut ab­ge­las­sen wor­den war, wür­de ei­ner von ih­nen, oder bei­de, an­fan­gen zu wei­nen, und dann wür­den sie wie üb­lich mit­ein­an­der schla­fen, und das Le­ben war ein oder zwei Stun­den lang an­ge­nehm. Das war so ziem­lich al­les, was sie noch hat­ten.

Aber nicht heu­te. Pe­ter fehl­te die Ener­gie, und sei­ne Ge­dan­ken wa­ren bei an­de­ren Din­gen. „Wor­über möch­test du re­den?“ frag­te er sie. Er hielt sei­nen Ton­fall lie­bens­wür­dig und den Blick auf die Stra­ße ge­rich­tet.

„Er­zähl mir von die­sen Clowns, die wir be­su­chen“, sag­te sie.

„Das ha­be ich doch schon. Sie wa­ren mei­ne Team­ka­me­ra­den im Schach­team, als ich da­mals am Nor­thwes­tern war.“

„Seit wann ist Schach ei­gent­lich ein Mann­schaftss­port?“ frag­te Ka­thy. „Was habt ihr ge­macht – über je­den Zug ab­ge­stimmt?“

„Nein. Beim Schach ist ein Mann­schaftss­piel in Wirk­lich­keit ei­ne An­zahl in­di­vi­du­el­ler Spie­le. Für ge­wöhn­lich vier oder fünf Bret­ter, zu­min­dest im Col­le­ge-Spiel. Es gibt kei­ne Be­ra­tung oder so et­was. Das Team, das die meis­ten Ein­zel­spie­le ge­winnt, ge­winnt den Tur­nier-Punkt. Wie es funk­tio­niert …“

„Ich ver­ste­he“, sag­te sie scharf. „Ich bin viel­leicht kei­ne Schach­spie­le­rin, aber ich bin nicht dumm. Du und die­se an­de­ren drei, ihr wart al­so das Nor­thwes­tern-Team?“

„Ja und nein“, er­wi­der­te Pe­ter. Der To­yo­ta müh­te sich ab, denn an der­art stei­le Stei­gun­gen war er nicht ge­wöhnt, und er war nicht an die­se Hö­hen an­ge­paßt wor­den, be­vor sie von Chi­ca­go auf­ge­bro­chen wa­ren. Er fuhr vor­sich­tig. Sie wa­ren jetzt hoch ge­nug, um ver­eis­te Flä­chen und Schnee, der über die Stra­ße weh­te, an­zu­tref­fen.

„Ja und nein“, sag­te Ka­thy sar­kas­tisch. „Was heißt das?“

„Das Nor­thwes­tern hat­te da­mals einen großen Schach­club. Wir be­tei­lig­ten uns an zahl­lo­sen Tur­nie­ren – lo­ka­len, staat­li­chen, na­tio­na­len. Manch­mal ha­ben wir mehr als ein Team ein­ge­setzt, des­halb war die Auf­stel­lung bei je­dem Tur­nier ein biß­chen an­ders. Es war da­von ab­hän­gig, wer spie­len konn­te und wer nicht, wer ein Zwi­schen­se­mes­ter hat­te, wer im letz­ten Spiel ge­spielt hat­te – ei­ne Men­ge Din­ge. Wir vier wa­ren die­se Wo­che vor zehn Jah­ren in den nord­ame­ri­ka­ni­schen Col­le­ge-Mann­schafts­meis­ter­schaf­ten die B-Mann­schaft des Nor­thwes­tern. Nor­thwes­tern war Ver­an­stal­ter die­ses Tur­niers, und ich lei­te­te es – das war so gut wie spie­len.“

„Was meinst du mit B-Mann­schaft?“

Pe­ter räus­per­te sich und lenk­te den To­yo­ta in ei­ne schar­fe Kur­ve, wo­bei Schot­ter­stei­ne ge­gen die Un­ter­sei­te des Wa­gens pras­sel­ten, als ein Rad die Bö­schung streif­te. „Ei­ne Schu­le war nicht nur auf ei­ne Mann­schaft be­schränkt“, sag­te er. „Wenn man das nö­ti­ge Geld hat­te und ei­ne Men­ge Leu­te, die spie­len woll­ten, dann konn­te man meh­re­re auf­stel­len. Die vier bes­ten Spie­ler bil­de­ten die A-Mann­schaft, den tat­säch­li­chen Be­wer­ber. Die zwei­ten vier wa­ren die B-Mann­schaft und so wei­ter.“ Er mach­te ei­ne kur­ze Pau­se und fuhr dann mit ei­nem lei­sen Un­ter­ton von Stolz in der Stim­me fort. „Die na­tio­na­len Meis­ter­schaf­ten im Nor­thwes­tern wa­ren die größ­ten, die bis zu die­sem Zeit­punkt ab­ge­hal­ten wor­den wa­ren, ob­wohl die­ser Re­kord spä­ter ge­bro­chen wur­de. Aber wir ha­ben einen zwei­ten Re­kord auf­ge­stellt, und der be­steht noch im­mer. Weil das Tur­nier auf un­se­rem hei­mi­schen Ge­län­de statt­fand, hat­ten wir ei­ne Men­ge Spie­ler zur Ver­fü­gung. Wir brach­ten sechs Teams ein. Kei­ne an­de­re Schu­le hat je mehr als vier Teams in den Na­tio­na­len ge­habt.“ Die­ser Re­kord brach­te noch im­mer ein Lä­cheln auf­sein Ge­sicht. Viel­leicht war es kein groß­ar­ti­ger Re­kord, aber es war der ein­zi­ge, den er er­run­gen hat­te, und es war sei­ner. Vie­le Leu­te le­ben und ster­ben, oh­ne ir­gend­ei­ne Art von Re­kord auf­zu­stel­len, über­leg­te er still. Viel­leicht soll­te er Ka­thy sa­gen, daß sie ihm sei­nen Re­kord auf den Grab­stein set­zen soll­te: HIER RUHT PE­TER K. NOR­TEN. ER LIESS SECHS MANN­SCHAF­TEN AN­TRE­TEN. Er ki­cher­te.

„Was ist so ko­misch?“

„Nichts.“

Sie hak­te nicht wei­ter nach. „Du hast al­so die­ses Tur­nier ge­lei­tet, sagst du?“

„Ich war der Club-Prä­si­dent und der Vor­sit­zen­de des ört­li­chen Ko­mi­tees. Das Tur­nier selbst ha­be ich nicht ge­lei­tet, aber ich ha­be die Be­wer­bung zu­sam­men­ge­stellt, die die Na­tio­na­len nach Evan­ston brach­te, und al­le vor­be­rei­ten­den Vor­keh­run­gen ge­trof­fen. Und ich ha­be un­se­re sechs Mann­schaf­ten zu­sam­men­ge­stellt, ent­schie­den, wer in wel­cher spiel­te, die Mann­schafts­ka­pi­tä­ne er­nannt. Aber wäh­rend des Tur­niers selbst war ich nur der Ka­pi­tän der B-Mann­schaft.“

Sie lach­te. „Du warst al­so ein großes As beim zwei­ten Ei­sen im Feu­er. Das paßt. Die Ge­schich­te un­se­res Le­bens.“

Pe­ter ver­kniff sich ei­ne schar­fe Ant­wort und sag­te nichts. Der To­yo­ta schwenk­te in ei­ne wei­te­re Haar­na­del­keh­re, und ein wei­tes Co­lo­ra­do-Berg­pan­ora­ma tat sich vor ih­nen auf. Es ließ ihn selt­sam un­be­rührt.

Nach ei­ner Wei­le sag­te Ka­thy: „Wann hast du auf­ge­hört, Schach zu spie­len?“

„Ich ha­be es kurz nach dem Col­le­ge auf­ge­ge­ben. Ei­gent­lich kei­ne wirk­lich be­wuß­te Ent­schei­dung. Ich bin ein­fach ir­gend­wie ab­ge­trie­ben. Ich ha­be seit fast neun Jah­ren an kei­nem Schach­tur­nier mehr teil­ge­nom­men. Wahr­schein­lich bin ich mitt­ler­wei­le ziem­lich ein­ge­ros­tet. Aber da­mals war ich recht gut.“

„Wie gut ist recht gut?“

„Ich war wie je­der an­de­re in un­se­rer B-Mann­schaft als A-Klas­se-Spie­ler ein­ge­stuft.“

„Was heißt das?“

„Das heißt, daß mei­ne USCF-Ein­stu­fung be­deu­tend hö­her war als die der großen Mehr­heit von Tur­nier-Schach­spie­lern im Land“, sag­te er. „Und die Tur­nier-Spie­ler sind im all­ge­mei­nen viel bes­ser als die un­klas­si­fi­zier­ten Holz­schie­ber, de­nen man in Bars und Kaf­fee­häu­sern be­geg­net. Die Ein­stu­fun­gen reich­ten bis hin­un­ter zur Klas­se E. Über der A-Klas­se wa­ren noch die na­tio­na­len Meis­ter, die in­ter­na­tio­na­len Meis­ter so­wie die Groß­meis­ter an­ge­sie­delt, aber da­von gab es nicht vie­le.“

„Drei Klas­sen über dir?“

„Ja.“

„Dann könn­te man al­so sa­gen, du warst in dei­ner al­ler­bes­ten Zeit ein viert­klas­si­ger Schach­spie­ler.“

Dar­auf­hin schau­te Pe­ter zu ihr hin­über. Sie lehn­te sich in ih­rem Sitz zu­rück, ein leich­tes Lä­cheln auf dem Ge­sicht. „Stän­ke­rin“, sag­te er. Er war plötz­lich wü­tend.

„Paß auf die Stra­ße auf!“ fauch­te Ka­thy.

Er riß den Wa­gen so hart er konn­te in die nächs­te Bie­gung, und drück­te auf das Gas. Sie haß­te es, wenn er schnell fuhr.

„Mein Mann, die große Num­mer“, sag­te sie. Sie lach­te. „Ein viert­klas­si­ger Schach­spie­ler, der in der zweit­klas­si­gen Uni-Mann­schaft ge­spielt hat. Und oben­drein ein fünft­klas­si­ger Fah­rer.“

„Halt den Mund“, sag­te Pe­ter wü­tend. „Du weißt über­haupt nicht, wo­von du re­dest, ver­dammt noch mal. Viel­leicht wa­ren wir nur die B-Mann­schaft, aber wir wa­ren gut. Wir ha­ben bes­ser ab­ge­schnit­ten, als ir­gend­je­mand ein Recht hat­te zu er­war­ten, nur einen hal­b­en Punkt hin­ter der Nor­thwes­tern A. Und bei­na­he hät­ten wir ei­ne der größ­ten Über­ra­schun­gen der Ge­schich­te er­lebt.“

„Sag bloß.“

Pe­ter zö­ger­te, und er be­dau­er­te sei­ne Wor­te be­reits. Die­se Er­in­ne­rung war wich­tig für ihn, fast so wich­tig wie sein dum­mer klei­ner Re­kord. Er wuß­te, was es be­deu­te­te, wie weit sie ge­kom­men wa­ren. Aber sie wür­de das nie ver­ste­hen, es wä­re nur ein wei­te­res Ver­sa­gen, über das sie la­chen könn­te. Er hät­te es nie er­wäh­nen sol­len.

„Nun?“ sto­cher­te sie. „Was ist mit die­ser großen Über­ra­schung, mein Lie­ber? Er­zähl mir da­von.“

Es war zu spät, be­griff Pe­ter. Jetzt wür­de sie ihm kei­ne Ru­he mehr las­sen. Sie wür­de ihn sti­cheln und sti­cheln, bis er es ihr er­zähl­te. Er seufz­te und sag­te: „Die­se Wo­che ist es zehn Jah­re her. Die na­tio­na­len Meis­ter­schaf­ten ha­ben im­mer zwi­schen Weih­nach­ten und Neu­jahr statt­ge­fun­den, wenn al­le Fe­ri­en hat­ten. Ein Acht-Run­den-Mann­schaft­stur­nier, zwei Run­den pro Tag. Al­le un­se­re Teams hiel­ten sich recht gut. Un­se­re A-Mann­schaft ist auf den sieb­ten Platz des Ge­samt­pla­ce­ments ge­kom­men.“

„Du warst in der B-Mann­schaft, Sü­ßer.“

Pe­ter ver­zog das Ge­sicht. „Ja. Und wir ha­ben uns bis zu ei­nem ge­wis­sen Punkt aus­ge­zeich­net ge­hal­ten. Wir sorg­ten für ein paar hüb­sche Über­ra­schun­gen ge­gen En­de des Tur­niers. Das brach­te uns in ei­ne selt­sa­me La­ge. Als es in die letz­te Run­de ging, lag die Uni­ver­si­tät von Chi­ca­go mit ei­nem Spiel­stand von 6: 1 an ers­ter Stel­le. Sie hat­ten au­ßer ih­ren an­de­ren Op­fern auch un­se­re A-Mann­schaft ge­schla­gen, und sie ver­tei­dig­ten den Sie­ger­ti­tel der na­tio­na­len Meis­ter­schaft. Hin­ter ih­nen folg­ten drei an­de­re Hoch­schu­len mit 5 ½: 1 ½. Ber­ke­ley, die Uni­ver­si­tät von Massa­chu­setts und – ich weiß nicht, noch ei­ne an­de­re, es spielt kei­ne Rol­le. Was je­doch ei­ne Rol­le spiel­te war, daß al­le die­se drei Mann­schaf­ten schon ge­gen die UvC ge­spielt hat­ten. Dann hat­te man noch einen gan­zen Hau­fen Mann­schaf­ten mit 5: 2, die Nor­thwes­tern A und B ein­ge­schlos­sen. Ei­ne der 5: 2-Mann­schaf­ten muß­te in der End­run­de ge­gen Chi­ca­go auf­ge­stellt wer­den. Ein lau­ni­ger Zu­fall sorg­te da­für, daß wir die­se Mann­schaft wa­ren. Je­der dach­te, das wür­de das Tur­nier für sie ent­schei­den.

Es war wirk­lich ein un­glei­ches Spiel. Sie wa­ren die Ti­tel­ver­tei­di­ger und hat­ten ei­ne ehr­furcht­ge­bie­ten­de Mann­schaft. Drei in­ter­na­tio­na­le und einen na­tio­na­len Meis­ter, wenn ich mich rich­tig er­in­ne­re. Sie stan­den auf je­dem Brett um Hun­der­te von Punk­ten bes­ser als wir. Es hät­te ein­fach sein müs­sen. War es aber nicht.

Es war nie ein­fach zwi­schen der UvC und dem Nor­thwes­tern. In mei­ner gan­zen Col­le­ge-Zeit wa­ren wir die bei­den großen Schach-Fa­vo­ri­ten des Mit­tel­wes­tens, und wir wa­ren Erz­ri­va­len. Der Chi­ca­go­er Ka­pi­tän, Hai Winslow, wur­de ein gu­ter Freund von mir, aber ich ha­be ihm ei­ne Men­ge Kopf­schmer­zen be­rei­tet. Chi­ca­go hat­te im­mer ein stär­ke­res Team als wir, aber wir ha­ben ih­nen den­noch man­chen Schre­cken ein­ge­jagt. Wir sind uns in der Chi­ca­go­er Col­le­ge-Li­ga be­geg­net, auf Lan­des­tur­nie­ren, auf Be­zirk­stur­nie­ren und meh­re­re Ma­le auf den na­tio­na­len. Chi­ca­go hat die meis­ten da­von ge­won­nen, aber nicht al­le. Ein­mal ha­ben wir ih­nen die Stadt­meis­ter­schaft ab­ge­knöpft und auch noch ein paar an­de­re große Über­ra­schungs­er­fol­ge auf­ge­stellt. Und in je­nem Jahr sind wir bei den Na­tio­na­len so na­he …“ – er hielt zwei Fin­ger hoch, kaum von­ein­an­der ent­fernt – „… an un­se­ren aller­größ­ten Er­folg her­an­ge­kom­men.“ Er leg­te sei­ne Hand auf das Lenk­rad zu­rück und blick­te fins­ter drein.

„Wei­ter“, sag­te sie. „Ich bin ganz au­ßer Atem, weil ich ja so ge­spannt bin, wie es wei­ter­geht.“

Pe­ter igno­rier­te den Sar­kas­mus. „Nach ei­ner Stun­de Spieldau­er hat­ten wir die Hälf­te der Tur­nier­zu­schau­er um un­se­re Ti­sche ver­sam­melt. Je­der konn­te se­hen, daß Chi­ca­go in Schwie­rig­kei­ten war. Wir hiel­ten auf zwei Bret­tern ein­deu­tig über­le­ge­ne Stel­lun­gen, und auf den an­de­ren bei­den stan­den wir gleich.

Es wur­de bes­ser. Ich spiel­te auf dem drit­ten Brett ge­gen Hai Winslow. Wir hat­ten ei­ne flaue, gleich star­ke Auf­stel­lung, und wir ei­nig­ten uns auf ein Re­mis. Und auf dem vier­ten Brett wur­de E. C. all­mäh­lich an die Wand ge­spielt und gab schließ­lich in ei­ner völ­lig ver­lo­re­nen Po­si­ti­on auf.“

„E.C.?“

„Ed­ward Co­lin Stu­art. Wir ha­ben ihn al­le E.C. ge­nannt. Ein Ori­gi­nal. Du wirst ihn oben bei Bun­nish ken­nen­ler­nen.“

„Er hat ver­lo­ren?“

„Ja.“

„Das hört sich für mich nicht nach ei­nem son­der­lich sen­sa­tio­nel­len Er­folg an“, mein­te sie tro­cken. „Aber viel­leicht ist es für dei­ne Be­grif­fe ein Tri­umph.“

„E. C. hat ver­lo­ren“, sag­te Pe­ter, „aber mitt­ler­wei­le hat­te Del­ma­rio sei­nen Geg­ner auf Brett zwei ein­deu­tig er­le­digt. Der Bur­sche zog es in die Län­ge, aber schließ­lich be­ka­men wir den Punkt, was den Stand auf 1½: 1½ brach­te, bei noch ei­nem lau­fen­den Spiel. Und wir wa­ren da­bei, das zu ge­win­nen. Es war un­glaub­lich. Bru­ce Bun­nish spiel­te an un­se­rem ers­ten Brett. Ein ech­ter Knall­frosch, aber ein halb­wegs passabler Spie­ler. Er war eben­falls ein A-Spie­ler, und er hat­te ein phä­no­me­na­les Ge­dächt­nis. Fo­to­gra­fisch. Kann­te je­de Er­öff­nung rück­wärts und vor­wärts. Er spiel­te ge­gen Chi­ca­gos großen Mann.“ Pe­ter lä­chel­te ver­zerrt. „Groß in mehr als ei­ner Hin­sicht. Ein in­ter­na­tio­na­ler Meis­ter na­mens Ro­bin­son Ves­se­le­re. Ver­dammt star­ker Schach­spie­ler, aber er muß 180 Ki­lo ge­wo­gen ha­ben. Er pfleg­te ab­so­lut un­be­weg­lich da­zu­sit­zen, wäh­rend man ge­gen ihn spiel­te, die Hän­de auf sei­nem Bauch ver­schränkt, die klei­nen Au­gen schiel­ten auf das Brett. Und dann über­wäl­tig­te er einen. Er hät­te Bun­nish mit links schla­gen müs­sen. Ver­dammt, er war vier­hun­dert Punk­te hö­her ein­ge­stuft. Aber das ist nicht ge­lau­fen. Mit sei­nem raf­fi­nier­ten Ge­dächt­nis hat­te Bun­nish Ves­se­le­re ir­gend­wie mit ei­ner ob­sku­ren Va­ri­an­te der si­zi­lia­ni­schen Ver­tei­di­gung aus­ge­trickst. Er be­dräng­te ihn über­all. Ein un­glaub­li­cher An­griff. Die Stel­lung war kom­pli­zier­ter als al­les, was ich je ge­se­hen hat­te, sehr raf­fi­niert und tak­tisch ge­ni­al. Ves­se­le­re in­sze­nier­te einen Ge­gen­an­griff auf der Da­men-Sei­te, der auch einen ge­wis­sen Druck hat­te – aber das war nichts ge­gen die Be­dro­hun­gen, die Bun­nish auf der Kö­nigs-Sei­te auf­ge­zo­gen hat­te. Es war ein ge­won­ne­nes Spiel. Des­sen wa­ren wir uns al­le si­cher.“

„Ihr habt die Meis­ter­schaft al­so bei­na­he ge­won­nen?“

„Nein“, sag­te Pe­ter. „Nein, das war es nicht. Wenn wir das Spiel ge­won­nen hät­ten, wä­ren wir zu Chi­ca­go und ein paar an­de­ren Teams bei 6:2 punkt­gleich auf­ge­rückt, aber der Meis­ter­ti­tel wä­re an je­mand an­ders ge­gan­gen, an ei­ne Mann­schaft mit 6½ Spiel­punk­ten. An Ber­ke­ley viel­leicht oder Massa­chu­setts. Für uns ging es nur dar­um, sie aus der Fas­sung zu brin­gen. Es wä­re un­glaub­lich ge­we­sen. Sie wa­ren die bes­te Col­le­ge-Schach­mann­schaft im Land. Wir wa­ren nicht ein­mal die bes­te un­se­rer Schu­le. Wenn wir sie ge­schla­gen hät­ten – das wä­re ei­ne Sen­sa­ti­on ge­we­sen. Und wir sind so na­he dar­an ge­we­sen.“

„Was ist pas­siert?“

„Bun­nish hat es ver­patzt“, sag­te Pe­ter mür­risch. „Da war ei­ne kri­ti­sche Stel­lung. Bun­nish war in der Klem­me, ei­ne sei­ner Fi­gu­ren war ein po­ten­ti­el­les Op­fer, weißt du. Ei­gent­lich wa­ren es zwei Op­fer. Sehr hart, aber der Zug hät­te Ves­se­le­res Kö­nigs-Sei­te ka­putt­ge­macht und sei­nen Kö­nig ins Freie hin­aus­ge­trie­ben. Aber Bun­nish war da­für zu ängst­lich. Statt des­sen schau­te er stän­dig auf Ves­se­le­res An­griff auf der Da­men-Sei­te, und schließ­lich mach­te er einen schwa­chen Ab­wehr­zug. Ves­se­le­re setz­te ei­ne wei­te­re Fi­gur in die Da­men-Sei­te, und Bun­nish wehr­te wie­der ab. Statt sei­nen Vor­teil zu nut­zen, mach­te er ei­ne gan­ze Rei­he vor­sich­ti­ger klei­ner An­pas­sun­gen an die Si­tua­ti­on, und bald hat­te sich sein An­griff in Luft auf­ge­löst. Da­nach hat ihn Ves­se­le­re na­tür­lich ge­schla­gen.“ Selbst jetzt, nach zehn Jah­ren, spür­te Pe­ter, wie sich die Ent­täu­schung in ihm auf­bau­te, wäh­rend er sprach. „Wir ha­ben das Spiel 2½: 1½ ver­lo­ren, und Chi­ca­go hat­te ei­ne wei­te­re na­tio­na­le Meis­ter­schaft ge­won­nen. Hin­ter­her gab so­gar Ves­se­le­re zu, daß er er­le­digt ge­we­sen wä­re, wenn Bru­cie an der kri­ti­schen Stel­le ‚Sprin­ger schlägt Bau­er* ge­spielt hät­te. Ver­dammt.“

„Ihr habt ver­lo­ren. Das ist al­les, was zählt: Ihr habt ver­lo­ren.“

„Wir sind na­he dar­an ge­we­sen.“

„Na­he zählt nur beim Huf­ei­sen-Wer­fen und bei Gra­na­ten“, sag­te Ka­thy. „Ihr habt ver­lo­ren. Selbst da­mals warst du ein Ver­lie­rer, mein Lie­ber. Ich wünsch­te, ich hät­te es ge­wußt.“

Bun­nish hat ver­lo­ren, ver­dammt noch mal“, sag­te Pe­ter. „Das sah ihm ähn­lich. Er hat­te ei­ne A-Klas­sen-Ein­stu­fung und die­ses raf­fi­nier­te Ge­dächt­nis, aber als Mann­schaftss­pie­ler war er wert­los. Du hast kei­ne Ah­nung, wie vie­le Spie­le er für uns hat plat­zen las­sen. Wenn der Druck da war, dann konn­ten wir im­mer da­mit rech­nen, daß Bun­nish ver­sag­te. Aber die­ses ei­ne Mal – das war das schlimms­te, die­ses Spiel ge­gen Ves­se­le­re. Ich hät­te ihn um­brin­gen kön­nen. Oben­drein war er noch ein ar­ro­gan­tes Arsch­loch.“

Ka­thy lach­te. „Ist die­ses ar­ro­gan­te Arsch­loch nicht der­je­ni­ge, den zu be­su­chen wir uns jetzt be­ei­len?“

„Es ist zehn Jah­re her. Viel­leicht hat er sich ge­än­dert. Und selbst wenn er sich nicht ge­än­dert hat, nun, jetzt ist er ein Mul­ti­mil­lio­närs-Arsch­loch. Elek­tro­nik. Au­ßer­dem will ich E.C. und Ste­ve wie­der­se­hen, und Bun­nish hat ge­sagt, sie wä­ren da.“

„Köst­lich“, sag­te Ka­thy. „Tja, dann be­eil dich. Ich möch­te die­ses Tref­fen nicht ver­pas­sen. Es ist viel­leicht mei­ne ein­zi­ge Ge­le­gen­heit, vier Ta­ge mit ei­nem Arsch­loch von Mil­lio­när und drei Ver­lie­rern zu ver­brin­gen.“

Pe­ter er­wi­der­te nichts, aber er drück­te das Gas­pe­dal durch, und der To­yo­ta ras­te die Berg­stra­ße hin­un­ter, im­mer schnel­ler, und er klap­per­te, als sei­ne Ge­schwin­dig­keit zu­nahm. Im­mer run­ter, dach­te Pe­ter, im­mer ab­wärts. Ge­nau wie mein gott­ver­damm­tes Le­ben.

 

Vier Mei­len fuh­ren sie auf Bun­nis­hs Pri­vat­stra­ße, dann ka­men sie end­lich in Sicht­wei­te des Hau­ses. Pe­ter, der nach ei­nem Jahr­zehnt des Woh­nens in bil­li­gen Ap­par­te­ments noch im­mer da­von träum­te, sich ein ei­ge­nes Haus zu kau­fen, brauch­te nur ein­mal hin­zu­se­hen und wuß­te, daß er ein Drei­mil­lio­nen-Dol­lar-Stück Ei­gen­tum an­starr­te. Es gab drei Stock­wer­ke, die al­le so gut mit dem Berg­hang ver­schmol­zen, daß man sie kaum be­merk­te; das Pracht­stück war aus na­tür­li­chem Holz und ein­hei­mi­schem Ge­stein und ge­färb­tem Glas ge­baut. Ein rie­si­ges So­lar-Ge­wächs­haus war die auf­fallends­te Be­son­der­heit. Un­ter dem Haus war ei­ne Vier-Wa­gen-Ga­ra­ge di­rekt in den Berg ein­ge­las­sen.

Pe­ter fuhr auf die letz­te lee­re Stel­le, zwi­schen einen brand­neu­en sil­ber­nen Ca­dil­lac Se­ville, der of­fen­sicht­lich Bun­nish ge­hör­te, und einen al­ten, ver­ros­te­ten VW-Kä­fer, der ihm of­fen­sicht­lich nicht ge­hör­te. Als er den Schlüs­sel aus dem Zünd­schloß zog, schlos­sen sich die Ga­r­agen­tü­ren au­to­ma­tisch hin­ter ih­nen und sperr­ten das Ta­ges­licht und das groß­ar­ti­ge Berg­pan­ora­ma aus. Die Tür fiel mit ei­nem wi­der­hal­len­den, me­tal­li­schen Klang zu.

„Je­mand weiß, daß wir hier sind“, be­merk­te Ka­thy.

„Nimm die Kof­fer“, zisch­te Pe­ter.

Im hin­te­ren Teil der Ga­ra­ge ent­deck­ten sie den Auf­zug, und Pe­ter drück­te den obe­ren der bei­den Knöp­fe. Als sich die Auf­zug­tü­ren wie­der öff­ne­ten, er­streck­te sich ein ge­wal­ti­ges Wohn­zim­mer vor ih­nen. Pe­ter trat hin­aus und blick­te auf ei­ne Wild­nis von Topf­pflan­zen un­ter ei­nem ge­wölb­ten Dach­fens­ter, auf di­cke, brau­ne Tep­pi­che, fei­ne Holz­tä­fe­lung, auf Bü­cher­schrän­ke, die mit le­der­ge­bun­de­nen Bü­chern voll­ge­packt wa­ren, einen großen Ka­min und Ed­win Co­lin Stu­art, der sich aus ei­nem le­der­be­zo­ge­nen Arm­leh­nen-Ses­sel am an­de­ren En­de des Zim­mers er­hob, als sich der Auf­zug öff­ne­te.

„E. C“, sag­te Pe­ter und stell­te sei­nen Kof­fer ab. Er lä­chel­te.

„Hal­lo, Pe­ter“, sag­te E. C. und kam rasch auf sie zu. Sie schüt­tel­ten sich die Hän­de.

„Du hast dich in den zehn Jah­ren kein gott­ver­damm­tes biß­chen ver­än­dert“, stell­te Pe­ter fest. Es stimm­te. E.C. war noch im­mer schlank und un­ter­setzt, mit bu­schi­gen, sand­far­be­nen, blon­den Haa­ren auf dem Kopf und ei­nem groß­ar­ti­gen Lenk­stan­gen-Schnau­zer. Er trug Jeans und ein tail­lier­tes, pur­pur­nes Hemd mit ei­ner schwar­zen Wes­te, und er kam ihm ge­nau­so vor wie vor ei­nem Jahr­zehnt: leb­haft, adrett, tüch­tig. „Kein ver­damm­tes biß­chen“, wie­der­hol­te Pe­ter.

„Um so schlim­mer“, sag­te E. C. „Man soll sich doch ver­än­dern, glau­be ich.“ Sei­ne blau­en Au­gen wa­ren so un­er­gründ­lich wie eh und je. Er wand­te sich Ka­thy zu und sag­te: „Ich bin E. C. Stu­art.“

„Oh, Ver­zei­hung“, sag­te Pe­ter. „Dies ist mei­ne Frau, Ka­thy.“

„Er­freut“, sag­te sie, nahm sei­ne Hand und lä­chel­te ihm zu.

„Wo ist Ste­ve?“ frag­te Pe­ter. „Ich ha­be sei­nen VW un­ten in der Ga­ra­ge ge­se­hen. Hat mich ver­blüfft. Wie lan­ge fährt er das Ding jetzt schon? Fünf­zehn Jah­re?“

„Nicht ganz“, er­wi­der­te E. C. „Er ist ir­gend­wo im Haus und mixt sich wahr­schein­lich einen Drink.“ Sei­ne Lip­pen ver­zo­gen sich leicht, als er das sag­te, was Pe­ter ei­ne gan­ze Men­ge mehr sag­te, als dies sei­ne Wor­te ta­ten.

„Und Bun­nish?“

„Bru­cie ist bis jetzt noch nicht in Er­schei­nung ge­tre­ten. Ich glau­be, er hat dei­ne An­kunft ab­ge­war­tet. Ihr wollt jetzt wahr­schein­lich eu­re Zim­mer se­hen.“

„Wie fin­den wir sie, wenn un­ser Gast­ge­ber fehlt?“ er­kun­dig­te sich Ka­thy tro­cken.

„Ah“, sag­te E. C, „ihr seid noch nicht mit den Wun­dern von Bun­nis­h­land be­kannt ge­macht wor­den. Schaut mal da hin­über.“ Er zeig­te zum Ka­min.

Pe­ter hät­te ge­schwo­ren, daß an der Wand über der Ka­min­öff­nung ein Ge­mäl­de ge­han­gen hat­te, als sie ein­ge­tre­ten wa­ren – ei­ne Art sur­rea­le Land­schaft. Jetzt gab es dort einen großen, recht­e­cki­gen Bild­schirm, auf dem Wor­te zu se­hen wa­ren, ein leuch­ten­des Rot auf Schwarz, WILL­KOM­MEN, PE­TER. WILL­KOM­MEN, KA­THY. EU­RE SUI­TE LIEGT IN DER ZWEI­TEN ETA­GE, ERS­TE TÜR. BIT­TE MACHT ES EUCH BE­QUEM.

Pe­ter dreh­te sich um. „Wie …“

„Zwei­fel­los vom Auf­zug aus­ge­löst“, sag­te E. C. „Ich bin ge­nau­so be­grüßt wor­den. Bru­cie ist ein Elek­tro­nik-Ge­nie, ver­giß das nicht. Die­ses Haus ist vol­ler Ap­pa­ra­tu­ren und Spie­le­rei­en. Ich ha­be es ein biß­chen er­forscht.“ Er zuck­te mit den Schul­tern. „Warum packt ihr bei­de nicht aus und kommt dann wie­der hier­her? Ich ge­he nicht weg.“

Sie fan­den ih­re Zim­mer recht leicht. Das rie­si­ge, ge­flies­te Bad ent­pupp­te sich als In­nen­hof im Frei­en mit ei­ner hei­ßen Wan­ne, und die Sui­te hat­te ein ei­ge­nes Wohn­zim­mer mit Ka­min. Dar­über war ein ab­strak­tes Ge­mäl­de an­ge­bracht, aber als Ka­thy die Zim­mer­tür schloß, ver­blaß­te es und wur­de von ei­ner wei­te­ren Mit­tei­lung er­setzt: ICH HOF­FE, IHR FIN­DET DIES ZU­FRIE­DEN­STEL­LEND.

„Rei­zen­der Bur­sche, un­ser Gast­ge­ber“, sag­te Ka­thy, nach­dem sie sich auf die Bett­kan­te ge­setzt hat­te. „Hof­fent­lich sind die­se Fern­seh­schir­me – oder was im­mer das für Din­ger sind – nicht zwei-we­gig. Ich ha­be nicht vor, für ir­gend­ei­nen elek­tro­ni­schen Voy­eur ei­ne Show ab­zu­zie­hen.“

Pe­ter run­zel­te die Stirn. „Wür­de mich nicht über­ra­schen, wenn das Haus wirk­lich vol­ler Wan­zen wä­re. Bun­nish war im­mer ein ko­mi­scher Typ.“

„Wie ko­misch?“

„Es fiel schwer, ihn zu mö­gen“, ant­wor­te­te Pe­ter. „Er war groß­spu­rig, hat im­mer da­mit ge­prahlt, was für ein gu­ter Schach­spie­ler er doch sei, wie schlau er sei, die­se Art von Sa­chen. Nie­mand hat ihm wirk­lich ge­glaubt. Sei­ne No­ten wa­ren gut, schät­ze ich, aber den Rest der Zeit wirk­te er ziem­lich be­scheu­ert. E. C. hat­te im­mer al­ler­lei ge­ris­se­ne Strei­che und Scha­ber­nacks auf La­ger, und Bun­nish war sein Lieb­ling­sop­fer. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir auf sei­ne Kos­ten ge­lacht ha­ben. Bun­nish war auch wirk­lich der Idi­ot in Per­son. Plump, rund­ge­sich­tig, mit flei­schi­gen Hän­ge­ba­cken wie ei­ne Art Strei­fen­hörn­chen, sein Haar trug er im Bürs­ten­schnitt. Er war im ROTC. Ich ha­be nie je­man­den ge­se­hen, der in ei­ner Uni­form lä­cher­li­cher aus­ge­se­hen hat. Er hat­te nie Ver­ab­re­dun­gen.“

„Schwul?“

„Nein, wohl kaum. Ase­xu­ell trifft es wohl bes­ser.“ Pe­ter blick­te sich im Zim­mer um und schüt­tel­te den Kopf. „Ich kann mir nicht vor­stel­len, wie es Bun­nish ge­schafft hat, der­art groß her­aus­zu­kom­men. Aus­ge­rech­net er.“ Er seufz­te, öff­ne­te den Kof­fer und be­gann aus­zu­pa­cken. „Del­ma­rio hät­te ich es viel­leicht zu­ge­traut“, fuhr er fort. „Ste­ve und Bun­nish wa­ren bei­de mit Tech­nik be­faßt, aber Ste­ve kam mir im­mer viel schlau­er vor. Wir dach­ten al­le, er sei ein rich­ti­ger Kön­ner. Bun­nish wirk­te nur wie ar­ro­gan­tes Mit­tel­maß.“

„Er hat euch ge­täuscht“, sag­te Ka­thy. Sie lä­chel­te süß­lich. „Na­tür­lich ist er nicht der ein­zi­ge, der euch ge­täuscht hat, oder? Auch wenn er viel­leicht der ers­te war.“

„Ge­nug“, sag­te Pe­ter und häng­te das letz­te sei­ner Hem­den in den Schrank. „Komm, ge­hen wir wie­der hin­un­ter. Ich möch­te mit E. C. re­den.“

Kaum wa­ren sie aus ih­rer Sui­te hin­aus­ge­tre­ten, als ei­ne Stim­me sie be­grüß­te. „Pe­te?“

Pe­ter dreh­te sich um, und der große Mann, der in der Tür am hin­te­ren En­de des Flurs stand, lä­chel­te ihm ein ent­stell­tes Lä­cheln zu. „Er­kennst du mich nicht, Pe­te?“

„Ste­ve?“ sag­te Pe­ter ver­wun­dert.

„Si­cher, he, was denkst du, wer sonst?“ Er trat ein we­nig un­si­cher aus sei­nem Zim­mer, und schloß die Tür hin­ter sich. „Dies muß die Ehe­frau sein, eh? Ha­be ich recht?“

„Ja“, sag­te Pe­ter. „Ka­thy, dies ist Ste­ve Del­ma­rio. Ste­ve, Ka­thy.“

Del­ma­rio kam zu ih­nen und quetsch­te en­thu­sias­tisch ih­re Hand, nach­dem er Pe­ter kräf­tig auf den Rücken ge­klopft hat­te. Pe­ter merk­te, daß er große Au­gen mach­te. Wenn sich E. C. in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren so gut wie gar nicht ver­än­dert hat­te, dann sorg­te Ste­ve für den Aus­gleich. Pe­ter hät­te sei­nen al­ten Team-Part­ner auf der Stra­ße nie er­kannt.

Der al­te Ste­ve Del­ma­rio hat­te für Schach und Elek­tro­nik ge­lebt. Er war ein wild ent­schlos­se­ner Geg­ner, und er lieb­te es, Din­ge zu­sam­men­zu­bas­teln, je­doch war er ent­täu­schend des­in­ter­es­siert an al­lem, was au­ßer­halb sei­ner eng­be­grenz­ten Lei­den­schaf­ten lag. Er war ein großer, ha­ge­rer Jun­ge ge­we­sen, mit un­glaub­lich schar­fen, hin­ter Co­lafla­schen-Lin­sen in schwe­rem, schwar­zem Ge­stell ge­fan­gen­ge­hal­te­nen Au­gen. Sein schwar­zes Haar war im­mer ent­we­der zer­wühlt oder un­ge­kämmt oder – wenn er sich einen sei­ner Do-it-your­self-Haar­schnit­te ge­gönnt hat­te – gro­tesk zer­sägt ge­we­sen. Glei­cher­ma­ßen acht­los hat­te er es mit sei­ner Klei­dung ge­hal­ten. Das meis­te war Heils­ar­mee-Chic mi­nus den Chic ge­we­sen: aus­ge­beul­te brau­ne Ho­sen mit Auf­schlä­gen, zehn Jah­re al­te Hem­den mit durch­ge­scheu­er­ten Kra­gen, ei­ne form­lo­se graue Strickja­cke mit Reiß­ver­schluß, die er über­all trug. Ein­mal hat­te E. C. be­merkt, daß Ste­ve Del­ma­rio aus­sah wie der letz­te auf Er­den am Le­ben ge­blie­be­ne Mensch nach ei­ner nu­klea­ren Ka­ta­stro­phe, und dar­auf­hin hat­te der gan­ze Club Del­ma­rio fast für die Dau­er ei­nes gan­zen Se­mes­ters ‚der letz­te Mensch auf Er­den’ ge­nannt. Er nahm es mit Hu­mor. Trotz all sei­ner Ei­gen­hei­ten hat­te man Del­ma­rio gern ge­mocht.

Die ver­gan­ge­ne Zeit je­doch war grau­sam zu ihm ge­we­sen. Die Co­lafla­schen-Bril­lenglä­ser im schwar­zen Ge­stell wa­ren die­sel­ben, und die Klei­der wa­ren eben­so wahl­los zu­sam­men­ge­stellt – fa­den­schei­ni­ge brau­ne Cord­ho­sen, ein kurz­är­me­li­ges wei­ßes Hemd mit drei Filz­stif­ten in der Ta­sche, ei­ne aus­ge­bleich­te Strick­wes­te, Knopf für Knopf zu­ge­knöpft, ab­ge­nutz­te Haus­lat­schen – aber der Rest hat­te sich voll­kom­men ver­än­dert. Ste­ve hat­te et­wa 25 Ki­lo zu­ge­nom­men, und er sah auf­ge­bläht und auf­ge­schwemmt aus. Er war fast völ­lig kahl, nichts war mehr da von dem wil­den, schwar­zen Haar – au­ßer ei­ni­gen schwäch­li­chen Sträh­nen um die Oh­ren. Und sei­ne Au­gen hat­ten ih­re fie­ber­haf­te In­ten­si­tät ver­lo­ren und wa­ren statt des­sen von ei­ner Ver­schwom­men­heit er­füllt, die Pe­ter schreck­lich be­un­ru­hi­gend fand. Am scho­ckie­rends­ten aber war der Ge­stank von Al­ko­hol in sei­nem Atem. E. C. hat­te es an­ge­deu­tet, aber Pe­ter fiel es noch im­mer schwer, das zu ak­zep­tie­ren. Im Col­le­ge hat­te Ste­ve Del­ma­rio au­ßer ei­nem ge­le­gent­li­chen Bier kei­nen Trop­fen an­ge­rührt.

„Schön, dich wie­der­zu­se­hen“, sag­te Pe­ter, ob­wohl er sich nicht mehr ganz si­cher war, ob das stimm­te. „Ge­hen wir hin­un­ter? E. C. war­tet.“

Del­ma­rio nick­te. „Si­cher, si­cher, tun wir’s.“ Er schlug Pe­ter wie­der auf den Rücken. „Habt ihr Bun­nish schon ge­se­hen? Ver­dammt, das ist ein La­den, den er hier hat, was? Hast du die­se Mit­tei­lungs­schir­me ge­se­hen? Ge­schickt, wirk­lich ge­schickt. Hät­te mir nie träu­men las­sen, daß Bun­nish so weit kom­men wür­de, nicht un­ser al­ter Fun­ny Bun­ny, eh?“ Er ki­cher­te. „Ich hab’ mir in den letz­ten Jah­ren im­mer wie­der mal ein paar sei­ner Pa­ten­te an­ge­schaut, weißt du. Wirk­lich ge­ni­al. Echt star­ke Ar­beit. Und von Bun­nish. Schät­ze, man kann eben nie wis­sen, oder?“

Als sie die Wen­del­trep­pe hin­un­ter­gin­gen, flu­te­te ih­nen aus dem Wohn­zim­mer klas­si­sche Mu­sik ent­ge­gen. Pe­ter er­kann­te die Kom­po­si­ti­on nicht; Rock war eher nach sei­nem Ge­schmack. Aber klas­si­sche Mu­sik war ei­ne von E. C.s Lei­den­schaf­ten ge­we­sen, und jetzt saß er in ei­nem Arm­leh­nen­ses­sel, die Au­gen ge­schlos­sen, und hör­te zu.

„Drinks“, sag­te Del­ma­rio. „Ich wer­de uns al­len ein paar Drinks ma­chen. Ihr müßt durs­tig sein. Bun­ny hat ei­ne gut be­stück­te Bar di­rekt hin­ter die­ser Trep­pe hier. Was wollt ihr?“

„Was steht zur Wahl?“ frag­te Ka­thy.

„Mei­ne Gü­te, er hat al­les, was man sich nur den­ken kann“, sag­te Del­ma­rio.

„Dann einen Bee­fea­ter-Mar­ti­ni“, sag­te sie. „Sehr tro­cken.“

Del­ma­rio nick­te. „Pe­te?“

„Oh“, sag­te Pe­ter. Er zuck­te mit den Schul­tern. „Ein Bier, schät­ze ich.“

Del­ma­rio mar­schier­te hin­ter die Trep­pe, um ih­re Drinks zu­zu­be­rei­ten, und Ka­thy hob ih­re Au­gen­brau­en und sah zu ihm hoch. „Ein soo ver­fei­ner­ter Ge­schmack“, sag­te sie. „Ein Bier!“

Pe­ter igno­rier­te sie, ging zu E. C. Stu­art hin­über und setz­te sich ne­ben ihn. „Wie, zum Teu­fel, hast du den Plat­ten­spie­ler ge­fun­den?“ frag­te er. „Ich se­he ihn nir­gends.“ Die Mu­sik schi­en ge­ra­de­wegs aus den Wän­den zu kom­men.

E. C. öff­ne­te die Au­gen, zeig­te ein ei­gen­ar­ti­ges klei­nes Lä­cheln und zwir­bel­te mit ei­nem Fin­ger ein En­de sei­nes Schnau­zers. „Der Mit­tei­lungs­schirm hat mir das Ge­heim­nis aus­ge­plau­dert“, sag­te er. „Die Ar­ma­tu­ren sind in die Wand dort hin­ten ein­ge­baut er mach­te ei­ne Be­we­gung mit dem Kopf – „… und die gan­ze An­la­ge ist ver­steckt. Sie wird auch stimm­ak­ti­viert. Com­pu­ter­ge­steu­ert. Ich ha­be ihr ge­sagt, wel­che Plat­te ich hö­ren woll­te.“

„Be­ein­dru­ckend“, gab Pe­ter zu. Er kratz­te sich am Kopf. „Hat nicht Ste­ve da­mals im Col­le­ge ei­ne stimm­ak­ti­vier­te Ste­reo-An­la­ge zu­sam­men­ge­bas­telt?“

„Dein Bier“, sag­te Del­ma­rio. Er stand vor ih­nen und hielt ihm ei­ne kal­te Fla­sche Hei­ne­ken hin. Pe­ter nahm sie, und Del­ma­rio – einen Drink in der Hand – setz­te sich auf den kunst­voll ge­ka­chel­ten Kaf­fee­tisch. „Ich hat­te ei­ne Idee“, sag­te er. „Al­ler­dings ist sie noch ziem­lich un­fer­tig. Denkt mal zu­rück, ihr Bur­schen habt mich des­we­gen im­mer auf­ge­zo­gen.“

„Du hat­test einen gu­ten Ton­ab­neh­mer ge­kauft“, sag­te E.C., „aber er wur­de von dir an ei­nem Ton­arm be­fes­tigt, den du aus ei­nem ver­bo­ge­nen Klei­der­bü­gel an­ge­fer­tigt hat­test.“

„Es hat funk­tio­niert“, pro­tes­tier­te Del­ma­rio. „Das Gan­ze wur­de auch stimm­ak­ti­viert, wie du schon sag­test, war aber na­tür­lich pri­mi­tiv. Nur ein und aus, das war al­les, und man muß­te rich­tig laut spre­chen. Ich dach­te da­mals, ich könn­te es nach Be­en­di­gung des Stu­di­ums ver­bes­sern, aber ich ha­be es nie ge­tan.“ Er zuck­te mit den Schul­tern. „Nicht ver­gleich­bar mit dem hier. Dies ist wirk­lich hoch ent­wi­ckelt.“

„Ha­be ich be­merkt“, sag­te E. C. Er reck­te sei­nen Kopf leicht hoch und sag­te mit sehr lau­ter, kla­rer Stim­me: „Ich ha­be jetzt ge­nug Mu­sik ge­hört, dan­ke.“ Die Stil­le, die folg­te, war schlicht ver­blüf­fend. Pe­ter fiel nichts ein, was er hät­te sa­gen kön­nen.

Schließ­lich wand­te sich E. C. ihm zu und sag­te ganz ernst: „Wie hat Bun­nish dich her­ge­holt, Pe­ter?“

Pe­ter war ver­wun­dert. „Mich her­ge­holt? Er hat uns ein­fach ein­ge­la­den. Was meinst du da­mit?“

„Er hat Ste­ves Fahrt be­zahlt, weißt du“, sag­te E. C. „Was mich be­trifft, so ha­be ich die­se Ein­la­dung ab­ge­lehnt. Bru­cie ge­hör­te nie zu den Leu­ten, die ich wirk­lich ger­ne moch­te, das weißt du. Er hat ge­wis­se Dräh­te ge­zo­gen, um mich um­zu­stim­men. Ich bin bei ei­ner Wer­be­agen­tur in New York be­schäf­tigt. Er hat ei­ne di­cke Brief­ta­sche vor de­ren Na­se bau­meln las­sen, und man hat mir ge­sagt, ich soll hier­her­fah­ren – an­dern­falls wür­de ich mei­nen Job ver­lie­ren. In­ter­essant, nicht wahr?“

Ka­thy hat­te auf dem So­fa ge­ses­sen, an ih­rem Mar­ti­ni ge­nippt und ge­lang­weilt drein­ge­schaut. „Das hört sich ja fast so an, als sei ihm die­ses Tref­fen wich­tig“, be­merk­te sie.

E. C. stand auf. „Kommt her“, sag­te er. „Ich will euch et­was zei­gen.“ Die an­de­ren er­ho­ben sich ge­hor­sam und folg­ten ihm durch den Raum. In ei­ner von Bü­cher­schrän­ken um­ge­be­nen schat­ti­gen Ecke war ein Schach­brett auf­ge­stellt wor­den, und die Fi­gu­ren dar­auf be­fan­den sich in ei­ner ent­wi­ckel­ten Spiel­po­si­ti­on. Das Brett war aus Qua­dra­ten in hel­lem und dunklem Holz ge­fer­tigt und sorg­fäl­tig in einen groß­ar­ti­gen vik­to­ria­ni­schen Tisch ein­ge­legt. Die Fi­gu­ren wa­ren aus El­fen­bein und Onyx. „Seht euch das mal an“, sag­te E.C.

„Das ist ein schö­nes Spiel“, sag­te Pe­ter be­wun­dernd. Er griff hin­un­ter, um die schwar­ze Da­me zu ei­ner nä­he­ren Be­gut­ach­tung hoch­zu­he­ben, und knurr­te über­rascht. Die Fi­gur be­weg­te sich nicht.

„Zieh dar­an“, sag­te E.C. „Es wird dir nichts nüt­zen. Ich ha­be es ver­sucht. Die Fi­gu­ren sind in die­ser Stel­lung fest­ge­leimt. Je­de ein­zel­ne von ih­nen.“

Ste­ve Del­ma­rio um­run­de­te das Brett, und sei­ne Au­gen zwin­ker­ten hin­ter den di­cken Bril­lenglä­sern. Er stell­te sei­nen Drink auf den Tisch und sank in den Ses­sel vor der wei­ßen Spie­ler­sei­te. „Die Stel­lung“, sag­te er, die Stim­me vom Al­ko­hol ein we­nig ver­schwom­men. „Ich ken­ne sie.“

E. C. Stu­art lä­chel­te dünn und wisch­te über sei­nen Schnau­zer. „Pe­ter“, sag­te er und nick­te zum Schach­brett hin. „Schau gut hin.“

Pe­ter starr­te dar­auf, und plötz­lich wur­de es ihm klar – die Auf­stel­lung der Fi­gu­ren auf dem Brett wur­de ihm so be­kannt wie sei­ne ei­ge­nen Ge­sichts­zü­ge in ei­nem Spie­gel. „Das Spiel“, sag­te er, „von den na­tio­na­len Meis­ter­schaf­ten. Dies ist die kri­ti­sche Stel­lung aus Bun­nis­hs Spiel mit Ves­se­le­re.“

E. C. nick­te. „Das dach­te ich mir. Ich war mei­ner Sa­che nicht si­cher.“

„Oh, ich bin mei­ner Sa­che si­cher“, sag­te Del­ma­rio laut. „Wie, zum Teu­fel, könn­te ich nicht si­cher sein? Dies ist ge­nau die Stel­le, an der Bun­ny die Sa­che ge­schmis­sen hat, wißt ihr noch? Er hat den Kö­nig ge­zo­gen statt das Op­fer. Das hat uns das Spiel ge­kos­tet. Ich, ich ha­be di­rekt ne­ben ihm ge­ses­sen, und ich ha­be das ver­dammt bes­te Schach­spiel ge­spielt, das ich je ge­spielt ha­be. Ha­be einen Meis­ter ge­schla­gen, und was hat’s genützt? Kein ver­damm­tes biß­chen, dank Bun­nish.“ Er schau­te auf das Brett, und sei­ne Au­gen fun­kel­ten. „Sprin­ger schlägt Bau­er, das war al­les, was er hät­te spie­len müs­sen, sprengt Ves­se­le­re weit auf. Schach, Schach, Schach, Schach, und dann hät­te es ir­gend­wann ein Matt ge­ben müs­sen.“

„Aber du warst nie in der La­ge, den ent­schei­den­den Zug her­aus­zu­fin­den, Del­ma­rio“, sag­te Bru­ce Bun­nish hin­ter ih­nen.

Kei­ner von ih­nen hat­te ihn ein­tre­ten hö­ren. Pe­ter zuck­te zu­sam­men wie ein Ein­bre­cher, den man beim Dieb­stahl des Fa­mi­li­en­sil­bers über­rascht hat­te.

Ihr Gast­ge­ber stand ein paar Me­ter ent­fernt in der Tür. Bun­nish hat­te sich eben­falls ver­än­dert. Seit sei­ner Col­le­ge-Zeit hat­te er Ge­wicht ver­lo­ren, und sein Kör­per wirk­te jetzt fest und gut in Form, ob­wohl er noch im­mer die großen, run­den Wan­gen hat­te, an die sich Pe­ter er­in­ner­te. Sein Bürs­ten­schnitt war zu ei­nem brau­nen Haar­schopf aus­ge­wach­sen, sorg­fäl­tig fri­siert und ge­fönt. Er trug ei­ne große, ge­tön­te Bril­le und teu­re Klei­dung. Aber er war im­mer noch Bun­nish. Sei­ne Stim­me war laut und rauh, ge­nau wie Pe­ter sie in Er­in­ne­rung hat­te.

Bun­nish schlen­der­te bei­na­he läs­sig zu dem Schach­brett hin­über. „Du hast die­se Stel­lung hin­ter­her wo­chen­lang ana­ly­siert, Del­ma­rio“, sag­te er. „Du hast die Matt-Po­si­ti­on nie ge­fun­den.“

Del­ma­rio stand auf. „Ich ha­be ein Dut­zend Matt­po­si­tio­nen ge­fun­den“, sag­te er.

„Ja“, sag­te Bun­nish, „aber kei­ne ein­zi­ge da­von war er­zwun­gen. Ves­se­le­re war ein in­ter­na­tio­na­ler Meis­ter. Er wä­re auf kei­ne ein­zi­ge dei­ner so­ge­nann­ten Matt­set­zungs­stra­te­gi­en her­ein­ge­fal­len.“

Del­ma­rio run­zel­te die Stirn und kipp­te sei­nen Drink hin­un­ter. Er woll­te noch et­was sa­gen – Pe­ter konn­te ihm an­se­hen, wie er nach Wor­ten such­te –, aber E. C. stand auf und nahm ihm sei­ne Chan­ce. „Bru­ce“, sag­te er, wo­bei er ihm die Hand reich­te. „Nett, dich wie­der­zu­se­hen. Wie lan­ge ist es her?“

Bun­nish dreh­te sich um und lä­chel­te her­ab­las­send. „Ist das wie­der ei­ner von dei­nen Spa­ßen, E. C.? Du weißt, wie lan­ge es her ist, und ich weiß, wie lan­ge es her ist. Al­so – warum fragst du? Nor­ten weiß es, und Del­ma­rio weiß es. Viel­leicht fragst du für Mrs. Nor­ten?“ Er sah Ka­thy an. „Wis­sen Sie, wie lan­ge es her ist?“

Sie lach­te. „Ich ha­be es ge­hört.“

„Ah“, sag­te Bun­nish. Er schwenk­te zu E. C. zu­rück. „Dann wis­sen wir es al­le, al­so muß es wie­der ei­ner von dei­nen Spa­ßen sein, und ich wer­de nicht ant­wor­ten. Weißt du noch, wie du mich im­mer um drei Uhr mor­gens an­ge­ru­fen und mich ge­fragt hast, wie spät es ist? Dann ha­be ich es dir ge­sagt, und du hast mich ge­fragt, was das soll, dich um die­se Uhr­zeit an­zu­ru­fen.“

E. C. run­zel­te die Stirn und ließ die Hand sin­ken.

„Nun“, sag­te Bun­nish in die pein­li­che Stil­le hin­ein, die folg­te, „es hat kei­nen Sinn, hier um die­ses dum­me Schach­brett her­um­zu­ste­hen. Warum set­zen wir uns nicht al­le am Ka­min drü­ben hin und re­den.“ Er mach­te ei­ne Hand­be­we­gung. „Bit­te.“

Aber als sie sich ge­setzt hat­ten, brach die Stil­le er­neut her­ein. Pe­ter nahm einen Schluck Bier und merk­te, daß ihm mehr als nur un­be­hag­lich war. Ei­ne fühl­ba­re Span­nung hing in der Luft. „Hüb­sches Haus hast du hier, Bru­ce“, sag­te er in der Hoff­nung, die At­mo­sphä­re zu säu­bern.

Bun­nish blick­te sich selbst­ge­fäl­lig um. „Ich weiß“, er­wi­der­te er. „Mir ist es furcht­bar gut er­gan­gen, weißt du. Furcht­bar gut. Ihr wür­det nicht glau­ben, wie­viel Geld ich ha­be. Ich weiß kaum, was ich da­mit al­les an­fan­gen soll.“ Er lä­chel­te breit und al­bern. „Und wie steht es mit euch, mei­ne Freun­de? Hier prah­le ich wie­der ein­mal, wo ich doch ei­gent­lich euch al­len beim Auf­zäh­len eu­rer Tri­um­phe zu­hö­ren soll­te.“ Bun­nish sah Pe­ter an. „Du zu­erst, Nor­ton. Du bist schließ­lich der Ka­pi­tän. Wie ist es dir er­gan­gen?“

„Ganz gut“, sag­te Pe­ter un­be­hag­lich. „Mir ist es gut er­gan­gen. Mir ge­hört ein Buch­la­den.“

„Ein Buch­la­den! Wie wun­der­bar! Ich er­in­ne­re mich, daß du schon im­mer ins Ver­lags­ge­schäft ein­stei­gen woll­test, ob­wohl – ich ha­be eher ge­dacht, du wür­dest Bü­cher schrei­ben, statt sie zu ver­kau­fen. Was ist nur mit die­sen Ro­ma­nen pas­siert, die du schrei­ben woll­test, Pe­ter? Mit dei­ner li­te­ra­ri­schen Kar­rie­re?“

Pe­ters Mund war sehr tro­cken. „Ich … Die Din­ge än­dern sich, Bru­ce. Ich ha­be nicht viel Zeit zum Schrei­ben ge­habt.“ Es hört sich so dürf­tig an, dach­te Pe­ter. Ganz plötz­lich wünsch­te er sich ver­zwei­felt, daß er wo­an­ders wä­re.

„Kei­ne Zeit zum Schrei­ben“, echo­te Bun­nish. „Scha­de, Nor­ton. Du warst so viel­ver­spre­chend.“

„Er ist noch im­mer viel­ver­spre­chend“, warf Ka­thy bis­sig ein. „Er hat Ver­spre­chun­gen ab­ge­ge­ben, so­lan­ge ich ihn ken­ne. Er schreibt nie, aber er gibt Ver­spre­chun­gen ab, und wie.“

Bun­nish lach­te. „Dei­ne Frau ist sehr geist­reich“, sag­te er zu Pe­ter. „Sie ist fast so ul­kig wie E. C. da­mals im Col­le­ge. Du ge­nießt es si­cher­lich, mit ihr ver­hei­ra­tet zu sein. Ich weiß noch, wie be­geis­tert du von E. C.s klei­nen Scher­zen warst.“ Er sah E. C. an. „Bist du im­mer noch ein lus­ti­ger Mensch, Stu­art?“

E. C. wirk­te ver­är­gert. „Ich bin hys­te­risch“, sag­te er mit mat­ter Stim­me.

„Gut“, mein­te Bun­nish. Er wand­te sich Ka­thy zu und sag­te: „Ich weiß nicht, ob Ih­nen Pe­ter all die Ge­schich­ten über den al­ten E. C. er­zählt hat, aber er hat uns wirk­lich ei­ni­ge er­staun­li­che Strei­che ge­spielt. Ein über­mü­ti­ger Mensch, das ist un­ser E. C. Stu­art. Ein­mal, als un­ser Schach­team die Stadt­meis­ter­schaft ge­won­nen hat­te, ließ er ei­ne sei­ner Freun­din­nen bei Pe­ter an­ru­fen und so tun, als sei sie ei­ne Re­por­te­rin. Sie hat ihn ei­ne Stun­de lang in­ter­viewt, bis er end­lich be­grif­fen hat, was ge­spielt wur­de.“

Ka­thy lach­te. „Pe­ter ist manch­mal ein biß­chen lang­sam“, sag­te sie.

„Oh, das war nichts. Nor­ma­ler­wei­se war ich der­je­ni­ge, dem E. C. gern Strei­che spiel­te. Ich bin nicht viel aus­ge­gan­gen, wis­sen Sie. Ich hat­te ei­ne To­des­angst vor Mäd­chen. Aber E. C. hat­te hun­dert Freun­din­nen, und je­de ein­zel­ne war groß­ar­tig. Ein­mal hat er Mit­leid mit mir be­kom­men und mir an­ge­bo­ten, für mich ei­ne blin­de Ver­ab­re­dung zu tref­fen. Ich ak­zep­tier­te eif­rig, und als das Mäd­chen an der Ecke an­kam, wo wir uns tref­fen soll­ten, da hat­te sie ei­ne dunkle Bril­le auf und trug einen Stock. Da­mit hat sie her­um­ge­tas­tet. Sie wis­sen schon.“

Ste­ve Del­ma­rio lach­te schal­lend, ver­such­te, sein La­chen zu un­ter­drücken und er­stick­te bei­na­he an sei­nem Drink. „Ent­schul­di­gung“, keuch­te er. „Tut mir leid.“

Bun­nish wink­te läs­sig ab. „Oh, mach wei­ter, lach nur. Es war ko­misch. Das Mäd­chen war nicht wirk­lich blind, wißt ihr, son­dern ei­ne Schau­spiel­schü­le­rin, die ei­ne Rol­le in ei­nem Stück prob­te. Aber ich ha­be den gan­zen Abend ge­braucht, um das her­aus­zu­fin­den. Ich war solch ein Dumm­kopf. Und das war nur ein Spaß. Es gibt Hun­der­te von an­de­ren.“

E. C. blick­te fins­ter drein. „Das war vor lan­ger Zeit. Wir wa­ren Kin­der. Das liegt jetzt al­les hin­ter uns, Bru­ce.“

„Bru­ce?“ Bun­nish klang über­rascht. „Oho, Stu­art, das ist das ers­te Mal, daß du mich Bru­ce ge­nannt hast. Du hast dich ver­än­dert. Du warst der­je­ni­ge, der da­mit an­ge­fan­gen hat, mich Bru­cie zu nen­nen. Gott, wie ha­be ich die­sen Na­men ge­haßt! Bru­cie, Bru­cie, Bru­cie, ich ha­be ihn ver­ab­scheut. Wie oft ha­be ich dich ge­be­ten, mich Bru­ce zu nen­nen? Wie oft? Nun, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß noch, wie du nach drei Jah­ren schließ­lich auf ei­nem Tref­fen zu mir kamst und sag­test, du hät­test es dir über­legt und nun auch die Über­zeu­gung ge­won­nen, daß Bru­cie wirk­lich kein pas­sen­der Na­me für einen A-Klas­se-Schach­spie­ler wä­re, ei­nem Zwan­zig­jäh­ri­gen, ei­nem Of­fi­zier des ROTC. Das wa­ren ge­nau dei­ne Wor­te. Ich er­in­ne­re mich an die ge­sam­te Re­de, E. C. Sie hat mich so über­rascht, daß ich nicht wuß­te, was ich sa­gen soll­te, und des­halb ha­be ich geant­wor­tet: ‚Gut, das wur­de auch Zeit!’ Und dann hast du ge­grinst und ge­sagt, Bru­cie sei nun out, du wür­dest mich nie wie­der Bru­cie nen­nen. Von jetzt an, sag­test du, wür­dest du mich Bun­ny nen­nen.“

Ka­thy lach­te, und Del­ma­rio würg­te einen ex­plo­si­ven Aus­bruch hin­un­ter, aber Pe­ter fühl­te sich nur durch und durch kalt. Bun­nis­hs Lä­cheln war ziem­lich jo­vi­al, aber sein Ton war rei­nes, ge­fro­re­nes Gift, als er von dem Vor­fall be­rich­te­te. E. C. sah auch nicht be­lus­tigt aus. Pe­ter nahm einen Schluck von sei­nem Bier und grü­bel­te nach ei­ner List, um die Un­ter­hal­tung in ei­ne an­de­re Bahn zu len­ken. „Spielt ir­gend je­mand von euch noch?“ hör­te er sich selbst her­aus­plat­zen.

Al­le sa­hen sie ihn an. Del­ma­rio mach­te einen bei­na­he be­rausch­ten Ein­druck. „Spie­len?“ sag­te er. Er guck­te blin­zelnd auf sein lee­res Glas hin­un­ter.

„Füll dir selbst nach“, sag­te Bun­nish zu ihm. „Du weißt, wo.“ Er lä­chel­te Pe­ter an, als Del­ma­rio zur Bar hin­über­ging. „Du meinst na­tür­lich Schach.“

„Schach“, sag­te Pe­ter. „Du er­in­nerst dich – Schach. Selt­sa­mer klei­ner Zeit­ver­treib, den man mit schwar­zen und wei­ßen Fi­gu­ren und ei­ner Men­ge Uh­ren mit zwei Zif­fer­blät­tern spielt.“ Er sah sich um. „Sagt mir nicht, daß wir es al­le auf­ge­ge­ben ha­ben!“

E. C. zuck­te mit den Schul­tern. „Ich bin zu be­schäf­tigt. Ich ha­be seit dem Col­le­ge kein klas­si­fi­zier­tes Spiel mehr ge­spielt.“

Del­ma­rio war zu­rück­ge­kehrt, und Eis­wür­fel klin­gel­ten lei­se in ei­nem Trink­glas vol­ler Bour­bon. „Ich ha­be nach dem Col­le­ge noch ein we­nig ge­spielt“, sag­te er, „aber in den letz­ten fünf Jah­ren nicht mehr.“ Er setz­te sich schwer­fäl­lig hin und starr­te in den kal­ten Ka­min. „Das wa­ren mei­ne schlim­men Jah­re. Mei­ne Frau ver­ließ mich, ich ver­lor einen Job nach dem an­de­ren. Un­ser Bun­ny hier war mir weit vor­aus. Auf je­de ver­damm­te Idee, mit der ich an­ge­kom­men bin, hat­te er schon ein Pa­tent an­ge­mel­det. Es kam so­weit, daß ich mich völ­lig nutz­los fühl­te. Da­mals ha­be ich an­ge­fan­gen zu trin­ken.“ Er lä­chel­te, nahm einen Schluck. „Ja“, sag­te er. „Ge­nau an je­nem Punkt. Und ich ha­be auf­ge­hört, Schach zu spie­len. Es kommt al­les her­aus, wißt ihr, auf dem Brett kommt al­les her­aus. Ich ha­be ver­lo­ren, im­mer wie­der ver­lo­ren. Ge­gen all die­se Würst­chen, Gott, ich sa­ge euch, ich konn­te es nicht er­tra­gen. Mei­ne Ein­stu­fung wur­de auf Klas­se B hin­un­ter­ge­setzt.“ Del­ma­rio nahm einen wei­te­ren Schluck und sah Pe­ter an. „Man braucht das ge­wis­se Et­was, um gu­tes Schach spie­len zu kön­nen, weißt du, was ich mei­ne? Ei­ne Art … ver­dammt, ich weiß nicht … ei­ne Art Ar­ro­ganz. Selbst­ver­trau­en. Es ist ganz und gar mit Ego ver­klei­det, mit die­ser Art von Zeug, und ich hat­te es nicht mehr, was im­mer es auch war. Ich hab’s im­mer ge­habt, aber dann ha­be ich es ganz ver­lo­ren. Ich hat­te Pech, und ei­nes Ta­ges hab’ ich mich um­ge­schaut, und es war weg, und mei­ne Fä­hig­keit, Schach spie­len zu kön­nen, war gleich­zei­tig ver­schwun­den. Al­so ha­be ich auf­ge­hört.“ Er hob das Glas an die Lip­pen, zö­ger­te und leer­te es ganz. Dann lä­chel­te er sie an. „Auf­ge­hört“, wie­der­hol­te er. „Hab’s auf­ge­ge­ben. Hin­ge­schmis­sen. Bin aus­ge­stie­gen.“ Er ki­cher­te, stand auf und ging wie­der zur Bar.

„Ich spie­le“, sag­te Bun­nish ein­dring­lich. „Ich bin jetzt in­ter­na­tio­na­ler Meis­ter.“

Del­ma­rio blieb mit­ten in der Be­we­gung ste­hen und fi­xier­te Bun­nish mit ei­nem der­ar­ti­gen Blick völ­li­ger Ver­ach­tung, daß er hät­te tö­ten kön­nen. Pe­ter sah, daß Ste­ves Hand zit­ter­te.

„Ich freue mich sehr für dich, Bru­ce“, sag­te E. C. Stu­art. „Bit­te, ge­nie­ße nur dei­ne Meis­ter­schaft und dein Geld und Bun­nis­h­land.“ Er stand auf und zog stirn­run­zelnd sei­ne Jacke glatt. „In­zwi­schen wer­de ich ge­hen.“

„Ge­hen?“ sag­te Bun­nish. „Wirk­lich, E. C, so bald? Mußt du?“

„Bun­nish“, sag­te E. C, „du kannst die nächs­ten vier Ta­ge da­mit ver­brin­gen, dei­ne klei­nen Ego-Spiel­chen mit Ste­ve und Pe­ter zu spie­len, wenn du magst, aber ich fürch­te, ich ha­be da­für nichts üb­rig. Du warst im­mer ein Pi­ckel­hirn, und ich ha­be bes­se­re Sa­chen mit mei­nem Le­ben zu tun, als hier­zu sit­zen und dir zu­zu­se­hen, wie du zehn Jah­re al­ten Ei­ter aus­quetschst. Drücke ich mich klar ge­nug aus?“

„Oh, voll­kom­men“, sag­te Bun­nish.

„Gut“, sag­te E. C. Er­sah die an­de­ren an. „Ka­thy, es war nett, Sie ken­nen­zu­ler­nen. Es tut mir leid, daß es nicht un­ter an­ge­neh­me­ren Be­gleit­um­stän­den ge­sch­ah. Pe­ter, Ste­ve, wenn ei­ner von euch in nächs­ter Zu­kunft ein­mal nach New York kommt, hof­fe ich, daß ihr mich be­sucht. Mein Na­me steht im Te­le­fon­buch.“

„E.C., hast du nicht …“ fing Pe­ter an, aber er wuß­te, daß es nutz­los war. E.C. Stu­art war schon im­mer ei­gen­sin­nig ge­we­sen. Man hat­te ihn nie zu et­was über­re­den oder ihm et­was aus­re­den kön­nen.

„Wie­der­se­hen“, sag­te er und un­ter­brach Pe­ter. Er ging forsch zum Auf­zug, und sie sa­hen zu, wie sich die holz­ver­tä­fel­ten Tü­ren hin­ter ihm schlos­sen.

„Er wird zu­rück­kom­men“, sag­te Bun­nish, nach­dem sich die Auf­zugs­ka­bi­ne in Be­we­gung ge­setzt hat­te.

„Das glau­be ich nicht“, er­wi­der­te Pe­ter.

Bun­nish stand auf und lä­chel­te breit. Tie­fe Grüb­chen er­schie­nen in sei­nen di­cken, run­den Wan­gen. „Oh, aber er wird zu­rück­kom­men, Nor­ten. Ver­stehst du – jetzt bin ich an der Rei­he, die klei­nen Spa­ße zu ma­chen, und E.C. wird das bald her­aus­fin­den.“

„Was?“ frag­te Del­ma­rio.

„Regt euch des­we­gen nicht auf, ihr wer­det es bald ge­nug ver­ste­hen“, mein­te Bun­nish. „In­zwi­schen ent­schul­digt mich doch bit­te, Ich muß mich um das Abendes­sen küm­mern. Ihr müßt al­le einen Bä­ren­hun­ger ha­ben. Ich ma­che das Abendes­sen selbst, wißt ihr. Ich ha­be mei­ne Be­diens­te­ten weg­ge­schickt, da­mit wir ein net­tes pri­va­tes Tref­fen ha­ben.“ Er schau­te auf sei­ne Uhr, ei­ne schwe­re, gol­de­ne Schwei­zer Uhr. „Tref­fen wir uns al­le im Eß­zim­mer – in, sa­gen wir, ei­ner Stun­de. Bis da­hin müß­te al­les fer­tig sein. Wir kön­nen dann wei­ter­re­den. Über das Le­ben. Über Schach.“ Er lä­chel­te und ging.

Ka­thy lä­chel­te auch. „Tja“, sag­te sie zu Pe­ter, nach­dem Bun­nish den Raum ver­las­sen hat­te, „dies ist ja al­les weit un­ter­halt­sa­mer, als ich mir es hät­te vor­stel­len kön­nen. Ich kom­me mir vor, als wä­re ich ge­ra­de­wegs in ein Ha­rold-Pin­ter-Stück hin­ein­ge­ra­ten.“

„Wer ist das?“ frag­te Del­ma­rio und nahm sei­nen Platz wie­der ein.

Pe­ter be­ach­te­te ihn nicht. „Mir ge­fällt die Sa­che über­haupt nicht“, er­klär­te er. „Was, zum Teu­fel, hat Bun­nish da­mit ge­meint, als er sag­te, er wol­le sich mit uns einen Spaß ma­chen?“

Auf ei­ne Ant­wort brauch­te er nicht lan­ge zu war­ten. Wäh­rend Ka­thy da­von­ging, um sich noch einen Mar­ti­ni zu ho­len, hör­ten sie den Auf­zug wie­der und wand­ten sich er­war­tungs­voll den Tü­ren zu. E. C. trat her­aus, und er sah wü­tend aus. „Wo ist er?“ frag­te er mit har­ter Stim­me.

„Er woll­te das Abendes­sen zu­be­rei­ten“, sag­te Pe­ter. „Was ist los? Er hat et­was von ei­nem Spaß ge­sagt …“

„Die­se Ga­r­agen­tü­ren wol­len nicht auf­ge­hen“, sag­te E.C. „Ich be­kom­me mei­nen Wa­gen nicht hin­aus. Oh­ne Au­to kommt man nicht weit. Nicht hier. Wir müs­sen gut fünf­zig Mei­len von der nächs­ten mensch­li­chen Be­hau­sung ent­fernt sein.“

„Ich wer­de hin­un­ter­ge­hen und mit mei­nem VW durch­bre­chen“, er­klär­te Del­ma­rio hilfs­be­reit. „Wie im Film.“

„Mach dich nicht lä­cher­lich“, sag­te E. C. „Die Tür ist aus rost­frei­em Stahl. Du hast kei­ne Chan­ce, sie nie­der­zu­rei­ßen.“ Er­blick­te fins­ter drein und wisch­te dann ein En­de sei­nes Schnau­zers zu­rück. „Bru­cie in Stücke zu rei­ßen ist al­ler­dings ein viel er­folg­ver­spre­chen­de­rer Vor­schlag. Wo, zum Teu­fel, ist die Kü­che?“

Pe­ter seufz­te. „Ich wür­de es nicht tun, wenn ich du wä­re, E. C“, sag­te er. „So wie er sich auf­ge­führt hat, wür­de er die Mög­lich­keit, dich ins Ge­fäng­nis wer­fen zu las­sen, ein­fach zu ger­ne wahr­neh­men. Wenn du ihn be­rührst, ist das ein tät­li­cher An­griff, das weißt du.“

„Ruft die Po­li­zei“, schlug Ka­thy vor.

Pe­ter schau­te sich um. „Jetzt, da du es er­wähnst – ich se­he nir­gends ein Te­le­fon in die­sem Zim­mer. Ihr et­wa?“ Schwei­gen. „Auch in un­se­rer Sui­te war kein Te­le­fon, wenn ich mich recht ent­sin­ne.“

„He!“ sag­te Del­ma­rio. „Das stimmt, Pe­te, du hast recht.“

E. C. setz­te sich. „Er scheint uns schach­matt ge­setzt zu ha­ben“, sag­te er.

„Das rich­ti­ge Wort da­für“, mein­te Pe­ter. „Bun­nish treibt ei­ne Art Spiel mit uns. Das hat er selbst ge­sagt. Er macht sich einen Spaß.“

„Ha­ha“, sag­te E.C. „Was schlagt ihr al­so vor – was sol­len wir tun? La­chen?“

Pe­ter zuck­te mit den Schul­tern. „Zu Abend es­sen, re­den, un­ser Tref­fen ab­hal­ten, her­aus­fin­den, was Bun­nish zur Höl­le noch mal mit uns vor­hat.“

„Das Spiel ge­win­nen, Jungs, das wer­den wir tun“, sag­te Del­ma­rio.

E. C. starr­te ihn an. „Was, zum Teu­fel, heißt das?“

Del­ma­rio nipp­te an sei­nem Bour­bon und grins­te. „Pe­ter hat ge­sagt, daß Bun­ny ei­ne Art Spiel mit uns spielt, stimmt’s? Okay, gut. Spie­len wir. Schla­gen wir ihn in die­sem gott­ver­damm­ten Spiel, was zum Teu­fel auch im­mer es für ein Spiel sein mag.“ Er glucks­te. „Teu­fel, Jungs, wir spie­len ge­gen den Fun­ny Bun­ny. Mög­lich, daß er ein in­ter­na­tio­na­ler Meis­ter ist, aber das küm­mert mich einen ganz feuch­ten Keh­richt, er wird trotz­dem einen Weg fin­den, wie er es am En­de plat­zen läßt. Ihr wißt, wie es war. Bun­nish hat die großen Spie­le im­mer ver­lo­ren. Er wird auch die­ses ver­lie­ren.“

„Das ist die Fra­ge“, sag­te Pe­ter. „Das ist die Fra­ge.“

 

Pe­ter hat­te sich noch ei­ne Fla­sche Hei­ne­ken mit in die Sui­te ge­nom­men, saß im In­nen­hof in ei­nem Lie­ge­stuhl und trank, wäh­rend Ka­thy die Wan­ne aus­pro­bier­te.

„Das ist nett“, sag­te sie aus der Wan­ne her­aus. „Ent­span­nend. So­gar sinn­lich. Warum kommst du nicht auch her­ein?“

„Nein, dan­ke“, sag­te Pe­ter.

„Wir soll­ten uns auch so ei­ne zu­le­gen.“

„Stimmt. Wir könn­ten sie in un­ser Wohn­zim­mer stel­len. Die Leu­te in der Woh­nung un­ter uns wür­den sich be­dan­ken.“ Er nahm einen Schluck Bier und schüt­tel­te den Kopf.

„Wor­an denkst du?“ frag­te Ka­thy.

Pe­ter lä­chel­te grim­mig. „Schach, glaub es oder glaub es nicht.“

„Oh? Laß hö­ren.“

„Das Le­ben und Schach ha­ben ei­ne Men­ge ge­mein­sam“, sag­te er.

Sie lach­te. „Wirk­lich? Ko­misch, das ha­be ich nie be­merkt.“

Pe­ter wei­ger­te sich, ih­re Sti­che­lei in sich ein­si­ckern zu las­sen. „Al­les ei­ne Sa­che von Ent­schei­dun­gen. Bei je­dem Zug sieht man sich vor Ent­schei­dun­gen ge­stellt, und je­de Ent­schei­dung führt zu an­de­ren Va­ri­an­ten. Es ver­zweigt sich und ver­zweigt sich wie­der, und manch­mal ist die Va­ri­an­te, die man ge­wählt hat, nicht so gut, wie sie aus­ge­se­hen hat, ist über­haupt nicht brauch­bar. Aber das weiß man erst, wenn das Spiel vor­bei ist.“

„Ich hof­fe, daß du das wie­der­holst, wenn ich aus der Wan­ne her­aus­ge­klet­tert bin“, sag­te Ka­thy. „Ich möch­te das al­les für die Nach­welt auf­schrei­ben.“

„Ich weiß noch, da­mals im Col­le­ge – wie vie­le Mög­lich­kei­ten schi­en das Le­ben zu ha­ben. Va­ri­an­ten. Ich ha­be na­tür­lich ge­wußt, daß ich nur ei­nes mei­ner Phan­ta­sie­le­ben le­ben wür­de, aber da­mals hat­te ich sie für ein paar Jah­re al­le, al­le Ver­zwei­gun­gen, al­le Va­ri­an­ten. Einen Tag konn­te ich da­von träu­men, ein Ro­man­au­tor zu sein, am nächs­ten Tag da­von, ein Jour­na­list zu sein, der aus Wa­shing­ton be­rich­te­te, am nächs­ten – oh, ich weiß nicht, ein Po­li­ti­ker, ein Leh­rer, was auch im­mer. Mei­ne Traum­le­ben. Vol­ler Traum­reich­tum und Traum­frau­en. All die Sa­chen, die ich vor­hat­te, all die Or­te, an de­nen ich woh­nen wür­de. Na­tür­lich ha­ben sie sich ge­gen­sei­tig aus­ge­schlos­sen, aber da ich kei­nes von ih­nen wirk­lich leb­te, leb­te ich sie in ei­nem ge­wis­sen Sin­ne al­le. Als wür­de man sich an ein Schach­brett set­zen, um ein Spiel zu be­gin­nen, und man weiß nicht, wie die Er­öff­nung aus­sieht. Viel­leicht wird es ei­ne si­zi­lia­ni­sche oder ei­ne fran­zö­si­sche Ver­tei­di­gung oder ei­ne nach Ruy Lo­pez. Sie exis­tie­ren al­le ne­ben­ein­an­der, al­le Va­ri­an­ten, bis man an­fängt, die Zü­ge zu ma­chen. Man träumt im­mer da­von zu ge­win­nen, egal, wel­chen Weg man wählt, aber die Va­ri­an­ten sind nach wie vor … ver­schie­den.“ Er trank noch et­was Bier. „Wenn das Spiel erst ein­mal be­gon­nen hat, sind die Mög­lich­kei­ten en­ger und en­ger und en­ger, die an­de­ren Va­ri­an­ten ver­blas­sen, und es bleibt ei­nem das, was man hat – ei­ne Po­si­ti­on, halb selbst­ge­macht, halb Zu­fall, wie er von je­nem Frem­den auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te des Bret­tes ver­kör­pert wird. Viel­leicht hat man ein gu­tes Spiel, viel­leicht ge­rät man in Schwie­rig­kei­ten, aber auf je­den Fall gibt es ge­nau die ei­ne Po­si­ti­on, von der aus man ar­bei­tet. Die Hät­te-sein-kön­nen-Al­ter­na­ti­ven sind ver­schwun­den.“

Ka­thy stieg aus der Wan­ne und be­gann sich ab­zu­trock­nen.

Dampf stieg aus dem Was­ser auf und be­weg­te sich sanft um sie her­um. Pe­ter merk­te, daß er sie fast mit Zärt­lich­keit an­sah, et­was, das er seit lan­ger Zeit nicht mehr emp­fun­den hat­te. Dann sprach sie und zer­stör­te es. „Du hast dei­nen Be­ruf ver­fehlt“, sag­te sie, wo­bei sie mit dem Hand­tuch flott wei­ter­rub­bel­te. „Du hät­test Pla­ka­te­schrei­ber wer­den sol­len. Du hast ei­ne Ader für Pla­kat-Tief­sinn. Weißt du, so et­was wie: ‚Ich bin nicht auf die­ser Welt, um dei­nen Er­war­tun­gen ge…’“

„Ge­nug“, sag­te Pe­ter. „Wie­viel Blut mußt du noch ab­zap­fen, ver­dammt?“

Ka­thy un­ter­brach sich und sah ihn an. Sie run­zel­te die Stirn. „Du bist wirk­lich ka­putt, nicht wahr?“

Pe­ter starr­te hin­aus auf die Ber­ge und mach­te sich nicht die Mü­he zu ant­wor­ten.

Die Be­sorg­nis ver­ließ ih­re Stim­me so schnell, wie sie ge­kom­men war. „Ei­ne wei­te­re De­pres­si­on, was? Trink noch ein Bier, warum nicht? Ge­nie­ße dein Selbst­mit­leid noch ein biß­chen. Bis Mit­ter­nacht wirst du dich zu ei­nem gu­ten, heu­len­den Elend hoch­ge­ar­bei­tet ha­ben. Mach schon.“

„Ich den­ke im­mer noch an die­ses Spiel“, sag­te Pe­ter.

„Spiel?“

„Bei den na­tio­na­len Meis­ter­schaf­ten. Ge­gen Chi­ca­go. Es ist son­der­bar, aber ich ha­be stän­dig die­ses ei­gen­ar­ti­ge Ge­fühl, als … als wä­re ge­nau das der Zeit­punkt ge­we­sen, an dem al­les an­ge­fan­gen hat, sich ne­ga­tiv zu ent­wi­ckeln. Wir hat­ten die Chan­ce, et­was Großes zu tun, et­was Be­son­de­res. Aber sie ist uns ent­glit­ten, und seit­dem ist nichts mehr rich­tig ge­we­sen. Ei­ne ver­lie­ren­de Va­ri­an­te, Ka­thy. Wir ha­ben ei­ne ver­lie­ren­de Va­ri­an­te ge­wählt, und seit­dem ha­ben wir im­mer ver­lo­ren. Wir al­le.“

Ka­thy setz­te sich auf den Wan­nen­rand. „Ihr al­le?“

Pe­ter nick­te. „Schau uns an. Ich ha­be als Ro­man­au­tor ver­sagt, ha­be als Jour­na­list ver­sagt, und jetzt ha­be ich einen mies­ge­hen­den Buch­la­den. Ganz zu schwei­gen von ei­ner Mies­ma­che­rin als Frau. Ste­ve ist ein Trin­ker, der nicht ein­mal ge­nug Geld zu­sam­men­krat­zen könn­te, um die Fahrt von hier weg be­zah­len zu kön­nen. E. C. ist ein al­tern­der An­ge­stell­ter – ein Buch­hal­ter mit ei­ner mit­tel­mä­ßi­gen Per­so­nal­ak­te, oh­ne Per­spek­ti­ven. Ver­lie­rer. Du hast es ge­sagt, im Wa­gen.“

Sie lä­chel­te. „Ah, doch was ist mit un­se­rem Gast­ge­ber? Bun­nish hat da­mals här­ter ver­lo­ren als je­der ein­zel­ne von euch, und seit­dem scheint er al­les ge­won­nen zu ha­ben.“

„Hmmm“, mach­te Pe­ter. Er nipp­te nach­denk­lich an sei­nem Bier. „Das wüß­te ich auch gern. Oh, er ist ziem­lich reich, das ge­be ich zu. Aber er hat ein Schach­brett in sei­nem Wohn­zim­mer ste­hen, auf dem die Fi­gu­ren in ei­ner Po­si­ti­on fest­ge­leimt sind, da­mit er je­den Tag auf die Stel­le star­ren kann, wo er in ei­nem Spiel, das vor zehn Jah­ren aus­ge­tra­gen wur­de, et­was falsch ge­macht hat. Das klingt mir nicht nach ei­nem Ge­win­ner.“

Sie stand auf und schüt­tel­te ihr Haar frei. Es war lang und gold­braun, und es fiel präch­tig um ih­re Schul­tern, und Pe­ter er­in­ner­te sich an die sü­ße La­dy, die er vor acht Jah­ren ge­hei­ra­tet hat­te, als er ein strah­len­der jun­ger Schrift­stel­ler ge­we­sen war, der hart an sei­nem ers­ten Ro­man ge­ar­bei­tet hat­te. Er lä­chel­te. „Du siehst hübsch aus“, sag­te er.

Ka­thy schi­en ver­blüfft. „Du fühlst dich wirk­lich ver­drieß­lich“, sag­te sie. „Bist du si­cher, daß du kein Fie­ber hast?“

„Kein Fie­ber. Nur ei­ne Er­in­ne­rung und ei­ne Men­ge Be­dau­ern.“

„Ah“, sag­te sie. Sie ging in ihr Schlaf­zim­mer zu­rück und knall­te im Vor­bei­ge­hen mit dem Hand­tuch nach ihm. „Komm, Ka­pi­tän. Dei­ne Mann­schaft wird war­ten, und das gan­ze schwe­re Phi­lo­so­phie­ren hat mir einen ziem­li­chen Ap­pe­tit ge­macht.“

 

Das Es­sen war gut, aber die Mahl­zeit an sich war schreck­lich.

Sie aßen di­cke Schei­ben aus­ge­zeich­ne­ter Ripp­chen mit großen, ge­ba­cke­nen Kar­tof­feln und ei­ne Men­ge fri­sches Ge­mü­se. Der Wein sah teu­er aus und schmeck­te wun­der­bar. Hin­ter­her hat­ten sie die Wahl zwi­schen drei Des­serts so­wie frisch auf­ge­brüh­tem Kaf­fee und meh­re­ren köst­li­chen Li­kö­ren. Aber die Stim­mung bei Tisch ist an­ge­spannt und un­an­ge­nehm, dach­te Pe­ter. Ste­ve Del­ma­rio kam schon in ziem­lich schlech­ter Ver­fas­sung zum Es­sen, und so­lan­ge er da war, trank er Wein, als wä­re es Was­ser, und mit je­dem Glas wur­de er lau­ter und ver­wor­re­ner. E. C. Stu­art war ab­wei­send und still, sei­ne Wut kaum hin­ter ei­ner ei­si­gen, di­stan­zier­ten Hal­tung ge­zü­gelt. Und Bun­nish mach­te je­den ein­zel­nen von Pe­ters Ver­su­chen zu­nich­te, die Un­ter­hal­tung auf si­che­ren, neu­tra­len Bo­den zu brin­gen.

Sein jo­via­les Mit­tei­lungs­be­dürf­nis war ei­ne schlech­te Mas­ke für hä­mi­sche Freu­de, und er be­harr­te dar­auf, al­te Wun­den aus ih­rer Col­le­ge-Zeit auf­zu­rei­ßen. Je­des­mal, wenn Pe­ter ei­ne An­ek­do­te er­zähl­te, die ver­gnüg­lich oder harm­los war, lä­chel­te Bun­nish und kon­ter­te mit ei­ner, die nach Ver­let­zung und Zu­rück­wei­sung stank.

Schließ­lich, beim Kaf­fee, konn­te es E. C. nicht mehr er­tra­gen. „Ei­ter“, sag­te er laut und un­ter­brach Bun­nish. Das war un­ge­fähr das drit­te Wort, das er sich wäh­rend der ge­sam­ten Mahl­zeit ge­stat­tet hat­te. „Ei­ter und noch mehr Ei­ter. Bun­nish, was soll das? Du hast uns her­ge­holt. Du hast uns hier in der Fal­le, bei dir. Warum? Da­mit du be­wei­sen kannst, daß wir dich da­mals im Col­le­ge schä­big be­han­delt ha­ben? Ist das der Grund? Wenn ja, schön. Du hast dich ver­ständ­lich ge­macht. Du bist schä­big be­han­delt wor­den. Ich bin be­schämt, ich bin schul­dig. Mea cul­pa, mea cul­pa, mea ma­xi­ma cul­pa. Jetzt hö­ren wir auf da­mit. Es ist vor­bei.“

„Vor­bei?“ sag­te Bun­nish lä­chelnd. „Viel­leicht ist es das. Aber du hast dich ver­än­dert, E. C. Da­mals, als ich Ziel­schei­be dei­ner Spa­ße war, hast du sie wo­chen­lang wie­der­holt. Vor­bei war da­mals nicht so end­gül­tig, nicht wahr? Und was ist mit mei­nem Spiel in den Na­tio­na­len – ge­gen Ves­se­le­re? Ha­ben wir das ver­ges­sen, nach­dem es vor­bei war? Oh nein, das ha­ben wir nicht. Das Spiel ist im De­zem­ber aus­ge­tra­gen wor­den, wie du dich er­in­nern wirst. Ich ha­be da­von ge­hört, bis ich im Mai gra­du­iert wur­de. Bei je­dem Tref­fen. Die­ses Spiel war für mich nie vor­bei. Del­ma­rio hat mir je­des­mal, wenn wir uns be­geg­net sind, nur zu gern ein an­de­res Schach­matt ge­zeigt. Un­ser lie­ber Ka­pi­tän hat da­von ab­ge­se­hen, mich für den Rest des Jah­res in ir­gend­ei­ner Li­ga spie­len zu las­sen. Und du, E. C, du hast mich ge­nüß­lich be­grüßt mit: ‚Sag mal, Bun­ny, ir­gend­wel­che großen Spie­le in letz­ter Zeit ver­lo­ren?’ Du hast die­ses Spiel so­gar in der Club-Zei­tung ab­ge­druckt und es an Chess Li­fe ein­ge­schickt. Zwei­fel­los kommt euch dies al­les wie ein al­ter Hut vor. Aber ich ha­be die­ses Spe­zi­al­ge­dächt­nis. Ich kann die Din­ge nicht ganz so leicht ver­ges­sen. Ich er­in­ne­re mich noch an al­les. Ich weiß noch, wie Ves­se­le­re da­saß, die Hän­de über dem Bauch ge­fal­tet, un­be­weg­lich, wie er mich aus die­sen sei­nen ekel­haf­ten Froschau­gen her­aus an­starr­te. Ich weiß noch, wie er sei­ne Fi­gu­ren be­weg­te, sehr vor­sich­tig, sehr zim­per­lich – er hat je­de mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger an­ge­ho­ben. Ich weiß noch, wie ich zwi­schen den Zü­gen in die Kor­ri­do­re hin­aus­ge­gan­gen bin, um mir einen Schluck Was­ser zu ho­len, und Nor­ten drü­ben, an den Wand­ta­bel­len, ge­se­hen ha­be, wie er mit Ma­vo­ra aus der A-Mann­schaft ge­spro­chen hat. Wißt ihr, was er ge­sagt hat? Er ges­ti­ku­lier­te mit den Hän­den, ganz ner­vös, und sag­te zu ihm: Er wird es schmei­ßen, ver­dammt, er wird es schmei­ßen! Und Les hat zu mir her­über­ge­schaut, als ich vor­bei­ge­gan­gen bin, und ge­sagt: Ver­lie­re die­ses Spiel, und dein Arsch ist im Ei­mer, Bun­ny! Er war auch ein rei­zen­des Herz­chen. Ich er­in­ne­re mich an all die Leu­te, die stän­dig ge­kom­men sind, um sich mein Spiel an­zu­se­hen. Ich er­in­ne­re mich an Nor­ten, wie er mit Hai Winslow in der Ecke stand, die bei­den mäch­ti­gen Ka­pi­tä­ne im hit­zi­gen Ge­spräch. Winslow war ganz zer­knit­tert und brauch­te ei­ne Ra­sur, und er hat­te sei­nen No­tiz­block da­bei und ver­such­te sich aus­zu­rech­nen, wer ins Fi­na­le käme, wenn wir ge­win­nen oder un­ent­schie­den spie­len oder ver­lie­ren wür­den. Ich weiß auch noch, was das für ein Ge­fühl war, als ich mei­nen Kö­nig an­ge­tippt ha­be. Ich weiß noch, wie Del­ma­rio an­ge­fan­gen hat, ge­gen die Wand zu tre­ten, wie E. C. mit den Schul­tern ge­zuckt und zur De­cke hoch­ge­blickt hat, und wie Pe­ter zu mir her­über­ge­kom­men ist und ein­fach nur Bun­nish! ge­sagt und den Kopf ge­schüt­telt hat. Seht ihr? Mein Ge­dächt­nis ist so raf­fi­niert wie im­mer, und ich ha­be nichts ver­ges­sen. Und ganz be­son­ders das Spiel ha­be ich nicht ver­ges­sen. Wenn ihr wollt, kann ich euch so­fort sämt­li­che Zü­ge auf­sa­gen.“

„Schei­ße!“ sag­te Ste­ve Del­ma­rio. „Da gibt es nur einen wich­ti­gen Zug auf­zu­sa­gen, Bun­ny. Sprin­ger schlägt Bau­ern, das ist der Zug, den du auf­sa­gen soll­test. Das Op­fer, das zum Sieg füh­ren­de Op­fer, der Zug, den du nicht ge­macht hast. Ich ha­be ver­ges­sen, was für ei­ne schwa­che Sa­che du statt des­sen ge­macht hast.“

Bun­nish lä­chel­te. „Mein Zug war: Kö­nig zum Sprin­ger. Um mei­nen Turm­bau­ern zu schüt­zen. Ich hat­te ro­chiert, und Ves­se­le­re be­droh­te ihn. Er hät­te ihn schnap­pen kön­nen.“

„Bau­er, Schlau­er“, sag­te Del­ma­rio. „Du hät­test ihn ka­putt­ge­macht. Das Op­fer hät­te den Wal aus­ge­wei­det wie nichts sonst, ver­dammt noch mal. Was das für ein Ge­läch­ter ge­we­sen wä­re. Das Bun­ny-Ka­nin­chen schlägt den Wal. Der al­te Hai Winslow wä­re so er­schro­cken ge­we­sen, daß er sei­nen No­tiz­block hät­te fal­len las­sen. Aber du hast es ver­patzt, weil du einen blöd­sin­ni­gen klei­nen Bau­ern ge­schützt hast. Du hast es ver­patzt.“

„Das hast du mir ge­sagt“, sag­te Bun­nish. „Im­mer wie­der ge­sagt und ge­sagt und ge­sagt.“

„Schau mal“, sag­te Pe­ter, „ich se­he kei­nen Sinn dar­in, all das wie­der auf­zu­ti­schen. Ste­ve ist be­trun­ken, Bru­ce. Das siehst du ja. Er weiß nicht, was er sagt.“

„Er weiß ge­nau, was er sagt, Nor­ten“, er­wi­der­te Bun­nish. Er lä­chel­te dünn und nahm sei­ne Bril­le ab. Pe­ter er­schrak, als er sei­ne Au­gen sah. Der Haß dar­in war bei­na­he fühl­bar, und da war auch noch et­was an­de­res, et­was Al­tes und Bit­te­res und ir­gend­wie Ein­ge­schlos­se­nes. Der Blick die­ser Au­gen glitt leicht über Ka­thy hin­weg, die ru­hig in­mit­ten der al­ten Feind­se­lig­keit saß, und be­rühr­te Ste­ve Del­ma­rio, Pe­ter Nor­ten und E. C. Stu­art – einen nach dem an­de­ren – mit großer Ab­scheu und eben­so großer Be­lus­ti­gung.

„Schluß da­mit“, sag­te Pe­ter fast bit­tend.

NEIN!“ sag­te Del­ma­rio. Der Al­ko­hol hat­te ihn an­griffs­lus­tig ge­macht. „Es ist nicht Schluß da­mit, es wird nie Schluß da­mit sein, ver­dammt noch mal. Hol ein Spiel her, Bun­ny. Ich for­de­re dich her­aus! Wir ana­ly­sie­ren es so­fort, wir ge­hen die gan­ze Sa­che noch ein­mal durch, und ich wer­de dir zei­gen, wie du al­les ver­pißt hast.“ Er stemm­te sich hoch.

„Ich ha­be ei­ne bes­se­re Idee“, sag­te Bun­nish. „Setz dich, Del­ma­rio.“

Del­ma­rio blin­zel­te un­si­cher und fiel dann in sei­nen Ses­sel zu­rück.

„Gut“, sag­te Bun­nish. „Zu mei­ner Idee wer­den wir gleich kom­men, aber zu­erst wer­de ich euch al­len ei­ne Ge­schich­te er­zäh­len. Wie Ar­chie Bun­ker ein­mal ge­sagt hat – Ra­che ist die bes­te Mög­lich­keit gleich­zu­zie­hen. Aber es ist kei­ne Ra­che, wenn das Op­fer nichts da­von weiß. Al­so wer­de ich es euch sa­gen. Ich wer­de euch ganz ge­nau er­zäh­len, wie ich eu­er Le­ben rui­niert ha­be.“

„Oh, komm, hör auf da­mit!“ sag­te E. C.

„Du hast Ge­schich­ten noch nie ge­mocht, E. C“, sag­te Bun­nish. „Weißt du, warum? Wenn näm­lich je­mand ei­ne Ge­schich­te er­zählt, so wird er der Mit­tel­punkt der Auf­merk­sam­keit. Und der Mit­tel­punkt der Auf­merk­sam­keit hast im­mer du sein müs­sen, egal wo du auch warst. Aber jetzt bist du nicht der Mit­tel­punkt, du bist ein Nichts. Wie fühlt man sich, wenn man un­be­deu­tend ist?“

E. C. schüt­tel­te an­ge­wi­dert den Kopf und schenk­te sich Kaf­fee nach. „Los, Bun­nish“, sag­te er. „Er­zähl dei­ne Ge­schich­te. Du hast ein ge­bann­tes Pu­bli­kum.“

„Das ha­be ich, nicht wahr?“ lä­chel­te Bun­nish. „Al­so gut. Al­les fängt mit die­sem Spiel an. Ich und Ves­se­le­re. Ich ha­be die­ses Spiel nicht ge­schmis­sen. Es war nicht zu ge­win­nen.“

Del­ma­rio ließ ein un­ver­schäm­tes Ge­räusch er­tö­nen.

„Ich weiß es“, fuhr Bun­nish un­be­irrt fort, „jetzt, aber da­mals wuß­te ich es nicht. Ich dach­te, ihr hät­tet recht. Ich hät­te al­les ka­putt­ge­macht, dach­te ich. Es hat an mir ge­fres­sen. Jah­re, vie­le Jah­re lang, mehr Jah­re, als ihr glau­ben wür­det. Nacht für Nacht bin ich schla­fen ge­gan­gen und dann ha­be ich die­ses Spiel in mei­nem Kopf wie­der und wie­der durch­ge­spielt. Die­ses Spiel hat mein ge­sam­tes Le­ben zu­nich­te ge­macht. Es wur­de ei­ne Be­ses­sen­heit. Ich woll­te nur ei­nes – noch ei­ne Chan­ce. Ich woll­te ir­gend­wie zu­rück­ge­hen, woll­te einen an­de­ren Weg wäh­len, woll­te an­de­re Zü­ge ma­chen, um als Ge­win­ner aus der gan­zen Sa­che her­aus­zu­kom­men. Ich hat­te die falsche Va­ri­an­te ge­wählt, das war al­les. Ich wuß­te, wenn ich noch ei­ne Chan­ce hät­te, wür­de ich es bes­ser ma­chen. Mehr als fünf­zig Jah­re lang ha­be ich auf die­ses Ziel hin­ge­ar­bei­tet, und zwar al­lein auf die­ses ei­ne Ziel.“

Pe­ter schluck­te has­tig einen Schluck kal­ten Kaf­fee her­un­ter und sag­te: „Was? Fünf­zig Jah­re? Du meinst fünf, oder?“

„Fünf­zig“, wie­der­hol­te Bun­nish.

„Du bist ver­rückt“, sag­te E. C.

„Nein“, er­wi­der­te Bun­nish. „Ich bin ein Ge­nie. Habt ihr schon ein­mal von der Zeit­rei­se ge­hört – ir­gend­je­mand von euch?“

„Das gibt es nicht“, sag­te Pe­ter. „Die Pa­ra­doxa …“

Bun­nish be­deu­te­te ihm mit ei­ner Ges­te, still zu sein. „Du hast recht und du hast un­recht, Nor­ten. Sie exis­tiert, aber nur auf ei­ne be­grenz­te Art und Wei­se. Aber das reicht. Ich will euch nicht mit Ma­the­ma­tik lang­wei­len, die kei­ner von euch ver­ste­hen kann. Ana­lo­gie ist leich­ter. Man sagt, die Zeit sei die vier­te Di­men­si­on, al­ler­dings weicht sie von den drei an­de­ren auf ei­ne auf­fal­len­de Wei­se ab – un­ser Be­wußt­sein be­wegt sich dar­an ent­lang. Al­ler­dings nur von der Ver­gan­gen­heit zur Ge­gen­wart. Die Zeit selbst fließt nicht, nicht mehr als, sa­gen wir, Brei­te flie­ßen kann. Un­ser Ver­stand fla­ckert von ei­nem Au­gen­blick der Zeit zum nächs­ten. Die­se Ana­lo­gie war mein Aus­gangs­punkt. Ich ha­be mir über­legt, daß, wenn sich das Be­wußt­sein in ei­ne Rich­tung be­we­gen kann, es sich ge­nau­so­gut auch in die an­de­re Rich­tung be­we­gen kann. Ich ha­be je­doch fünf­zig Jah­re ge­braucht, um die Ein­zel­hei­ten aus­zu­ar­bei­ten und das, was ich ei­ne Rück­blen­de nen­ne, mög­lich zu ma­chen.

Das war in mei­nem ers­ten Le­ben, mei­ne Her­ren, ei­nem Le­ben des Ver­sa­gens und der Lä­cher­lich­keit und Ar­mut. Ich ha­be mich um mei­ne Be­ses­sen­heit ge­küm­mert und ge­tan, was ich tun muß­te, um mich zu er­näh­ren. Und ich ha­be euch ge­haßt, je­den von euch, in je­dem Au­gen­blick die­ser fünf­zig Jah­re. Und mei­ne Ver­bit­te­rung wur­de nur noch grö­ßer, als ich be­ob­ach­te­te, daß je­der von euch Er­folg hat­te, wäh­rend ich mich ab­müh­te und ver­sag­te. Ich ha­be Nor­ten ein­mal ge­trof­fen, zwan­zig Jah­re nach dem Col­le­ge – er hat ei­ne Au­to­gramm­stun­de ge­ge­ben. Du warst so gön­ner­haft. Da­mals ha­be ich mich ent­schlos­sen, euch zu rui­nie­ren, euch al­le.

Und das ha­be ich ge­tan. Ich ha­be mein Ge­rät im Al­ter von ein­und­sieb­zig Jah­ren vollen­det. Es gibt kei­ne Mög­lich­keit, Ma­te­rie durch die Zeit zu be­we­gen, aber der Geist, der Geist ist ei­ne an­de­re Sa­che. Mein Ge­rät wür­de mei­nen Geist an je­den Punkt mei­nes Le­bens zu­rück­schi­cken, den ich wähl­te, und mein Be­wußt­sein mit all sei­nen Er­in­ne­run­gen das Be­wußt­sein mei­nes frü­he­ren Ichs über­la­gern. Na­tür­lich konn­te ich nichts mit­neh­men.“ Bun­nish lä­chel­te und klopf­te sich be­deut­sam an die Stirn. „Aber ich hat­te noch im­mer mein fo­to­gra­fi­sches Ge­dächt­nis. Das war mehr als ge­nug. Ich präg­te mir die Din­ge ein, die ich in mei­nem neu­en Le­ben wis­sen muß­te, und blen­de­te zu­rück in mei­ne Ju­gend. Mir war ei­ne zwei­te Chan­ce ge­ge­ben, die Chan­ce, ein paar an­de­re Zü­ge im Spiel des Le­bens zu ma­chen. Ich ha­be sie ge­macht.“

Ste­ve Del­ma­rio blin­zel­te. „Dein Kör­per“, sag­te er un­deut­lich. „Was ist mit dei­nem Kör­per pas­siert, eh?“

„Ei­ne in­ter­essan­te Fra­ge. Die Wucht der Rück­blen­de tö­tet den zu­künf­ti­gen Zeit­rei­sen­den. Das heißt – den Kör­per. Die Zeit­li­nie selbst je­doch setzt sich fort. Je­den­falls wei­sen mei­ne Glei­chun­gen dar­auf hin, daß sie sich fort­setzt. Mitt­ler­wei­le schaf­fen Ver­än­de­run­gen in der Ver­gan­gen­heit ei­ne neue, ab­wei­chen­de Zeit­li­nie.“

„Oh, Aus­weich­glei­se“, sag­te Del­ma­rio. Er nick­te. „Ja.“

Ka­thy lach­te. „Ich kann nicht glau­ben, daß ich hier sit­ze und mir all das an­hö­re“, sag­te sie. „Und daß er …“ – sie zeig­te auf Del­ma­rio – „… das ernst nimmt.“

E.C. Stu­art hat­te gleich­gül­tig zur De­cke hoch­ge­schaut, mit ei­nem hoch­mü­ti­gen, leicht to­le­ran­ten Lä­cheln auf dem Ge­sicht. Jetzt rich­te­te er sich auf. „Da stim­me ich Ih­nen zu“, sag­te er zu Ka­thy. „Ich bin nicht so leicht­gläu­big wie du, Bru­ce“, wand­te er sich an Bun­nish, „und wenn du ver­suchst, ein paar La­cher zu er­zeu­gen, in­dem du uns die­sen Topf Schei­ße schlu­cken läßt, dann laß dir sa­gen – es klappt nicht.“

Bun­nish wand­te sich an Pe­ter. „Ka­pi­tän, wo­für stimmst du?“

„Nun“, sag­te Pe­ter be­däch­tig, „dies al­les ist ein we­nig schwer zu glau­ben, Bru­ce. Du hast da­von ge­spro­chen, daß das Spiel ei­ne Be­ses­sen­heit für dich ge­wor­den ist, und ich den­ke, das stimmt. Ich den­ke, du soll­test mit ei­nem Pro­fi dar­über re­den statt mit uns.“

„Mit was für ei­nem Pro­fi?“ frag­te Bun­nish.

Pe­ter zap­pel­te un­be­hag­lich. „Du weißt schon. Mit ei­nem Psy­cho­dok­tor oder ei­nem Be­ra­ter.“

Bun­nish ki­cher­te. „Das Ver­sa­gen hat dich nicht we­ni­ger gön­ner­haft ge­macht“, sag­te er. „Da­mals im Buch­la­den, in der Li­nie, in der du dich als er­folg­rei­cher Ro­man­au­tor er­wie­sen hast, warst du ge­nau­so schlimm.“

Pe­ter seufz­te. „Bru­ce, siehst du denn nicht, wie kläg­lich dei­ne Täu­schungs­ma­nö­ver sind? Ich mei­ne, du hast of­fen­sicht­lich einen ziem­li­chen Er­folg ge­habt, und kei­nem von uns ist es so gut er­gan­gen. Aber selbst das war dir noch nicht ge­nug, al­so hast du all die­se kom­pli­zier­ten Phan­tasi­en dar­über kon­stru­iert, daß du hin­ter un­se­ren Fehl­schlä­gen steckst. Stell­ver­tre­ten­de, ima­gi­näre Ra­che.“

„We­der stell­ver­tre­tend noch ima­gi­när, Nor­ten“, fuhr Bun­nish auf. „Ich kann euch ge­nau er­zäh­len, wie ich es ge­macht ha­be.“

„Laß ihn sei­ne Ge­schich­ten er­zäh­len, Pe­ter“, sag­te E. C. „Dann läßt er uns viel­leicht aus die­ser Klaps­müh­le her­aus.“

„Nun, dan­ke, E. C“, sag­te Bun­nish. Er­blick­te sich mit selbst­ge­fäl­li­ger Zu­frie­den­heit am Tisch um, wie ein Mann, der kurz da­vor steht, einen Traum zu ver­wirk­li­chen, den er lan­ge, lan­ge Zeit ge­hegt hat. Schließ­lich blieb sein Blick bei Ste­ve Del­ma­rio hän­gen. „Ich wer­de mit dir an­fan­gen“, er­klär­te er, „denn ich ha­be auch tat­säch­lich mit dir an­ge­fan­gen. Du warst leicht zu ver­nich­ten, Del­ma­rio, weil du schon im­mer be­schränkt warst. In der ur­sprüng­li­chen Zeit­li­nie warst du so reich, wie ich es in die­ser hier bin. Wäh­rend ich mein Le­ben da­mit ver­brach­te, mein Rück­blen­de­ge­rät zu per­fek­tio­nie­ren, hast du in der wei­ten Welt dort drau­ßen schnel­les Geld ge­macht. Elek­tro­ni­sche Spie­le zu­erst, spä­ter grund­le­gen­de­res Zeug, Heim­com­pu­ter, die­se Din­ge. Du warst da­zu ge­bo­ren, und du warst der Bes­te im Ge­schäft, ein­falls­reich und ge­ni­al.

Als ich zu­rück­blen­de­te, ha­be ich ein­fach dei­nen Platz ein­ge­nom­men. Ich ha­be all dei­ne frü­hen klei­nen Spie­le stu­diert, dei­ne klügs­ten Ide­en, die grund­le­gen­den Pa­ten­te, die spä­ter ka­men und dich so reich ge­macht ha­ben. Und ich ha­be sie mir al­le ein­ge­prägt, zu­sam­men je­weils mit dem Da­tum, an dem du mit je­dem ein­zel­nen da­von her­aus­ge­kom­men bist. Erst dann ha­be ich mein Ge­rät be­nutzt. Zu­rück in der Ver­gan­gen­heit, mit all die­sem Vor­aus­wis­sen be­waff­net, war es ein Kin­der­spiel, dir zu­vor­zu­kom­men. Im­mer wie­der. In die­sen frü­hen Jah­ren, Del­ma­rio – ist es dir da nie selt­sam vor­ge­kom­men, wie ich je­den ein­zel­nen dei­ner klei­nen Geis­tes­blit­ze vor­weg­ge­nom­men ha­be? Ich le­be dein Le­ben, Del­ma­rio.“

Del­ma­ri­os Hand hat­te zu zit­tern be­gon­nen, wäh­rend er zu­hör­te. Sein Ge­sicht sah leb­los aus. „Gott­ver­damm­ter Hund“, flüs­ter­te er. „Gott­ver­damm­ter Hund!“

„Laß dich nicht von ihm ver­schau­keln, Ste­ve“, warf E. C. ein. „Er denkt sich das al­les nur aus, um zu se­hen, wie wir uns win­den. Das ist al­les viel zu ab­surd, um Wor­te da­für zu fin­den.“

„Aber es ist wahr*’, jam­mer­te Del­ma­rio, wo­bei er von E. C. zu Bun­nish schau­te und dann, hilf­los, zu Pe­ter. Die Au­gen hin­ter sei­nen di­cken Bril­lenglä­sern fun­kel­ten wild. „Pe­ter … was er ge­sagt hat … all mei­ne Ide­en … er war mir im­mer vor­aus, er, er, ich hab’s dir ge­sagt, er …“

„Ja“, sag­te Pe­ter fest, „und du hast es auch Bru­ce ge­sagt, vor­hin, als wir uns un­ter­hal­ten ha­ben. Jetzt be­nutzt er nur dei­ne Ängs­te ge­gen dich.“

Del­ma­rio öff­ne­te den Mund, aber es ka­men kei­ne Wor­te her­aus.

„Nimm dir noch einen Drink“, schlug Bun­nish vor.

Del­ma­rio starr­te Bun­nish an, als woll­te er gleich auf­sprin­gen und ihn er­wür­gen. Pe­ter spann­te sich an, um not­falls ein­zu­grei­fen. Aber dann streck­te Del­ma­rio statt des­sen die Hand nach ei­ner halb­vol­len Wein­fla­sche aus und füll­te nach­läs­sig sein Glas.

„Das ist nie­der­träch­tig, Bru­ce“, sag­te E. C.

Bun­nish dreh­te sich zu ihm um. „Del­ma­ri­os Ruin war leicht zu be­werk­stel­li­gen und dra­ma­tisch“, sag­te er. „Du warst schwie­ri­ger, Stu­art. Er hat­te au­ßer sei­ner Ar­beit nichts, wo­für er leb­te, ver­stehst du, und als ich ihm das weg­ge­nom­men ha­be, da ist er ein­fach zu­sam­men­ge­bro­chen. Ich brauch­te ihm nur ein hal­b­es dut­zend­mal zu­vor­zu­kom­men, bis sein gan­zer Glau­be an sich selbst zer­bro­chen war. Den Rest hat er dann selbst er­le­digt. Aber du, E. C, du hast dir mehr zu hel­fen ge­wußt.“

„Mach wei­ter mit dem Mär­chen, Bun­nish“, sag­te E.C. in ei­nem er­ge­be­nen Ton­fall.

„Del­ma­ri­os Ide­en hat­ten mich reich ge­macht“, sag­te Bun­nish. „Die­ses Geld ha­be ich ge­gen dich ver­wen­det. Dein Sturz war we­ni­ger zu­frie­den­stel­lend und we­ni­ger ein­drucks­voll als der von Del­ma­rio. Er fiel von ganz oben nach ganz un­ten. Du warst zu­nächst nur ein be­schei­de­ner Er­folg, und ich muß­te mich da­mit zu­frie­den­ge­ben, dein Le­ben in einen mä­ßi­gen Fehl­schlag zu ver­wan­deln. Aber ich ha­be es ge­schafft. Ich ha­be hin­ter den Ku­lis­sen ge­wis­se Dräh­te ge­zo­gen, und du hast ei­ne Men­ge großer Auf­trä­ge ver­lo­ren. Als du bei Foot & Co­ne warst, ha­be ich da­für ge­sorgt, daß ei­ne an­de­re Agen­tur eu­ren Tex­ter Al­lerd ab­warb, und zwar un­mit­tel­bar be­vor er mit ei­ner Kam­pa­gne her­aus­kam, die dir Re­nom­mee ver­schafft hät­te. Und er­in­nerst du dich, da­mals, als du die­se Stel­lung auf­ge­ge­ben hast, um einen bes­ser be­zahl­ten Pos­ten bei ei­ner brand­neu­en Agen­tur an­zu­neh­men? Er­in­nerst du dich, wie schnell die­se Agen­tur er­le­digt war – und du kei­ne Ar­beit mehr hat­test? Das war ich. Ich ha­be dei­ner Kar­rie­re zwan­zig oder drei­ßig der­ar­ti­ge klei­ne Stö­ße ver­paßt. Hast du dich nie dar­über ge­wun­dert, wie un­fehl­bar falsch die meis­ten dei­ner be­ruf­li­chen Schach­zü­ge ge­we­sen sind, Stu­art? Über dein Pech?“

„Nein“, er­wi­der­te E. C. „Es geht mir gut ge­nug, dan­ke.“

Bun­nish lä­chel­te. „Ich ha­be dir noch einen wei­te­ren klei­nen Streich ge­spielt. Für die­sen Her­pes, den du dir letz­tes Jahr ein­ge­fan­gen hast, kannst du dich bei mir be­dan­ken. Die Da­me, die ihn dir ver­ehrt hat, ist gut be­zahlt wor­den. Ich muß­te ei­ne gan­ze Men­ge von Jah­ren Aus­schau hal­ten, bis ich die rich­ti­ge Kom­bi­na­ti­on ge­fun­den ha­be – ei­ne ar­beits­lo­se Schau­spie­le­rin, jung und groß­ar­tig und ge­nau dein Typ, aber ver­zwei­felt ge­nug, um so un­ge­fähr al­les zu tun, und au­ßer­dem mit ei­ner un­heil­ba­ren Ge­schlechts­krank­heit ge­seg­net. Wie hat sie dir ge­fal­len, Stu­art? Du bist selbst schuld, weißt du. Ich ha­be sie dir nur in den Weg ge­stellt, den Rest hast du selbst be­sorgt. Und ich ha­be mir ge­dacht, daß es wirk­lich pas­send ist, nach mei­ner blin­den Ver­ab­re­dung und all dem.“

E. C.s Mie­ne ver­än­der­te sich nicht. „Wenn du meinst, das wirft mich um oder ich wür­de dir jetzt glau­ben, dann bist du to­tal auf dem Holz­weg. Das al­les be­weist nur, daß du Nach­for­schun­gen über mich hast an­stel­len las­sen und es ge­schafft hast, ein biß­chen Dreck aus mei­nem Le­ben aus­zu­gra­ben.“

„Oh“, sag­te Bun­nish. „Im­mer so skep­tisch, Stu­art. Hast Angst, es könn­te so aus­ge­hen, daß du ziem­lich dumm drein­schaust, wenn du mir glaubst. Ts ts ts.“ Er wand­te sich Pe­ter zu. „Und du, Nor­ten. Du. Un­ser furcht­lo­ser An­füh­rer. Du warst der Schwie­rigs­te von al­len.“

Pe­ter er­wi­der­te Bun­nis­hs Blick und sag­te nichts.

„Ich ha­be dei­nen Ro­man ge­le­sen, weißt du“, sag­te Bun­nish bei­läu­fig.

„Ich ha­be nie einen Ro­man ver­öf­fent­licht.“

„Oh, aber ja doch! Das heißt – in der ur­sprüng­li­chen Zeit­li­nie. War auch ein be­acht­li­cher Er­folg. Den Kri­ti­kern hat er ge­fal­len, und er er­schi­en so­gar kurz am un­te­ren En­de der Best­sel­ler­lis­te der Ti­mes“

Pe­ter war nicht be­lus­tigt. „Dies ist so plump und er­bärm­lich“, sag­te er.

„Er hieß Bes­ti­en im Kä­fig, glau­be ich“, sag­te Bun­nish.

Pe­ter hat­te da­ge­s­es­sen und es vol­ler Ver­ach­tung er­tra­gen, ei­nem kran­ken Mann zu­zu­hö­ren. Jetzt setz­te er sich plötz­lich auf­recht hin, als wä­re er geohr­feigt wor­den.

Er hör­te, wie Ka­thy den Atem ein­sog. „Mein Gott“, sag­te sie.

E. C. schi­en ver­wirrt. „Pe­ter? Was ist los? Du siehst …“

„Nie­mand weiß et­was von die­sem Buch“, sag­te Pe­ter. „Wie, zum Teu­fel, hast du es her­aus­be­kom­men? Mein al­ter Agent, von ihm mußt du den Ti­tel be­kom­men ha­ben. Ja, nicht wahr?“

„Nein“, sag­te Bun­nish und lä­chel­te selbst­zu­frie­den.

„Du lügst!“

„Pe­ter, was ist los?“ frag­te E. C. „Warum bist du so be­stürzt?“

Pe­ter sah ihn an. „Mein Buch“, sag­te er. „Ich … Bes­ti­en im Kä­fig war …“

„Es hat ein sol­ches Buch ge­ge­ben?“

„Ja“, sag­te Pe­ter. Er schluck­te ner­vös, fühl­te sich ver­wirrt und är­ger­lich. „Ja, hat es. Ich … Nach dem Col­le­ge. Mein ers­ter Ro­man.“ Er lach­te ner­vös. „Ich dach­te, es wä­re der ers­te. Ich hat­te … hat­te ei­ne Men­ge Hoff­nun­gen. Es war ei­ne ehr­gei­zi­ge Sa­che. Ein ernst­haf­tes Buch, aber ich dach­te, es hät­te auch ei­ni­ge kom­mer­zi­el­le Mög­lich­kei­ten. Der Zir­kus. Es han­del­te vom Zir­kus, du weißt, wie fas­zi­niert ich im­mer vom Zir­kus war. Ei­ne Me­ta­pher für das Le­ben, ha­be ich ge­dacht, ei­ne Art von Le­ben, aber auch sehr bunt und ster­bend, ei­ne ster­ben­de Ein­rich­tung. Ich ha­be ge­dacht, ich könn­te den großen Zir­kus­ro­man schrei­ben. Nach dem Col­le­ge bin ich ein Jahr lang mit der Ring­ling Bro­t­hers’ Blue Show her­um­ge­reist und ha­be re­cher­chiert. Ich war ein But­cher, ich … so nennt man die Ver­käu­fer auf den Tri­bü­nen, ver­stehst du? Ein Jahr Re­cher­chen, und zwei Jah­re ha­be ich ge­braucht, um den Ro­man zu schrei­ben. Haupt­per­son war ein jun­ger Mann, der mit den Groß­kat­zen ar­bei­te­te. Ich ha­be ihn schließ­lich be­en­det und an mei­nen Agen­ten ab­ge­schickt, und we­ni­ger als drei Wo­chen, nach­dem ich ihn zur Post ge­bracht ha­be, ha­be ich … ich …“ Er konn­te nicht zu En­de re­den.

Aber E. C. ver­stand. Er run­zel­te die Stirn. „Die­ser Zir­kus-Best­sel­ler? Wie war der Ti­tel?“

„Blue Show“, sag­te Pe­ter, die Wor­te bit­ter im Mund. „Von Do­nald Has­tings Sul­li­van, ei­nem al­ten Lohn­schrei­ber, der fünf­zig Hor­ror-Ro­ma­ne und ein Dut­zend Scha­blo­nen­wes­tern ge­schrie­ben hat­te – al­le un­ter Pseud­ony­men. Solch ein Buch von solch ei­nem Schrift­stel­ler. Nie­mand konn­te es glau­ben. E. C, ich konn­te es nicht glau­ben. Es war mein Buch, un­ter ei­nem an­de­ren Ti­tel. Oh, es stimm­te nicht Wort für Wort über­ein. Bes­ti­en im Kä­fig war viel bes­ser ge­schrie­ben. Aber die Ge­schich­te, der Hin­ter­grund, die Vor­fäl­le, so­gar ein paar von den Per­so­nen­na­men … es war be­ängs­ti­gend. Mein Agent hat mein Buch nie auf den Markt ge­bracht. Er hat ge­sagt, es sei Blue Show viel zu ähn­lich, um ver­öf­fent­licht wer­den zu kön­nen – nie­mand wür­de es an­rüh­ren. Und selbst wenn ich es schaf­fen wür­de, da­mit her­aus­zu­kom­men, dann wür­de ich bes­ten­falls als Nach­zie­her und schlimms­ten­falls als Pla­gia­tor be­zeich­net wer­den. Es wür­de wie ein Dieb­stahl aus­se­hen, sag­te er. Drei Jah­re mei­nes Le­bens – und er hat es einen Dieb­stahl ge­nannt.

Es gab bö­se Wor­te. Er hat mich hin­aus­ge­wor­fen, und ich konn­te kei­nen an­de­ren Agen­ten da­zu brin­gen, mich zu ver­tre­ten. Ich ha­be nie ein zwei­tes Buch ge­schrie­ben. Das ers­te hat­te zu­viel aus mir her­aus­ge­holt.“ Pe­ter wand­te sich Bun­nish zu. „Ich ha­be mein Ma­nu­skript ver­nich­tet, je­de Ko­pie ver­brannt. Nie­mand au­ßer mei­nem Agen­ten, mir und Ka­thy wuß­te von die­sem Buch. Wie hast du es her­aus­be­kom­men?“

„Ich ha­be es dir be­reits ge­sagt“, sag­te Bun­nish. „Ich ha­be es ge­le­sen.“

„Du ver­damm­ter Lüg­ner!“ zisch­te Pe­ter. In weiß­glü­hen­der Wut riß er ein Glas hoch und schleu­der­te es über den Tisch nach Bun­nis­hs lä­cheln­dem Ge­sicht, weil er die­ses selbst­ge­fäl­li­ge Grin­sen aus­lö­schen, es sich in Blut und Zer­stö­rung auf­lö­sen se­hen woll­te. Aber Bun­nish duck­te sich, und das Glas zer­sprang an ei­ner Wand.

„Ru­hig, Pe­ter“, sag­te E.C. Del­ma­rio blin­zel­te in eu­len­haf­tem Stumpf­sinn, ver­lo­ren in sei­nem al­ko­ho­li­schen Dunst. Ka­thy hielt sich an der Tisch­kan­te fest. Ih­re Knö­chel wa­ren weiß ge­wor­den.

„Ich glau­be, un­ser Ka­pi­tän pro­tes­tiert zu sehr“, sag­te Bun­nish, wo­bei sich sei­ne Grüb­chen zeig­ten. „Du weißt, daß ich die Wahr­heit sa­ge, Nor­ten. Ich ha­be dei­nen Ro­man ge­le­sen. Ich kann die gan­ze Hand­lung auf­sa­gen, um es zu be­wei­sen.“ Er zuck­te mit den Schul­tern. „Und tat­säch­lich ha­be ich die gan­ze Hand­lung be­reits auf­ge­sagt. Und zwar vor Do­nald Has­tings Sul­li­van, der in mei­nen Diens­ten Blue Show ge­schrie­ben hat. Ich hät­te es selbst ge­tan, aber ich ha­be kei­ne Be­fä­hi­gung zum Schrei­ben. Sul­ly war froh, ei­ne sol­che Chan­ce zu be­kom­men. Er hat ein hüb­sches, run­des Ho­no­rar kas­siert, und die Tan­tie­men, die be­trächt­lich wa­ren, ha­ben wir uns ge­teilt.“

„Du Hu­ren­sohn“, sag­te Pe­ter, aber er sag­te es kraft­los. Er fühl­te, wie sei­ne Wut ver­sieg­te und nur ein schreck­li­ches kränk­li­ches Ge­fühl zu­rück­ließ, die Ge­wiß­heit der Nie­der­la­ge. Er fühl­te sich be­tro­gen und hilf­los, und ganz plötz­lich stell­te er fest, daß er Bun­nish glaub­te, je­des Wort sei­ner ab­sur­den Ge­schich­te glaub­te. „Es stimmt, nicht wahr?“ sag­te er. „Es stimmt wirk­lich. Du hast mir das an­ge­tan. Du. Du hast mei­ne Wor­te ge­stoh­len, mei­ne Träu­me, al­les.“

Bun­nish sag­te nichts.

„Und der gan­ze Rest“, sag­te Pe­ter, „die an­de­ren Fehl­schlä­ge, das warst auch al­les du, oder? Nach Blue Show, als ich mit dem Jour­na­lis­mus an­ge­fan­gen ha­be … die­se große Sto­ry, die sich re­gel­recht vor mei­nen Au­gen ver­flüch­tigt hat, al­le mei­ne In­for­man­ten, die plötz­lich al­les leug­ne­ten oder ver­schwan­den, da­mit es so aus­sah, als hät­te ich al­les nur er­fun­den. Die Pos­ten, die ich ver­lo­ren ha­be, all die­se Pro­zes­se, Pla­gia­ten­tum, Ver­let­zung der Pri­vat­sphä­re, Ver­leum­dung, je­des­mal, wenn ich mich nur um­ge­dreht ha­be, bin ich ver­klagt wor­den. Zwei Jah­re, und sie ha­ben dich so ziem­lich aus dem Be­ruf drau­ßen. Aber es war kein Pech, nicht wahr? Du warst es. Du hast mein Le­ben ge­stoh­len.“

„Man soll­te dir ein Kom­pli­ment ma­chen, Nor­ten. Ich ha­be dich zwei­mal bre­chen müs­sen. Das ers­te Mal ha­be ich es ge­schafft, dei­ne li­te­ra­ri­sche Kar­rie­re mit Blue Show zu ver­nich­ten, aber dann, wäh­rend ich dir den Rücken zu­kehr­te, hast du es ge­schafft, ein schreck­lich po­pu­lä­rer Jour­na­list zu wer­den. Preis­trä­ger, be­kannt, be­liebt, al­les, und da war es schon zu spät, et­was zu un­ter­neh­men. Ich muß­te noch ein­mal zu­rück­blen­den, um dich zu er­wi­schen, al­les von vorn­her­ein zu er­le­di­gen.“

„Ich soll­te dich um­brin­gen, Bun­nish“, hör­te sich Pe­ter sa­gen.

E. C. schüt­tel­te den Kopf. „Pe­ter“, sag­te er im Ton­fall ei­nes Man­nes, der ei­nem hoch­gra­dig Schwach­sin­ni­gen et­was er­klärt, „das al­les ist nur ein sorg­fäl­tig aus­ge­führ­ter Scha­ber­nack. Nimm Bun­ny nicht so ernst.“

Pe­ter starr­te sei­nen al­ten Mann­schafts­ka­me­ra­den an. „Nein, E. C. Es ist wahr. Al­les ist wahr. Hör auf, dir dar­über Sor­gen zu ma­chen, daß du das Op­fer ei­nes mie­sen Scher­zes sein könn­test, und denk dar­über nach. Es hat einen Sinn. Es er­klärt al­les, was mit uns pas­siert ist.“

E.C. Stu­art mach­te ein ver­ächt­li­ches Ge­räusch, run­zel­te die Stirn und be­tas­te­te das En­de sei­nes Schnau­zers.

„Hör auf dei­nen Ka­pi­tän, Stu­art“, riet Bun­nish.

Pe­ter wand­te sich wie­der an ihn. „Warum? Das ist es, was ich wis­sen möch­te. Warum? Weil wir dir die­se Strei­che ge­spielt ha­ben? Dich ver­kohlt ha­ben? Viel­leicht wa­ren wir mies, ich weiß nicht, aber da­mals ist mir das nicht so fürch­ter­lich vor­ge­kom­men. Du hast ei­ne Men­ge da­von auf dich ge­lenkt. Aber was im­mer wir dir an­ge­tan ha­ben könn­ten, dies hier ha­ben wir nie­mals ver­dient. Wir wa­ren dei­ne Mann­schafts­ka­me­ra­den, dei­ne Freun­de.“

Bun­nis­hs Lä­cheln er­starr­te, und die Grüb­chen ver­schwan­den. „Ihr wart nie mei­ne Freun­de.“

Dar­auf­hin nick­te Ste­ve Del­ma­rio hef­tig. „Du bist nicht mein Freund, Fun­ny Bun­ny, laß dir das von mir ge­sagt sein. Weißt du, was du bist? Ein Wich­ser. Du warst im­mer ein gott­ver­damm­ter Wich­ser, des­halb hat dich nie­mand wirk­lich ge­mocht, du warst bloß ein ver­damm­ter Ver­lie­rer­wich­ser mit ei­nem Bürs­ten­haar­schnitt. Teu­fel, denkst du, du wärst der ein­zi­ge, der je ver­kohlt wor­den ist? Was ist mit mir, dem letz­ten Men­schen auf der Welt, he, was ist da­mit? Was ist mit den Strei­chen, die E. C. Pe­te, Les und all den an­de­ren ge­spielt hat?“ Er nahm einen gie­ri­gen Zug. „Uns hier­her­zu­ho­len, das ist ei­ne wei­te­re ver­damm­te Wich­ser­sa­che. Du bist der­sel­be Bun­ny, der du im­mer ge­we­sen bist. War nicht ge­nug, et­was zu tun, du hast da­mit an­ge­ben müs­sen, du hast es je­den wis­sen las­sen müs­sen. Und wenn et­was falsch ge­lau­fen ist, dann war das na­tür­lich nie dein Feh­ler, nicht wahr? Du hast nur ver­lo­ren, weil es im Raum zu laut war, weil die Be­leuch­tung schlecht war oder sonst was.“ Del­ma­rio stand auf. „Du machst mich krank. Nun, viel­leicht hast du un­ser al­ler Le­ben rui­niert, und jetzt hast du uns da­von er­zählt. Schön für dich. Und du hast dei­nen ver­damm­ten Wich­ser­spaß ge­habt. Jetzt laß uns hier raus.“

„Ich un­ter­stüt­ze die­sen Vor­schlag“, sag­te E. C.

„Nun, und ich den­ke nicht dar­an“, er­wi­der­te Bun­nish. „Je­den­falls jetzt noch nicht. Wir ha­ben noch kein Schach ge­spielt. Ein paar Spie­le um der al­ten Zei­ten wil­len.“

Del­ma­rio blin­zel­te und be­weg­te sich leicht, stand da und hielt sich an der Stuhl­leh­ne fest. „Das Spiel“, sag­te er, plötz­lich an sei­ne Her­aus­for­de­rung an Bun­nish vor ein paar Mi­nu­ten er­in­nert. „Wir wer­den das Spiel neu spie­len.“

Bun­nish fal­te­te sei­ne Hän­de or­dent­lich auf dem Tisch. „Wir kön­nen es bes­ser ma­chen“, er­wi­der­te er. „Ich bin ein sehr fai­rer Mensch, ver­steht ihr. Kei­ner von euch hat mir je ei­ne Chan­ce ge­ge­ben, aber ich wer­de euch ei­ne ge­ben – je­dem von euch. Ich ha­be eu­er Le­ben ge­stoh­len. War es nicht das, was du ge­sagt hast, Nor­ten? Nun, Freun­de, ich wer­de euch einen Ver­such las­sen, die­ses Le­ben zu­rück­zu­ge­win­nen. Wir wer­den ein we­nig Schach spie­len. Wir wer­den das Spiel nach­spie­len – aus der kri­ti­schen Auf­stel­lung her­aus. Ich wer­de Ves­se­le­res Sei­te ein­neh­men, und ihr könnt mei­ne ha­ben. Ihr drei könnt euch be­ra­ten, wenn ihr wollt, oder, wenn euch das lie­ber ist, wer­de ich ein­zeln ge­gen euch spie­len. Es ist mir egal. Ihr braucht mich nur zu schla­gen. Ge­winnt das Spiel, von dem ihr sagt, ich hät­te es ge­win­nen sol­len, und ich wer­de euch ge­hen las­sen und euch al­les ge­ben, was ihr ha­ben möch­tet. Geld, Be­sitz­tum, einen Job, ganz egal.“

„Fahr zur Höl­le, Wich­ser“, sag­te Del­ma­rio. „Ich bin nicht an dei­nem ver­damm­ten Geld in­ter­es­siert.“

Bun­nish nahm sei­ne Bril­le vom Tisch und setz­te sie auf; er lä­chel­te breit. „Oder“, sag­te er, „wenn ihr das vor­zieht – ihr könnt ei­ne Ge­le­gen­heit ge­win­nen, mein Rück­blend­ge­rät zu be­nut­zen. Dann könnt ihr zu­rück­ge­hen, mir zu­vor­kom­men, al­les neu ge­stal­ten, das Le­ben le­ben, für das ihr be­stimmt ge­we­sen seid, be­vor ich mich ein­ge­mischt ha­be. Stellt euch das vor. Es ist die bes­te Ge­le­gen­heit, die ihr je be­kom­men wer­det, je­der von euch, und ich ma­che es so leicht. Ihr braucht nur ein ge­won­ne­nes Spiel zu ge­win­nen.“

„Ein ge­won­ne­nes Spiel ge­win­nen ist ei­nes der schwers­ten Din­ge beim Schach“, sag­te Pe­ter fins­ter. Aber noch wäh­rend er dies sag­te, ras­te sein Ver­stand, die Er­re­gung wühl­te tief in sei­nen Ein­ge­wei­den. Es ist ei­ne Chan­ce, dach­te er, die Rui­nen mei­nes Le­bens neu auf­zu­bau­en, es rich­tig aus­ge­hen zu las­sen. Die falschen Ab­zwei­gun­gen un­ge­sche­hen zu ma­chen, den Wein des Er­fol­ges zu kos­ten statt des Wer­muts des Ver­sa­gens, dem Hohn aus­zu­wei­chen, zu dem sei­ne Ehe mit Ka­thy ge­wor­den war. To­te Hoff­nun­gen er­ho­ben sich wie Ge­spens­ter, um wie­der auf dem Fried­hof sei­ner Träu­me zu tan­zen. Er muß­te es ver­su­chen, das wuß­te er. Er muß­te.

Ste­ve Del­ma­rio kam ihm zu­vor. „Ich kann die­ses gott­ver­damm­te Spiel ge­win­nen“, dröhn­te er be­trun­ken. „Ich könn­te es mit ge­schlos­se­nen Au­gen ge­win­nen. Du bist dran, Bun­ny. Hol ein Spiel her­aus, ver­dammt noch mal!“

Bun­nish lach­te und stand auf, wo­bei er sei­ne großen Hän­de flach auf die Tisch­plat­te leg­te und sie be­nutz­te, um sich auf die Fü­ße hoch­zu­stem­men. „Oh nein, Del­ma­rio. Wenn du ver­lierst, dann wirst du nicht die Aus­re­de ha­ben, be­trun­ken ge­we­sen zu sein. Ich wer­de dich zer­mal­men, wenn du ganz und gar stock­nüch­tern bist. Mor­gen. Ich wer­de mor­gen ge­gen dich spie­len.“

Del­ma­rio blin­zel­te wü­tend. „Mor­gen“, wie­der­hol­te er.

Spä­ter, als sie al­lein in ih­rem Zim­mer wa­ren, wand­te sich Ka­thy an ihn. „Pe­ter“, sag­te sie, „laß uns von hier ver­schwin­den. Heu­te nacht. Jetzt.“

Pe­ter saß vor dem Ka­min­feu­er. Er hat­te in der obers­ten Schub­la­de sei­nes Nacht­schränk­chens ein klei­nes Schach­spiel ent­deckt und die kri­ti­sche Auf­stel­lung aus dem Ves­se­le­re-Bun­nish-Spiel auf­ge­baut, um sie zu stu­die­ren. Är­ger­lich über die Ab­len­kung schau­te er auf und sag­te: „Ver­schwin­den? Wie, zum Teu­fel, sol­len wir das an­stel­len, wenn un­ser Au­to in die­ser Ga­ra­ge ein­ge­schlos­sen ist – was schlägst du vor?“

„Es muß hier doch ir­gend­wo ein Te­le­fon ge­ben. Wir könn­ten es su­chen, fin­den, Hil­fe ru­fen. Oder, wenn das al­les nichts nützt, ein­fach zu Fuß ge­hen.“

„Es ist De­zem­ber, und wir sind in den Ber­gen, mei­len­weit von je­dem an­de­ren Haus ent­fernt. Wenn wir ver­su­chen, zu Fuß hier her­aus­zu­kom­men, dann könn­ten wir er­frie­ren. Nein.“ Er wand­te sei­ne Auf­merk­sam­keit wie­der dem Schach­brett zu und ver­such­te sich zu kon­zen­trie­ren.

„Pe­ter“, sag­te sie är­ger­lich.

Er schau­te wie­der auf. „Was?“ fauch­te er. „Siehst du nicht, daß ich be­schäf­tigt bin?“

„Wir müs­sen ir­gend et­was tun. Die­se gan­ze Sze­ne­rie ist ver­rückt. Bun­nish ge­hört ein­ge­sperrt.“

„Er hat die Wahr­heit ge­sagt“, er­klär­te Pe­ter.

Ka­thys Ge­sichts­aus­druck wur­de weich, und einen kur­z­en Mo­ment lang gab es so et­was wie Nach­denk­lich­keit und Sor­ge dar­in. „Ich weiß“, sag­te sie lei­se.

„Du weißt es“, äff­te Pe­ter hef­tig nach. „Du weißt es, ja? Nun, weißt du auch, was das für ein Ge­fühl ist? Die­ser Ba­stard wird be­zah­len. Er ist für je­de mie­se Schwei­ne­rei ver­ant­wort­lich, die mir pas­siert ist. Nach all­dem, was ich jetzt weiß, ist er wahr­schein­lich auch für dich ver­ant­wort­lich.“

Ka­thys Lip­pen be­weg­ten sich nur leicht, und ih­re Au­gen be­weg­ten sich über­haupt nicht, aber plötz­lich wa­ren die Be­sorg­nis und Sym­pa­thie aus ih­rem Ge­sicht ver­schwun­den, und statt des­sen sah Pe­ter wie­der wohl­be­kann­tes Mit­leid, fein­ge­schlif­fe­ne Ver­ach­tung. „Er wird dich ein­fach wie­der bre­chen“, sag­te sie kalt. „Er legt es dar­auf an, daß du nach die­ser Chan­ce gierst, weil er vor­hat, sie dir vor­zuent­hal­ten. Er wird dich schla­gen, Pe­ter. Wie wird dir das ge­fal­len? Wie wirst du da­mit le­ben – hin­ter­her?“

Pe­ter sah auf die Schach­fi­gu­ren hin­un­ter. „Das hat er vor, ja. Aber er ist ein Idi­ot. Dies hier ist ei­ne ge­won­ne­ne Stel­lung. Das Pro­blem ist nur, den Zug zu fin­den, der zum Sieg führt, die rich­ti­ge Va­ri­an­te. Und wir ha­ben drei An­satz­punk­te. Ste­ve kommt zu­erst. Wenn er ver­liert, dann sind E. C. und ich in der La­ge, aus sei­nen Feh­lern zu ler­nen. Ich wer­de nicht ver­lie­ren. Ich ha­be viel­leicht al­les an­de­re ver­lo­ren, aber dies hier ver­lie­re ich nicht. Die­ses Mal wer­de ich der Ge­win­ner sein. Du wirst se­hen.“

„Ich wer­de se­hen, in Ord­nung“, sag­te Ka­thy. „Du er­bärm­li­cher Ba­stard.“

Pe­ter igno­rier­te sie und be­weg­te ei­ne Fi­gur. Sprin­ger schlägt Bau­er.

 

Ka­thy blieb am nächs­ten Mor­gen in der Sui­te. „Geh dein ver­damm­tes Spiel spie­len, wenn du magst“, sag­te sie zu Pe­ter. „Ich wer­de mich in der hei­ßen Wan­ne ein­wei­chen und le­sen. Ich will mit dei­nem Spiel nichts zu tun ha­ben.“

„Wie du meinst“, er­wi­der­te Pe­ter. Er schlug die Tür hin­ter sich zu und dach­te wie­der ein­mal dar­an, was er für ein Mist­stück ge­hei­ra­tet hat­te.

Un­ten im ge­wal­ti­gen Wohn­zim­mer stell­te Bun­nish so­eben das Brett auf. Das Spiel, das er aus­ge­wählt hat­te, war nicht reich ver­ziert und teu­er wie das in der Ecke, bei dem die Fi­gu­ren fest­ge­klebt wa­ren. Spie­le wie die­ses sa­hen für de­ko­ra­ti­ve Zwe­cke gut aus, wa­ren je­doch beim ernst­haf­ten Spiel nutz­los. Statt des­sen hat­te Bun­nish einen ein­fa­chen Holz­tisch in die Mit­te des Raum­es ge­scho­ben und ein Stan­dard-Tur­nier­spiel her­aus­ge­holt: ein Vi­nyl­spiel­feld in Grün und Weiß, das er sorg­fäl­tig auf­roll­te, einen ziem­lich ab­ge­nutz­ten Satz Drue­ke-Fi­gu­ren im stan­dard­ge­mä­ßen Staun­ton-De­sign, aus schwar­zem und weißem Plas­tik ge­formt, mit Blei­ge­wich­ten im Fuß­teil und dar­un­ter mit Filz ver­se­hen, um ih­nen einen gu­ten Stand zu ge­ben. Er setz­te je­de Fi­gur aus dem Ge­dächt­nis auf ih­re Po­si­ti­on, oh­ne auch nur ein­mal auf das Spiel zu se­hen, das auf dem teu­er ein­ge­leg­ten Brett auf der ge­gen­über­lie­gen­den Zim­mer­sei­te er­starrt war. Dann be­gann er, ei­ne Schach-Uhr mit dop­pel­sei­ti­gem Zif­fer­blatt zu stel­len. „Ich kann nicht oh­ne die Uhr spie­len, weißt du“, sag­te er lä­chelnd. „Ich wer­de ge­nau die glei­che Zeit ein­stel­len wie an je­nem Tag in Evan­ston.“

Als al­les vor­be­rei­tet war, über­blick­te Bun­nish das Brett vol­ler Zu­frie­den­heit und setz­te sich vor Ves­se­le­res schwar­ze Fi­gu­ren. „Fer­tig?“ frag­te er.

Ste­ve Del­ma­rio setz­te sich ihm ge­gen­über hin, und er sah bleich und schreck­lich ver­ka­tert aus. Er hielt ein großes Trink­glas voll Oran­gen­saft, und sei­ne Au­gen be­weg­ten sich ner­vös hin­ter sei­nen di­cken Bril­lenglä­sern. „Ja“, sag­te er. „Fang an.“

Bun­nish drück­te den Knopf, der Del­ma­ri­os Uhr in Gang setz­te.

Sehr schnell streck­te Del­ma­rio die Hand aus, spiel­te Sprin­ger schlägt Bau­er – die Fi­gu­ren klick­ten lei­se ge­gen­ein­an­der, als er sich sei­ne Beu­te hol­te – und be­nutz­te den Bau­ern, den er ge­nom­men hat­te, um die Uhr zu drücken und da­mit sei­nen Zeit­neh­mer an­zu­hal­ten und den von Bun­nish in Gang zu set­zen.

„Das Op­fer“, sag­te Bun­nish. „Was für ei­ne Über­ra­schung.“ Er schlug den Sprin­ger.

Del­ma­rio spiel­te Läu­fer schlägt Bau­er und op­fer­te ei­ne wei­te­re Fi­gur. Bun­nish war ge­zwun­gen, mit sei­nem Kö­nig zu schla­gen. Er wirk­te ge­las­sen. Er lä­chel­te schwach, sei­ne Grüb­chen bil­de­ten leich­te Fal­ten in den di­cken Wan­gen, die Au­gen blick­ten klar und scharf und fröh­lich hin­ter sei­nen ge­tön­ten Bril­lenglä­sern.

Ste­ve Del­ma­rio lehn­te sich nach vorn, über das Brett, die Bli­cke aus sei­nen dunklen Au­gen husch­ten über die Auf­stel­lung hin und her, hin und her, im­mer und im­mer wie­der, als wür­de er dop­pelt prü­fen, daß wirk­lich al­les an Ort und Stel­le war, dort, wo er es ha­ben woll­te. Er schlug die Bei­ne über­ein­an­der und lös­te sie wie­der. Pe­ter, der di­rekt hin­ter ihm stand, konn­te die Span­nung fast spü­ren, die Del­ma­rio in Wo­gen aus­strahl­te, die ihn er­füll­te. Selbst E. C. Stu­art, der ein paar Schrit­te ent­fernt in ei­nem großen, be­que­men Lehn­ses­sel saß, starr­te auf­merk­sam auf das Spiel. Die Uhr tick­te lei­se. Del­ma­rio hob sei­ne Hand, woll­te die Da­me zie­hen, zö­ger­te je­doch mit über ihr schwe­ben­den Fin­gern. Sei­ne Hand zit­ter­te.

„Was ist los, Ste­ve?“ frag­te Bun­nish. Er stütz­te sein Kinn auf bei­de Hän­de und lä­chel­te, als Del­ma­rio zu ihm auf­schau­te. „Du zö­gerst. Weißt du nicht mehr? Der, der zö­gert, ist ver­lo­ren. Un­si­cher – so plötz­lich? Be­stimmt nicht. Du warst doch bis­her im­mer so si­cher. Wie vie­le Matt-Stel­lun­gen hast du mir ge­zeigt? Wie vie­le?“

Del­ma­rio blin­zel­te, run­zel­te die Stirn. „Ich wer­de dir ei­ne wei­te­re zei­gen, Bun­ny“, sag­te er wü­tend. Sei­ne Fin­ger schlos­sen sich um sei­ne Da­me, scho­ben sie über das Brett. „Schach.“

„Ah“, sag­te Bun­nish. Pe­ter stu­dier­te die Stel­lung. Das Dop­pe­lop­fer hat­te die Bau­ern vor dem schwar­zen Kö­nig weg­ge­räumt, und das Da­men-Schach er­laub­te kei­nen Rück­zug. Bun­nish ließ sei­nen Kö­nig um ein Qua­drat vor­mar­schie­ren, auf die Brett­mit­te zu, auf die war­ten­de wei­ße Ar­mee. Da­mit stand fest, daß er jetzt ver­lo­ren war. Sei­ne Ver­tei­di­ger stan­den aus­nahms­los auf der Da­men-Sei­te, und der Feind war rings um ihn her. Aber Bun­nish schi­en nicht be­sorgt zu sein.

Del­ma­ri­os Uhr tick­te, wäh­rend er die Auf­stel­lung be­gut­ach­te­te. Er nipp­te an sei­nem Saft, be­weg­te sich un­ru­hig auf sei­nem Sitz. Bun­nish gähn­te und grins­te höh­nisch. „Da­mals warst du der Ta­ges­sie­ger, Del­ma­rio. Hast einen Meis­ter ge­schla­gen. Der ein­zi­ge Sie­ger. Und jetzt weißt du nicht, wie du Matt er­zie­len kannst? Wo sind all dei­ne tol­len Matt-Stel­lun­gen, he?“

„Es gibt so vie­le, daß ich gar nicht weiß, wel­che ich neh­men soll, Bun­ny“, sag­te Ste­ve. „Und jetzt halt den Mund, ver­dammt. Ich ver­su­che nach­zu­den­ken.“

„Oh“, sag­te Bun­nish. „Ver­zei­hung.“

Del­ma­rio ver­brauch­te zehn Mi­nu­ten auf sei­ner Uhr, be­vor er die Hand aus­streck­te und sei­nen ver­blie­be­nen Sprin­ger zog. „Schach.“

Er­neut schob Bun­nish sei­nen Kö­nig vor.

Del­ma­rio leck­te sich die Lip­pen, schob sei­ne Da­me ein Qua­drat vor­an. „Schach.“

Bun­nis­hs Kö­nig zog seit­lich und da­mit in die Si­cher­heit der Da­men-Sei­te hin­über.

Del­ma­rio ließ einen Bau­ern vor­schnel­len. „Schach.“

Bun­nish muß­te schla­gen. Er wisch­te den an­grei­fen­den Bau­ern mit sei­nem Kö­nig weg und lä­chel­te da­bei selbst­ge­fäl­lig.

Da jetzt die Front of­fen war, konn­te Del­ma­rio sei­ne Tür­me ins Spiel brin­gen. Er­zog einen hin­über. „Schach.“

Bun­nish zog wie­der sei­nen ge­fähr­de­ten Kö­nig.

Jetzt zog Del­ma­rio den Turm nach vorn, schob ihn die gan­ze Rei­he hoch, um ihn dem Feind von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ge­gen­über­zu­stel­len. „Schach!“ sag­te er laut.

Pe­ter sog sei­nen Atem laut ein, oh­ne es zu wol­len. Der Turm war nicht ge­deckt! Bun­nish konn­te ihn sich oh­ne wei­te­res weg­schnap­pen. Er starr­te über Del­ma­ri­os Schul­ter auf die Stel­lung. Bun­nish konn­te den Turm mit sei­nem Kö­nig schla­gen, in Ord­nung, aber dann wür­de der an­de­re Turm her­über­kom­men, der Kö­nig muß­te zu­rück­wei­chen, und wenn sich die Da­me auch nur um ein Qua­drat be­weg­te … Ja … Zu vie­le Matt-Dro­hun­gen in die­ser Va­ri­an­te. Schwarz hat­te vie­le Zu­fluchts­mög­lich­kei­ten, aber sie en­de­ten al­le in der Ka­ta­stro­phe. Al­ler­dings … wenn Bun­nish mit sei­nem Sprin­ger statt mit sei­nem Kö­nig schla­gen wür­de, dann ließ er das Feld un­ge­schützt … Hmmm … Da­men-Schach, Kö­nig hoch, dann mit dem Läu­fer … Nein, so kam das Matt so­gar noch schnel­ler.

Del­ma­rio trank sei­nen Oran­gen­saft aus und stell­te das lee­re Glas mit selbst­zu­frie­de­ner Här­te ab.

Bun­nish zog sei­nen Kö­nig dia­go­nal nach vorn. Der ein­zig mög­li­che Zug, dach­te Pe­ter. Del­ma­rio lehn­te sich vor. Hin­ter ihm lehn­te sich Pe­ter eben­falls vor. Die wei­ßen Fi­gu­ren um­schwärm­ten jetzt den iso­lier­ten schwar­zen Kö­nig, aber wie soll­ten sie das Matt-Netz ver­en­gen? Ste­ve hat drei ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten, Schach zu er­klä­ren, dach­te Pe­ter. Nein, vier, den Zug konn­te er auch noch tun. Er be­ob­ach­te­te und ana­ly­sier­te schwei­gend. Das Turm-Schach nütz­te nichts, der Kö­nig wür­de sich ein­fach zu­rück­zie­hen, und wei­te­re Schach-Er­klä­run­gen wür­den ihn mü­he­los in Si­cher­heit trei­ben. Der Läu­fer? Nein, Bun­nish konn­te aus­tau­schen, mit sei­nem Turm schla­gen – er hat­te schließ­lich zwei Fi­gu­ren mehr. Meh­re­re Un­ter­va­ri­an­ten zweig­ten von den bei­den Da­men-Schachs ab. Pe­ter ver­such­te im­mer noch, sich aus­zu­rech­nen, wo­hin sie führ­ten, als Del­ma­rio plötz­lich die Hand aus­streck­te, einen Bau­ern vor sei­nem Kö­nig weg­pack­te und ihn zwei Qua­dra­te vor­zog. Er knall­te ihn fest hin und schlug auf die Uhr. Dann lehn­te er sich zu­rück und ver­schränk­te sei­ne Ar­me. „Du bist am Zug, Bun­ny“, sag­te er.

Pe­ter stu­dier­te das Brett. Del­ma­ri­os letz­ter Zug er­gab kein Schach, aber der Vor­stoß des Bau­ern schnitt ein wich­ti­ges Flucht­qua­drat ab. Jetzt war die­ses be­droh­te Turm-Schach nicht mehr harm­los. Statt in Si­cher­heit zu­rück­ge­trie­ben zu wer­den, wur­de der schwar­ze Kö­nig in drei Zü­gen matt­ge­setzt. Na­tür­lich hat­te es Bun­nish jetzt ei­lig, das war sein Zug, er konn­te einen Ver­tei­di­ger auf­bie­ten. Sei­ne Da­me konn­te jetzt … Nein, dann kam Da­men-Schach, Kö­nig zu­rück, Turm-Schach, und die schwar­ze Da­me fiel … Viel­leicht der Läu­fer … Nein, dort Schach und Matt in ei­nem – un­auf­halt­sam. Je län­ger Pe­ter die Auf­stel­lung an­sah, de­sto we­ni­ger Ab­wehr­chan­cen sah er für Schwarz. Bun­nish könn­te die Nie­der­la­ge hin­aus­zö­gern, aber er konn­te sie nicht auf­hal­ten. Er war er­le­digt!

Bun­nish sah nicht er­le­digt aus. Sehr ru­hig nahm er einen Sprin­ger auf und zog ihn zum Sprin­ger der Da­me auf Feld sechs. „Schach“, sag­te er ge­las­sen.

Del­ma­rio starr­te auf das Feld. Pe­ter starr­te auf das Feld. E. C. Stu­art er­hob sich aus sei­nem Ses­sel und kam her­an, er be­trach­te­te das Spiel, sein Fin­ger wisch­te sei­nen Schnau­zer zu­rück. Die­ses Schach ist nur Zeit­ver­schwen­dung, dach­te Pe­ter. Del­ma­rio konn­te den Sprin­ger schla­gen – da­zu stan­den ihm zwei Bau­ern zur Aus­wahl –, oder er konn­te ein­fach sei­nen Kö­nig be­we­gen. Au­ßer … Pe­ter starr­te fins­ter drein … Wenn Weiß mit dem Läu­fer­bau­ern schlug. Da­me mit Schach an­griff, Kö­nig zum zwei­ten zog, Da­me schlägt Turm­bau­ern mit Schach, Kö­nig … Nein, das nütz­te nichts. Weiß wur­de ge­walt­sam matt­ge­setzt. Die an­de­re Mög­lich­keit schi­en das Matt noch zu be­schleu­ni­gen, nach­dem die Da­me aus der ach­ten Rei­he Schach er­klärt hat­te.

Del­ma­rio zog sei­nen Kö­nig vor.

Bun­nish schob einen Läu­fer in ei­ner Dia­go­na­len her­aus. „Schach.“

Jetzt gab es nur einen Zug. Ste­ve schob sei­nen Kö­nig aber­mals nach vorn. Er wur­de be­drängt, aber sein Matt-Netz wür­de auch dann noch in­takt sein, wenn die Schach-Er­klä­run­gen erst ein­mal ih­ren Lauf ge­nom­men hat­ten.

Bun­nish ließ sei­nen Sprin­ger zu­rück­schnel­len – ein wei­te­res Schach.

Del­ma­rio blin­zel­te und ver­schränk­te un­ter dem Tisch sei­ne Bei­ne. Pe­ter sah, daß Bun­nish, wenn er sei­nen Kö­nig zu­rück­hol­te, ei­ne er­zwun­ge­ne Fol­ge von Schachs hin­zu­neh­men ha­ben wür­de, die schließ­lich zum Matt führ­ten … Aber der schwar­ze Sprin­ger stand jetzt un­ge­deckt so­wohl für Turm wie Da­me er­reich­bar und … Del­ma­rio er­beu­te­te ihn mit dem Turm.

Bun­nish pack­te den vor­ge­scho­be­nen Bau­ern von Weiß, wo­mit er den Eck­pfei­ler des Matt-Net­zes weg­nahm. Jetzt konn­te Del­ma­rio Da­me schlägt Da­me spie­len, aber dann ver­lor er sei­ne Da­me in ei­nem Zweifron­ten-An­griff, und nach dem Schlagab­tausch, der dar­auf­hin folg­te, wä­re er hoff­nungs­los ka­putt. Statt des­sen zog er sei­nen Kö­nig zu­rück.

Bun­nish mach­te ein Ts-ts-Ge­räusch und schlug den wei­ßen Sprin­ger mit sei­ner Da­me, for­der­te Del­ma­rio er­neut her­aus, sie zu neh­men. Da Sprin­ger und Bau­er ge­schla­gen wa­ren, hat­ten sich al­le Matt-Dro­hun­gen Del­ma­ri­os auf­ge­löst, und wenn Weiß die schwar­ze Da­me er­wi­sch­te, gab es ein Schach, ein Be­drän­gen, ein Schla­gen, Schla­gen, Schla­gen, und … Pe­ter knirsch­te mit den Zäh­nen … Und Weiß wä­re plötz­lich im Fi­na­le, ei­ne Fi­gur nur noch, hoff­nungs­los ver­lo­ren. Nein. Es muß­te et­was Bes­se­res ge­ben. Die­se Stel­lung hat­te noch ei­ne Men­ge Spiel­mög­lich­kei­ten in sich. Pe­ter starr­te dar­auf und ana­ly­sier­te.

Auch Ste­ve Del­ma­rio starr­te dar­auf, wäh­rend sei­ne Uhr tick­te. Die­se Uhr war ei­nes die­ser phan­tas­ti­schen Ge­rä­te mit ei­nem Zug­zäh­ler. Sie zeig­te an, daß er sie­ben wei­te­re Zü­ge ma­chen muß­te, um das Zeit-Li­mit zu er­fül­len. Ihm blie­ben et­was we­ni­ger als fünf­zehn Mi­nu­ten üb­rig. Leich­ter Zeit­druck, aber nichts Erns­tes.

Es sei denn, Del­ma­rio saß nur da und ließ sei­ne Bli­cke über das Brett flit­zen und die Au­gen blin­zeln. Er nahm sei­ne schwe­re Bril­le ab und putz­te sie me­tho­disch an sei­nem Hemd­zip­fel. Als er sie wie­der über die Na­se schob, hat­te sich die Auf­stel­lung nicht ver­än­dert. Er starr­te den schwar­zen Kö­nig kon­zen­triert an, als sei er hart­nä­ckig ent­schlos­sen, ihn so zu Fall zu brin­gen. Schließ­lich mach­te er An­stal­ten auf­zu­ste­hen. „Ich brau­che einen Drink“, sag­te er.

„Ich wer­de ihn ho­len“, fuhr Pe­ter da­zwi­schen. „Setz dich. Du hast nur noch acht Mi­nu­ten.“

„Ja“, sag­te Del­ma­rio. Er setz­te sich wie­der.

Pe­ter ging an die Bar und mix­te ihm einen Screw­dri­ver. Ste­ve leer­te die Hälf­te da­von in ei­nem Schluck, den Blick nahm er da­bei nicht ein ein­zi­ges Mal vom Schach­brett.

Pe­ter warf zu­fäl­lig einen Blick auf E. C. Stu­art. E. C. schüt­tel­te den Kopf und ver­dreh­te die Au­gen. Kein Wort wur­de ge­spro­chen, aber Pe­ter hör­te die Bot­schaft: Ver­giß es.

Ste­ve Del­ma­rio saß da und wur­de im­mer un­ru­hi­ger. Als ihm auf sei­ner Uhr noch drei Mi­nu­ten blie­ben, streck­te er sei­ne Hand aus, über­leg­te es sich an­ders und zog sie wie­der zu­rück. Er rutsch­te auf sei­nem Sitz her­um, zog die Bei­ne an, beug­te sich tiefer über das Brett, so daß sei­ne Na­se kaum mehr als ein paar Zoll über den Schach­fi­gu­ren schweb­te. Sei­ne Uhr tick­te.

Er starr­te das Brett noch im­mer an, als Bun­nish lä­chel­te und sag­te: „Da­mit wä­re dei­ne Fah­ne her­un­ter­ge­holt, Del­ma­rio.“

Del­ma­rio schau­te blin­zelnd auf. Sein Mund hing of­fen. „Zeit“, sag­te er ein­dring­lich. „Ich brau­che bloß Zeit, dann fin­de ich den rich­ti­gen Zug … muß ir­gend­wo in die­ser Stel­lung sein, muß ein­fach … all die­se Schachs …“

Bun­nish er­hob sich. „Dei­ne Zeit ist um, Del­ma­rio. Spielt oh­ne­hin kei­ne Rol­le. Du hast to­tal ver­lo­ren.“

„NEIN! Nein, das ha­be ich nicht, ver­dammt, es gibt ein Matt …“

Pe­ter leg­te ei­ne Hand auf Ste­ves Schul­ter. „Ste­ve, nimm’s leicht“, sag­te er. „Es tut mir leid. Bru­ce hat recht. In die­sem Spiel bist du ka­putt.“

„Nein“, be­harr­te Del­ma­rio. „Ich weiß, daß es ei­ne Matt-Kom­bi­na­ti­on gibt. Ich muß nur … muß … nur …“ Sei­ne rech­te Hand, über dem Brett aus­ge­streckt, be­gann zu zit­tern, und er stieß sei­nen ei­ge­nen Kö­nig um.

Bun­nish zeig­te sei­ne Grüb­chen. „Hör auf dei­nen Ka­pi­tän, du Su­per-Sie­ger“, sag­te er. Dann schau­te er von Del­ma­rio weg, dort­hin, wo E. C. fins­ter drein­bli­ckend stand. „Du bist der nächs­te, Stu­art. Mor­gen. Die­sel­be Zeit, der­sel­be Ort.“

„Und wenn ich kei­ne Lust ha­be zu spie­len?“ mein­te E.C. ge­ring­schät­zig.

Bun­nish zuck­te mit den Schul­tern. „Ganz wie du willst“, sag­te er. „Ich wer­de hier sein, und das Spiel wird hier sein. Ich set­ze dei­ne Uhr recht­zei­tig in Gang. Du kannst auf dem Brett ver­lie­ren – oder durch Ver­fall. Du ver­lierst so oder so.“

„Und ich?“ sag­te Pe­ter.

„Tja, Ka­pi­tän“, sag­te Bun­nish. „Dich spa­re ich mir als letz­ten auf.“

Ste­ve Del­ma­rio war ein Wrack. Er wei­ger­te sich, das Schach­brett zu ver­las­sen, es sei denn, um sich neue Drinks zu mi­xen. Für den Rest des Vor­mit­tags und den größ­ten Teil des Nach­mit­tags blieb er an sei­nem Sitz kle­ben, trank wie ein Fisch und jag­te die Schach­fi­gu­ren wie ein Be­ses­se­ner her­um, spiel­te das Spiel im­mer und im­mer wie­der. Del­ma­rio schlang ein paar Sand­wi­ches hin­un­ter, die ihm Pe­ter ge­gen Mit­tag mach­te, aber man konn­te nicht mit ihm re­den, ihn nicht be­sänf­ti­gen. Pe­ter ver­such­te es. Wenn Del­ma­rio mit die­sem Teu­fels­zeug, das er in solch er­schre­cken­den Men­gen in sich hin­ein­schüt­te­te, wei­ter­mach­te, dann wür­de er in spä­tes­tens ei­ner knap­pen Stun­de weg­ge­tre­ten sein.

Schließ­lich lie­ßen E. C. und er Del­ma­rio in Ru­he und gin­gen in sei­ne Sui­te hin­auf. Pe­ter klopf­te an die Tür. „Bist du schick­lich an­ge­zo­gen, Ka­thy? E. C. ist bei mir.“

Sie öff­ne­te die Tür. Sie trug Jeans und ein T-Shirt. „So schick­lich, wie ich nur sein kann“, er­wi­der­te sie. „Kommt schon rein. Wie ist das große Spiel aus­ge­gan­gen?“

„Del­ma­rio hat ver­lo­ren“, ant­wor­te­te Pe­ter. „Aber es war ei­ne knap­pe Sa­che. Einen Mo­ment lang ha­be ich ge­dacht, wir hät­ten ihn.“

Ka­thy schnaub­te.

„Al­so, was jetzt?“ sag­te E. C.

„Du wirst mor­gen spie­len?“

E. C. zuck­te mit den Schul­tern. „Warum nicht? Ich ha­be nichts zu ver­lie­ren.“

„Gut“, sag­te Pe­ter. „Du kannst ihn schla­gen. Ste­ve hät­te fast ge­won­nen, und wir ken­nen bei­de den Zu­stand, in dem er ist. Wir müs­sen das Spiel ana­ly­sie­ren, wir müs­sen die Stel­le fin­den, wo er sei­nen Feh­ler ge­macht hat.“

E. C. fum­mel­te an sei­nem Schnau­zer her­um. Er sah kühl und nach­denk­lich aus. „Die­ser Bau­ern­zug“, schlug er vor. „Der­je­ni­ge, der kein Schach ge­bracht hat. Der hat Weiß die Ge­le­gen­heit zu die­sem Ge­gen­an­griff ge­bo­ten.“

„Er hat auch das Matt-Netz auf­ge­baut“, mein­te Pe­ter. Er schau­te über die Schul­ter zu­rück, sah Ka­thy mit ver­schränk­ten Ar­men da­ste­hen. „Könn­test du das Schach­brett aus dem Schlaf­zim­mer ho­len?“ frag­te er sie. Als sie ging, wand­te sich Pe­ter wie­der E. C. zu. „Ich glau­be, Ste­ve war be­reits ver­lo­ren, als er die­sen Bau­ern­zug ge­macht hat. Der war an­ge­sichts der dro­hen­den Ge­fah­ren der ein­zig mög­li­che gu­te Zug. Al­les an­de­re hät­te sich nach ein paar Schachs ein­fach tot­ge­lau­fen. Er hat sich vor­her ge­irrt, den­ke ich.“

„All die­ses Schach­bie­ten“, sag­te E. C. „Viel­leicht war es zu­viel des Gu­ten?“

„Ge­nau“, sag­te Pe­ter. „Statt ihn in ein Schach­matt zu trei­ben, hat ihn Ste­ve in die Si­cher­heit ge­trie­ben. Du mußt ir­gend­wo da­zwi­schen va­ri­ie­ren.“

„Ein­ver­stan­den.“

Ka­thy kam mit dem Schach­spiel an und stell­te es auf den nie­de­ren Tisch zwi­schen ih­nen. Als Pe­ter rasch die kri­ti­sche Stel­lung auf­bau­te, setz­te sie sich auf den Bo­den und zog die Bei­ne an den Kör­per her­an. Aber es wur­de ihr rasch lang­wei­lig, als sie zu ana­ly­sie­ren be­gan­nen, und es dau­er­te nicht lan­ge, bis sie mit ei­nem ver­ächt­li­chen Laut wie­der hoch­kam. „Ihr seid bei­de ver­rückt“, sag­te sie. „Ich wer­de mir et­was zu es­sen ho­len.“

„Bring uns et­was mit, ja?“ bat Pe­ter. „Und ein paar Fla­schen Bier.“ Aber als sie spä­ter das Ta­blett ne­ben E. C. und ihm ab­stell­te, be­merk­te er es kaum.

Sie blie­ben bis tief in die Nacht. Ka­thy war die ein­zi­ge, die zum Es­sen mit Bun­nish hin­un­ter­ging. Als sie zu­rück­kehr­te, sag­te sie: „Die­ser Mann ist ekel­haft“, und sie sag­te es so nach­drück­lich, daß Pe­ter tat­säch­lich kurz vom Spiel ab­ge­lenkt war. Aber nur für einen Au­gen­blick.

„Wie wär’s hier­mit?“ sag­te E.C. und zog einen Sprin­ger, und Pe­ter schau­te rasch wie­der zu­rück.

 

„Ich se­he, du hast dich ent­schie­den zu spie­len, Stu­art“, sag­te Bun­nish am nächs­ten Mor­gen.

E. C, der ge­pflegt und frisch aus­sah, ei­ne Tas­se voll damp­fen­den schwar­zen Kaf­fees in der Hand, nick­te forsch. „Du bist so ge­scheit wie im­mer, Bru­cie.“

Bun­nish ki­cher­te.

„Al­ler­dings wä­re da noch ei­ne Sa­che“, sag­te E. C. und hielt einen Fin­ger hoch. „Ich glau­be dein Am­men­mär­chen von die­ser Zeit­ma­schi­ne noch im­mer nicht. Wir spie­len die­ses Spiel zu En­de, in Ord­nung, aber wir wer­den um Geld spie­len, nicht um ei­ne dei­ner Rück­blen­den. Ver­stan­den?“

„Ihr Spaß­vö­gel seid wirk­lich arg­wöh­ni­sche Ty­pen“, sag­te Bun­nish. Er seufz­te. „Al­les, was du willst, na­tür­lich. Du willst Geld. Al­so gut.“

„Ei­ne Mil­li­on Dol­lar.“

Bun­nish lä­chel­te breit. „Klein­geld“, sag­te er. „Aber ich bin ein­ver­stan­den. Schla­ge mich, und du wirst mit ei­ner Mil­li­on von hier weg­ge­hen. Du wirst einen Scheck an­neh­men, hof­fe ich?“

„Einen be­glau­big­ten Scheck.“ E.C. dreh­te sich zu Pe­ter um. „Du bist mein Zeu­ge“, sag­te er, und Pe­ter nick­te. Sie wa­ren heu­te mor­gen nur zu dritt. Ka­thy be­harr­te auf ih­rem Des­in­ter­es­se, und Del­ma­rio war in sei­nem Zim­mer, um sei­nen Rausch aus­zu­schla­fen.

„Fer­tig?“ frag­te Bun­nish.

„Los.“

Bun­nish setz­te die Uhr in Gang. E.C. streck­te die Hand aus und spiel­te das Op­fer. Sprin­ger schlägt Bau­er. Sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren zü­gig und ge­nau be­mes­sen. Bun­nish schlug, und E. C. spiel­te das Sprin­ger-Op­fer, oh­ne ei­ne Se­kun­de zu zö­gern. Bun­nish schlug wie­der, drück­te die Uhr.

E. C. Stu­art wisch­te sei­nen Schnau­zer zu­rück, griff hin­un­ter und zog einen Bau­ern. Kein Schach.

„Ah“, sag­te Bun­nish. „Ei­ne Ver­bes­se­rung. Du hast et­was im Är­mel, nicht wahr? Na­tür­lich hast du das. E.C. Stu­art hat im­mer et­was im Är­mel. Der über­mü­ti­ge, un­be­re­chen­ba­re E. C. Stu­art. Solch ein Bur­sche. So ein­falls­reich.“

„Spiel Schach, Bru­cie“, fauch­te E. C.

„Na­tür­lich.“

Pe­ter schob sich nä­her an das Brett her­an, wäh­rend Bun­nish die Stel­lung stu­dier­te. Sie wa­ren das Spiel letz­te Nacht im­mer wie­der durch­ge­gan­gen und hat­ten schließ­lich ent­schie­den, daß das Da­men-Schach, das Del­ma­rio nach dem Dop­pe­lop­fer ge­spielt hat­te, falsch war. Es gab meh­re­re an­de­re Mög­lich­kei­ten, in die­ser Stel­lung Schach zu er­klä­ren, al­le ver­lo­ckend, aber nach stun­den­lan­ger Ana­ly­se hat­ten er und E. C. auch die­se ab­ge­tan. Ei­ne je­de Mög­lich­keit bot ei­ne Men­ge Fal­len und Schach­matt-Zü­ge, vor­aus­ge­setzt, Schwarz mach­te einen Feh­ler, aber je­de schi­en zu­gleich in ei­nem kor­rek­ten Spiel ver­sa­gen zu müs­sen, und sie muß­ten an­neh­men, daß Bun­nish kor­rekt spie­len wür­de.

E. C.s Bau­ern­zug war ei­ne viel­ver­spre­chen­de Li­nie. Sub­ti­ler. So­li­der. Er öff­ne­te die Front für die Fi­gu­ren von Weiß und setz­te ei­ne wei­te­re Bar­rie­re zwi­schen den schwar­zen Kö­nig und die Si­cher­heit der Da­men-Sei­te. Plötz­lich war Weiß von über­all her be­droht. Bun­nish hat­te jetzt an ernst­haf­ten Schwie­rig­kei­ten zu kau­en.

Er kau­te nicht an­nä­hernd so lan­ge dar­an, wie Pe­ter er­war­tet hat­te. Nach­dem er die Stel­lung kaum ein paar Mi­nu­ten stu­diert hat­te, nahm er sei­ne Da­me auf und riß den un­ge­schütz­ten Turm­bau­ern der Da­men-Sei­te von Weiß weg. Bun­nish um­schloß den Bau­ern mit sei­ner Hand, gähn­te, sack­te in sei­nen Ses­sel zu­rück und sah trä­ge und ge­las­sen aus.

E. C. er­laub­te sich einen kur­z­en, fins­te­ren Blick, als er die Auf­stel­lung über­blick­te. Pe­ter fühl­te sich eben­falls un­be­hag­lich. Die­ser Zug hät­te Bun­nish mehr ver­wir­ren sol­len, als er es ge­tan hat, dach­te er. Weiß stan­den so vie­le Be­dro­hun­gen zur Ver­fü­gung … Ges­tern nacht hat­ten sie die Mög­lich­kei­ten er­schöp­fend ana­ly­siert, sie hat­ten je­de Va­ri­an­te und Sub­va­ri­an­te ge­spielt und wie­der ge­spielt, bis sie si­cher ge­we­sen wa­ren, daß sie die Matt-Kom­bi­na­ti­on ge­fun­den hat­ten. Pe­ter war mit ei­nem fast frohlo­cken­den Ge­fühl schla­fen ge­gan­gen. Bun­nish hat­te ein Dut­zend mög­li­cher Ab­wehr­stel­lun­gen ge­gen ih­ren Bau­ern­vor­stoß. Sie hat­ten kei­ne Ah­nung, konn­ten nicht wis­sen, wel­che er wäh­len wür­de, des­halb hat­ten sie sich da­mit zu­frie­den ge­ge­ben, daß al­le und je­de ein­zel­ne letzt­end­lich im Fehl­schlag en­de­te.

Nur, daß Bun­nish sie jetzt zum Nar­ren ge­hal­ten hat­te. Er hat­te kei­ne der wahr­schein­li­chen Ab­wehr­mög­lich­kei­ten ge­spielt. Er hat­te E. C.s Matt-Dro­hun­gen ein­fach igno­riert und war so mun­ter wie der schlimms­te Pat­zer auf Bau­ern­fang ge­gan­gen. War ih­nen et­was ent­gan­gen? Wäh­rend E. C. über die bes­te Er­wi­de­rung nach­dach­te, zog sich Pe­ter einen Stuhl an die Brett-Sei­te her­an, da­mit er in Ru­he ana­ly­sie­ren konn­te.

Es gibt nichts, dach­te er, nichts. Bun­nish hat­te im nächs­ten Zug die Mög­lich­keit, Schach zu bie­ten, und da­zu muß­te er sei­ne Da­me in die ach­te Rei­he schie­ben. Aber es war be­deu­tungs­los. E. C. hat­te sei­ne Da­men-Sei­te nicht so ge­schwächt wie Ste­ve ges­tern in sei­ner Ei­le, ein Matt her­bei­zu­füh­ren. Wenn Bun­nish Schach bot, brauch­te Stu­art nur sei­nen Kö­nig zur Da­me vor­zu­zie­hen. Dann wür­de die schwar­ze Da­me von ei­nem Turm an­ge­grif­fen und ge­zwun­gen wer­den, sich zu­rück­zu­zie­hen, oder einen wei­te­ren wert­lo­sen Bau­ern zu schla­gen. In­zwi­schen wür­de Bun­nish in der Mit­te des Bret­tes schach­matt ge­setzt wer­den. Je mehr Pe­ter die Va­ri­an­ten durch­ging, de­sto über­zeug­ter wur­de er, daß es für Bun­nish kei­ne Mög­lich­keit gab, einen sol­chen Ge­gen­an­griff her­aus­zu­ar­bei­ten wie den, mit dem er Ste­ve Del­ma­rio ge­schla­gen hat­te.

E. C. schi­en nach ei­ner lan­gen und vor­sich­ti­gen Ta­xie­rung des Bret­tes zu dem­sel­ben Schluß zu ge­lan­gen. Ge­las­sen streck­te er die Hand aus und setz­te sei­nen Sprin­ger, wo­mit er Bun­nis­hs al­lein ste­hen­den Kö­nig ein für al­le­mal eineng­te. Jetzt droh­te er mit ei­nem Da­men-Schach, das in ei­nem Zug zum Matt füh­ren wür­de. Bun­nish konn­te den be­herr­schen­den Sprin­ger schla­gen, aber in die­sem Fall schlug E.C. ein­fach mit ei­nem Turm zu­rück, und dann war das Schach­matt un­ab­än­der­lich, ganz gleich, wie sehr sich Bun­nish noch am Ha­ken win­den moch­te.

Bun­nish lä­chel­te sei­nem Geg­ner über das Brett hin­weg zu und schob trä­ge sei­ne Da­me ein Qua­drat vor, in die letz­te Rei­he. „Schach“, sag­te er.

E. C. wisch­te sei­nen Schnau­zer zu­rück, zuck­te mit den Schul­tern und zog sei­nen Kö­nig vor. Mit ei­ner be­tont ge­zier­ten Be­we­gung drück­te er die Uhr. „Du bist ver­lo­ren“, sag­te er lei­se.

Pe­ter war ge­neigt zu­zu­stim­men. Die­ses letz­te Schach hat­te nichts ge­bracht; ge­nau­ge­nom­men schi­en es die Zwangs­la­ge von Schwarz noch ver­schlim­mert zu ha­ben. Die Matt-Dro­hun­gen wa­ren noch im­mer vor­han­den, so un­auf­halt­sam wie eh und je, und jetzt wur­de auch noch die schwar­ze Da­me an­ge­grif­fen. Er konn­te sie na­tür­lich zu­rück­zie­hen, aber nicht recht­zei­tig ge­nug, um mit der Ab­wehr Ab­hil­fe zu schaf­fen. Bun­nish hät­te sich wie ein Ra­sen­der auf­füh­ren und sich elend füh­len müs­sen.

Statt des­sen war sein Lä­cheln so breit, daß es sei­ne Wan­gen ent­zwei­zu­rei­ßen droh­te. „Ver­lo­ren?“ sag­te er. „Ah, Stu­art, dies­mal ist dein Scherz ein Bu­me­rang!“ Er ki­cher­te wie ein Tee­na­ger und hol­te sei­ne Da­me die Rei­he her­un­ter, um den wei­ßen Turm weg­zu­schnap­pen. „Schach!“

Pe­ter Nor­ten hat­te seit lan­ger, lan­ger Zeit kein Tur­nier-Schach mehr ge­spielt, aber er er­in­ner­te sich noch dar­an, wie man sich fühl­te, wenn ein Geg­ner plötz­lich einen un­er­war­te­ten Zug ge­macht hat­te, der das ge­sam­te Ant­litz ei­nes Spie­les ver­än­der­te: die kur­ze, an­fäng­li­che Ver­wir­rung, die­ses Was-soll-das?-Ge­fühl, dem die Pa­nik folg­te, wenn man die Stär­ke des nicht ge­ahn­ten Zu­ges be­griff, und dann die schreck­li­che, zu­neh­men­de Düs­ter­nis, die wuchs und wuchs, wäh­rend man in sei­nem Schä­del ei­ne ver­lie­ren­de Va­ri­an­te nach der an­de­ren durch­dach­te. Es gab kei­nen schlim­me­ren Au­gen­blick im Schach­spiel.

So fühl­te sich Pe­ter jetzt.

Sie hat­ten es to­tal über­se­hen. Bun­nish gab sei­ne Da­me für einen Turm auf, nor­ma­ler­wei­se ein un­vor­stell­ba­res Op­fer, aber nicht in die­ser Stel­lung. E. C. muß­te die an­ge­bo­te­ne Da­me neh­men. Aber wenn er sie mit sei­nem Kö­nig schlug, sah Pe­ter mit ei­ner ab­rup­ten schreck­li­chen Klar­heit, dann hat­te Schwarz ei­ne Kom­bi­na­ti­on, die zwar die Schlacht ge­wann, den Krieg je­doch ver­lor – ei­ne Kom­bi­na­ti­on, die dar­auf hin­aus­lief, daß er den an­de­ren Turm ein­set­zen und ihn von sei­ner le­bens­wich­ti­gen De­ckung des Sprin­gers in der Spiel­mit­te ab­zie­hen muß­te … und dann … Oh, Schei­ße!

E. C. ver­such­te mehr als fünf­zehn Mi­nu­ten lang ei­ne an­de­re Al­ter­na­ti­ve zu fin­den, aber es war kei­ne Al­ter­na­ti­ve zu fin­den. Er spiel­te Turm schlägt Da­me. Bun­nish er­griff rasch sei­nen ei­ge­nen Turm und schlug den Sprin­ger, der sich noch vor zwei Zü­gen so be­droh­lich in Po­si­ti­on ge­stellt hat­te. Mit un­barm­her­zi­ger Prä­zi­si­on er­zwang Bun­nish dann die Auf­ga­be ei­ner Fi­gur nach der an­de­ren, ver­ein­fach­te es, in­dem er je­de Ge­fahr vom Brett weg­wisch­te. Un­ver­mit­telt wa­ren sie im ent­schei­den­den Fi­na­le. E. C. hat­te ei­ne Da­me und fünf Bau­ern; Bun­nish hat­te einen Turm, zwei Läu­fer, einen Sprin­ger und vier Bau­ern, und iro­ni­scher­wei­se nahm sein einst ge­fähr­de­ter Kö­nig jetzt ei­ne mäch­ti­ge Stel­lung in der Mit­te des Bret­tes ein.

Stun­den­lang ging das Spiel wei­ter, da E. C. mit sei­ner ag­gres­si­ven Da­me ent­schlos­sen ein Schach nach dem an­de­ren er­klär­te, dar­um kämpf­te, je­de un­ge­deck­te Fi­gur zu er­le­di­gen oder we­nigs­tens ei­ne Wie­der­ho­lung zu er­zwin­gen. Aber Bun­nish war für der­ar­ti­ge ver­zwei­fel­te Tak­ti­ken zu ge­schickt. Es war nur ei­ne Sa­che der Tech­nik.

Schließ­lich kipp­te E. C. sei­nen Kö­nig um.

„Und ich ha­be ge­dacht, wir hät­ten uns je­de mög­li­che Ver­tei­di­gung an­ge­se­hen“, sag­te Pe­ter wie be­täubt.

„Tja, Ka­pi­tän“, sag­te Bun­nish fröh­lich. „Je­der Ver­such zu ver­tei­di­gen führt zum Ver­lie­ren. Die Ver­tei­di­gungs­fi­gu­ren schnei­den Flucht­we­ge ab oder ge­ra­ten in den Weg. Warum soll­te ich hel­fen, mich selbst matt­zu­set­zen? Das wür­de ich lie­ber dir über­las­sen.“

„Ich wer­de dich matt­set­zen“, ver­sprach Pe­ter är­ger­lich. „Mor­gen.“

Bun­nish rieb sei­ne Hän­de an­ein­an­der. „Ich kann es kaum er­war­ten!“

 

In die­ser Nacht wur­de der Kriegs­rat in E. C.s Sui­te ab­ge­hal­ten, denn Ka­thy – die ih­re ver­drieß­li­che Nach­richt mit ei­nem „Ich hab’s euch doch ge­sagt“ und ei­nem ver­ächt­li­chen Lä­cheln quit­tiert hat­te – hat­te er­klärt, sie wer­de es nicht zu­las­sen, daß sie in ih­rer Ge­gen­wart die hal­be Nacht über ein Schach­brett ge­beugt ver­brach­ten. Sie sag­te Pe­ter, er füh­re sich wie ein Kind auf, und sie wech­sel­ten ei­ni­ge är­ger­li­che Wor­te, be­vor er hin­aus­stürm­te.

Ste­ve Del­ma­rio ging das ver­lo­re­ne Spiel des Mor­gens mit E. C. durch, als Pe­ter sich zu ih­nen ge­sell­te. Del­ma­ri­os Au­gen sa­hen schreck­lich blut­un­ter­lau­fen aus, aber an­sons­ten wirk­te er nüch­tern, wenn nicht aus­ge­zehrt. Er trank Kaf­fee.

„Wie sieht es aus?“ frag­te Pe­ter, als er einen Sitz her­an­zog.

„Schlecht“, ver­setz­te E. C.

Del­ma­rio nick­te. „Teu­fel, schlech­ter als schlecht, es fängt an, so aus­zu­se­hen, als sei die­ses ver­damm­te Op­fer am En­de doch falsch. Ich kann es nicht glau­ben, ich kann es ein­fach nicht, es sieht al­les so viel­ver­spre­chend aus, es muß ei­ne Mög­lich­keit ge­ben. Es muß. Aber ich will ver­dammt sein, wenn ich sie fin­de.“

E.C. füg­te hin­zu: „Die Über­ra­schung, die er heu­te her­vor­zau­ber­te, ist ei­ne Be­dro­hung in ei­ner Viel­zahl von Va­ri­an­ten. Ver­giß nicht, wir ha­ben zwei Fi­gu­ren auf­ge­ge­ben, um auf die­se Po­si­ti­on zu kom­men. Un­glück­li­cher­wei­se heißt das, daß es sich Bru­cie leicht leis­ten kann, et­was von die­sem Ma­te­ri­al zu­rück­zu­ge­ben, um aus der Klem­me her­aus­zu­kom­men. Er kommt im­mer noch mit ei­nem Vor­teil her­aus und ge­winnt das Fi­na­le. Wir ha­ben heu­te mor­gen mit mei­nem Spiel ein paar Ver­bes­se­run­gen ge­fun­den …“

„Die­ser Sprin­ger braucht nicht zu fal­len“, warf Del­ma­rio ein.

„… aber kei­ne über­zeu­gen­den“, schloß E. C.

„Habt ihr schon ein­mal dar­an ge­dacht“, sag­te Del­ma­rio, „daß Fun­ny Bun­ny viel­leicht recht ge­habt ha­ben könn­te? Daß das Op­fer wirk­lich nicht funk­tio­niert, daß das Spiel viel­leicht zu die­sem Zeit­punkt über­haupt nie­mals ge­won­nen war?“ Sei­ne Stim­me hat­te einen Klang fins­te­ren Un­glau­bens in sich.

„Ir­gend­ein Zug ist falsch“, sag­te Pe­ter.

„Oh?“

„Vor zehn Jah­ren, nach­dem Bun­nish das Fi­na­le und das Spiel ge­schmis­sen hat­te, hat Ro­bin­son Ves­se­le­re zu­ge­ge­ben, daß er schon ver­lo­ren ge­we­sen war.“

E. C. schau­te nach­denk­lich drein. „Das stimmt. Das hat­te ich ver­ges­sen.“

„Ves­se­le­re war fast ein Groß­meis­ter. Er muß­te wis­sen, wo­von er re­de­te. Es gibt den Sieg. Ich ha­be vor, ihn zu fin­den.“

Del­ma­rio schlug sei­ne Hän­de zu­sam­men, und brüll­te freu­dig: „Ver­dammt, ja, Pe­te, du hast recht! Al­so los!“

 

„End­lich kehrt der ver­lo­re­ne Gat­te zu­rück“, sag­te Ka­thy spitz, als Pe­ter her­ein­kam. „Hast du ei­ne Ah­nung, wie spät es ist?“

Sie saß in ei­nem Ses­sel ne­ben dem Ka­min, ob­gleich das Feu­er zu Asche und Glut her­un­ter­ge­brannt war. Sie trug ein dunkles Kleid, und das En­de der Zi­ga­ret­te, die sie rauch­te, war ein hel­ler Punkt in der Dun­kel­heit. Pe­ter war lä­chelnd her­ein­ge­kom­men, aber jetzt run­zel­te er die Stirn. Ka­thy war ei­ne star­ke Rau­che­rin ge­we­sen, doch vor zwei Jah­ren hat­te sie es auf­ge­ge­ben. Jetzt zün­de­te sie sich ei­ne Zi­ga­ret­te nur dann an, wenn sie sehr zor­nig war. Wenn sie sich ei­ne an­zün­de­te, dann hieß das für ge­wöhn­lich, daß sie auf bes­tem Weg zu ei­nem hef­ti­gen Streit wa­ren.

„Es ist spät“, sag­te Pe­ter. „Ich weiß nicht, wie spät. Was spielt es für ei­ne Rol­le?“ Er hat­te den größ­ten Teil der Nacht mit E. C. und Ste­ve ver­bracht, aber das war es wert ge­we­sen. Sie hat­ten ge­fun­den, wo­nach sie ge­sucht hat­ten. Pe­ter war sehr mü­de, je­doch in ge­ho­be­ner Stim­mung zu­rück­ge­kehrt, in der Er­war­tung, sei­ne Frau schla­fend vor­zu­fin­den. Er war nicht in der Stim­mung für Är­ger. „Mach dir nichts aus der Zeit“, sag­te er zu ihr und ver­such­te, sie zu be­schwich­ti­gen. „Wir ha­ben es, Kath.“

Sie drück­te ih­re Zi­ga­ret­te me­tho­disch aus. „Ihr habt – was? Einen neu­en Zug, von dem ihr glaubt, er wird un­se­ren psy­cho­pa­thi­schen Gast­ge­ber schla­gen? Ver­steht ihr denn nicht, daß mich die­ses eu­er dum­mes Spiel einen Dreck in­ter­es­siert? Hörst du auf gar nichts, was ich sa­ge? Ich ha­be die hal­be Nacht hier wach ge­ses­sen und ge­war­tet, Pe­ter. Es ist fast drei Uhr mor­gens. Ich möch­te mit dir re­den.“

„Ja?“ fauch­te Pe­ter. Ihr Ton­fall hat­te ihm das Rück­grat ge­stärkt. „Hast du je dar­an ge­dacht, daß ich viel­leicht nicht zu­hö­ren will? Nun, dann denk ein­mal dar­an. Ich ha­be mor­gen ein großes Spiel. Ich brau­che mei­nen Schlaf. Ich kann es mir nicht leis­ten, bis zum Ta­ges­an­bruch auf­zu­blei­ben und dich an­zu­schrei­en. Ver­stan­den? Warum, zum Teu­fel, bist du über­haupt so scharf dar­auf, mit mir zu re­den? Was könn­test du denn mög­li­cher­wei­se auf dem Her­zen ha­ben, das es wert ist, wach zu blei­ben – und das ich nicht schon zu hö­ren be­kom­men ha­be, eh?“

Ka­thy lach­te ge­häs­sig. „Ich könn­te dir ein paar Din­ge über dei­nen al­ten Freund Bun­nish sa­gen, die du bis­her noch nicht ge­wußt hast.“

„Das be­zweifle ich.“

„So? Nun, hast du ge­wußt, daß er wäh­rend der letz­ten bei­den Ta­ge ver­sucht hat, mich in sein Bett zu be­kom­men?“

Sie sag­te es höh­nisch, schleu­der­te es ihm ent­ge­gen. Pe­ter fühl­te sich, als wä­re er ge­schla­gen wor­den. „Was?“

„Setz dich“, stieß sie her­vor, „und hör mir zu.“

Be­täubt tat er, worum sie ge­be­ten hat­te. „Und … hast du …?“ frag­te er, wo­bei er ih­re Sil­hou­et­te in der Dun­kel­heit an­starr­te, die va­ge, omi­nöse Ge­stalt, die sei­ne Frau war.

Ha­be ich – was? Mit ihm ge­schla­fen, meinst du das? Mein Gott, Pe­ter, wie kannst du das fra­gen? Ver­ach­test du mich so sehr? Eher wür­de ich mit ei­ner Kü­chen­scha­be schla­fen. Dar­an er­in­nert er mich oh­ne­hin.“ Sie ließ ein kläg­li­ches Ki­chern hö­ren. „Er ist auch nicht ge­ra­de ein raf­fi­nier­ter Ver­füh­rer. Er hat mir doch tat­säch­lich Geld an­ge­bo­ten.“

„Warum er­zählst du mir das?“

„Um ein biß­chen gott­ver­damm­te Ver­nunft in dich hin­ein­zu­prü­geln! Kannst du denn nicht se­hen, daß Bun­nish ver­sucht, dich zu ver­nich­ten, euch al­le, auf je­de ihm nur mög­li­che Art und Wei­se? Er woll­te nicht mich. Er woll­te nur an dich her­an­kom­men. Und du, du und dei­ne idio­ti­schen Team­ka­me­ra­den, ihr spielt ihm di­rekt in die Hän­de. Ihr wer­det so be­ses­sen von die­sem idio­ti­schen Schach­spiel, wie er es ist.“ Sie lehn­te sich vor. Un­deut­lich konn­te Pe­ter die Li­ni­en ih­res Ge­sichts er­ken­nen. „Pe­ter“, sag­te sie fast fle­hent­lich, „spiel nicht ge­gen ihn. Er wird dich schla­gen, Schatz, ge­nau wie er die an­de­ren ge­schla­gen hat.“

„Das glau­be ich nicht, Schat­ze, stieß Pe­ter zwi­schen zu­sam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen her­vor. Das Ko­se­wort wur­de zum At­tri­but, als er es zu ihr zu­rück­schleu­der­te. „Warum, zum Teu­fel, bist du im­mer so be­reit, für mich die Nie­der­la­ge vor­her­zu­sa­gen, he? Kannst du nie­mals ei­ne Un­ter­stüt­zung sein, nicht ein­mal für ei­ne gott­ver­damm­te Mi­nu­te? Wenn du mir nicht hel­fen willst, warum machst du dann nicht ein­fach ei­ne Flie­ge? Ich ken­ne schon al­les, was ich von dir er­tra­gen muß, ver­dammt. Im­mer setzt du mich her­un­ter, spot­test. Ich weiß ver­dammt noch mal nicht, wes­halb du mit mir ver­hei­ra­tet bist, wenn du mir nur mein Le­ben zur Höl­le ma­chen woll­test. Laß mich end­lich in Ru­he!“

Nach Pe­ters Aus­bruch herrsch­te für einen lan­gen Au­gen­blick Stil­le. Wie sie da in dem ver­dun­kel­ten Zim­mer saß, konn­te er ih­ren Zorn bei­na­he wach­sen hö­ren – je­den Au­gen­blick er­war­te­te er zu hö­ren, wie sie zu schrei­en be­gann. Dann wür­de er zu­rück­schrei­en, und sie wür­de auf­ste­hen und ir­gend et­was ka­putt­ma­chen, und er wür­de sie pa­cken, und dann wür­den die gan­zen Ag­gres­sio­nen ernst­haft durch­bre­chen. Er schloß die Au­gen, zit­ter­te, fühl­te sich, als müs­se er je­den Au­gen­blick wei­nen. Ich will nicht heu­len, dach­te er. Wirk­lich nicht.

Aber Ka­thy über­rasch­te ihn. Als sie sprach, war ih­re Stim­me ver­blüf­fend sanft. „Oh, Pe­ter“, sag­te sie. „Ich woll­te dir nie weh tun. Bit­te. Ich lie­be dich.“

Er war be­täubt. „Du liebst mich?“ sag­te er ver­wun­dert.

„Bit­te, hör zu. Wenn es noch ir­gend et­was zwi­schen uns gibt, dann hör mir bit­te nur ein paar Mi­nu­ten zu. Bit­te.“

„In Ord­nung“, sag­te er.

„Pe­ter, ich ha­be ein­mal an dich ge­glaubt. Be­stimmt wirst du dich dar­an er­in­nern, wie gut die Din­ge am An­fang stan­den? Da­mals war ich doch ei­ne Un­ter­stüt­zung, oder? Die ers­ten paar Jah­re, als du dei­nen Ro­man ge­schrie­ben hast? Ich ha­be ge­ar­bei­tet, ha­be das Es­sen auf den Tisch ge­bracht, ich ha­be dir al­le Zeit zum Schrei­ben ge­las­sen.“

„Oh, ja“, sag­te er, und die Wut schlich sich in sei­nen Ton­fall zu­rück. Das hat­te ihm Ka­thy schon ein­mal vor­ge­wor­fen, mit Ge­walt hat­te sie ihn dar­an er­in­nert, wie sie ihn zwei Jah­re lang er­nährt hat­te, wäh­rend er ein Buch ge­schrie­ben hat­te, das sich ge­ra­de noch für ei­ne Alt­pa­pier­samm­lung als ge­eig­net er­wie­sen ha­be. „Er­spa­re mir dei­ne Vor­wür­fe, okay? Es lag nicht an mir, daß ich das Buch nicht ha­be ver­kau­fen kön­nen. Du hast ge­hört, was Bun­nish ge­sagt hat.“

„Ich ha­be dir kei­ne Vor­wür­fe ge­macht, ver­dammt!“ fauch­te sie. „Warum bist du im­mer so be­reit, in je­des Wort, das ich sa­ge, Kri­tik hin­ein­zu­deu­teln?“ Sie schüt­tel­te den Kopf und be­kam ih­re Stim­me wie­der un­ter Kon­trol­le. „Bit­te, Pe­ter, mach es doch nicht schwe­rer als es ist. Wir ha­ben so vie­le Jah­re des Schmer­zes zu über­win­den, so vie­le Wun­den zu ver­bin­den. Hör mich nur zu En­de an.

Ich ha­be ver­sucht, dir zu sa­gen, daß ich wirk­lich an dich ge­glaubt ha­be. Selbst nach die­sem Buch, nach­dem du es ver­brannt hast … selbst dann noch. Aber du hast es mir schwer­ge­macht. Ich ha­be nicht ge­dacht, daß du ein Ver­sa­ger bist, aber du, und das hat dich ver­än­dert, Pe­ter. Du hast es an dich her­an­kom­men las­sen. Du hast das Schrei­ben auf­ge­ge­ben, statt ein­fach die Zäh­ne zu­sam­men­zu­bei­ßen und ein an­de­res Buch zu schrei­ben.“

„Ich war nicht zäh ge­nug, ich weiß“, sag­te er. „Der Ver­lie­rer. Der Schwäch­ling.“

„Halt den Mund! „sag­te sie er­bit­tert. „Das ha­be nicht ich ge­sagt, son­dern du. Dann hast du mit dem Jour­na­lis­mus an­ge­fan­gen. Ich ha­be im­mer noch an dich ge­glaubt. Aber al­les ging wei­ter­hin schief. Du bist hin­aus­ge­wor­fen wor­den, du bist ver­klagt wor­den, du bist in Un­gna­de ge­fal­len. Un­se­re Freun­de ha­ben da­mit an­ge­fan­gen, sich von uns zu di­stan­zie­ren. Und die gan­ze Zeit über hast du dar­auf be­harrt, daß nichts da­von auf Feh­ler von dir be­ru­he. Du hast den letz­ten Rest dei­nes Selbst­ver­trau­ens ver­lo­ren. Du hast, bit­ter und un­auf­hör­lich, über dein Pech ge­jam­mert.“

„Du hast mir nie ge­hol­fen.“

„Viel­leicht nicht“, gab Ka­thy zu. „Ich ha­be es ver­sucht, am An­fang, aber es wur­de nur im­mer schlim­mer, und ich konn­te nicht da­mit fer­tig wer­den. Du warst nicht mehr der Träu­mer, den ich ge­hei­ra­tet hat­te. Es war schwer, dar­an zu­rück­zu­den­ken, wie ich dich be­wun­dert ha­be, wie ich dich re­spek­tiert ha­be. Pe­ter, du hast dich selbst so sehr ver­ach­tet, daß es un­mög­lich war zu ver­hin­dern, daß die­se Ver­ach­tung auf mich ab­ge­färbt hat.“

„So?“ sag­te Pe­ter. „Was soll das, Ka­thy?“

„Ich ha­be dich nie ver­las­sen, Pe­ter“, sag­te sie. „Ich hät­te es tun kön­nen, das weißt du. Ich woll­te es auch tun. Ich bin ge­blie­ben, die gan­ze Zeit, trotz all der Fehl­schlä­ge und all dem Selbst­mit­leid. Sagt dir das gar nichts?“

„Das sagt mir, daß du ei­ne Ma­so­chis­tin bist“, platz­te er her­aus. „Oder viel­leicht ei­ne Sa­dis­tin.“

Das war zu­viel für sie. Sie setz­te zu ei­ner Ant­wort an, aber ih­re Stim­me brach, und sie be­gann zu wei­nen. Pe­ter blieb sit­zen, wo er saß, und hör­te ih­ren Schluch­zern zu. Schließ­lich ver­sieg­ten die Trä­nen, und sie sag­te ru­hig: „Ver­flucht. Ver­flucht. Ich has­se dich.“

„Ich dach­te, du liebst mich. Ent­schei­de dich.“

„Du Arsch. Du emp­fin­dungs­lo­ser Idi­ot. Be­greifst du denn nicht, Pe­ter?“

Was soll ich denn be­grei­fen?“ sag­te er un­ge­dul­dig. „Du hast ge­sagt, hör zu, al­so ha­be ich zu­ge­hört, und al­les, was du ge­macht hast, war, all die­ses al­te Zeug wie­der auf­zu­wär­men, all mei­ne Män­gel auf­zu­zäh­len. Ich ha­be das al­les schon frü­her ge­hört.“

„Pe­ter, siehst du denn nicht, daß die­se Wo­che al­les ver­än­dert hat? Wenn du nur auf­hö­ren wür­dest zu has­sen, auf­hö­ren wür­dest, mich und dich selbst zu ver­ach­ten, dann könn­test du es viel­leicht se­hen. Wir ha­ben wie­der ei­ne Chan­ce, Pe­ter. Wenn wir es ver­su­chen. Bit­te.“

„Ich se­he nicht, daß sich ir­gend et­was ge­än­dert hat. Ich wer­de mor­gen ein großes Schach­spiel spie­len, und du weißt, wie­viel es für mich und mei­ne Selbst­ach­tung be­deu­tet, und es ist dir gleich­gül­tig. Es ist dir egal, ob ich ge­win­ne oder ver­lie­re. Du sagst mir im­mer wie­der, daß ich ver­lie­ren wer­de. Du hilfst mir zu ver­lie­ren, weil du mich mit dir strei­ten läßt, ob­wohl ich schla­fen soll­te. Was, zum Teu­fel, hat sich ge­än­dert? Du bist und bleibst die glei­che ver­damm­te Stän­ke­rin, als die du dich seit Jah­ren prä­sen­tierst.“

„Ich wer­de dir sa­gen, was sich ver­än­dert hat“, er­wi­der­te sie. „Pe­ter, bis vor ein paar Ta­gen ha­ben wir bei­de ge­dacht, du wärst ein Ver­sa­ger. Aber das bist du nicht. Es war nicht dei­ne Schuld. Nichts von all­dem. Kein Pech, wie du im­mer wie­der ge­sagt hast, und auch kei­ne per­sön­li­che Un­zu­läng­lich­keit, wie du in Wirk­lich­keit ge­dacht hast. Bun­nish hat das al­les ge­macht. Ka­pierst du denn nicht, was das für einen Un­ter­schied macht? Du hast nie ei­ne Chan­ce ge­habt, Pe­ter, aber jetzt hast du ei­ne. Es gibt kei­nen Grund, wes­halb du nicht an dich glau­ben soll­test. Wir wis­sen, daß du et­was Großes schaf­fen kannst! Bun­nish hat es zu­ge­ge­ben. Wir kön­nen von hier weg­fah­ren, du und ich, und ganz von vorn an­fan­gen. Du könn­test ein neu­es Buch schrei­ben, Stücke schrei­ben, all das tun, was du tun möch­test. Du hast das Ta­lent. Es hat dir nie ge­fehlt. Wir kön­nen wie­der träu­men, wie­der glau­ben, ein­an­der wie­der lie­ben. Ver­stehst du nicht? Bun­nish hat prah­len müs­sen, um sei­ne Ra­che zu vollen­den, aber durch sei­ne Prah­le­rei hat der dich be­freit!“

Pe­ter saß sehr still in dem dunklen Zim­mer, sei­ne Hand schloß sich um die Arm­leh­ne des Ses­sels und öff­ne­te sich wie­der, wäh­rend Ka­thys Wor­te ein­si­cker­ten. Er war so von dem Schach­spiel ein­ge­nom­men, so be­ses­sen von Bun­nis­hs Be­ses­sen­heit ge­we­sen, daß er das nie ge­se­hen, nie er­wo­gen hat­te. Das war nicht ich, dach­te er ver­wun­dert. All die­se Jah­re war das nicht ich. „Es ist wahr“, sag­te er mit schwa­cher Stim­me.

„Pe­ter?“ frag­te sie be­sorgt.

Er hör­te die Be­sorg­nis, hör­te mehr als das, er hör­te Lie­be in ih­rer Stim­me. So vie­le Leu­te, dach­te er, ma­chen so große Ver­spre­chun­gen, ver­spre­chen Bes­se­res oder Schlim­me­res, ver­spre­chen mehr oder we­ni­ger Reich­tum und stei­gen aus, so­bald sich die Din­ge in ir­gend­ei­ner Be­zie­hung auch nur das ge­rings­te biß­chen üb­ler als vor­her­ge­se­hen her­aus­stel­len. Aber sie war ge­blie­ben, die gan­ze Zeit, wäh­rend all die­ser Fehl­schlä­ge, der Schan­de, der grau­sa­men Wor­te und der gif­ti­gen Ge­dan­ken, der wö­chent­li­chen Kämp­fe, der Ar­mut. Sie war ge­blie­ben.

„Ka­thy“, sag­te er. Die nächs­ten Wor­te wa­ren sehr schwer. „Ich lie­be dich auch.“ Er stand auf und ging zu ihr hin­über und be­gann zu wei­nen.

 

Sie ka­men am nächs­ten Mor­gen zu spät her­un­ter. Sie dusch­ten zu­sam­men, und Pe­ter zog sich mit un­ge­wöhn­li­cher Sorg­falt an. Aus ir­gend­ei­nem Grund fühl­te er, daß es wich­tig war, sich so gut wie mög­lich an­zu­zie­hen. Schließ­lich war es ein neu­er An­fang. Ka­thy kam mit ihm. Sie be­tra­ten händ­chen­hal­tend das Wohn­zim­mer. Bun­nish saß be­reits am Brett, und Pe­ters Uhr tick­te. Die an­de­ren wa­ren auch da. E. C. saß un­ge­dul­dig in ei­nem Ses­sel. Del­ma­rio ging auf und ab. „Be­eil dich“, sag­te er, als Pe­ter die Trep­pe her­un­ter­kam. „Du hast schon fünf Mi­nu­ten ver­lo­ren.“

Pe­ter lä­chel­te. „Ru­hig, Ste­ve“, sag­te er. Er ging hin­über und nahm vor den wei­ßen Fi­gu­ren Platz. Ka­thy stand hin­ter ihm. Sie sieht heu­te mor­gen groß­ar­tig aus, dach­te Pe­ter.

„Du bist am Zug, Ka­pi­tän“, sag­te Bun­nish mit ei­nem un­an­ge­neh­men Lä­cheln.

„Ich weiß“, er­wi­der­te Pe­ter. Er be­müh­te sich nicht, sich zu be­we­gen, schau­te über­haupt das Brett kaum an. „Bru­ce, warum haßt du mich? Ich ha­be dar­über nach­ge­dacht, und ich wüß­te gern die Ant­wort. Bei Ste­ve und E. C. kann ich es ver­ste­hen. Ste­ve hat­te die Un­ver­schämt­heit zu ge­win­nen, als du ver­lo­ren hast, und er hat hin­ter­her dei­ne Na­se in die­ser Nie­der­la­ge ge­rie­ben. E. C. hat dich zur Ziel­schei­be sei­ner Spa­ße ge­macht. Aber warum ich? Was ha­be ich dir je an­ge­tan?“

Bun­nish sah kurz ver­wirrt aus. Dann wur­de sein Ge­sicht hart. „Du? Du warst der schlimms­te von ih­nen al­len.“

Pe­ter war ver­blüfft. „Ich ha­be nie …“

„Der große Ka­pi­tän“, sag­te Bun­nish sar­kas­tisch. „An die­sem Tag vor zehn Jah­ren hast du es kein ein­zi­ges Mal ver­sucht. Du hast ein schnel­les Groß­meis­ter-Zie­hen mit dei­nem al­ten Freund Hai Winslow hin­ge­legt. Du hät­test nach dem Sieg stre­ben kön­nen, hät­test wei­ter­spie­len kön­nen, aber du hast es nicht ge­tan. Oh nein. Du hast dich nie dar­um ge­küm­mert, wie­viel Druck du uns al­len auf­er­legt hast. Und als wir ver­lo­ren ha­ben, da hast du nichts von der Ver­ant­wor­tung über­nom­men, kein Stück da­von, ob­wohl du einen hal­b­en Punkt ver­ge­ben hast. Al­les war mein Feh­ler. Und da­mit noch im­mer nicht ge­nug. Warum war ich am ers­ten Brett, Nor­ten? Wir al­le in der B-Mann­schaft hat­ten an­nä­hernd die glei­che Ein­stu­fung. Wie bin ich zu der Eh­re ge­kom­men, an Brett eins zu spie­len?“

Pe­ter dach­te ei­ni­ge Au­gen­bli­cke lang nach, ver­such­te, sich an die Stra­te­gi­en zu er­in­nern, die ihn vor zehn Jah­ren mo­ti­viert hat­ten. Schließ­lich nick­te er. „Du hast die großen Spie­le im­mer ver­lo­ren, Bru­ce. Es hat­te sei­nen Sinn, dich an Brett eins zu set­zen, wo du mit den großen Ka­no­nen der an­de­ren Mann­schaf­ten kon­fron­tiert warst, mit den­je­ni­gen, die wahr­schein­lich je­den ge­schla­gen hät­ten, den wir dort ein­ge­setzt hät­ten. Des­halb wa­ren die rangnie­de­ren Bret­ter mit ver­läß­li­che­ren Spie­lern be­setzt, mit den­je­ni­gen, auf die wir zäh­len konn­ten, wenn es dar­auf an­kam.“

„Mit an­de­ren Wor­ten“, sag­te Bun­nish, „ich war von vorn­her­ein ab­ge­schrie­ben. Du hast er­war­tet, daß ich ver­lie­re, wäh­rend ihr die Spie­le auf den an­de­ren Bret­tern ge­winnt.“

„Ja“, gab Pe­ter zu. „Es tut mir leid.“

„Leid“, spot­te­te Bun­nish. „Du hast mich ver­lie­ren las­sen, hast da­mit ge­rech­net, daß ich ver­lie­re, und mich dann da­für ge­quält, daß ich ver­lo­ren ha­be, und jetzt tut es dir leid. Du hast an die­sem Tag nicht Schach ge­spielt. Du hast nie Schach ge­spielt. Du hast ein grö­ße­res Spiel ge­spielt, ein Spiel, das Jah­re ge­dau­ert hat, ein Spiel zwi­schen dir und Winslow von der UvC. Und die Mann­schafts­mit­glie­der wa­ren eu­re Fi­gu­ren und eu­re Bau­ern. Ich, ich war ein Op­fer. Ein Gam­bit. Das war al­les. Und es hat oh­ne­hin nicht ge­klappt. Winslow hat dich ge­schla­gen. Du hast ver­lo­ren.“

„Du hast recht“, gab Pe­ter zu. „Ich ha­be ver­lo­ren. Ich glau­be, jetzt ver­ste­he ich, wes­halb du all die Din­ge ge­tan hast, von de­nen du uns er­zählt hast.“

„Du wirst jetzt wie­der ver­lie­ren“, sag­te Bun­nish. „Zieh, be­vor dei­ne Uhr ab­läuft.“ Er nick­te auf das ka­rier­te Öd­land hin­un­ter, das zwi­schen ih­nen lag, das kom­pli­zier­te Ge­wirr von schwar­zen und wei­ßen Fi­gu­ren.

Pe­ter blick­te vol­ler Des­in­ter­es­se auf das Brett. „Wir ha­ben es ges­tern nacht bis drei Uhr mor­gens ana­ly­siert, wir drei. Ich hat­te ei­ne neue Va­ri­an­te, ganz per­fekt. Ein ein­zel­nes Op­fer statt des Dop­pe­lop­fers. Ich ha­be Sprin­ger schlägt Bau­ern ge­spielt, aber auf das Läu­fer-Op­fer ver­zich­tet und statt des­sen mei­ne Da­me her­über­ge­zo­gen. Das war der Grund­ge­dan­ke. Er hat ziem­lich gut aus­ge­se­hen. Aber er ist falsch, nicht wahr?“

Bun­nish starr­te ihn an. „Spiel es, und wir wer­den es her­aus­fin­den!“

„Nein“, sag­te Pe­ter. „Ich will nicht spie­len.“

„Pe­te! „sag­te Del­ma­rio be­stürzt. „Du mußt! Was sagst du da? Schlag die­sen ver­damm­ten Ba­stard!“

Pe­ter sah ihn an. „Es nützt nichts, Ste­ve.“

Stil­le ent­stand. Schließ­lich sag­te Bun­nish: „Du bist ein Feig­ling, Nor­ten. Ein Feig­ling und ein Ver­sa­ger und ein Schwäch­ling. Spiel das Spiel durch.“

„Ich bin an dem Spiel nicht in­ter­es­siert, Bru­ce. Sag’s mir nur. Die Va­ri­an­te ist aus­sichts­los.“

Bun­nish stieß einen an­ge­wi­der­ten Laut aus. „Ja, ja“, platz­te er her­aus. „Sie ist aus­sichts­los. Es gibt ein Ge­gen­op­fer, ich ge­be einen Turm auf, um dei­ne Matt-Dro­hun­gen zu bre­chen, aber ein paar Zü­ge spä­ter ge­win­ne ich ein paar Fi­gu­ren zu­rück.“

„Al­le Va­ri­an­ten sind aus­sichts­los, nicht wahr?“

Bun­nish lä­chel­te dünn.

„Weiß hat über­haupt kein ge­won­ne­nes Spiel“, sag­te Pe­ter. „Wir hat­ten al­le un­recht, die gan­ze Zeit. Du hast den Sieg nie ka­putt­ge­macht. Du hat­test nie einen Sieg in der Ta­sche. Nur ei­ne Po­si­ti­on, die ober­fläch­lich gut aus­sah, aber nir­gends hin­führ­te.“

„End­lich Weis­heit“, sag­te Bun­nish. „Ich ha­be von Com­pu­tern je­de mög­li­che Va­ri­an­te aus­dru­cken las­sen. Sie brauch­ten ewig, aber ich hat­te Zeit, mehr als ein Le­ben Zeit. Wenn ich zu­rück­ge­blen­det ha­be – ihr macht euch kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie oft ich zu­rück­ge­blen­det ha­be, um ei­ne neue Idee nach der an­de­ren aus­zu­pro­bie­ren –, dann war dies ei­ne im­mer mein Ziel­punkt, die­ser Tag in Evan­ston, das Spiel mit Ves­se­le­re. Ich ha­be je­den Zug pro­biert, der in die­ser Stel­lung zu pro­bie­ren ist, je­de auch noch so ver­rück­te Idee. Es macht kei­nen Un­ter­schied. Ves­se­le­re schlägt mich im­mer. Al­le Va­ri­an­ten sind aus­sichts­los.“

„Aber“, pro­tes­tier­te Del­ma­rio, der ver­wirrt aus­sah, „Ves­se­le­re hat ge­sagt, er sei ver­lo­ren. Er hat es ge­sagt!“

Bun­nish sah ihn vol­ler Ver­ach­tung an. „Ich ha­be ihn in ei­nem Spiel, das er leicht hät­te ge­win­nen sol­len, ei­ne Men­ge schwit­zen las­sen. Er hat­te ein­fach nach­ge­las­sen. Er war ein nach­tra­gen­der Mensch, und er wuß­te, daß er, in­dem er dies sag­te, den Ver­lust um so schmerz­li­cher ma­chen wür­de.“ Er grins­te af­fek­tiert. „Ich ha­be mich auch um ihn ge­küm­mert, wißt ihr.“

E. C. Stu­art er­hob sich aus sei­nem Ses­sel und strich sei­ne Ja­cke glatt. „Wenn wir da­mit fer­tig sind, Bru­cie, dann bist du jetzt viel­leicht so freund­lich, uns aus Bun­nis­h­land hin­aus­zu­las­sen?“

Du kannst ge­hen“, sag­te Bun­nish. „Und die­ser Säu­fer auch. Aber Pe­ter nicht.“ Er zeig­te sei­ne Grüb­chen. „Tja, Pe­ter hat fast ge­won­nen – in ge­wis­sem Sin­ne. Al­so wer­de ich groß­zü­gig sein. Weißt du, was ich für dich tun wer­de, Ka­pi­tän? Ich wer­de dich mein Rück­blend­ge­rät be­nut­zen las­sen.“

„Nein, dan­ke“, sag­te Pe­ter.

Bun­nish starr­te ihn fla­ckernd an. „Was meinst du da­mit – nein? Be­greifst du nicht, was ich dir ge­be? Du kannst all dei­ne Fehl­schlä­ge aus­lö­schen, es wie­der ver­su­chen, ein paar an­de­re Zü­ge ma­chen. In ei­ner an­de­ren Zeit­li­nie er­folg­reich sein.“

„Ich weiß. Na­tür­lich wür­de das Ka­thy mit ei­ner Lei­che in die­ser Zeit­li­nie zu­rück­las­sen, nicht wahr? Und dich mit der Be­frie­di­gung, mich zu et­was ge­trie­ben zu ha­ben, das un­heim­lich an Selbst­mord er­in­nert. Nein. Ich ris­kie­re es mit der Zu­kunft statt mit der Ver­gan­gen­heit. Mit Ka­thy.“

Bun­nish ließ sei­nen Mund of­fen­hän­gen. „Was sorgst du dich um sie? Sie haßt dich so­wie­so. Sie wird bes­ser dar­an sein, wenn du tot bist. Sie wird die Ver­si­che­rungs­s­um­me be­kom­men und du je­man­den, der es bes­ser mit dir meint, dem du et­was be­deu­test.“

„Aber er be­deu­tet mir viel“, sag­te Ka­thy. Sie leg­te ei­ne Hand auf Pe­ters Schul­ter. Er griff hin­auf, be­rühr­te sie und lä­chel­te.

„Dann bist du auch ein Dumm­kopf’, brüll­te Bun­nish. „Er ist nichts, er wird nie et­was sein. Da­für wer­de ich sor­gen.“

Pe­ter stand auf. „Das glau­be ich ir­gend­wie nicht. Ich glau­be nicht, daß du uns noch et­was an­ha­ben kannst. Kei­nem von uns.“ Er sah die an­de­ren an. „Was meint ihr, Jungs?“

E. C. leg­te nach­denk­lich den Kopf zu­rück und fuhr mit ei­nem Fin­ger an der Un­ter­sei­te sei­nes Schnau­zers ent­lang. „Weißt du“, sag­te er, „ich den­ke, du hast recht.“

Del­ma­rio schi­en ein­fach ver­blüfft zu sein, bis ganz plötz­lich die Er­leuch­tung über sein Ge­sicht her­ein­brach und er grins­te. „Du kannst kei­ne Ide­en steh­len, mit de­nen ich bis­her noch nicht her­aus­ge­rückt bin, oder?“ sag­te er zu Bun­nish. „Je­den­falls nicht in die­ser Zeit­li­nie.“ Er ließ ein lau­tes, brül­len­des Ge­räusch hö­ren und trat an das Schach­brett her­an. Er griff hin­un­ter und stopp­te die Uhr. „Schach­matt“, sag­te er. „Schach­matt, schach­matt, schach­matt!“

 

We­ni­ger als zwei Wo­chen spä­ter klopf­te Ka­thy lei­se an die Tür sei­nes Ar­beits­zim­mers. „War­te ei­ne Se­kun­de!“ rief Pe­ter. Er tipp­te noch einen Satz, schal­te­te die Schreib­ma­schi­ne aus und dreh­te sich in sei­nem Stuhl her­um. „Komm rein.“

Sie öff­ne­te die Tür und lä­chel­te ihn an. „Ich ha­be einen Thun­fisch­sa­lat ge­macht, falls du zum Mit­tages­sen ei­ne Pau­se ein­le­gen möch­test. Was macht das Buch?“

„Es geht gut vor­an“, sag­te Pe­ter. „Ich müß­te heu­te mit dem zwei­ten Ka­pi­tel fer­tig wer­den, wenn ich dran blei­be.“ Sie hielt ei­ne Zei­tung, be­merk­te er. „Was ist da­mit?“

„Ich ha­be mir ge­dacht, du soll­test das hier se­hen“, er­wi­der­te sie und reich­te ihm die Zei­tung.

Sie hat­te die To­des­an­zei­gen auf­ge­schla­gen. Pe­ter nahm sie und las. Das mil­lio­nen­schwe­re Elek­tro­nik-Ge­nie Bru­ce Bun­nish war tot in sei­nem Heim in Co­lo­ra­do auf­ge­fun­den wor­den – an ein selt­sa­mes Ge­rät an­ge­schlos­sen, das ihn an­schei­nend mit ei­nem elek­tri­schen Schlag ge­tö­tet hat­te. Pe­ter seufz­te.

„Er wird es wie­der ver­su­chen, nicht wahr?“ sag­te Ka­thy.

Pe­ter leg­te die Zei­tung bei­sei­te. „Der ar­me Teu­fel. Er ka­piert es nicht.“

„Was denn?“

Pe­ter nahm ih­re Hand und drück­te sie. „Al­le Va­ri­an­ten sind aus­sichts­los“, sag­te er. Es mach­te ihn trau­rig. Aber nach dem Mit­tages­sen hat­te er die Sa­che ver­ges­sen und ging wie­der an die Ar­beit.