Ian Watson
Eine Zeitspanne, die Wunder wirkt
A TIME-SPAN TO CONJURE WITH
Zu unserer Bestürzung war auf der gesamten Planetenoberfläche nur eine einzige Siedlung zu erkennen, obwohl vierzig Jahre verstrichen waren, seit wir hier Kolonisten abgesetzt hatten. Und selbst nach dieser einen mußten wir lange mit Infrarotgeräten suchen, ehe wir sie optisch wahrnehmen konnten, denn – und das war noch bestürzender – sie lag abwehrend mitten im Herzen des größten Kontinents, fast so, als hätten die Siedler befürchtet, raubgierige Ungeheuer könnten aus der See kriechen und lange, sich windende Tentakel ins Landesinnere erstrecken!
Als die Kolonie vor vierzig Jahren gegründet worden war acht Jahre nach unserem Schiffskalender –, hatte man sie am Ufer eines ruhigen und fruchtbaren Ozeans errichtet. Wir erwarteten, bei unserer Rückkehr einen geschäftigen Hafen vorzufinden, mit Seeverbindungen über die Inselketten zu den kleineren Kontinenten und eine etwas langsamere Erschließung des weiten, öden Inlandes – ein vorsichtiges Ausstrecken von Fühlern nach den Eingeborenen, ohne sie zu stören. Statt dessen hatte sich die Kolonie ins Landesinnere verkrochen – so weit ins Landesinnere, wie es nur möglich war.
Und doch konnten sie kaum Sturmfluten befürchtet haben, denn diese Welt wies merkwürdigerweise keine seismischen Phänomene auf: keinerlei Gebirge und Senkungen, eine Welt von sanftem Grasland, wo die geringste Erhebung eines Hügelchens schon ein Orientierungspunkt darstellte; auch keine Gezeiten, da nur zwei winzige Monde vorhanden waren, ein jeder kaum größer als unser Raumschiff.
„Verkrochen ist das richtige Wort“, bemerkte ich zu Commander Marinetti, als wir endlich per Teleskop die einzige Ortschaft zu sehen bekamen – während Resnick vergeblich versuchte, eine Art Funkkontakt mit den Siedlern herzustellen. „Sie müssen alles per Hand dorthin geschleppt haben!“
Die Kriechbewegung steckte auch noch in dem fertigen Produkt. Verschiedene Mini-Vororte schienen sich auf den gleichen Punkt in der Ortsmitte hin zu erstrecken, wobei sie sich so nahe wie möglich an den Boden kauerten und Formen wie Pyramiden oder Hochbauten als Konstruktionsmöglichkeiten völlig verwarfen. Niedrige, flache Gebäude drängten sich – anscheinend hergestellt aus den Fertigbauteilen der einstmals adretten Hafenstadt – in tohuwabohuhaften Haufen wie ein runder Teller voll dicht aufeinander sitzender, überlappender belegter Brötchen. Das konzentrische Chaos wies keinerlei Verbindung zu dem ordentlichen Straßennetz und den breiten Alleen der Küstenstadt auf, bei deren Bau wir ihnen behilflich gewesen waren.
„Es handelt sich doch wohl um eine Menschenstadt?“ überlegte Marinetti. „Ich nehme nicht an, daß die Einheimischen unsere Kolonisten verdrängt haben?“
Kaum. Die Ureinwohner waren ein scheuer und ängstlicher Haufen gewesen. Sie lösten sich in den kleinsten Senken der Graslandschaften auf, verbargen sich fast hinter den Halmen, als wir versuchten, mit ihnen in Kontakt zu treten. Wir bekamen sie niemals richtig zu Gesicht, wie lange wir auch über das Festland flogen. Nur Spuren, Fußabdrücke, das gelegentliche Davonhuschen einer geisterhaften Gestalt im Augenwinkel, die verschwunden war, bis man sich nach ihr umgewandt hatte. Schwer, sie zu beschreiben. Todgeweihte Geister. Flatternde Elfen. Koboldhafte, „menschliche“ Libellen. Jede dieser Beschreibungen traf zu und gleichzeitig alle zusammen. Sie wirkten insektenhaft mit ihren (scheinbar) vielfacettierten Augen, fluguntüchtigen, zart geflügelten, dünnen Armen, Wespentaillen, mageren, quergestreiften pelzigen Beinen – eine provisorische Beschreibung, mit viel Mühe und fast nur mit Blicken aus den Augenwinkeln zusammengetragen! Automatische Kameras schossen unablässig vergeudete Bilder von ihnen, gerade in dem Augenblick, wenn der Betreffende die Szene betrat, oder genau dann, wenn er/sie/es aus der Reichweite der Linse verschwand.
Die Eingeborenen schienen der Natur näher zu sein als der Zivilisation; immer noch auf einer Stufe des Präkogniszens. Sie machten (irgendwie) Feuer. Wir fanden die verkohlten Feuerstellen. Sie kochten kleine Wildtiere und Vögel, welche sie (irgendwie) fingen. Wir fanden die säuberlich abgelutschten Knochen, jedoch keine Fallen oder Netze, lediglich ein paar Stücke aus Gras gewundenem Seil. Natürlich keine Pfeile, Bögen und Speere, wohl aber mit Dornen besetzte Stöcke. Doch nach genauer Erwägung kamen wir zu dem Schluß, daß sie nicht so weit entwickelt waren, daß wir ihre zurückgezogene, ausweichende Lebensweise im Innern ihres Kontinents stören könnten, genausowenig wie ein Mensch, der am Rande eines riesigen Feldes zeltet, die dortigen Falter und Schmetterlinge beeinträchtigt. Sofern er sie nicht mit Insektenmitteln besprüht, natürlich – und das war gewiß nicht unsere Absicht! So würde es als weiteren Vorteil keine kläglichen, gebrochenen Eingeborenen geben, die um ein paar Brosamen Technologie vom Tische des Reichen bettelten, keine zerstörte einheimische Kultur, wenn ihre Götter kamen und ihre Träume zunichte machten. Ein Nachteil war natürlich, daß sie schlichtweg uninteressant waren. Wir hatten es den Siedlern überlassen, gegebenenfalls mehr herauszufinden. Es war nicht dringlich gewesen – zu jenem Zeitpunkt. Wir erwarteten Großartigeres: irgendwelche verblüffenderen, anspruchsvolleren Wesen irgendwo.
„Ob eine Krankheit unsere Leute dahingerafft hat, und die Eingeborenen haben die Hinterlassenschaft übernommen?“
„Sie könnten die Teile nicht einmal heben, geschweige denn zusammensetzen“, erklärte ich.
„Aber warum dann hier, inmitten des Nichts? Statt, ja, Häfen und Docks, Siedlungen, die sich von der Küste aus ins Landesinnere vortasten …! Sie wollten das Innere unberührt lassen. Für alle Fälle, wegen der Eingeborenen. Und jetzt haben sie sich genau dorthin ausgebreitet! Das heißt, sie haben sich nicht ausgebreitet, sie haben sich dorthin zurückgezogen.“
„Vielleicht irgend etwas Unerwartetes im Meer? Aus dem Meer?“
„Ach, kommen Sie! Was immer es sein mag, es dürfte kaum notwendig sein, tausend Kilometer Land zwischen sich und dieses Etwas zu bringen!“
„Vielleicht ist die See selbst lebendig, auf irgendeine eigenwillige Art, bei der Algen ihre Nervenzellen darstellen? Vielleicht begriff sie erst nach einer Weile, was vorging, und strahlte Feindseligkeit gegen die menschlichen Eindringliche aus?“ spintisierte ich geradezu hoffnungsfroh drauflos.
Marinetti lachte.
„Ich möchte wie Sie auch gerne mal auf etwas völlig Exotisches stoßen! Ich bin genauso begierig darauf, mein Lieber. Aber es handelte sich um einen ganz normalen Ozean – nur etwas salziger und weit fischreicher als alle Meere, die wir seither zu Gesicht bekommen haben.“ Ein etwas bitterer Unterton schwang nun mit.
Stimmt, leider. In all den Flugjahren hatten sich die Sterne als ziemlich gewöhnlich herausgestellt. Bislang waren wir selbst immer noch die erstaunlichste Erscheinung. Von den fünf „lebendigen“, kolonisierbaren Welten hatte nur diese hier, die erste, überhaupt eine komplexere Lebensform hervorgebracht: die elfenhaften Ureinwohner. Die anderen lebendigen Welten befanden sich auf einer frühen paläozoischen Stufe: Dies reichte von freundlicher Weite bis zum wilden, zerklüfteten, vulkanischen Extrem. Auf eine Art war das erfreulich, bedeutete es doch, daß wir all die Welten für uns hatten mit ihren Atmosphären und Gewässern, wenn auch etwas wenig Humus und Vegetation. (Aber damit konnte man zurechtkommen). Jede einzelne konnte entwickelt werden – einzigartig und wunderbar.
Andererseits wurde das mit den Jahren immer deprimierender, die Kolonisten schliefen weiter vor sich hin, und wir blieben wach und forschten und forschten. Wir fanden nichts außer dem, um dessen Entdeckung willen man uns losgeschickt hatte: neue Welten zur Besiedlung durch den Menschen. Nichts Erstaunliches, nichts Besonderes. Und da waren wir nun auf dem Rückweg zur Erde über die erste Welt, die wir besiedelt hatten, mit der absolut eintönigsten, ödesten Landschaft von allen – obwohl sie doch ihre Vögel, kleinen Tiere und „Elfen“ besaß –, wollten sehen, was die Menschheit in vierzig Jahren hervorgebracht hatte und vielleicht, nur vielleicht erfahren, daß man etwas Interessantes – eine Kleinigkeit würde ja schon genügen – über jene Ureinwohner herausgefunden hatte, die wir (wenn auch nicht spöttisch oder aggressiv) als Falter und Schmetterlinge abgetan hatten, während es uns zu Größerem drängte. Die Menschheit würde sich dank unserer Mühen ausbreiten – doch wir waren enttäuschte Männer und Frauen.
Und welcher Lohn war es nun für unsere Besiedlungsmühen und die riesigen Aufwendungen der Erde, wenn vierzig Jahre nicht mehr hervorgebracht hatten als eine jämmerliche Siedlung in der Mitte eines unentwickelten Nichts?
„Ob die Eintönigkeit der Landschaft vielleicht … zu wenig anregt?“
„Oder das Fehlen von Gezeiten …?“ Marinetti und mir kam gleichzeitig der gleiche Gedanke. Verschiedene Ansätze des gleichen Gedankens.
„Ob das ein böses Omen für die anderen Welten darstellt?“ deutete er an.
„Die Vulkane auf Hekla werden unsere Leute schon in Schwung halten“, meinte Resnick fröhlich. Wir haben unsere neu entdeckten Welten Cambria, Hekla, Livingstone und Zoe getauft. Die Welt unter uns wurde Haven genannt, um sowohl die Hoffnung auf eine sich aus dem Meer zu entwickelnde Kultur wie auch die Tatsache, daß es unser erstes Ziel war, auszudrücken. Eigentlich hätten wir eine der Welten „Neue Erde“ nennen müssen. So erwartete man es; das wußten wir. Es stellte sich jedoch heraus, daß die einzige Welt, der wir diesen Namen hätten aufrichtig verleihen können, Haven war. Doch inzwischen hatten wir die Gelegenheit vertan, und Haven schien auch zu ruhig und zu monoton für eine solche Ehre zu sein. So brachten wir diesen Namen nun wieder unbenutzt zurück. Und auch unsere Kolonisten hatten ihr Haven kaum genutzt, sondern viel mehr tief in seinem Innern Zuflucht gesucht. Vor einem Unwetter, das nicht zu erkennen war.
Am nächsten Tag lösten wir das kleinere Erkundungsboot aus der bettstattartigen Konstruktion der Starseeder (von der nach dem allmählichen Abbau von ausreichend Fracht, um fünf Welten damit auszurüsten, kaum mehr als ein zum Sternenflug befähigtes Gitterwerk auf dem Heimweg übrigblieb) und flogen hinab zur Siedlung. Laura Philipson steuerte die Maschine, und wir landeten etwa hundert Meter vom äußeren Rand (dessen Bauteile sich wie abgeflachte Schildkröten bei einer leidenschaftslosen Paarung über den inneren Rand schoben) entfernt.
Die Siedlung war tatsächlich aus den Permaplast-Bauteilen erstellt, die einst so ordentlich in Ufernähe aufgebaut worden waren.
Rund um die äußeren Ränder hatte man ein paar peinlich primitive Anbauten aus Lehm und Flechtwerk errichtet. Es war tatsächlich sehr wenig erreicht worden – abgesehen von dem gewaltigen, lächerlichen Bemühen, die gesamte Siedlung um tausend Kilometer ins Landesinnere zu verlagern …
Rund um den Ort gediehen Felder mit Gemüsesorten der Erde. Bewässerungsteiche und -graben existierten ebenfalls. Außerhalb der Ortsgrenzen wirkte alles gut gepflegt. Andererseits wären sie sonst auch verhungert. Alles in allem eine doch recht klägliche Bewirtschaftung! Kläglich.
Vielleicht konnte man die Besiedlung einer fremden Welt auch nicht so von außen her beginnen, wenn es jemals die Heimatwelt der Kolonisten werden sollte? Vielleicht mußte eine Kolonie auf den niedrigsten Entwicklungsstand herabsinken, ehe sie ihre eigene Kultur von sich aus zur „Zivilisation“ entfalten konnte? Gab es solche unbekannten soziologischen Gesetze? War dies der Bewegungsgrund gewesen, daß sie alles so weit wie möglich von ihrem Ausgangspunkt fortgeschleppt hatten?
Elfen flitzten über die Felder. Kaum erblickt und schon wieder verschwunden.
Doch es waren auch Menschen da. Zwanzig bis dreißig Leute tauchten aus einem schmalen Durchlaß zwischen den Bauelementen auf.
Sie stürzten nicht auf uns zu und drängten sich nicht um uns. Sie blieben einfach bei den Häusern stehen und warteten geduldig ab. So schritten wir durch die Kohl- und Rübenfelder und begrüßten sie unsererseits. (Währenddessen tauchte ein Elfenwesen auf und verschwand wieder hinter einem riesigen Kohlkopf.)
Ich erkannte den einstigen Führer der Kolonie wieder. Er war stark gealtert, aber das war ja nicht verwunderlich. Ein Mann namens … Greenberg, ja. Greenberg war einmal ein kräftiger Hengst gewesen; nun wirkte er wie ein müder Ackergaul … Mein Gott, was war eigentlich aus ihren Tieren geworden? Ihren Pferden, Schafen und Rindern? Dieser Anfangsbestand an Embryos, der eingefroren in einer Kaninchengebärmutter sternenwärts gebracht worden war und sich inzwischen hätte verhundertfachen müssen? Wo waren sie?
Und ihre Kinder!
Wo waren ihre Kinder?
Ich sah zwei oder drei Männer und Frauen Anfang Vierzig, die im Laufe des ersten Jahres der Besiedlung geboren worden sein mußten. Doch niemand jüngeren. Und eine riesige Alterslücke klaffte zwischen diesen wenigen „Jungen“ und all den anderen Älteren.
Schlimm. Schrecklich. Das Allerschlimmste.
Sie waren unfruchtbar geworden. Und ihre Tiere ebenfalls. Aber wodurch? Durch die Seeluft? Durch irgendwelche nichterkannten Chemikalien, die erst nach mehreren Jahren eine kritische Konzentration erreichen …
„Weder Kinder noch Tiere.“
Marinetti nickte. Dem kleinen Begrüßungstrupp erklärte er: „Nun, wir sind zurückgekehrt. Wir haben vier andere Welten erfolgreich besiedelt …“ Er sprach eine Weile ein wenig schwülstig und offiziell, vermutlich, um ihre Niederlage gerechtfertigt zu lassen. Greenberg und die anderen starrten uns nur an wie von der anderen Seite einer Aquariumsscheibe. Als sie schließlich das Wort ergriffen, klangen ihre Antworten unstet, tölpelhaft, bedeutungslos – ungeduldig, als gäbe es etwas, das wir unbedingt wissen müßten, und abwiegelnd, als scherten sie sich nicht einen Pfifferling um uns. Weitere „Elfen“ flatterten in den Feldern umher. Zum ersten Mal bekam ich eines dieser Wesen richtig zu Gesicht und war überrascht, daß dieses durchschimmernde Insekten-Geschöpf und viele, viele andere emsig damit beschäftigt waren, die Felder hier und da mit sprunghaften, wunderlichen Bewegungen zu bestellen. Die Wesen waren durch ihre weitgehende Transparenz hervorragend getarnt, ihre Körper stellten eine Art dünnes, vibrierendes Gitter vor dem landschaftlichen Hintergrund dar, das man kaum bemerkte; nur bei großer Aufmerksamkeit nahm man die Bewegungen von der Seite her wahr.
„Ihr habt ja überhaupt keine Kinder?“ wiederholte Marinetti zum dritten oder vierten Male. Greenberg deutete auf die Felder.
„Kinder?“ Er grinste dümmlich. „Kinder müssen ihre Lektionen erhalten.“
„Wollen Sie damit sagen, daß sie in der Schule sind? Wo sind sie denn, Mann? Warum lebt ihr hier draußen zwischen den Eingeborenen?“
„Müssen beispielsweise lernen“, verkündete Greenberg, „daß die Sonne alles Licht an sich zieht oder daß ein Kiesel in einem Teich Wellen zu sich zieht. Müssen lernen, solche Dinge wahrzunehmen.“
Marinetti ließ unsere kleine Gruppe die schäbige Straße hinabführen – tatsächlich an den Händen der Kolonisten, als könnten wir sonst stolpern oder gegen eine Mauer laufen –, zwischen den zusammengeklammerten Bauteilen mit ihren Lehm- und Flechtwerkanbauten hindurch, von denen ich plötzlich annahm, daß Sie überhaupt nicht für menschliche Wesen gedacht waren, sondern ihrer Vorstellung von Behausung entsprachen, wie sie die Elfenwesen haben mochten: ein architektonisches Äquivalent zu der Schüssel Milch, die man einem Heinzelmännchen hinstellte!
Sie waren bereitwillig zu ihnen gezogen. Keiner der Siedler machte sich die Mühe, eine Waffe zu tragen. Hatten sie die gleichmütigen Elfen als die einzigen „Kinder“ angenommen, die sie jemals haben wollten?
Wir gelangten an die Stelle, wo die äußere Vorort-Häuserreihe sich mühte, über den inneren Wall zu klettern; von hier aus mußten wir eine Weile über die Dächer der inneren Bauten laufen, bis eine Holzrampe uns auf den Boden führte, wo eine weitere Straße in einen kleinen „Park“ im Ortskern mit einem schmutzigen Dorfteich mündete. Hier gesellten sich ein paar weitere Leute zu der kleinen Schar, die uns Geleit gab: Sie waren alle Anfang Siebzig oder etwas älter. Kaum eine gefährliche oder unwirtliche Welt, überlegte ich. Nur daß es ihnen nicht gelungen war, sich zu vermehren. Nur daß sie gemeinsam und auf bemitleidenswerte Weise den Verstand verloren hatten. Selbst die jüngeren Leute, die wenigen in den Vierzigern, waren ebenso „senil“: tapsig, vergeßlich, anmaßend, umständlich – ihr Denken wie mottenzerfressenes Band. Ein paar weitere machten sich erst gar nicht die Mühe, sich zu uns zu gesellen, obwohl sie wissen mußten, wer wir waren. Sie gingen einfach ihren eigenen Geschäften nach und beachteten uns gar nicht. Unglaublich.
Neben dem schmutzigen Teich stand eine Schüssel mit Kieseln. Mit geübter „Ritual“-Geste nahm Greenberg einen Kiesel heraus und schleuderte ihn in den Teich. Plop. Die kreisförmigen Wellen breiteten sich aus und sprangen vom Ufer zurück. Greenberg blieb eine Weile stehen, bewunderte die Muster und drängte uns dann eilends in eine Wohneinheit, an der noch immer die verblaßte, mit Schablone aufgesprühte Aufschrift VERWALTUNG stand. Genau in dem Augenblick, als ich durch die Tür trat, blickte ich nach oben, weil ein schwaches Flackern des Lichts meine Aufmerksamkeit erregte. Eines der Elfenwesen war aufgetaucht, als sei es durch das „Plop“ im Wasser gerufen worden, indem es über die Dächer geflattert – geflogen? – war. Es huschte kurz über uns hinweg und war auch schon wieder verschwunden.
Im Innern eines kahlen Zimmers auf einem ansonsten leeren Tisch stand ein Glasbecher mit sauberem Wasser, in dem widersinnigerweise ein schwarzer Kiesel direkt unterhalb der Wasseroberfläche schwebte.
Der Kiesel löste sich auf. Er begann sich in Spiralen und Wolken im Wasser zu verteilen … nein, es war kein Kiesel gewesen, sondern eine dicke Tintenblase – ein Tintenklecks, der sich nun mit dem Wasser zu mischen begann, aber mit Sicherheit erst in dem Augenblick aufzulösen begonnen hatte, als wir eintraten! Es hatte sich niemand vor uns in dem Zimmer befunden. Keine anderen Türen führten aus ihm heraus; Fenster und Lichtschacht waren fest verriegelt.
Marinetti starrte fassungslos das Wasserglas an. Greenberg hob es auf, schüttelte es hin und her, um die unausweichliche Vermischung von Wasser und Tinte zu betonen und stellte es dann wieder wichtigtuerisch ab.
„Habt ihr das gesehen?“ fragte er gehässig.
Ein Tintenklecks hatte sich zum gleichen Gebilde wie zuvor „entmischt“ – zufällig, unwillkürlich, genau bei unserem Eintreten? Und begann sich dann wieder zu vermischen? Die Milliarden Tinten- und Wassermoleküle sollten von all den möglichen Konstellationen gerade wieder den ursprünglichen unvermischten Zustand einnehmen? Es bedurfte einiger tausend Milliarden Jahre, damit etwas Derartiges zufällig geschah, falls es während der Lebenszeit des Universums überhaupt auftreten konnte. Und daß wir gerade hinzukamen – und Greenberg so tat, als hätte er damit gerechnet? Ließ sich denn hier nicht das zweite Gesetz der Thermodynamik anwenden? Sollte es für verschiedene Welten unterschiedliche Naturgesetze geben?
„Oh nein!“ protestierte ich schnell. „Das hat jemand vorbereitet, kurz bevor wir hier hereinkamen! Oder es wurde durch irgend etwas ausgelöst“, fügte ich hinzu und dachte an das flackernde Licht auf dem Dach.
„An diese Erklärung dachten wir auch“, bemerkte Greenberg.
„Eines von diesen Elfenwesen! Hypnose. Oder Psychokinese. Irgendeine geistige Kraft, von der ihr nichts wißt …“
„Sie helfen uns bei der Ernte. Sie haben einen nützlichen Einfluß. Wir haben sie gern – sie könnten genausogut unsere eigenen Kinder sein …“ Er lächelte gütig.
„Aber sie sabotieren die Kolonie. Es gibt keine andere Erklärung.“
„Und doch sind wir in Wirklichkeit ihre Kinder …“ Dann – als behebe der Anblick des tintigen Wassers eine Art Störung in Greenbergs Gehirn (Finsternis zur Finsternis, wie es hieß) – erhellte sich das Denken des Mannes, und er begann endlich zusammenhängend und fast auf unserer Wellenlänge zu reden – ein geistiger Krüppel, der wieder einmal durch die Gitterstäbe seiner Verwirrung in die wirkliche Welt blickte und sich heftig bemühte, seine Verwirrung mitzuteilen. „Es ist ihr Zeitgefühl … Für uns ist es eigentümlich. Für diese Welt real. Die angemessene Umwelt. Die richtig wahrgenommene Umwelt. Die erfolgreiche, die sich weiterentwickeln kann. Die Sonne zieht Licht an, der Kiesel zieht Wellen an: So sehen wir es, ich behaupte nicht, daß es sich so verhält. Doch wir lernen noch. Es ist anstrengend und ermüdend, so mit euch zu reden, euch das erklären zu müssen. Wir haben uns hier gut eingelebt, während wir alles beobachten. Wir sind das Leben hier gewohnt. Es war nicht unangenehm, sobald wir erst mit ihnen zusammenlebten. Zuvor jedoch war es so verwirrend und qualvoll – bis wir hierherkamen und uns anpaßten. Zwei oder drei Jahre dem Leben am Meer da draußen ausgesetzt. Dann zwei, drei weitere Jahre für die Umsiedlung, bis wir die richtige Stelle gefunden hatten – die Stelle der Macht. Aber wir begreifen nun …“
„Ihr paßt euch nicht an, Mann! Ihr sterbt aus!“
Ich schnappte wütend das Wasserglas, stürzte ins Freie und schüttete den Inhalt heftig in den Teich. Ich hörte Greenbergs Lachen hinter mir an der Tür. Er trat heraus, nahm mir den leeren Becher aus der Hand, bückte sich und füllte ihn erneut mit trübem Wasser, das er hineintrug und auf den Tisch stellte. Ein Ritus. Ein Ritus von Trübheit und Wasser. Die unmögliche Trennung, die Umkehrung des Zeitenverlaufs. Automatisch sah ich zum Dach hinauf. Dort gab es nun keinerlei Anzeichen für die Präsenz eines Elfenwesens. Ich war wütend auf mich, daß ich nachgeschaut hatte, und auch wütend, daß derart unwirkliche, flüchtige Geschöpfe offensichtlich so großen Schaden angerichtet hatten. Es waren keine Elfen, es waren Teufel. Aber wie hatten sie es angestellt? Gott sei Dank, daß Cambria Hekla, Livingstone und Zoe so rauhe, brachliegende Welten gewesen waren, in denen sich letztlich kein höheres Leben hatte entwickeln können!
„Offensichtlich sind diese Kreaturen dafür verantwortlich“, meinte Marinetti und nickte. „Aber was sind sie eigentlich? Ich kann die verdammten Dinger kaum sehen.“
„Nach ein paar Jahren freundet man sich mit ihnen an“, vertraute Greenberg uns an. „Sie stellen eine höhere Stufe der Anpassung dar, daran besteht kein Zweifel. Ohne ihre Führung wären wir verloren gewesen … Es gibt da Anzeichen … wie die Entfärbung des Wassers.“
„In welcher Hinsicht eine höhere Stufe?“
„Ich meine, sie sind weiter verbreitet als wir …“
„Da ihr euch nicht vermehrt und keine Tiere gezüchtet habt, sondern lediglich zu diesem jämmerlichen Häufchen inmitten vom Nichts zusammengeschrumpft seid, ist das ja nicht weiter verwunderlich!“
„Nicht in diesem Sinne weiter verbreitet.“ Greenberg hatte zu kämpfen, um die richtigen Worte zu finden. „Nicht in eurem Sinne. Es fällt einem schwer, daran zu denken, daß ihr sie nicht so um euch herum sehen könnt wie wir inzwischen.“
Greenberg sammelte seine Kräfte. Von nun an sprach er auf steife, klare Weise unter gewaltiger Anstrengung voller Groll, wie jemand, der eine Fremdsprache sprechen muß, die ihm verhaßt ist.
„Sie sind nicht im zahlenmäßigen Sinne weit verbreitet. Sie sind es im zeitlichen Sinne, versteht ihr … zeitlich. Nein, ihr könnt das nicht ‚begreifen’, und darin besteht auch das ganze Problem. Nicht, bis ihr den Trick beherrscht. Ich nehme an, daß sie deshalb Facettenaugen besitzen, um die verschiedenen Momente der Gegenwart wahrzunehmen … die verschiedenen Gegenwartsquanten. Hören Sie zu, Herr Sternenschiffkommandeur mit Ihrer schlauen Einsteinschen Zeitdilatation, ich sage Ihnen, sie können die Dauer wahrnehmen so wie Sie die Entfernung im Raum. Stellen Sie sich vor, sie sähen die Welt immer durch ein schmales Rohr. Dann würden doch ständig Dinge auftauchen und verschwinden, während Sie sich umsehen, nicht war? Aber da wir die Ausdehnung wahrnehmen, bleibt die Welt in Wirklichkeit zusammenhängend und beständig. Doch ein Frosch sieht die Welt nicht wie wir. Er sieht nur ein paar Muster und Bewegungen. Wenn etwas stillhält, ist es nicht da. Einzelteile der wirklichen Welt existieren nicht für ihn! Wir sind besser als die Frösche, da die Welt die ganze Zeit hindurch für uns da ist. Aber um wie vieles sind wir besser, wie?“
„Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß wir im Vergleich zu diesen Elfen wie Frösche sind?“
„Ja, durchaus! Sie leben in einer weiten Welt! Sie nehmen die Dauer wahr – die Ausdehnung der Zeit. In einer solchen Welt leben sie!“
„Elfenmärchen!“
„Deshalb sieht man sie nur ab und zu. Ja. Wir sind wie Frösche, die die Fliege nur erkennen, wenn sie sich bewegt. Die reale Welt erfassen wir überhaupt nicht. Wie sollten wir eine Welt verändern oder ausschöpfen können, die wir überhaupt nicht sehen? Das ist nicht vergleichbar mit der Tatsache, daß wir Röntgenstrahlen und Radiowellen nicht sehen, wohl aber Geräte bauen können, um sie aufzufangen … Wir können keine Sensoren schaffen, um die Dauer zu sehen. Wie auch? Diese Begriffe existieren für den Menschen überhaupt nicht …“
„Für Sie scheinen sie jedoch eindeutig zu existieren!“
„Oh, uns hat man es beigebracht. Wir lernen es. Wir sind nicht wirklich ihre Kinder. Eher ihre Haustiere. Ihr Experiment. Sie haben uns lieber hier als an der Küste, versteht ihr.“
„Warum seid ihr nicht dort geblieben?“
„Wir konnten nicht“, murmelte Greenberg ärgerlich. „Der … Druck ihrer Umwelt … der Sog vom Landesinnern her … das war alles … zuviel. Der Strudel ihres Zeitgefühls, der in uns einsickerte. Sie würden es verstehen, wenn Sie ein paar Jahre blieben. Wie ist es jetzt? Sie empfinden die Dauer der Welt Augenblick um Augenblick: einen Augenblick nach dem anderen. Die Vergangenheit ist festgelegt und für immer vorbei, die Zukunft im Begriff der Entstehung. Und dazwischen liegt diese trügerische Gegenwart: Wie lange hält sie an? Wieviel Gegenwartszeit glauben Sie einzunehmen? Zwischen drei und sieben Minuten, würde ich sagen, ja? So lange schätzen sie ungefähr die Dauer der ‚Gegenwart’ ein, nicht wahr? Nun, wie lange dauert ihre Gegenwart? Es sind Stunden-Tage!“
„Sie wollen sagen, sie können in die Zukunft sehen?“
„Nein, ihre Gegenwart erstreckt sich weiter, das ist alles. In unserer trügerischen Gegenwart sind sie nur wahrscheinlich präsent. Ihre Wahrscheinlichkeit, hier zu sein, schwankt mit der Zeit, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richten – ebenso wie der Gegenstand innerhalb unseres Blickfeldes, auf den wir uns konzentrieren, realer erscheint, obwohl der Rest ebenso existiert. Sie sind wie Partikel mit Schwingungshöhepunkten, Commander. Sie könnten überall sein – zu jeder Zeit! Zu gewissen Zeiten sind sie wahrscheinlicher anwesend – obwohl sie sich tatsächlich über die gesamte ihnen zur Verfügung stehende Zeitspanne hin erstrecken. Und wir können das fühlen. Oh ja, das fühlen wir. Unsere Wirklichkeit wird durch sie diktiert.“
„Lächerlich. Ein Wesen kann sich in der Zeit nicht hin und her bewegen.“
„Sie bewegen sich nicht hin und her. Sie erstrecken sich über eine längere Periode als wir. Was zum Teufel ist überhaupt Zeit? Es ist lediglich eine Art und Weise, Ereignisse zueinander in Verbindung zu bringen und zu messen. Zeit existiert nicht eigenständig für sich.“
„Das erklärt aber nicht, wie sie das Wasser enttrüben.“
„Und ob es das erklärt. Indem sie von unserem Standpunkt aus Dinge zurückverfolgen, scheinen sie Ereignisse über frühere Zustände hinaus zu beeinflussen … In Wirklichkeit verändern sie nur einen Bruchteil ihrer eigenen trügerischen Gegenwart, so wie wir einem Gegenstand, den wir betrachten, mehr Aufmerksamkeit widmen; allerdings besteht die Welt nicht aus Gegenständen, Commander, sondern aus Prozessen und Geschehnissen. Wir sind lediglich Beobachter von räumlich ausgedehnten Objekten, doch sie können auch Nichtbeobachter sein – und unbeobachtete Ereignisse treten auf, wenn sie sie zurückverfolgen. Wie bei der Tinte im Wasser. Sie haben es nicht enttrübt. Ich habe die Tinte hineinfallen lassen, als wir euer kleines Schiff landen sahen. Zur Demonstration. Sie nichtbeobachteten es zu eurem Nutzen, damit ihr es miterlebt. Ich wußte, daß sie das tun würden. Wir sind besser dran als die Frösche. Zumindest haben wir ein klein wenig Anteil an ihrer Welt. Wir begreifen ihre Nichtbeobachtungen. Wir sehen, wie die Wellen auf den Kiesel im Teich zulaufen. Wir sehen die Welt vor- und zurückschwanken. Nach einer Weile bekamen wir keine Kinder mehr … weil aus dem Augenblick der Befruchtung die Trennung von Ei und Sperma wurde!“
„Wahrscheinlich eher, weil sie ihnen die Lust ausgetrieben haben“, flüsterte ich Commander Marinetti zu.
„Sie hassen uns nicht – sie zogen uns hierher ins Zentrum, um sich um uns zu kümmern, Commander! Oh, es begann etwa während des zweiten Jahres. Zuerst mit Träumen. Unsere Träume waren rückwärts gerichtet … Haben Sie jemals rückwärts geträumt, Commander? Einen Traum zu beeinflussen, fällt ihnen viel leichter … Die Rückwärtsträume stellten nur unsere Vorbereitung darauf dar, das gleiche im Wachzustand zu erleben. Unser Denken gewöhnte sich so daran, ihre Gefühle zu empfinden.“
„Aber der Tintenzwischenfall hat sich wirklich ereignet“, widersprach Resnick. „Ich habe es doch mit meinen eigenen Augen gesehen. Er vergewaltigte die Gesetze der Thermodynamik!“
„Nein, es war nur eine Art innerhalb der Gegenwartsspanne, die das gesamte Ereignis umschloß, das Geschehen zu sehen. Für sie bleibt die Welt erhalten. Sie wissen nun weit mehr über unsere Denkprozesse. Sie haben uns studiert.“
„Dann sehen sie die Dinge anders als wir. Zumindest sagen Sie das. Aber wie konnte das die Viehzucht verhindern?“ erkundigte sich Marinetti, der offensichtlich meine Ansicht über eine mögliche psychologische Sperre bei den Kolonisten teilte.
„Ah“, grinste Greenberg durchtrieben, „da es keine Möglichkeit zur Konzeption dieser Welt gab, konnte es auch keine Möglichkeiten zur Konzeption in ihr geben.“
„Das sind doch nur Wortspielereien, Mensch!“
Greenberg kicherte irre. „Glauben Sie, wir verfügen über das Vokabular, dergleichen zu diskutieren, Commander? Wir sind wie die Augen und das Gehirn des Frosches dazu geschaffen, etwas äußerst Begrenztes wahrzunehmen. Was glauben Sie, weshalb das Wort ‚Konzeption’ Gedanke und Leben so eng miteinander verknüpft?“
„Aber ein Frosch legt immer noch Eier, die erfolgreich schlüpfen, gleichgültig, was wir vom Universum halten, Mr. Greenberg.“
„Ein Jammer nur, daß wir keine Frösche sind, sonst … Eine Zeitlang hatten wir einigermaßen Glück mit den Hühnern. Aber sogar sie waren eine Spur zu helle. Beeinflußbar … Vielleicht haben wir uns auch nicht genug um sie gekümmert, wir hatten damals soviel anderes im Kopf.“
Das war schon viel wahrscheinlicher, dachte ich! Die Elfen hatten unsere Siedler mit großem Erfolg sabotiert – indem sie sie dazu bekamen, es selbst zu tun!
Marinetti schien den Tränen nahe zu sein, doch er ließ sie von einem inneren Feuer zorniger Pflichterfüllung trocknen.
„Ich nehme an, ihr wollt nun evakuiert werden?“
„Zur Erde zurück? In psychiatrische Anstalten? Oh nein, das hier ist unsere Welt. Wir leben hier. Wir lernen sie kennen. Sie und die Geschöpfe. Ich sehe wohl ein, daß es keine Kinder geben wird, um die Arbeit fortzusetzen …“
„Welche Arbeit?“ fragte Marinetti spöttisch.
„Die Arbeit des Lernprozesses natürlich.“
„Aber was lernt ihr denn? Hier zu überleben?“
„Nein, Sie Idiot, die Arbeit herauszufinden, was diese Welt darstellt. Das ist alles. Wir leben hier, versteht ihr nicht? Wir haben zu lange um das Verstehen gekämpft, um nun aufzugeben. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß sie uns mögen. Sonst würden die Ernten nicht gedeihen …“
„Sie sind verrückt.“
„Jeder Mensch hat nur ein Leben, dann ist es aus. Wir müssen unser Leben leben und es zu Ende bringen. Dann wird das ganze Erlebnis abgeschlossen sein. Wir haben den Ausgang miterlebt. Begreifen Sie denn nicht?“ flüsterte Greenberg eindringlich. „Wir werden die gesamte Lebensspanne des Menschen auf dieser Welt erlebt haben, wenn der letzte von uns stirbt. Wir werden das ganze Geschehen persönlich zu Ende geführt haben. Wir haben ihnen dann ein Erlebnis von fünfzig oder sechzig Jahren Dauer vorgeführt, und, was noch wichtiger ist, wir sind glücklich über dieses Erlebnis! Dies wird unsere gesamte, wirkliche Erfahrensspanne sein – länger, weit länger als ihre! Mit unserem Tod werden wir den Sieg erringen.“
„Es ist schrecklich“, murmelte Marinetti. „Wir können sie nicht zur Erde zurückbringen. Sie sind zu Außerirdischen, Fremdartigen geworden. Aber wir können sie doch auch nicht einfach hierlassen?“
„Sie können uns hierlassen“, brüllte Greenberg, der gelauscht hatte, „denn wir sind wirklich Fremde geworden. Was habt ihr denn gedacht, als ihr uns hier abgesetzt habt? Daß ihr später eine von Menschen bevölkerte Welt vorfindet? Nun, Herr Kommandeur, Sir, ich habe über andere Dinge nachzudenken. Wichtigere Dinge. Sie haben mit Ihrer Landung hier eine Menge Unruhe verursacht. Dazu hatten Sie kein Recht.“
Und damit stakste er davon. Und mit ihm gingen die übrigen Kolonisten, die uns einfach stehen ließen, so daß wir uns allein den Weg zurück zum Erkundungsboot suchen mußten.
„Wir können sie nicht evakuieren. Ganz eindeutig nicht“, erklärte uns Marinetti, während wir den jämmerlichen Ortsrand passierten. „Wir können diesen absurden Fehlschlag nicht von den Sternen zur Erde zurückbringen.“
„Andererseits …“ meinte Laura Philipson. „Sind diese Außerirdischen nicht von riesiger Bedeutung, wenn etwas daran sein sollte? Was sind sie? Wie sind sie? Was bedeuten sie? Sie könnten unsere gesamte Denkstruktur verändern. Ich meine … dies könnte die wichtigste Entdeckung unserer ganzen Reise sein. Und die Siedler stellen unseren einzigen Schlüssel zum Verständnis dar. Müßten wir nicht deshalb versuchen, sie mitzunehmen, gleichgültig, wie sie dazu stehen? So gesehen ist es vielleicht kein so großer Fehlschlag. Es könnte sich als ein großer Durchbruch unserer Erkenntnisse herausstellen.“
Ich nickte halb überzeugt vor mich hin. Denn mochte dies auch frustrierend, deprimierend sein und all unsere Hoffnungen auf eine lebenstüchtige Kolonie begraben, so war doch zumindest (und letzten Endes) etwas Außergewöhnliches geschehen. War es nicht fast die Sache wert, dachte ich merkwürdigerweise, eine ganze Welt zu verlieren – um die gesamte unerwartete Dimension zu gewinnen?
„Wir haben keine Möglichkeit, sie zu zwingen, selbst wenn wir es wollten“, entgegnete Resnick. „Außerdem glaube ich, daß es schlichtweg gefährlich ist, hier auch nur einen Augenblick länger als nötig zu bleiben.
Wir alle sahen die Tintenblase in ihren Ausgangszustand aus dem tintengefärbten Wasser zurückkehren. Wir haben es gesehen. Wir, die Neuankömmlinge. Wir können auf eine Weise beeinflußt werden, wie wir es während der ganzen Monate beim Aufbau der Anfangskolonie nicht wurden. Wir haben unsere menschlichen „Exemplare“ hier zurückgelassen. Die Elfen haben alles über uns herausgefunden. Wenn Greenberg die Wahrheit spricht, haben sie uns durch ein Rattenlabyrinth gehetzt, dessen Wände nicht räumlicher, sondern zeitlicher Natur sind. Hier bedarf es einer speziellen, wissenschaftlichen Sonderexpedition, bei der Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden können, zu denen wir nicht in der Lage sind.“
„Die letzten Siedler könnten bis zur Ankunft dieser Expedition gestorben sein“, widersprach Laura. „Vierzig Jahre Erfahrung umsonst … Was dann? Eine neue Kolonie aufbauen, deren Menschen man einem Dasein als Versuchskaninchen aussetzt? Wohl kaum!“
Marinetti wirkte frustriert, ausgedörrt; alle Hoffnungen waren ihm entzogen. Doch er wollte nicht länger bleiben. „Die Hauptsache ist, die Fakten, nicht die Opfer, zur Erde zurückzubringen“, erklärte er uns matt und düster.
„So schlimm ist es doch nicht“, beruhigte ich ihn. „Die ganze Zukunft steht uns noch zur Verfügung. Es wird Sternenreisen, Kommunikationsmöglichkeiten geben. Das ist doch nur das erste Sternenschiff. Das Problem von Haven kann weitere hundert oder tausend Jahre warten – falls notwendig. Wir werden zurückkehren. Das heißt, irgendwelche Menschen werden zurückkehren. Sie werden dann wissen, was sie erwartet.“
Also flog Laura unser kleines Schiff zur Starseeder hinauf, und wir bereiteten alles vor, um die Fusionsbrenner zu zünden.
Elfenwesen – oder eine Elfe – an Bord der Starseeder. Lassen sich nicht fangen, lassen sich nicht einmal filmen, um es zu beweisen. Erst sieht man sie, dann schon wieder nicht mehr. Und selbst das ist nicht ganz richtig, denn sie sind nicht völlig präsent, sondern reiten auf ihrer Wahrscheinlichkeitswelle vor und zurück, weichen uns aus und sehen zu, daß die Gipfel ihrer Schwingungsweite außerhalb unserer kurzen, trügerischen Gegenwart liegen. Sie leben die ganze Zeit ein Stückchen in Vergangenheit oder Zukunft. Sie geistern nur kurz an uns vorüber, für einen Augenblick, nicht gegenwärtig genug, sie festzumachen. Vielleicht ist auch nur ein einzelner an Bord des Erkundungsschiffes geschlüpft. Wie soll man das wissen?
Eines dieser Wesen genügt auch schon. Die Astrophysik vermeldet lächerliche Beobachtungen: Quasare, Blautönungen annehmend, schießen auf uns zu, als konzentriere sich das Universum auf sich selbst und wir befänden uns mitten im Zentrum. Es kann nicht sein, sonst müßte der gesamte Himmel in der einströmenden Strahlung erhellt sein. Und doch … vielleicht dauert es … nur Mikrosekunden? Ein paar Sensoren waren überlastet und brannten aus.
Doch die Beobachtungen der Quasare und der fernen Milchstraße sind nicht konstant – sie schwanken. Wir sollten uns einen Spaß daraus machen, daß eine Elfe in den Anlagen sitzt, und sie gar nicht beachten.
Einer der Ingenieure hat eine Schüssel Milch und eine Untertasse mit Essensresten vor seine Kabinentür gestellt. Er sagt, er habe sich eine neue, verbesserte Elfenfalle ausgedacht. Von einer Falle ist allerdings nichts zu sehen. Man sieht nur die Schüssel und die Untertasse. Marinetti schilt ihn für seine Albernheit. Auf freundliche Weise allerdings.
Swanson, der Navigator-Astronom wurde auf einem Auge geblendet durch einen Lichtblitz, als er für eine Sternpeilung durch das Teleskop blickte. Die Haut um sein Auge ist tief von der Sonne verbrannt, die Netzhaut zerstört, ausgebrannt. Durch alles Licht des Universums, das sich nach innen ergossen hatte. Es kann doch nicht wahr sein.
Wir haben unseren Kurs nun nicht durch Sternpeilung, sondern per Computer-Kursspeicherung und Radar-Karten festgelegt. Es ist zu gefährlich, direkt hinauszuschauen. Läßt man die optischen Geräte automatisch bedienen, führt das nur zu einer Überlastung, noch bevor die Dämpfung einsetzen kann. Wüßten wir nicht, daß die Außentemperatur im Raum beständig eine Idee über dem absoluten Nullpunkt liegt, so müßte man uns nachsehen, wenn wir annehmen, daß das Universum tatsächlich wahllos von Zeit zu Zeit in einem Unwetter von Licht und Strahlung implodiert.
So wie die Fakten liegen, müssen wir uns jedoch damit abfinden, daß wir für kurze Augenblicke die Ausdehnung des Universums irgendwie umgekehrt erleben. Nehmen unsere Instrumente das tatsächlich auch wahr? Oder lesen wir nur von den Instrumenten ab, daß sie es tun – während die Elfen uns ‚nichtbeobachten’? Wie konnte Swansons Auge verbrennen? Halluzinieren wir diese Verletzung nur?
Kritische Spannungsstöße im Fusionsantrieb bei der Beschleunigung zur Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit. Es ist unmöglich, das magnetische Plasma auf gleichmäßigem Stand zu halten, solange die Stromspannung dazu neigt, einfach so aufs Geratewohl sich zu verändern und zu schwanken. Wir schalten den Antrieb ab, weil wir nur ein Tausendstel der Lichtgeschwindigkeit erreicht haben und von der Überschreitung noch weit entfernt sind. Nun driften wir, wie wir hoffen, in Richtung Sol. Doch Sol wird ihre Position verändert haben, bis wir dort ankommen, wahrscheinlich in etwa 8000 Jahren bei unserer jetzigen Geschwindigkeit. Also mischen wir im Labor Arsen zurecht und stellen eine weitere Untertasse mit Speisen und eine Schüssel mit Milch auf, denen wir Arsen beigefügt haben. Sie werden angenommen. Gloria! Die Teller sind saubergeleckt. Gott sei gedankt!
Eine Pfütze arsendurchsetzter Milch und ein Häufchen arsendurchsetzter Speisen liegen heute auf dem Boden an jener Stelle, wo sich gestern Schüssel und Untertasse befanden. Der Köder wurde nicht gegessen, nicht getrunken. Aber kann ich das sagen, da sie ursprünglich doch gegessen und getrunken worden waren? Die Köder wurden ent-gessen und ent-trunken, früher im Augenblick der Elfenzeit, als es konsumiert wurde, nach unserer Zeit später.
Und wir driften weiter dahin, 8000 Jahre von der Erde entfernt. Nun, das ist wirklich eine Zeitspanne, die Wunder wirkt. Ich denke jetzt viel über Zeitspannen nach. Heute nacht habe ich zum ersten Male einen Traum rückwärts geträumt.
Rückwärts Traum träumte ich.