Ian Wat­son
Ei­ne Zeit­span­ne, die Wun­der wirkt
A TI­ME-SPAN TO CON­JU­RE WITH

 

Zu un­se­rer Be­stür­zung war auf der ge­sam­ten Pla­ne­teno­ber­flä­che nur ei­ne ein­zi­ge Sied­lung zu er­ken­nen, ob­wohl vier­zig Jah­re ver­stri­chen wa­ren, seit wir hier Ko­lo­nis­ten ab­ge­setzt hat­ten. Und selbst nach die­ser einen muß­ten wir lan­ge mit In­fra­rot­ge­rä­ten su­chen, ehe wir sie op­tisch wahr­neh­men konn­ten, denn – und das war noch be­stür­zen­der – sie lag ab­weh­rend mit­ten im Her­zen des größ­ten Kon­tin­ents, fast so, als hät­ten die Sied­ler be­fürch­tet, raub­gie­ri­ge Un­ge­heu­er könn­ten aus der See krie­chen und lan­ge, sich win­den­de Ten­ta­kel ins Lan­des­in­ne­re er­stre­cken!

Als die Ko­lo­nie vor vier­zig Jah­ren ge­grün­det wor­den war acht Jah­re nach un­se­rem Schiffs­ka­len­der –, hat­te man sie am Ufer ei­nes ru­hi­gen und frucht­ba­ren Ozeans er­rich­tet. Wir er­war­te­ten, bei un­se­rer Rück­kehr einen ge­schäf­ti­gen Ha­fen vor­zu­fin­den, mit See­ver­bin­dun­gen über die In­sel­ket­ten zu den klei­ne­ren Kon­ti­nen­ten und ei­ne et­was lang­sa­me­re Er­schlie­ßung des wei­ten, öden In­lan­des – ein vor­sich­ti­ges Aus­stre­cken von Füh­lern nach den Ein­ge­bo­re­nen, oh­ne sie zu stö­ren. Statt des­sen hat­te sich die Ko­lo­nie ins Lan­des­in­ne­re ver­kro­chen – so weit ins Lan­des­in­ne­re, wie es nur mög­lich war.

Und doch konn­ten sie kaum Sturm­flu­ten be­fürch­tet ha­ben, denn die­se Welt wies merk­wür­di­ger­wei­se kei­ne seis­mi­schen Phä­no­me­ne auf: kei­ner­lei Ge­bir­ge und Sen­kun­gen, ei­ne Welt von sanf­tem Gras­land, wo die ge­rings­te Er­he­bung ei­nes Hü­gel­chens schon ein Ori­en­tie­rungs­punkt dar­stell­te; auch kei­ne Ge­zei­ten, da nur zwei win­zi­ge Mon­de vor­han­den wa­ren, ein je­der kaum grö­ßer als un­ser Raum­schiff.

„Ver­kro­chen ist das rich­ti­ge Wort“, be­merk­te ich zu Com­man­der Ma­ri­net­ti, als wir end­lich per Te­le­skop die ein­zi­ge Ort­schaft zu se­hen be­ka­men – wäh­rend Res­nick ver­geb­lich ver­such­te, ei­ne Art Funk­kon­takt mit den Sied­lern her­zu­stel­len. „Sie müs­sen al­les per Hand dort­hin ge­schleppt ha­ben!“

Die Kriech­be­we­gung steck­te auch noch in dem fer­ti­gen Pro­dukt. Ver­schie­de­ne Mi­ni-Vor­or­te schie­nen sich auf den glei­chen Punkt in der Orts­mit­te hin zu er­stre­cken, wo­bei sie sich so na­he wie mög­lich an den Bo­den kau­er­ten und For­men wie Py­ra­mi­den oder Hoch­bau­ten als Kon­struk­ti­ons­mög­lich­kei­ten völ­lig ver­war­fen. Nied­ri­ge, fla­che Ge­bäu­de dräng­ten sich – an­schei­nend her­ge­stellt aus den Fer­tig­bau­tei­len der einst­mals adret­ten Ha­fen­stadt – in to­hu­wa­bo­hu­haf­ten Hau­fen wie ein runder Tel­ler voll dicht auf­ein­an­der sit­zen­der, über­lap­pen­der be­leg­ter Bröt­chen. Das kon­zen­tri­sche Cha­os wies kei­ner­lei Ver­bin­dung zu dem or­dent­li­chen Stra­ßen­netz und den brei­ten Al­leen der Küs­ten­stadt auf, bei de­ren Bau wir ih­nen be­hilf­lich ge­we­sen wa­ren.

„Es han­delt sich doch wohl um ei­ne Men­schen­stadt?“ über­leg­te Ma­ri­net­ti. „Ich neh­me nicht an, daß die Ein­hei­mi­schen un­se­re Ko­lo­nis­ten ver­drängt ha­ben?“

Kaum. Die Urein­woh­ner wa­ren ein scheu­er und ängst­li­cher Hau­fen ge­we­sen. Sie lös­ten sich in den kleins­ten Sen­ken der Gras­land­schaf­ten auf, ver­bar­gen sich fast hin­ter den Hal­men, als wir ver­such­ten, mit ih­nen in Kon­takt zu tre­ten. Wir be­ka­men sie nie­mals rich­tig zu Ge­sicht, wie lan­ge wir auch über das Fest­land flo­gen. Nur Spu­ren, Fuß­ab­drücke, das ge­le­gent­li­che Da­von­hu­schen ei­ner geis­ter­haf­ten Ge­stalt im Au­gen­win­kel, die ver­schwun­den war, bis man sich nach ihr um­ge­wandt hat­te. Schwer, sie zu be­schrei­ben. Tod­ge­weih­te Geis­ter. Flat­tern­de El­fen. Ko­bold­haf­te, „mensch­li­che“ Li­bel­len. Je­de die­ser Be­schrei­bun­gen traf zu und gleich­zei­tig al­le zu­sam­men. Sie wirk­ten in­sek­ten­haft mit ih­ren (schein­bar) viel­fa­cet­tier­ten Au­gen, flug­un­tüch­ti­gen, zart ge­flü­gel­ten, dün­nen Ar­men, Wes­pen­tail­len, ma­ge­ren, quer­ge­streif­ten pel­zi­gen Bei­nen – ei­ne pro­vi­so­ri­sche Be­schrei­bung, mit viel Mü­he und fast nur mit Bli­cken aus den Au­gen­win­keln zu­sam­men­ge­tra­gen! Au­to­ma­ti­sche Ka­me­ras schos­sen un­abläs­sig ver­geu­de­te Bil­der von ih­nen, ge­ra­de in dem Au­gen­blick, wenn der Be­tref­fen­de die Sze­ne be­trat, oder ge­nau dann, wenn er/sie/es aus der Reich­wei­te der Lin­se ver­schwand.

Die Ein­ge­bo­re­nen schie­nen der Na­tur nä­her zu sein als der Zi­vi­li­sa­ti­on; im­mer noch auf ei­ner Stu­fe des Prä­ko­g­nis­zens. Sie mach­ten (ir­gend­wie) Feu­er. Wir fan­den die ver­kohl­ten Feu­er­stel­len. Sie koch­ten klei­ne Wild­tie­re und Vö­gel, wel­che sie (ir­gend­wie) fin­gen. Wir fan­den die säu­ber­lich ab­ge­lutsch­ten Kno­chen, je­doch kei­ne Fal­len oder Net­ze, le­dig­lich ein paar Stücke aus Gras ge­wun­de­nem Seil. Na­tür­lich kei­ne Pfei­le, Bö­gen und Spee­re, wohl aber mit Dor­nen be­setz­te Stö­cke. Doch nach ge­nau­er Er­wä­gung ka­men wir zu dem Schluß, daß sie nicht so weit ent­wi­ckelt wa­ren, daß wir ih­re zu­rück­ge­zo­ge­ne, aus­wei­chen­de Le­bens­wei­se im In­nern ih­res Kon­tin­ents stö­ren könn­ten, ge­nau­so­we­nig wie ein Mensch, der am Ran­de ei­nes rie­si­gen Fel­des zel­tet, die dor­ti­gen Fal­ter und Schmet­ter­lin­ge be­ein­träch­tigt. So­fern er sie nicht mit In­sek­ten­mit­teln be­sprüht, na­tür­lich – und das war ge­wiß nicht un­se­re Ab­sicht! So wür­de es als wei­te­ren Vor­teil kei­ne kläg­li­chen, ge­bro­che­nen Ein­ge­bo­re­nen ge­ben, die um ein paar Bro­sa­men Tech­no­lo­gie vom Ti­sche des Rei­chen bet­tel­ten, kei­ne zer­stör­te ein­hei­mi­sche Kul­tur, wenn ih­re Göt­ter ka­men und ih­re Träu­me zu­nich­te mach­ten. Ein Nach­teil war na­tür­lich, daß sie schlicht­weg un­in­ter­essant wa­ren. Wir hat­ten es den Sied­lern über­las­sen, ge­ge­be­nen­falls mehr her­aus­zu­fin­den. Es war nicht dring­lich ge­we­sen – zu je­nem Zeit­punkt. Wir er­war­te­ten Groß­ar­ti­ge­res: ir­gend­wel­che ver­blüf­fen­de­ren, an­spruchs­vol­le­ren We­sen ir­gend­wo.

„Ob ei­ne Krank­heit un­se­re Leu­te da­hin­ge­rafft hat, und die Ein­ge­bo­re­nen ha­ben die Hin­ter­las­sen­schaft über­nom­men?“

„Sie könn­ten die Tei­le nicht ein­mal he­ben, ge­schwei­ge denn zu­sam­men­set­zen“, er­klär­te ich.

„Aber warum dann hier, in­mit­ten des Nichts? Statt, ja, Hä­fen und Docks, Sied­lun­gen, die sich von der Küs­te aus ins Lan­des­in­ne­re vor­tas­ten …! Sie woll­ten das In­ne­re un­be­rührt las­sen. Für al­le Fäl­le, we­gen der Ein­ge­bo­re­nen. Und jetzt ha­ben sie sich ge­nau dort­hin aus­ge­brei­tet! Das heißt, sie ha­ben sich nicht aus­ge­brei­tet, sie ha­ben sich dort­hin zu­rück­ge­zo­gen.“

„Viel­leicht ir­gend et­was Un­er­war­te­tes im Meer? Aus dem Meer?“

„Ach, kom­men Sie! Was im­mer es sein mag, es dürf­te kaum not­wen­dig sein, tau­send Ki­lo­me­ter Land zwi­schen sich und die­ses Et­was zu brin­gen!“

„Viel­leicht ist die See selbst le­ben­dig, auf ir­gend­ei­ne ei­gen­wil­li­ge Art, bei der Al­gen ih­re Ner­ven­zel­len dar­stel­len? Viel­leicht be­griff sie erst nach ei­ner Wei­le, was vor­ging, und strahl­te Feind­se­lig­keit ge­gen die mensch­li­chen Ein­dring­li­che aus?“ spin­ti­sier­te ich ge­ra­de­zu hoff­nungs­froh drauf­los.

Ma­ri­net­ti lach­te.

„Ich möch­te wie Sie auch ger­ne mal auf et­was völ­lig Exo­ti­sches sto­ßen! Ich bin ge­nau­so be­gie­rig dar­auf, mein Lie­ber. Aber es han­del­te sich um einen ganz nor­ma­len Ozean – nur et­was sal­zi­ger und weit fisch­rei­cher als al­le Mee­re, die wir seit­her zu Ge­sicht be­kom­men ha­ben.“ Ein et­was bit­te­rer Un­ter­ton schwang nun mit.

Stimmt, lei­der. In all den Flug­jah­ren hat­ten sich die Ster­ne als ziem­lich ge­wöhn­lich her­aus­ge­stellt. Bis­lang wa­ren wir selbst im­mer noch die er­staun­lichs­te Er­schei­nung. Von den fünf „le­ben­di­gen“, ko­lo­ni­sier­ba­ren Wel­ten hat­te nur die­se hier, die ers­te, über­haupt ei­ne kom­ple­xe­re Le­bens­form her­vor­ge­bracht: die el­fen­haf­ten Urein­woh­ner. Die an­de­ren le­ben­di­gen Wel­ten be­fan­den sich auf ei­ner frü­hen pa­läo­zo­i­schen Stu­fe: Dies reich­te von freund­li­cher Wei­te bis zum wil­den, zer­klüf­te­ten, vul­ka­ni­schen Ex­trem. Auf ei­ne Art war das er­freu­lich, be­deu­te­te es doch, daß wir all die Wel­ten für uns hat­ten mit ih­ren At­mo­sphä­ren und Ge­wäs­sern, wenn auch et­was we­nig Hu­mus und Ve­ge­ta­ti­on. (Aber da­mit konn­te man zu­recht­kom­men). Je­de ein­zel­ne konn­te ent­wi­ckelt wer­den – ein­zig­ar­tig und wun­der­bar.

An­de­rer­seits wur­de das mit den Jah­ren im­mer de­pri­mie­ren­der, die Ko­lo­nis­ten schlie­fen wei­ter vor sich hin, und wir blie­ben wach und forsch­ten und forsch­ten. Wir fan­den nichts au­ßer dem, um des­sen Ent­de­ckung wil­len man uns los­ge­schickt hat­te: neue Wel­ten zur Be­sied­lung durch den Men­schen. Nichts Er­staun­li­ches, nichts Be­son­de­res. Und da wa­ren wir nun auf dem Rück­weg zur Er­de über die ers­te Welt, die wir be­sie­delt hat­ten, mit der ab­so­lut ein­tö­nigs­ten, ödes­ten Land­schaft von al­len – ob­wohl sie doch ih­re Vö­gel, klei­nen Tie­re und „El­fen“ be­saß –, woll­ten se­hen, was die Mensch­heit in vier­zig Jah­ren her­vor­ge­bracht hat­te und viel­leicht, nur viel­leicht er­fah­ren, daß man et­was In­ter­essan­tes – ei­ne Klei­nig­keit wür­de ja schon ge­nü­gen – über je­ne Urein­woh­ner her­aus­ge­fun­den hat­te, die wir (wenn auch nicht spöt­tisch oder ag­gres­siv) als Fal­ter und Schmet­ter­lin­ge ab­ge­tan hat­ten, wäh­rend es uns zu Grö­ße­rem dräng­te. Die Mensch­heit wür­de sich dank un­se­rer Mü­hen aus­brei­ten – doch wir wa­ren ent­täusch­te Män­ner und Frau­en.

Und wel­cher Lohn war es nun für un­se­re Be­sied­lungs­mü­hen und die rie­si­gen Auf­wen­dun­gen der Er­de, wenn vier­zig Jah­re nicht mehr her­vor­ge­bracht hat­ten als ei­ne jäm­mer­li­che Sied­lung in der Mit­te ei­nes un­ent­wi­ckel­ten Nichts?

„Ob die Ein­tö­nig­keit der Land­schaft viel­leicht … zu we­nig an­regt?“

„Oder das Feh­len von Ge­zei­ten …?“ Ma­ri­net­ti und mir kam gleich­zei­tig der glei­che Ge­dan­ke. Ver­schie­de­ne An­sät­ze des glei­chen Ge­dan­kens.

„Ob das ein bö­ses Omen für die an­de­ren Wel­ten dar­stellt?“ deu­te­te er an.

„Die Vul­ka­ne auf He­kla wer­den un­se­re Leu­te schon in Schwung hal­ten“, mein­te Res­nick fröh­lich. Wir ha­ben un­se­re neu ent­deck­ten Wel­ten Cam­bria, He­kla, Li­ving­sto­ne und Zoe ge­tauft. Die Welt un­ter uns wur­de Ha­ven ge­nannt, um so­wohl die Hoff­nung auf ei­ne sich aus dem Meer zu ent­wi­ckeln­de Kul­tur wie auch die Tat­sa­che, daß es un­ser ers­tes Ziel war, aus­zu­drücken. Ei­gent­lich hät­ten wir ei­ne der Wel­ten „Neue Er­de“ nen­nen müs­sen. So er­war­te­te man es; das wuß­ten wir. Es stell­te sich je­doch her­aus, daß die ein­zi­ge Welt, der wir die­sen Na­men hät­ten auf­rich­tig ver­lei­hen kön­nen, Ha­ven war. Doch in­zwi­schen hat­ten wir die Ge­le­gen­heit ver­tan, und Ha­ven schi­en auch zu ru­hig und zu mo­no­ton für ei­ne sol­che Eh­re zu sein. So brach­ten wir die­sen Na­men nun wie­der un­be­nutzt zu­rück. Und auch un­se­re Ko­lo­nis­ten hat­ten ihr Ha­ven kaum ge­nutzt, son­dern viel mehr tief in sei­nem In­nern Zu­flucht ge­sucht. Vor ei­nem Un­wet­ter, das nicht zu er­ken­nen war.

 

Am nächs­ten Tag lös­ten wir das klei­ne­re Er­kun­dungs­boot aus der bett­statt­ar­ti­gen Kon­struk­ti­on der Star­see­der (von der nach dem all­mäh­li­chen Ab­bau von aus­rei­chend Fracht, um fünf Wel­ten da­mit aus­zu­rüs­ten, kaum mehr als ein zum Ster­nen­flug be­fä­hig­tes Git­ter­werk auf dem Heim­weg üb­rig­b­lieb) und flo­gen hin­ab zur Sied­lung. Lau­ra Phi­lip­son steu­er­te die Ma­schi­ne, und wir lan­de­ten et­wa hun­dert Me­ter vom äu­ße­ren Rand (des­sen Bau­tei­le sich wie ab­ge­flach­te Schild­krö­ten bei ei­ner lei­den­schafts­lo­sen Paa­rung über den in­ne­ren Rand scho­ben) ent­fernt.

Die Sied­lung war tat­säch­lich aus den Per­ma­plast-Bau­tei­len er­stellt, die einst so or­dent­lich in Ufer­nä­he auf­ge­baut wor­den wa­ren.

Rund um die äu­ße­ren Rän­der hat­te man ein paar pein­lich pri­mi­ti­ve An­bau­ten aus Lehm und Flecht­werk er­rich­tet. Es war tat­säch­lich sehr we­nig er­reicht wor­den – ab­ge­se­hen von dem ge­wal­ti­gen, lä­cher­li­chen Be­mü­hen, die ge­sam­te Sied­lung um tau­send Ki­lo­me­ter ins Lan­des­in­ne­re zu ver­la­gern …

Rund um den Ort ge­die­hen Fel­der mit Ge­mü­se­sor­ten der Er­de. Be­wäs­se­rungs­tei­che und -gra­ben exis­tier­ten eben­falls. Au­ßer­halb der Orts­gren­zen wirk­te al­les gut ge­pflegt. An­de­rer­seits wä­ren sie sonst auch ver­hun­gert. Al­les in al­lem ei­ne doch recht kläg­li­che Be­wirt­schaf­tung! Kläg­lich.

Viel­leicht konn­te man die Be­sied­lung ei­ner frem­den Welt auch nicht so von au­ßen her be­gin­nen, wenn es je­mals die Hei­mat­welt der Ko­lo­nis­ten wer­den soll­te? Viel­leicht muß­te ei­ne Ko­lo­nie auf den nied­rigs­ten Ent­wick­lungs­stand her­ab­sin­ken, ehe sie ih­re ei­ge­ne Kul­tur von sich aus zur „Zi­vi­li­sa­ti­on“ ent­fal­ten konn­te? Gab es sol­che un­be­kann­ten so­zio­lo­gi­schen Ge­set­ze? War dies der Be­we­gungs­grund ge­we­sen, daß sie al­les so weit wie mög­lich von ih­rem Aus­gangs­punkt fort­ge­schleppt hat­ten?

El­fen flitz­ten über die Fel­der. Kaum er­blickt und schon wie­der ver­schwun­den.

Doch es wa­ren auch Men­schen da. Zwan­zig bis drei­ßig Leu­te tauch­ten aus ei­nem schma­len Durch­laß zwi­schen den Bau­ele­men­ten auf.

Sie stürz­ten nicht auf uns zu und dräng­ten sich nicht um uns. Sie blie­ben ein­fach bei den Häu­sern ste­hen und war­te­ten ge­dul­dig ab. So schrit­ten wir durch die Kohl- und Rü­ben­fel­der und be­grüß­ten sie un­se­rer­seits. (Wäh­rend­des­sen tauch­te ein El­fen­we­sen auf und ver­schwand wie­der hin­ter ei­nem rie­si­gen Kohl­kopf.)

Ich er­kann­te den eins­ti­gen Füh­rer der Ko­lo­nie wie­der. Er war stark ge­al­tert, aber das war ja nicht ver­wun­der­lich. Ein Mann na­mens … Green­berg, ja. Green­berg war ein­mal ein kräf­ti­ger Hengst ge­we­sen; nun wirk­te er wie ein mü­der Acker­gaul … Mein Gott, was war ei­gent­lich aus ih­ren Tie­ren ge­wor­den? Ih­ren Pfer­den, Scha­fen und Rin­dern? Die­ser An­fangs­be­stand an Em­bryos, der ein­ge­fro­ren in ei­ner Ka­nin­chen­ge­bär­mut­ter ster­nen­wärts ge­bracht wor­den war und sich in­zwi­schen hät­te ver­hun­dert­fa­chen müs­sen? Wo wa­ren sie?

Und ih­re Kin­der!

Wo wa­ren ih­re Kin­der?

Ich sah zwei oder drei Män­ner und Frau­en An­fang Vier­zig, die im Lau­fe des ers­ten Jah­res der Be­sied­lung ge­bo­ren wor­den sein muß­ten. Doch nie­mand jün­ge­ren. Und ei­ne rie­si­ge Al­ters­lücke klaff­te zwi­schen die­sen we­ni­gen „Jun­gen“ und all den an­de­ren Äl­te­ren.

Schlimm. Schreck­lich. Das Al­ler­schlimms­te.

Sie wa­ren un­frucht­bar ge­wor­den. Und ih­re Tie­re eben­falls. Aber wo­durch? Durch die See­luft? Durch ir­gend­wel­che nich­ter­kann­ten Che­mi­ka­li­en, die erst nach meh­re­ren Jah­ren ei­ne kri­ti­sche Kon­zen­tra­ti­on er­rei­chen …

„We­der Kin­der noch Tie­re.“

Ma­ri­net­ti nick­te. Dem klei­nen Be­grü­ßungs­trupp er­klär­te er: „Nun, wir sind zu­rück­ge­kehrt. Wir ha­ben vier an­de­re Wel­ten er­folg­reich be­sie­delt …“ Er sprach ei­ne Wei­le ein we­nig schwüls­tig und of­fi­zi­ell, ver­mut­lich, um ih­re Nie­der­la­ge ge­recht­fer­tigt zu las­sen. Green­berg und die an­de­ren starr­ten uns nur an wie von der an­de­ren Sei­te ei­ner Aqua­ri­ums­schei­be. Als sie schließ­lich das Wort er­grif­fen, klan­gen ih­re Ant­wor­ten un­s­tet, töl­pel­haft, be­deu­tungs­los – un­ge­dul­dig, als gä­be es et­was, das wir un­be­dingt wis­sen müß­ten, und ab­wie­gelnd, als scher­ten sie sich nicht einen Pfif­fer­ling um uns. Wei­te­re „El­fen“ flat­ter­ten in den Fel­dern um­her. Zum ers­ten Mal be­kam ich ei­nes die­ser We­sen rich­tig zu Ge­sicht und war über­rascht, daß die­ses durch­schim­mern­de In­sek­ten-Ge­schöpf und vie­le, vie­le an­de­re em­sig da­mit be­schäf­tigt wa­ren, die Fel­der hier und da mit sprung­haf­ten, wun­der­li­chen Be­we­gun­gen zu be­stel­len. Die We­sen wa­ren durch ih­re weit­ge­hen­de Trans­pa­renz her­vor­ra­gend ge­tarnt, ih­re Kör­per stell­ten ei­ne Art dün­nes, vi­brie­ren­des Git­ter vor dem land­schaft­li­chen Hin­ter­grund dar, das man kaum be­merk­te; nur bei großer Auf­merk­sam­keit nahm man die Be­we­gun­gen von der Sei­te her wahr.

„Ihr habt ja über­haupt kei­ne Kin­der?“ wie­der­hol­te Ma­ri­net­ti zum drit­ten oder vier­ten Ma­le. Green­berg deu­te­te auf die Fel­der.

„Kin­der?“ Er grins­te dümm­lich. „Kin­der müs­sen ih­re Lek­tio­nen er­hal­ten.“

„Wol­len Sie da­mit sa­gen, daß sie in der Schu­le sind? Wo sind sie denn, Mann? Warum lebt ihr hier drau­ßen zwi­schen den Ein­ge­bo­re­nen?“

„Müs­sen bei­spiels­wei­se ler­nen“, ver­kün­de­te Green­berg, „daß die Son­ne al­les Licht an sich zieht oder daß ein Kie­sel in ei­nem Teich Wel­len zu sich zieht. Müs­sen ler­nen, sol­che Din­ge wahr­zu­neh­men.“

Ma­ri­net­ti ließ un­se­re klei­ne Grup­pe die schä­bi­ge Stra­ße hin­ab­füh­ren – tat­säch­lich an den Hän­den der Ko­lo­nis­ten, als könn­ten wir sonst stol­pern oder ge­gen ei­ne Mau­er lau­fen –, zwi­schen den zu­sam­men­ge­klam­mer­ten Bau­tei­len mit ih­ren Lehm- und Flecht­werkan­bau­ten hin­durch, von de­nen ich plötz­lich an­nahm, daß Sie über­haupt nicht für mensch­li­che We­sen ge­dacht wa­ren, son­dern ih­rer Vor­stel­lung von Be­hau­sung ent­spra­chen, wie sie die El­fen­we­sen ha­ben moch­ten: ein ar­chi­tek­to­ni­sches Äqui­va­lent zu der Schüs­sel Milch, die man ei­nem Hein­zel­männ­chen hin­stell­te!

Sie wa­ren be­reit­wil­lig zu ih­nen ge­zo­gen. Kei­ner der Sied­ler mach­te sich die Mü­he, ei­ne Waf­fe zu tra­gen. Hat­ten sie die gleich­mü­ti­gen El­fen als die ein­zi­gen „Kin­der“ an­ge­nom­men, die sie je­mals ha­ben woll­ten?

Wir ge­lang­ten an die Stel­le, wo die äu­ße­re Vor­ort-Häu­ser­rei­he sich müh­te, über den in­ne­ren Wall zu klet­tern; von hier aus muß­ten wir ei­ne Wei­le über die Dä­cher der in­ne­ren Bau­ten lau­fen, bis ei­ne Holz­ram­pe uns auf den Bo­den führ­te, wo ei­ne wei­te­re Stra­ße in einen klei­nen „Park“ im Orts­kern mit ei­nem schmut­zi­gen Dorf­teich mün­de­te. Hier ge­sell­ten sich ein paar wei­te­re Leu­te zu der klei­nen Schar, die uns Ge­leit gab: Sie wa­ren al­le An­fang Sieb­zig oder et­was äl­ter. Kaum ei­ne ge­fähr­li­che oder un­wirt­li­che Welt, über­leg­te ich. Nur daß es ih­nen nicht ge­lun­gen war, sich zu ver­meh­ren. Nur daß sie ge­mein­sam und auf be­mit­lei­dens­wer­te Wei­se den Ver­stand ver­lo­ren hat­ten. Selbst die jün­ge­ren Leu­te, die we­ni­gen in den Vier­zi­gern, wa­ren eben­so „se­nil“: tap­sig, ver­geß­lich, an­ma­ßend, um­ständ­lich – ihr Den­ken wie mot­ten­zer­fres­se­nes Band. Ein paar wei­te­re mach­ten sich erst gar nicht die Mü­he, sich zu uns zu ge­sel­len, ob­wohl sie wis­sen muß­ten, wer wir wa­ren. Sie gin­gen ein­fach ih­ren ei­ge­nen Ge­schäf­ten nach und be­ach­te­ten uns gar nicht. Un­glaub­lich.

Ne­ben dem schmut­zi­gen Teich stand ei­ne Schüs­sel mit Kie­seln. Mit ge­üb­ter „Ri­tu­al“-Ges­te nahm Green­berg einen Kie­sel her­aus und schleu­der­te ihn in den Teich. Plop. Die kreis­för­mi­gen Wel­len brei­te­ten sich aus und spran­gen vom Ufer zu­rück. Green­berg blieb ei­ne Wei­le ste­hen, be­wun­der­te die Mus­ter und dräng­te uns dann eilends in ei­ne Wohn­ein­heit, an der noch im­mer die ver­blaß­te, mit Scha­blo­ne auf­ge­sprüh­te Auf­schrift VER­WAL­TUNG stand. Ge­nau in dem Au­gen­blick, als ich durch die Tür trat, blick­te ich nach oben, weil ein schwa­ches Fla­ckern des Lichts mei­ne Auf­merk­sam­keit er­reg­te. Ei­nes der El­fen­we­sen war auf­ge­taucht, als sei es durch das „Plop“ im Was­ser ge­ru­fen wor­den, in­dem es über die Dä­cher ge­flat­tert – ge­flo­gen? – war. Es husch­te kurz über uns hin­weg und war auch schon wie­der ver­schwun­den.

Im In­nern ei­nes kah­len Zim­mers auf ei­nem an­sons­ten lee­ren Tisch stand ein Glas­be­cher mit sau­be­rem Was­ser, in dem wi­der­sin­ni­ger­wei­se ein schwar­zer Kie­sel di­rekt un­ter­halb der Was­sero­ber­flä­che schweb­te.

Der Kie­sel lös­te sich auf. Er be­gann sich in Spi­ra­len und Wol­ken im Was­ser zu ver­tei­len … nein, es war kein Kie­sel ge­we­sen, son­dern ei­ne di­cke Tin­ten­bla­se – ein Tin­ten­klecks, der sich nun mit dem Was­ser zu mi­schen be­gann, aber mit Si­cher­heit erst in dem Au­gen­blick auf­zu­lö­sen be­gon­nen hat­te, als wir ein­tra­ten! Es hat­te sich nie­mand vor uns in dem Zim­mer be­fun­den. Kei­ne an­de­ren Tü­ren führ­ten aus ihm her­aus; Fens­ter und Licht­schacht wa­ren fest ver­rie­gelt.

Ma­ri­net­ti starr­te fas­sungs­los das Was­ser­glas an. Green­berg hob es auf, schüt­tel­te es hin und her, um die un­aus­weich­li­che Ver­mi­schung von Was­ser und Tin­te zu be­to­nen und stell­te es dann wie­der wich­tig­tue­risch ab.

„Habt ihr das ge­se­hen?“ frag­te er ge­häs­sig.

Ein Tin­ten­klecks hat­te sich zum glei­chen Ge­bil­de wie zu­vor „ent­mischt“ – zu­fäl­lig, un­will­kür­lich, ge­nau bei un­se­rem Ein­tre­ten? Und be­gann sich dann wie­der zu ver­mi­schen? Die Mil­li­ar­den Tin­ten- und Was­ser­mo­le­kü­le soll­ten von all den mög­li­chen Kon­stel­la­tio­nen ge­ra­de wie­der den ur­sprüng­li­chen un­ver­misch­ten Zu­stand ein­neh­men? Es be­durf­te ei­ni­ger tau­send Mil­li­ar­den Jah­re, da­mit et­was Der­ar­ti­ges zu­fäl­lig ge­sch­ah, falls es wäh­rend der Le­bens­zeit des Uni­ver­sums über­haupt auf­tre­ten konn­te. Und daß wir ge­ra­de hin­zu­ka­men – und Green­berg so tat, als hät­te er da­mit ge­rech­net? Ließ sich denn hier nicht das zwei­te Ge­setz der Ther­mo­dy­na­mik an­wen­den? Soll­te es für ver­schie­de­ne Wel­ten un­ter­schied­li­che Na­tur­ge­set­ze ge­ben?

„Oh nein!“ pro­tes­tier­te ich schnell. „Das hat je­mand vor­be­rei­tet, kurz be­vor wir hier her­ein­ka­men! Oder es wur­de durch ir­gend et­was aus­ge­löst“, füg­te ich hin­zu und dach­te an das fla­ckern­de Licht auf dem Dach.

„An die­se Er­klä­rung dach­ten wir auch“, be­merk­te Green­berg.

„Ei­nes von die­sen El­fen­we­sen! Hyp­no­se. Oder Psy­cho­ki­ne­se. Ir­gend­ei­ne geis­ti­ge Kraft, von der ihr nichts wißt …“

„Sie hel­fen uns bei der Ern­te. Sie ha­ben einen nütz­li­chen Ein­fluß. Wir ha­ben sie gern – sie könn­ten ge­nau­so­gut un­se­re ei­ge­nen Kin­der sein …“ Er lä­chel­te gü­tig.

„Aber sie sa­bo­tie­ren die Ko­lo­nie. Es gibt kei­ne an­de­re Er­klä­rung.“

„Und doch sind wir in Wirk­lich­keit ih­re Kin­der …“ Dann – als be­he­be der An­blick des tin­ti­gen Was­sers ei­ne Art Stö­rung in Green­bergs Ge­hirn (Fins­ter­nis zur Fins­ter­nis, wie es hieß) – er­hell­te sich das Den­ken des Man­nes, und er be­gann end­lich zu­sam­men­hän­gend und fast auf un­se­rer Wel­len­län­ge zu re­den – ein geis­ti­ger Krüp­pel, der wie­der ein­mal durch die Git­ter­stä­be sei­ner Ver­wir­rung in die wirk­li­che Welt blick­te und sich hef­tig be­müh­te, sei­ne Ver­wir­rung mit­zu­tei­len. „Es ist ihr Zeit­ge­fühl … Für uns ist es ei­gen­tüm­lich. Für die­se Welt re­al. Die an­ge­mes­se­ne Um­welt. Die rich­tig wahr­ge­nom­me­ne Um­welt. Die er­folg­rei­che, die sich wei­ter­ent­wi­ckeln kann. Die Son­ne zieht Licht an, der Kie­sel zieht Wel­len an: So se­hen wir es, ich be­haup­te nicht, daß es sich so ver­hält. Doch wir ler­nen noch. Es ist an­stren­gend und er­mü­dend, so mit euch zu re­den, euch das er­klä­ren zu müs­sen. Wir ha­ben uns hier gut ein­ge­lebt, wäh­rend wir al­les be­ob­ach­ten. Wir sind das Le­ben hier ge­wohnt. Es war nicht un­an­ge­nehm, so­bald wir erst mit ih­nen zu­sam­men­leb­ten. Zu­vor je­doch war es so ver­wir­rend und qual­voll – bis wir hier­her­ka­men und uns an­paß­ten. Zwei oder drei Jah­re dem Le­ben am Meer da drau­ßen aus­ge­setzt. Dann zwei, drei wei­te­re Jah­re für die Um­sied­lung, bis wir die rich­ti­ge Stel­le ge­fun­den hat­ten – die Stel­le der Macht. Aber wir be­grei­fen nun …“

„Ihr paßt euch nicht an, Mann! Ihr sterbt aus!“

Ich schnapp­te wü­tend das Was­ser­glas, stürz­te ins Freie und schüt­te­te den In­halt hef­tig in den Teich. Ich hör­te Green­bergs La­chen hin­ter mir an der Tür. Er trat her­aus, nahm mir den lee­ren Be­cher aus der Hand, bück­te sich und füll­te ihn er­neut mit trü­bem Was­ser, das er hin­ein­trug und auf den Tisch stell­te. Ein Ri­tus. Ein Ri­tus von Trüb­heit und Was­ser. Die un­mög­li­che Tren­nung, die Um­keh­rung des Zei­ten­ver­laufs. Au­to­ma­tisch sah ich zum Dach hin­auf. Dort gab es nun kei­ner­lei An­zei­chen für die Prä­senz ei­nes El­fen­we­sens. Ich war wü­tend auf mich, daß ich nach­ge­schaut hat­te, und auch wü­tend, daß der­art un­wirk­li­che, flüch­ti­ge Ge­schöp­fe of­fen­sicht­lich so großen Scha­den an­ge­rich­tet hat­ten. Es wa­ren kei­ne El­fen, es wa­ren Teu­fel. Aber wie hat­ten sie es an­ge­stellt? Gott sei Dank, daß Cam­bria He­kla, Li­ving­sto­ne und Zoe so rau­he, brach­lie­gen­de Wel­ten ge­we­sen wa­ren, in de­nen sich letzt­lich kein hö­he­res Le­ben hat­te ent­wi­ckeln kön­nen!

„Of­fen­sicht­lich sind die­se Krea­tu­ren da­für ver­ant­wort­lich“, mein­te Ma­ri­net­ti und nick­te. „Aber was sind sie ei­gent­lich? Ich kann die ver­damm­ten Din­ger kaum se­hen.“

„Nach ein paar Jah­ren freun­det man sich mit ih­nen an“, ver­trau­te Green­berg uns an. „Sie stel­len ei­ne hö­he­re Stu­fe der An­pas­sung dar, dar­an be­steht kein Zwei­fel. Oh­ne ih­re Füh­rung wä­ren wir ver­lo­ren ge­we­sen … Es gibt da An­zei­chen … wie die Ent­fär­bung des Was­sers.“

„In wel­cher Hin­sicht ei­ne hö­he­re Stu­fe?“

„Ich mei­ne, sie sind wei­ter ver­brei­tet als wir …“

„Da ihr euch nicht ver­mehrt und kei­ne Tie­re ge­züch­tet habt, son­dern le­dig­lich zu die­sem jäm­mer­li­chen Häuf­chen in­mit­ten vom Nichts zu­sam­men­ge­schrumpft seid, ist das ja nicht wei­ter ver­wun­der­lich!“

„Nicht in die­sem Sin­ne wei­ter ver­brei­tet.“ Green­berg hat­te zu kämp­fen, um die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den. „Nicht in eu­rem Sin­ne. Es fällt ei­nem schwer, dar­an zu den­ken, daß ihr sie nicht so um euch her­um se­hen könnt wie wir in­zwi­schen.“

Green­berg sam­mel­te sei­ne Kräf­te. Von nun an sprach er auf stei­fe, kla­re Wei­se un­ter ge­wal­ti­ger An­stren­gung vol­ler Groll, wie je­mand, der ei­ne Fremd­spra­che spre­chen muß, die ihm ver­haßt ist.

„Sie sind nicht im zah­len­mä­ßi­gen Sin­ne weit ver­brei­tet. Sie sind es im zeit­li­chen Sin­ne, ver­steht ihr … zeit­lich. Nein, ihr könnt das nicht ‚be­grei­fen’, und dar­in be­steht auch das gan­ze Pro­blem. Nicht, bis ihr den Trick be­herrscht. Ich neh­me an, daß sie des­halb Fa­cet­ten­au­gen be­sit­zen, um die ver­schie­de­nen Mo­men­te der Ge­gen­wart wahr­zu­neh­men … die ver­schie­de­nen Ge­gen­warts­quan­ten. Hö­ren Sie zu, Herr Ster­nen­schiff­kom­man­deur mit Ih­rer schlau­en Ein­stein­schen Zeit­di­la­ta­ti­on, ich sa­ge Ih­nen, sie kön­nen die Dau­er wahr­neh­men so wie Sie die Ent­fer­nung im Raum. Stel­len Sie sich vor, sie sä­hen die Welt im­mer durch ein schma­les Rohr. Dann wür­den doch stän­dig Din­ge auf­tau­chen und ver­schwin­den, wäh­rend Sie sich um­se­hen, nicht war? Aber da wir die Aus­deh­nung wahr­neh­men, bleibt die Welt in Wirk­lich­keit zu­sam­men­hän­gend und be­stän­dig. Doch ein Frosch sieht die Welt nicht wie wir. Er sieht nur ein paar Mus­ter und Be­we­gun­gen. Wenn et­was still­hält, ist es nicht da. Ein­zel­tei­le der wirk­li­chen Welt exis­tie­ren nicht für ihn! Wir sind bes­ser als die Frösche, da die Welt die gan­ze Zeit hin­durch für uns da ist. Aber um wie vie­les sind wir bes­ser, wie?“

„Sie wol­len doch wohl nicht sa­gen, daß wir im Ver­gleich zu die­sen El­fen wie Frösche sind?“

„Ja, durch­aus! Sie le­ben in ei­ner wei­ten Welt! Sie neh­men die Dau­er wahr – die Aus­deh­nung der Zeit. In ei­ner sol­chen Welt le­ben sie!“

„El­fen­mär­chen!“

„Des­halb sieht man sie nur ab und zu. Ja. Wir sind wie Frösche, die die Flie­ge nur er­ken­nen, wenn sie sich be­wegt. Die rea­le Welt er­fas­sen wir über­haupt nicht. Wie soll­ten wir ei­ne Welt ver­än­dern oder aus­schöp­fen kön­nen, die wir über­haupt nicht se­hen? Das ist nicht ver­gleich­bar mit der Tat­sa­che, daß wir Rönt­gen­strah­len und Ra­dio­wel­len nicht se­hen, wohl aber Ge­rä­te bau­en kön­nen, um sie auf­zu­fan­gen … Wir kön­nen kei­ne Sen­so­ren schaf­fen, um die Dau­er zu se­hen. Wie auch? Die­se Be­grif­fe exis­tie­ren für den Men­schen über­haupt nicht …“

„Für Sie schei­nen sie je­doch ein­deu­tig zu exis­tie­ren!“

„Oh, uns hat man es bei­ge­bracht. Wir ler­nen es. Wir sind nicht wirk­lich ih­re Kin­der. Eher ih­re Haus­tie­re. Ihr Ex­pe­ri­ment. Sie ha­ben uns lie­ber hier als an der Küs­te, ver­steht ihr.“

„Warum seid ihr nicht dort ge­blie­ben?“

„Wir konn­ten nicht“, mur­mel­te Green­berg är­ger­lich. „Der … Druck ih­rer Um­welt … der Sog vom Lan­des­in­nern her … das war al­les … zu­viel. Der Stru­del ih­res Zeit­ge­fühls, der in uns ein­si­cker­te. Sie wür­den es ver­ste­hen, wenn Sie ein paar Jah­re blie­ben. Wie ist es jetzt? Sie emp­fin­den die Dau­er der Welt Au­gen­blick um Au­gen­blick: einen Au­gen­blick nach dem an­de­ren. Die Ver­gan­gen­heit ist fest­ge­legt und für im­mer vor­bei, die Zu­kunft im Be­griff der Ent­ste­hung. Und da­zwi­schen liegt die­se trü­ge­ri­sche Ge­gen­wart: Wie lan­ge hält sie an? Wie­viel Ge­gen­warts­zeit glau­ben Sie ein­zu­neh­men? Zwi­schen drei und sie­ben Mi­nu­ten, wür­de ich sa­gen, ja? So lan­ge schät­zen sie un­ge­fähr die Dau­er der ‚Ge­gen­wart’ ein, nicht wahr? Nun, wie lan­ge dau­ert ih­re Ge­gen­wart? Es sind Stun­den-Ta­ge!“

„Sie wol­len sa­gen, sie kön­nen in die Zu­kunft se­hen?“

„Nein, ih­re Ge­gen­wart er­streckt sich wei­ter, das ist al­les. In un­se­rer trü­ge­ri­schen Ge­gen­wart sind sie nur wahr­schein­lich prä­sent. Ih­re Wahr­schein­lich­keit, hier zu sein, schwankt mit der Zeit, auf die sie ih­re Auf­merk­sam­keit rich­ten – eben­so wie der Ge­gen­stand in­ner­halb un­se­res Blick­fel­des, auf den wir uns kon­zen­trie­ren, rea­ler er­scheint, ob­wohl der Rest eben­so exis­tiert. Sie sind wie Par­ti­kel mit Schwin­gungs­hö­he­punk­ten, Com­man­der. Sie könn­ten über­all sein – zu je­der Zeit! Zu ge­wis­sen Zei­ten sind sie wahr­schein­li­cher an­we­send – ob­wohl sie sich tat­säch­lich über die ge­sam­te ih­nen zur Ver­fü­gung ste­hen­de Zeit­span­ne hin er­stre­cken. Und wir kön­nen das füh­len. Oh ja, das füh­len wir. Un­se­re Wirk­lich­keit wird durch sie dik­tiert.“

„Lä­cher­lich. Ein We­sen kann sich in der Zeit nicht hin und her be­we­gen.“

„Sie be­we­gen sich nicht hin und her. Sie er­stre­cken sich über ei­ne län­ge­re Pe­ri­ode als wir. Was zum Teu­fel ist über­haupt Zeit? Es ist le­dig­lich ei­ne Art und Wei­se, Er­eig­nis­se zu­ein­an­der in Ver­bin­dung zu brin­gen und zu mes­sen. Zeit exis­tiert nicht ei­gen­stän­dig für sich.“

„Das er­klärt aber nicht, wie sie das Was­ser ent­trü­ben.“

„Und ob es das er­klärt. In­dem sie von un­se­rem Stand­punkt aus Din­ge zu­rück­ver­fol­gen, schei­nen sie Er­eig­nis­se über frü­he­re Zu­stän­de hin­aus zu be­ein­flus­sen … In Wirk­lich­keit ver­än­dern sie nur einen Bruch­teil ih­rer ei­ge­nen trü­ge­ri­schen Ge­gen­wart, so wie wir ei­nem Ge­gen­stand, den wir be­trach­ten, mehr Auf­merk­sam­keit wid­men; al­ler­dings be­steht die Welt nicht aus Ge­gen­stän­den, Com­man­der, son­dern aus Pro­zes­sen und Ge­scheh­nis­sen. Wir sind le­dig­lich Be­ob­ach­ter von räum­lich aus­ge­dehn­ten Ob­jek­ten, doch sie kön­nen auch Nicht­be­ob­ach­ter sein – und un­be­ob­ach­te­te Er­eig­nis­se tre­ten auf, wenn sie sie zu­rück­ver­fol­gen. Wie bei der Tin­te im Was­ser. Sie ha­ben es nicht ent­trübt. Ich ha­be die Tin­te hin­ein­fal­len las­sen, als wir eu­er klei­nes Schiff lan­den sa­hen. Zur De­mons­tra­ti­on. Sie nicht­be­ob­ach­te­ten es zu eu­rem Nut­zen, da­mit ihr es mit­er­lebt. Ich wuß­te, daß sie das tun wür­den. Wir sind bes­ser dran als die Frösche. Zu­min­dest ha­ben wir ein klein we­nig An­teil an ih­rer Welt. Wir be­grei­fen ih­re Nicht­be­ob­ach­tun­gen. Wir se­hen, wie die Wel­len auf den Kie­sel im Teich zu­lau­fen. Wir se­hen die Welt vor- und zu­rück­schwan­ken. Nach ei­ner Wei­le be­ka­men wir kei­ne Kin­der mehr … weil aus dem Au­gen­blick der Be­fruch­tung die Tren­nung von Ei und Sper­ma wur­de!“

„Wahr­schein­lich eher, weil sie ih­nen die Lust aus­ge­trie­ben ha­ben“, flüs­ter­te ich Com­man­der Ma­ri­net­ti zu.

„Sie has­sen uns nicht – sie zo­gen uns hier­her ins Zen­trum, um sich um uns zu küm­mern, Com­man­der! Oh, es be­gann et­wa wäh­rend des zwei­ten Jah­res. Zu­erst mit Träu­men. Un­se­re Träu­me wa­ren rück­wärts ge­rich­tet … Ha­ben Sie je­mals rück­wärts ge­träumt, Com­man­der? Einen Traum zu be­ein­flus­sen, fällt ih­nen viel leich­ter … Die Rück­wärts­träu­me stell­ten nur un­se­re Vor­be­rei­tung dar­auf dar, das glei­che im Wach­zu­stand zu er­le­ben. Un­ser Den­ken ge­wöhn­te sich so dar­an, ih­re Ge­füh­le zu emp­fin­den.“

„Aber der Tin­ten­zwi­schen­fall hat sich wirk­lich er­eig­net“, wi­der­sprach Res­nick. „Ich ha­be es doch mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen. Er ver­ge­wal­tig­te die Ge­set­ze der Ther­mo­dy­na­mik!“

„Nein, es war nur ei­ne Art in­ner­halb der Ge­gen­wartss­pan­ne, die das ge­sam­te Er­eig­nis um­schloß, das Ge­sche­hen zu se­hen. Für sie bleibt die Welt er­hal­ten. Sie wis­sen nun weit mehr über un­se­re Denk­pro­zes­se. Sie ha­ben uns stu­diert.“

„Dann se­hen sie die Din­ge an­ders als wir. Zu­min­dest sa­gen Sie das. Aber wie konn­te das die Vieh­zucht ver­hin­dern?“ er­kun­dig­te sich Ma­ri­net­ti, der of­fen­sicht­lich mei­ne An­sicht über ei­ne mög­li­che psy­cho­lo­gi­sche Sper­re bei den Ko­lo­nis­ten teil­te.

„Ah“, grins­te Green­berg durch­trie­ben, „da es kei­ne Mög­lich­keit zur Kon­zep­ti­on die­ser Welt gab, konn­te es auch kei­ne Mög­lich­kei­ten zur Kon­zep­ti­on in ihr ge­ben.“

„Das sind doch nur Wort­spie­le­rei­en, Mensch!“

Green­berg ki­cher­te ir­re. „Glau­ben Sie, wir ver­fü­gen über das Vo­ka­bu­lar, der­glei­chen zu dis­ku­tie­ren, Com­man­der? Wir sind wie die Au­gen und das Ge­hirn des Fro­sches da­zu ge­schaf­fen, et­was äu­ßerst Be­grenz­tes wahr­zu­neh­men. Was glau­ben Sie, wes­halb das Wort ‚Kon­zep­ti­on’ Ge­dan­ke und Le­ben so eng mit­ein­an­der ver­knüpft?“

„Aber ein Frosch legt im­mer noch Ei­er, die er­folg­reich schlüp­fen, gleich­gül­tig, was wir vom Uni­ver­sum hal­ten, Mr. Green­berg.“

„Ein Jam­mer nur, daß wir kei­ne Frösche sind, sonst … Ei­ne Zeit­lang hat­ten wir ei­ni­ger­ma­ßen Glück mit den Hühnern. Aber so­gar sie wa­ren ei­ne Spur zu hel­le. Be­ein­fluß­bar … Viel­leicht ha­ben wir uns auch nicht ge­nug um sie ge­küm­mert, wir hat­ten da­mals so­viel an­de­res im Kopf.“

Das war schon viel wahr­schein­li­cher, dach­te ich! Die El­fen hat­ten un­se­re Sied­ler mit großem Er­folg sa­bo­tiert – in­dem sie sie da­zu be­ka­men, es selbst zu tun!

Ma­ri­net­ti schi­en den Trä­nen na­he zu sein, doch er ließ sie von ei­nem in­ne­ren Feu­er zor­ni­ger Pflicht­er­fül­lung trock­nen.

„Ich neh­me an, ihr wollt nun eva­ku­iert wer­den?“

„Zur Er­de zu­rück? In psych­ia­tri­sche An­stal­ten? Oh nein, das hier ist un­se­re Welt. Wir le­ben hier. Wir ler­nen sie ken­nen. Sie und die Ge­schöp­fe. Ich se­he wohl ein, daß es kei­ne Kin­der ge­ben wird, um die Ar­beit fort­zu­set­zen …“

„Wel­che Ar­beit?“ frag­te Ma­ri­net­ti spöt­tisch.

„Die Ar­beit des Lern­pro­zes­ses na­tür­lich.“

„Aber was lernt ihr denn? Hier zu über­le­ben?“

„Nein, Sie Idi­ot, die Ar­beit her­aus­zu­fin­den, was die­se Welt dar­stellt. Das ist al­les. Wir le­ben hier, ver­steht ihr nicht? Wir ha­ben zu lan­ge um das Ver­ste­hen ge­kämpft, um nun auf­zu­ge­ben. Je­den­falls bin ich über­zeugt, daß sie uns mö­gen. Sonst wür­den die Ern­ten nicht ge­dei­hen …“

„Sie sind ver­rückt.“

„Je­der Mensch hat nur ein Le­ben, dann ist es aus. Wir müs­sen un­ser Le­ben le­ben und es zu En­de brin­gen. Dann wird das gan­ze Er­leb­nis ab­ge­schlos­sen sein. Wir ha­ben den Aus­gang mit­er­lebt. Be­grei­fen Sie denn nicht?“ flüs­ter­te Green­berg ein­dring­lich. „Wir wer­den die ge­sam­te Le­bens­span­ne des Men­schen auf die­ser Welt er­lebt ha­ben, wenn der letz­te von uns stirbt. Wir wer­den das gan­ze Ge­sche­hen per­sön­lich zu En­de ge­führt ha­ben. Wir ha­ben ih­nen dann ein Er­leb­nis von fünf­zig oder sech­zig Jah­ren Dau­er vor­ge­führt, und, was noch wich­ti­ger ist, wir sind glück­lich über die­ses Er­leb­nis! Dies wird un­se­re ge­sam­te, wirk­li­che Er­fah­rens­span­ne sein – län­ger, weit län­ger als ih­re! Mit un­se­rem Tod wer­den wir den Sieg er­rin­gen.“

„Es ist schreck­lich“, mur­mel­te Ma­ri­net­ti. „Wir kön­nen sie nicht zur Er­de zu­rück­brin­gen. Sie sind zu Au­ßer­ir­di­schen, Fremd­ar­ti­gen ge­wor­den. Aber wir kön­nen sie doch auch nicht ein­fach hier­las­sen?“

„Sie kön­nen uns hier­las­sen“, brüll­te Green­berg, der ge­lauscht hat­te, „denn wir sind wirk­lich Frem­de ge­wor­den. Was habt ihr denn ge­dacht, als ihr uns hier ab­ge­setzt habt? Daß ihr spä­ter ei­ne von Men­schen be­völ­ker­te Welt vor­fin­det? Nun, Herr Kom­man­deur, Sir, ich ha­be über an­de­re Din­ge nach­zu­den­ken. Wich­ti­ge­re Din­ge. Sie ha­ben mit Ih­rer Lan­dung hier ei­ne Men­ge Un­ru­he ver­ur­sacht. Da­zu hat­ten Sie kein Recht.“

Und da­mit staks­te er da­von. Und mit ihm gin­gen die üb­ri­gen Ko­lo­nis­ten, die uns ein­fach ste­hen lie­ßen, so daß wir uns al­lein den Weg zu­rück zum Er­kun­dungs­boot su­chen muß­ten.

„Wir kön­nen sie nicht eva­ku­ie­ren. Ganz ein­deu­tig nicht“, er­klär­te uns Ma­ri­net­ti, wäh­rend wir den jäm­mer­li­chen Orts­rand pas­sier­ten. „Wir kön­nen die­sen ab­sur­den Fehl­schlag nicht von den Ster­nen zur Er­de zu­rück­brin­gen.“

„An­de­rer­seits …“ mein­te Lau­ra Phi­lip­son. „Sind die­se Au­ßer­ir­di­schen nicht von rie­si­ger Be­deu­tung, wenn et­was dar­an sein soll­te? Was sind sie? Wie sind sie? Was be­deu­ten sie? Sie könn­ten un­se­re ge­sam­te Denkstruk­tur ver­än­dern. Ich mei­ne … dies könn­te die wich­tigs­te Ent­de­ckung un­se­rer gan­zen Rei­se sein. Und die Sied­ler stel­len un­se­ren ein­zi­gen Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis dar. Müß­ten wir nicht des­halb ver­su­chen, sie mit­zu­neh­men, gleich­gül­tig, wie sie da­zu ste­hen? So ge­se­hen ist es viel­leicht kein so großer Fehl­schlag. Es könn­te sich als ein großer Durch­bruch un­se­rer Er­kennt­nis­se her­aus­stel­len.“

Ich nick­te halb über­zeugt vor mich hin. Denn moch­te dies auch frus­trie­rend, de­pri­mie­rend sein und all un­se­re Hoff­nun­gen auf ei­ne le­bens­tüch­ti­ge Ko­lo­nie be­gra­ben, so war doch zu­min­dest (und letz­ten En­des) et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches ge­sche­hen. War es nicht fast die Sa­che wert, dach­te ich merk­wür­di­ger­wei­se, ei­ne gan­ze Welt zu ver­lie­ren – um die ge­sam­te un­er­war­te­te Di­men­si­on zu ge­win­nen?

„Wir ha­ben kei­ne Mög­lich­keit, sie zu zwin­gen, selbst wenn wir es woll­ten“, ent­geg­ne­te Res­nick. „Au­ßer­dem glau­be ich, daß es schlicht­weg ge­fähr­lich ist, hier auch nur einen Au­gen­blick län­ger als nö­tig zu blei­ben.

Wir al­le sa­hen die Tin­ten­bla­se in ih­ren Aus­gangs­zu­stand aus dem tin­ten­ge­färb­ten Was­ser zu­rück­keh­ren. Wir ha­ben es ge­se­hen. Wir, die Neu­an­kömm­lin­ge. Wir kön­nen auf ei­ne Wei­se be­ein­flußt wer­den, wie wir es wäh­rend der gan­zen Mo­na­te beim Auf­bau der An­fangs­ko­lo­nie nicht wur­den. Wir ha­ben un­se­re mensch­li­chen „Ex­em­pla­re“ hier zu­rück­ge­las­sen. Die El­fen ha­ben al­les über uns her­aus­ge­fun­den. Wenn Green­berg die Wahr­heit spricht, ha­ben sie uns durch ein Rat­ten­la­by­rinth ge­hetzt, des­sen Wän­de nicht räum­li­cher, son­dern zeit­li­cher Na­tur sind. Hier be­darf es ei­ner spe­zi­el­len, wis­sen­schaft­li­chen Son­der­ex­pe­di­ti­on, bei der Vor­sichts­maß­nah­men ge­trof­fen wer­den kön­nen, zu de­nen wir nicht in der La­ge sind.“

„Die letz­ten Sied­ler könn­ten bis zur An­kunft die­ser Ex­pe­di­ti­on ge­stor­ben sein“, wi­der­sprach Lau­ra. „Vier­zig Jah­re Er­fah­rung um­sonst … Was dann? Ei­ne neue Ko­lo­nie auf­bau­en, de­ren Men­schen man ei­nem Da­sein als Ver­suchs­ka­nin­chen aus­setzt? Wohl kaum!“

Ma­ri­net­ti wirk­te frus­triert, aus­ge­dörrt; al­le Hoff­nun­gen wa­ren ihm ent­zo­gen. Doch er woll­te nicht län­ger blei­ben. „Die Haupt­sa­che ist, die Fak­ten, nicht die Op­fer, zur Er­de zu­rück­zu­brin­gen“, er­klär­te er uns matt und düs­ter.

„So schlimm ist es doch nicht“, be­ru­hig­te ich ihn. „Die gan­ze Zu­kunft steht uns noch zur Ver­fü­gung. Es wird Ster­nen­rei­sen, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten ge­ben. Das ist doch nur das ers­te Ster­nen­schiff. Das Pro­blem von Ha­ven kann wei­te­re hun­dert oder tau­send Jah­re war­ten – falls not­wen­dig. Wir wer­den zu­rück­keh­ren. Das heißt, ir­gend­wel­che Men­schen wer­den zu­rück­keh­ren. Sie wer­den dann wis­sen, was sie er­war­tet.“

Al­so flog Lau­ra un­ser klei­nes Schiff zur Star­see­der hin­auf, und wir be­rei­te­ten al­les vor, um die Fu­si­ons­bren­ner zu zün­den.

 

El­fen­we­sen – oder ei­ne El­fe – an Bord der Star­see­der. Las­sen sich nicht fan­gen, las­sen sich nicht ein­mal fil­men, um es zu be­wei­sen. Erst sieht man sie, dann schon wie­der nicht mehr. Und selbst das ist nicht ganz rich­tig, denn sie sind nicht völ­lig prä­sent, son­dern rei­ten auf ih­rer Wahr­schein­lich­keits­wel­le vor und zu­rück, wei­chen uns aus und se­hen zu, daß die Gip­fel ih­rer Schwin­gungs­wei­te au­ßer­halb un­se­rer kur­z­en, trü­ge­ri­schen Ge­gen­wart lie­gen. Sie le­ben die gan­ze Zeit ein Stück­chen in Ver­gan­gen­heit oder Zu­kunft. Sie geis­tern nur kurz an uns vor­über, für einen Au­gen­blick, nicht ge­gen­wär­tig ge­nug, sie festz­u­ma­chen. Viel­leicht ist auch nur ein ein­zel­ner an Bord des Er­kun­dungs­schif­fes ge­schlüpft. Wie soll man das wis­sen?

Ei­nes die­ser We­sen ge­nügt auch schon. Die Astro­phy­sik ver­mel­det lä­cher­li­che Be­ob­ach­tun­gen: Qua­sa­re, Blau­tö­nun­gen an­neh­mend, schie­ßen auf uns zu, als kon­zen­trie­re sich das Uni­ver­sum auf sich selbst und wir be­fän­den uns mit­ten im Zen­trum. Es kann nicht sein, sonst müß­te der ge­sam­te Him­mel in der ein­strö­men­den Strah­lung er­hellt sein. Und doch … viel­leicht dau­ert es … nur Mi­kro­se­kun­den? Ein paar Sen­so­ren wa­ren über­las­tet und brann­ten aus.

Doch die Be­ob­ach­tun­gen der Qua­sa­re und der fer­nen Milch­stra­ße sind nicht kon­stant – sie schwan­ken. Wir soll­ten uns einen Spaß dar­aus ma­chen, daß ei­ne El­fe in den An­la­gen sitzt, und sie gar nicht be­ach­ten.

Ei­ner der In­ge­nieu­re hat ei­ne Schüs­sel Milch und ei­ne Un­ter­tas­se mit Es­sens­res­ten vor sei­ne Ka­bi­nen­tür ge­stellt. Er sagt, er ha­be sich ei­ne neue, ver­bes­ser­te El­fen­fal­le aus­ge­dacht. Von ei­ner Fal­le ist al­ler­dings nichts zu se­hen. Man sieht nur die Schüs­sel und die Un­ter­tas­se. Ma­ri­net­ti schilt ihn für sei­ne Al­bern­heit. Auf freund­li­che Wei­se al­ler­dings.

 

Swan­son, der Na­vi­ga­tor-Astro­nom wur­de auf ei­nem Au­ge ge­blen­det durch einen Licht­blitz, als er für ei­ne Stern­pei­lung durch das Te­le­skop blick­te. Die Haut um sein Au­ge ist tief von der Son­ne ver­brannt, die Netz­haut zer­stört, aus­ge­brannt. Durch al­les Licht des Uni­ver­sums, das sich nach in­nen er­gos­sen hat­te. Es kann doch nicht wahr sein.

 

Wir ha­ben un­se­ren Kurs nun nicht durch Stern­pei­lung, son­dern per Com­pu­ter-Kur­sspei­che­rung und Ra­dar-Kar­ten fest­ge­legt. Es ist zu ge­fähr­lich, di­rekt hin­aus­zu­schau­en. Läßt man die op­ti­schen Ge­rä­te au­to­ma­tisch be­die­nen, führt das nur zu ei­ner Über­las­tung, noch be­vor die Dämp­fung ein­set­zen kann. Wüß­ten wir nicht, daß die Au­ßen­tem­pe­ra­tur im Raum be­stän­dig ei­ne Idee über dem ab­so­lu­ten Null­punkt liegt, so müß­te man uns nach­se­hen, wenn wir an­neh­men, daß das Uni­ver­sum tat­säch­lich wahl­los von Zeit zu Zeit in ei­nem Un­wet­ter von Licht und Strah­lung im­plo­diert.

So wie die Fak­ten lie­gen, müs­sen wir uns je­doch da­mit ab­fin­den, daß wir für kur­ze Au­gen­bli­cke die Aus­deh­nung des Uni­ver­sums ir­gend­wie um­ge­kehrt er­le­ben. Neh­men un­se­re In­stru­men­te das tat­säch­lich auch wahr? Oder le­sen wir nur von den In­stru­men­ten ab, daß sie es tun – wäh­rend die El­fen uns ‚nicht­be­ob­ach­ten’? Wie konn­te Swan­sons Au­ge ver­bren­nen? Hal­lu­zi­nie­ren wir die­se Ver­let­zung nur?

 

Kri­ti­sche Span­nungs­stö­ße im Fu­si­ons­an­trieb bei der Be­schleu­ni­gung zur Über­schrei­tung der Licht­ge­schwin­dig­keit. Es ist un­mög­lich, das ma­gne­ti­sche Plas­ma auf gleich­mä­ßi­gem Stand zu hal­ten, so­lan­ge die Strom­span­nung da­zu neigt, ein­fach so aufs Ge­ra­te­wohl sich zu ver­än­dern und zu schwan­ken. Wir schal­ten den An­trieb ab, weil wir nur ein Tau­sends­tel der Licht­ge­schwin­dig­keit er­reicht ha­ben und von der Über­schrei­tung noch weit ent­fernt sind. Nun drif­ten wir, wie wir hof­fen, in Rich­tung Sol. Doch Sol wird ih­re Po­si­ti­on ver­än­dert ha­ben, bis wir dort an­kom­men, wahr­schein­lich in et­wa 8000 Jah­ren bei un­se­rer jet­zi­gen Ge­schwin­dig­keit. Al­so mi­schen wir im La­bor Ar­sen zu­recht und stel­len ei­ne wei­te­re Un­ter­tas­se mit Spei­sen und ei­ne Schüs­sel mit Milch auf, de­nen wir Ar­sen bei­ge­fügt ha­ben. Sie wer­den an­ge­nom­men. Glo­ria! Die Tel­ler sind sau­ber­ge­leckt. Gott sei ge­dankt!

 

Ei­ne Pfüt­ze ar­sen­durch­setz­ter Milch und ein Häuf­chen ar­sen­durch­setz­ter Spei­sen lie­gen heu­te auf dem Bo­den an je­ner Stel­le, wo sich ges­tern Schüs­sel und Un­ter­tas­se be­fan­den. Der Kö­der wur­de nicht ge­ges­sen, nicht ge­trun­ken. Aber kann ich das sa­gen, da sie ur­sprüng­lich doch ge­ges­sen und ge­trun­ken wor­den wa­ren? Die Kö­der wur­den ent-gessen und ent-trun­ken, frü­her im Au­gen­blick der El­fen­zeit, als es kon­su­miert wur­de, nach un­se­rer Zeit spä­ter.

Und wir drif­ten wei­ter da­hin, 8000 Jah­re von der Er­de ent­fernt. Nun, das ist wirk­lich ei­ne Zeit­span­ne, die Wun­der wirkt. Ich den­ke jetzt viel über Zeit­span­nen nach. Heu­te nacht ha­be ich zum ers­ten Ma­le einen Traum rück­wärts ge­träumt.

Rück­wärts Traum träum­te ich.