Eve­lyn Lief
Jedes vierte Haus
EVE­RY FOURTH HOU­SE

 

LE­VIT­TOWN: Ei­ne klei­ne Vor­ort-Ranch, zum Teil aus Back­stein, zum Teil aus weiß­ge­stri­che­nen Schin­deln. Die Fens­ter­lä­den sind rot. Al­le an­dern Häu­ser des Blocks sind aus Back­stein und Schin­deln. Nur die Fens­ter­lä­den un­ter­schei­den sich. Die einen sind blau, an­de­re gelb oder auch grün. Je­des vier­te Haus hat ro­te Fens­ter­lä­den.

Es ist Abend.

Ha­rold ist fort. Das Ba­by weint. Es weint im­mer nur.

Bar­ba­ra spül­te das Ge­schirr vom Abendes­sen. Das Spül­was­ser war nur lau­warm.

Es ist so heiß hier drin­nen. Heiß, feucht und sti­ckig.

Sie brach­te das Spü­len und Ab­wa­schen zu En­de, dann tupf­te sie sich die Stirn mit dem Ge­schirr­tuch. Sie ließ die Tel­ler auf­ge­sta­pelt ste­hen, daß sie von selbst trock­ne­ten. Als sie von der Spü­le weg­trat, be­trach­te­te sie ih­re Hän­de. Sie sind so weich für Ha­rold. Die­ses Spül­mit­tel ist wirk­lich Mas­se.

Im Wohn­zim­mer schal­te­te Bar­ba­ra den Fern­se­her ein und ließ sich auf die un­ge­mach­te Bett­couch fal­len. Im Schlaf­zim­mer wein­te das Ba­by.

Bald wird er mü­de wer­den und ein­schla­fen. Wenn er in fünf Mi­nu­ten nicht auf­ge­hört hat, wer­de ich nach sei­ner Win­del se­hen. Die Wer­be­sen­dung hat ge­ra­de die rich­ti­ge Län­ge.

NUN, LIE­BE ZU­SCHAU­ER, EINEN BLICK AUF UN­SE­REN PHAN­TAS­TI­SCHEN FERN­SEH-VI­TAL­TRIP. Die­ses ein­fa­che Ge­rät …

Bar­ba­ra sah sich die Wer­bung an und er­in­ner­te sich, wie Ha­rold das Wirk­lich­keits-Zu­satz­ge­rät ge­holt hat­te. Es war et­wa einen Mo­nat nach ih­rer Hoch­zeit ge­we­sen, vor fast an­dert­halb Jah­ren. Nach­dem al­le Hoch­zeits­ge­schen­ke ein­ge­trof­fen wa­ren, hat­ten sie fest­ge­stellt, daß noch ein biß­chen Geld für ein paar Ex­tras üb­rig­b­lieb. Bar­ba­ra hat­te Ha­rold er­klärt, daß sie das Zu­satz­ge­rät brauch­te. Es kos­tet nur neun­zehn Dol­lar, und sieh doch mal, was man al­les da­mit ma­chen kann. Mit dem Wirk­lich­keits­ge­rät könn­test du al­les den­ken, hö­ren, schme­cken, rie­chen und füh­len, was der Schau­spie­ler emp­fin­det. Du könn­test tat­säch­lich zu ei­ner ganz an­de­ren Per­son wer­den. Was soll­te sie denn den gan­zen Tag an­fan­gen, wäh­rend sie dar­auf war­te­te, daß das Kind in ih­rem In­nern wuchs und Ha­rold von der Ar­beit kam?

Im an­de­ren Zim­mer hat­te das Ba­by zu wei­nen auf­ge­hört.

Gut. Jetzt schläft er. Nach dem Un­fall hat­te ich Angst, er könn­te in­ne­re Ver­let­zun­gen da­von­ge­tra­gen ha­ben. Die Arz­te hät­ten ja et­was über­se­hen kön­nen, so daß das Ba­by ver­blu­tet wä­re. Aber wenn er ru­hig ist, dann muß es ihm auch gut­ge­hen. Ich wer­de schon auf ihn auf­pas­sen.

Der Film han­del­te von ei­nem ent­täusch­ten, aber ver­lieb­ten jun­gen Mann. Er hat­te einen al­ten Zau­be­rer um­ge­bracht, der sein Mäd­chen ver­ge­wal­tigt hat­te. Nun stand ihm der Pro­zeß be­vor. Doch je­der­mann wuß­te, daß er frei­ge­spro­chen wür­de. Und vor dem Ge­richts­ge­bäu­de war­te­te sein Mäd­chen auf ihn.

Bar­ba­ra wein­te. Ei­gent­lich nicht we­gen des Films, son­dern we­gen Ha­rold. Er war erst vor ei­ner Wo­che ge­stor­ben.

 

„Ha­rold, über­hol nicht! Da vor­ne kommt ei­ne Kur­ve. Bit­te, Ha­rold!“

„Hör auf, an mir her­um­zunör­geln. Du wirst schon wie dei­ne Mut­ter. Du weißt, daß ich noch nie einen Un­fall ge­baut ha­be. Nicht den kleins­ten Krat…“

Bar­ba­ra hat­te ge­ra­de noch Zeit, das Ba­by an sich zu drücken. Das Ba­by fest­zu­hal­ten und wort­los, doch lau­ter als der Un­fal­lärm zu schrei­en.

Sie er­wach­te zer­schun­den und zer­schrammt und hör­te das Ba­by wei­nen. Ha­rold war tot. Das Ba­by war blut­ver­schmiert. Das Ba­by. Bar­ba­ra leg­te das Ba­by auf das ro­te Pflas­ter, beug­te sich über ih­ren to­ten Mann und das Kind, trau­te sich nicht, sie an­zu­fas­sen, woll­te trös­ten und ge­trös­tet wer­den. Woll­te, daß man ihr sag­te, daß al­les gar nicht wahr war.

Sie hat­te den Ein­druck, als hät­te das Ba­by die gan­ze Wo­che ge­weint. Erst jetzt hat­te es end­lich auf­ge­hört.

Das Ba­by. Es ist al­les, was mir von Ha­mid ge­blie­ben ist. Oh, warum hat er nicht auf mich ge­hört, nur die­ses ei­ne Mal.

Bit­te, Ha­rold, komm zu­rück. Ich brau­che dich. Ich ver­spre­che dir, ich will dich nie mehr kri­ti­sie­ren, wenn du nur zu­rück­kommst. Ich weiß, daß es mei­ne Schuld war. Wenn ich dich beim Fah­ren nur nicht ge­stört hät­te.

Bar­ba­ra mach­te die Au­gen zu. Kei­ne Trä­nen. Denn Ha­rold hielt sie fest im Arm.

 

Bar­ba­ra streck­te sich und ku­schel­te sich dann in ei­nem Halb­kreis zu­sam­men. Der Fern­se­her lief noch im­mer. Das Ba­by wein­te wie­der.

Er hört nie­mals auf. Aber ich soll­te auch wirk­lich auf­ste­hen und nach­se­hen, was ihm fehlt. In zwei Mi­nu­ten ste­he ich auf.

NUN, LIE­BE ZU­SCHAU­ER, EINEN BLICK AUF UN­SE­REN PHAN­TAS­TI­SCHEN FERN­SEH-VI­TAL­TRIP. Die­ses ein­fa­che Ge­rät …

Bar­ba­ra dach­te an den al­ten Schnul­zen­film Li­ving Our Li­ves. Das war drei Jah­re her. Und er hat­te die Lö­sun­gen für all ih­re Pro­ble­me pa­rat ge­habt.

Ein Mäd­chen un­ter Zwan­zig, auf­ge­rie­ben zwi­schen dem Druck der Schu­le und der stän­di­gen Ver­ständ­nis­lo­sig­keit ih­rer El­tern. Der ein­zi­ge Aus­weg: Hei­ra­ten.

Als es bei Bar­ba­ra so­weit war, hat­te sie die Ehe mit Ha­rold er­zwun­gen. In­dem sie schwan­ger wur­de.

Ein Fern­seh­ge­rät, ein klei­nes Kind, ei­ne be­täub­te Kind­frau.

Es war ein kla­rer Tag, nur ein paar wei­ße Wölk­chen am Him­mel. Sie ging auf dem Geh­weg na­he am Bord­stein ent­lang und wich im­mer wie­der den Schöß­lin­gen aus, die sich aus den brau­nen Fünf-Zen­ti­me­ter-Ris­sen im wei­ßen Be­ton zwäng­ten. Sie war ru­hig, er­staun­lich ru­hig. Dann bog sie um ei­ne Ecke.

Ein Mann rann­te aus sei­nem Haus auf sei­nen Wa­gen zu und stürz­te. Bar­ba­ra trat hin­zu, um ihm zu hel­fen, und sah, wie er in der Ein­fahrt lag und sei­ne ro­te Hand den Tür­griff des Wa­gens um­klam­mer­te. Sie woll­te ihn ge­ra­de an­fas­sen, als sie be­griff, daß er die Pest hat­te. Sie wuß­te, daß es der Schwar­ze Tod war.

Und sie wuß­te, daß sie weg­lau­fen muß­te. Weg­lau­fen. Fort von den Men­schen. Kei­ner durf­te sie be­rüh­ren, sonst wür­de sie an­ge­steckt.

Ich will nicht ster­ben.

Nichts in ih­rem Le­ben war mehr von Be­deu­tung. We­der ihr Mann noch ihr Kind. Nur die Tat­sa­che ih­rer ei­ge­nen Exis­tenz. Ih­res ei­ge­nen Le­bens.

Ich wer­de mich nicht von ih­nen be­rüh­ren las­sen.

Sie rann­te. Rann­te, bis der Him­mel pur­pur­ne Pus­teln hat­te. Oder der Schwar­ze Tod schon in ihr keim­te.

Ei­ne Back­stein­mau­er. Sie muß­te ste­hen­blei­ben. Die Tod­ge­weih­ten bil­de­ten einen Kreis um sie, pack­ten mit ei­nem letz­ten, rach­süch­ti­gen Keu­chen nach ih­ren Fuß­knö­cheln.

Sie star­ben, doch sie war noch am Le­ben.

Bar­ba­ra lehn­te sich an die Wand im Kran­ken­haus­kor­ri­dor. Die Wand war weiß und eis­kalt, und sie war al­lein. Dann um­fin­gen sie war­me Ar­me. „Ma­ma.“

„Ich kam nach Hau­se und fand die Nach­richt vom Kran­ken­haus vor. Was ist denn pas­siert?“

„Es ist al­les mei­ne Schuld. Ha­rold ist tot. Ich glau­be, das Ba­by ist ver­letzt. Wo warst du denn? Warum bist du nicht eher ge­kom­men?“

„Ich bin so schnell ge­kom­men, wie ich konn­te. Warum hast du mich nicht an­ge­ru­fen?“

Dar­auf­hin mach­te Bar­ba­ra sich von ih­rer Mut­ter los. „Aber ich ha­be dich an­ge­ru­fen, nur du warst nicht zu Hau­se.“

„Bar­ba­ra, du er­zählst mir nie et­was.“

„Aber du hörst nicht zu. Ich ha­be dich an­ge­ru­fen. Wen sonst hät­te ich denn an­ru­fen kön­nen?“

„Aber nor­ma­ler­wei­se er­zählst du mir nie et­was.“

„Oh, Ma­ma. Du hast mir in der Ver­gan­gen­heit nie sehr ge­hol­fen. Des­halb weiß ich nicht, warum du er­war­test, daß ich dich jetzt um Hil­fe bit­te. Au­ßer­dem ha­be ich ja bei dir an­ge­ru­fen.“

„Aber ich ha­be doch im­mer mein Bes­tes ge­tan. Ich hat­te mei­ne ei­ge­nen Pro­ble­me, weißt du.“

Ja, und die hast du al­le mir auf­ge­bür­det, dach­te Bar­ba­ra bei sich. „Aber ich hät­te dich so oft ge­braucht. Und du warst nie da. Al­so geh jetzt, HAU AB!“ Bar­ba­ra schrie.

Bar­ba­ra schrie. Der Zau­be­rer kam auf sie zu. Sie woll­te nicht, daß er sich ihr wei­ter nä­her­te. Sie woll­te ihn nicht an­fas­sen. Ha­rold war es, den sie lieb­te. Nicht die­se na­men­lo­se Ge­stalt. Nie­mals könn­te er Ha­rolds Platz ein­neh­men. Sie schrie und trat und biß und kratz­te ihn. Schlug ihn im­mer wie­der mit den Fäus­ten.

 

So heiß und sti­ckig. Muß ei­ne Du­sche neh­men. Und Hun­ger ha­be ich auch.

Bar­ba­ra stand auf, sie war er­schöpft und hat­te ein we­nig Gän­se­haut trotz der Hit­ze. Schau­dernd schal­te­te sie den Fern­se­her aus und ging auf Ze­hen­spit­zen ins Kin­der­zim­mer. Das Ba­by war still. Je­doch voll tiefer Krat­zer und dick mit brau­nem Blut ver­krus­tet.