Gero Reimann
Chick’s Polis
Eine Frottage auf eine Geschichte von Ambrose Bierce. (Warum soll man eine gute Geschichte nicht zweimal erzählen?)
Bei einer Frottage wird die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes auf ein Stück Papier gerieben oder übertragen. Es handelt sich um die älteste druckgraphische Technik. (Warum soll man in der Literatur nicht auch frottieren?) Ambrose Bierce ist ein Schriftsteller aus Amerika (geb. 1842, 1913 in Mexiko in den Wirren der Revolution verschollen), dessen ätzende short stories bei uns in mehr oder weniger schlecht edierten Anthologien und zerpflückten Ausgaben seiner Werke in zumeist elenden Übersetzungen erschienen sind. Einer, bei dem sich viele Leute bedienen, Ideen klauen, Techniken klauen und nun sogar eine seiner Erzählungen als Gegenstand für eine Frottage abreiben.
Mit Leuten wie Ambrose Bierce oder bei uns etwa Oskar Panizza tut sich die etablierte Literaturkritik und -theorie sehr schwer.
Doch beginnen wir nun endlich zu reiben, und sehen wir, wie sich langsam das helle Papier einzudunkeln beginnt. Und je mehr wir reiben, desto dunkler wird die Geschichte, die das Papier uns erzählt.
Beginnen wir damit, wie die Dunkelheit sich immer mehr auf der Erde ausbreitete. Wie sie sich ausdehnte und immer tiefer in die unterirdischen Anlagen der stolzen Städte hinabkroch.
Auf ihrem Siegeszug verlosch eine Straßenlaterne nach der anderen. Letzte mit Dieselkraftstoff angetriebene Notstromaggregate, tuckernde Motorradmotoren, die die Menschen in ihrer Not umfunktioniert hatten, blieben klopfend stehen. Der Strom der Elektronen, den die Aggregate in die schlanken, plastikumschlossenen Bündel der Kabel speisten, versiegte geräuschlos. Lampen verloschen.
Die Dunkelheit kroch weiter, lauerte geduldig, wo sich Holzfeuer in sie hineinfraßen, ließ sich Zeit und kroch dann langsam in die Asche, um die letzten, dunkelrot aufglühenden Funken zu ersticken und in sich zu begraben.
Die Dunkelheit war mächtig, war allgegenwärtig, und nichts konnte sie mehr aufhalten auf ihrem Siegeszug. Die Erde versank in ihr. Lautlos.
Der Junge, der in einer Ecke in dem unterirdischen Labyrinth der Tunnel und Abwässerkanäle zusammengekauert dasaß und vor sich hin wimmerte, weil ihn die Augen schmerzten, mochte 16 Jahre alt sein.
Seine Gesichtshaut fühlte sich feucht an, und an einigen Stellen wurde sie von Pickeln verunziert.
Im Dunkel, welches keine Intervalle mehr unterbrach, er wußte nichts mehr von Nacht und Tag, zu lange schon trieb er sich in den Gängen unter der Stadt herum, verdämmerte sein aufbegehrendes junges Leben in rauschhaften kurzen Exzessen, in denen er sich mit halluzinierten Bildern die Sinne überfluten und sich damit zu betäuben versuchte.
Er riß die Augen auf, und das Dunkel darin schmerzte ihn. Manchmal lehnte er den Kopf gegen eine Wand und versuchte sich auf die Zeit zu konzentrieren, wo er noch etwas erkennen konnte. Wie in einem Film führte er sich seine Erinnerung vor. Nur daß die Regie zeitweilig zusammenbrach und die Bilder wirr ineinanderstürzten. Seine bisherige Lebenszeit erschien ihm seltsam verzerrt und verkürzt. Es war wenig, was sich seinem Körper und seinem Geist eingeprägt hatte. Es fiel ihm schwer, aus seinen Programmen eine Zukunft zu bilden. Grob sprang immer wieder das aufgedunsene Säufergesicht des Mannes hervor, der mit der Mutter zusammenlebte, daneben, an den Rändern verdeckt und ausgerissen, das ausgezehrte, geschminkte Gesicht der Mutter.
Er hörte ein Geräusch am Ende des Ganges und packte seine Waffe, eine vorn spitz zugefeilte Eisenstange, fest mit beiden Händen. Er lauerte. Bewegungslos, gespannt, erregt.
An einem regnerischen, kalten Tag im November verließ ein sechzehnjähriger Sonderschüler das Kleingartenhaus seiner Eltern. Die Kleingartenkolonie, deren Name „Krügers Ruh“ lautete, lag an dem Kanal, der sich im Norden an der Stadt vorbeizog, ein öliges und stumpfes Gewässer mit befestigten Ufern, auf dem lange Schleppzüge dahinglitten, tief in das Wasser eingetaucht, eingedrückt von den Kohlebergen, die oben aus den Laderäumen der Kähne herauslugten.
Das Haus der Eltern wurde von den Steuerbeamten als „Gartenlaube“ geführt und war eigentlich nicht als Wohnhaus vorgesehen. Aber die Behörden hatten nicht verhindern können, daß sich hier, in der Nähe der Industrieanlagen der Nordstadt, am Kanal, auf freistehenden Ruinengrundstücken Kleingartenkolonien ausbreiteten. Die Macht der Gewohnheit hatte Verhältnisse geschaffen, wo ganze Arbeiterfamilien sich in Gartenlauben zusammenpferchten, um hier auszuharren, bis das Geld reichte, um in eine enge Wohnung in ein mehrstöckiges Mietshaus zu ziehen. Die Pacht war billig in der Kolonie und wurde für das Jahr berechnet. Die Behörden übersahen die illegal wuchernden Wohnungen, die sich hier, als Gartenlauben getarnt, ausbreiteten.
Manchmal, wenn ein Beamter des Bauamtes angekündigt war, schienen die Häuser zusammenzuschrumpfen, ihr häßlichstes Äußeres anzulegen – nur um den Eindruck der Unbewohntheit hervorzurufen.
Seitdem es von der Stadt gestattet worden war, elektrisches Licht in einer Gartenlaube zu installieren, hatten die Fernseher und Medientürme mit ihrer Berieselung die Gartenkolonie „Krügers Ruh“ an das Informationssystem und Mediennetz der Stadt angeschlossen. Man fühlte sich als Bürger. Man war nicht länger außen vor.
Doch der Junge hatte es schwer, sich in das Sozialgefüge der Stadt einzuleben.
Der Vater war dem Suff ergeben, hatte schon lange aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Die Mutter war verschlampt. Die beiden lagen in ständigem Streit miteinander.
Er war jedesmal aufs neue froh, den muffigen Wohnraum, in dem sie zusammen leben mußten, zu verlassen. Die Küche war ein an den einzigen Raum des Hauses angebauter Vorbau. Das Wasser mußten sie sich an der im Garten stehenden Pumpe mit dem Eimer holen.
Das Klo lag draußen im Garten und bestand aus einem wackligen Bretterverschlag über einem Sitzbrett (dem Donnerbalken), unter dem ein Kübel, von der Sorte, in dem auf dem Bau der Verputz angerührt wird, im Dunkel stand. Er hatte eines Tages, durch das Loch in den Kübel hinunterschauend, und ihm war dabei fast schlecht geworden vor Ekel, Unmengen kleiner weißer Würmer sich durcheinanderwinden gesehen.
Er nahm sein altes Fahrrad aus dem Schuppen. Das Rad war für ihn zu groß, es hatte einen 28er-Rahmen. Der Sattel war ganz auf den Rahmen runtergeschraubt. Wenn er fuhr, mußte er „eiern“. Außerdem hatte das Rad noch keine Gangschaltung, statt dessen einen Rücktritt.
Er rollerte bis zur Gartenpforte, die nur angelehnt war, stieß sie auf und war froh, aus dem Gartenweg raus, aus der Kleingartenkolonie raus, am Kanal entlang, in eine Gegend zu gelangen, wo vierstöckige, einförmige, hellgrüngestrichene Mietskasernen standen. Er fuhr am Obdachlosenasyl vorbei, vor dem zerlumpte Männer mit braunen Bierflaschen in den Händen auf der kleinen Mauer vor dem Kiosk saßen. Einer der Penner grölte etwas hinter ihm her.
Er war froh, auf die Hauptstraße zu kommen, auf der Straßenbahnen, Busse und Autos in die Stadt hineindrängten. Der Verkehrslärm betäubte ihn. Die schlechte, von Autoabgasen verseuchte LUFT fraß sich in seine Lungen. Er radelte so schnell er konnte auf dem schmalen Radweg dahin, umkurvte halsbrecherisch Fußgänger, wobei er laut klingelte.
Eine alte Frau fing an zu keifen, als er dicht an ihr vorbeizischte. Er drehte schnell den Kopf, streckte ihr die Zunge lang raus und brüllte mit rauher Aussprache: „Blöde Sau!“ Der Frau blieb die Luft im Hals stecken. Er sah gerade noch, wie sie sich, sich nach allen Seiten beifallheischend umblickend, aufzuplustern begann.
Weiter raste er.
Dann, nachdem der erste Rausch verflogen und die Oberschenkel vom ständigen Rauf- und Runtertreten der Pedale ein wenig ermüdet waren, fischte er eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus seiner dunkelblauen Cordjacke und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
Er fuhr langsamer, fuhr freihändig, und er sah, wie einige alte Meckeropas empört auf ihn zeigten.
Er qualmte große Wolken aus sich raus und spürte, wie das Nikotin in seinem Brustkorb nachsäuerte. Er spuckte klatschend gegen Häuserwände und kümmerte sich nicht um Schaufenster, Hauseingänge und Passanten.
Jetzt prügeln die sich zu Hause sicher schon wieder. Sie wirft ihm vor, keine Arbeit zu haben, sich nicht zu bemühen, ein Säufer zu sein, sie auszubeuten. Sie wäre ja schließlich keine Nutte. Er wirft ihr vor, eine Schlampe zu sein, die es ja sowieso mit jedem treiben würde. In jedem frißt das eigene Versagen. Dann werden die Flaschen rausgeholt, und die saufen sich, sich immer weiter wüst beschimpfend, in eine Versöhnung hinein. Wenn er in die Bude zurückkam, lagen die manchmal besoffen auf dem Stragula-Boden.
Nee, dahin würde er keinen Kumpel schleppen können. Nicht in dieses Drecksloch.
Der Nachbar war Maurer. Nach Feierabend arbeitete der noch oft im Garten. Der hatte da Tulpen im Frühjahr auf den Beeten und eine zufriedene dicke, schwangere Frau, die in der Küche herumkochte. Der Nachbar sah ihn manchmal verständnisvoll an, so als wolle er sagen: „Du hast es nicht leicht, Junge“. Mit den beiden Alten unterhielt der Nachbar sich wenig. Man hielt Abstand zu dem Gesindel, wenn man selbst auch nicht viel besser dastand.
Beim Wichsen dachte er oft an die dralle Nachbarsfrau. Er stellte sich deren gewaltige Schenkel vor.
Jetzt bekam die schon wieder ein Kind und streckte aufreizend ihren Bauch vor.
Er freute sich, immer mehr in die Stadt hineinradelnd, auf den Sonntag, wo er mit zwei Kumpels aus der Kolonie in die Stadt zu einer Disco gehen wollte. Vielleicht konnten sie dort ein paar Frauen anhauen. Auf jeden Fall gab es dort immer geile Musik. Scheiße nur, wenn die Alten kein Geld, keinen Pfennig mehr, rausrücken konnten, weil sie alles versoffen hatten.
Sich immer mehr der Innenstadt nähernd, stellte er nüchtern fest, daß er keinen Bock hatte, zur Schule zu gehen. Er würde lieber mit dem Rad herumfahren.
Aber dann traf er durch Zufall einen aus seiner Klasse, den sie „Dete“ nannten. Einen langen Dürren mit einer knarrenden Stimme. Der hatte ein Rad mit 10er-Schaltung und Felgenbremsen.
Mit Dete fuhr er zum Flughafen raus. Dort lungerten sie eine Stunde herum. Er aß einen Schokoladenriegel und trank eine Dose Cola an einem Kiosk.
Dann rauchten sie noch eine und fuhren doch noch zur Schule. Dort saß und schlief er mißmutig zwei zerrige Stunden ab. Er spürte Haß in sich auf die Lehrer, deren Verachtung und Gleichgültigkeit gegenüber den Schülern er bemerkte. Er machte, was notwendig war, um nicht zu sehr aufzufallen, nicht einen Klacks mehr.
Er schaute aus den großen, in Metallrahmen eingefaßten Fenstern des Klassenraumes in einen dunstverhangenen Novemberhimmel hinaus, in dem eine bleiche und kraftlose Sonne wie ein Schemen stand. Hier einfach hingestellt, fremd und unwissend, überflüssig kam er sich in der Klasse vor. Von den Lehrern konnte er nichts lernen. Die turnten ihre gleichgültigen Lehrernummern vor und waren froh, nach Hause, in ihre gemütlichen Fluchtburgen kriechen zu können. Dasitzend und an die Tafel starrend, auf der ihm unverständliche Zeichen wuchsen, dachte er an Tiere. Er liebte Tiere, weil die zart waren und sich streicheln ließen. Die Tiere waren immer dankbar, wenn sie Wärme und Zuneigung spürten. Sie ließen einen spüren, wie dankbar sie waren, wie wohl sie sich fühlten.
Wenn die Eltern ihn streichelten oder nett zu ihm waren, zog sich in ihm etwas zusammen. Er wußte, sie wollten dann was von ihm. Sie wollten dem anderen zeigen und vorspielen, wie gut und lieb sie als Elternteil gegen den Jungen sein konnten. Oder der Alkohol benebelte sie, höhlte sie aus, und sie versuchten dann, reumütig und winselnd, sich anzubiedern. Baten um Verzeihung, weil sie ihn vorher geschlagen hatten. Das Elend hatte sie aufgefressen. Von denen kam nichts mehr. Die hatten ihr Leben aufgegeben, verschenkt, vergessen, beiseite getan. Man hatte sie, weil sie schwach waren, in eine Ecke gestellt. Der Vater, dieser Waschlappen, den hatten sie als halbes Kind noch eingezogen und an eine Front geschickt. Später landete er in einem Gefangenenlager. Nach dem Krieg fing er dann mit krummen Geschäften an. Dabei war das gar nicht sein Vater. Sein richtiger Vater mußte ein amerikanischer Soldat gewesen sein, mit dem es die Mutter eine kurze Zeitlang getrieben hatte. Der Kerl, der jetzt wollte, daß er ihn Vater nennen sollte, der hatte dann im Knast gesessen. Hatte angefangen zu saufen. Und ihn, ihn hatte die Mutter aus einem sentimentalen Gefühl heraus Chick genannt. Zur Erinnerung an das Ami-Schwein. Er war froh, als die letzte Schulstunde vorbei war und er von seinen Gedanken befreit wurde.
Dete haute ihn an, ob er noch vor dem Fahrradkeller mit „boken“ wolle. Sie hätten einen Tennisball dabei. Er sagte zu. Sie rannten aus dem Schulgebäude, schmissen ihre Taschen in die Toreinfahrt vor dem Fahrradkeller und warteten, bis die anderen ihre Fahrräder herausgeholt hatten. Dann legten sie mit den Taschen ein Tor, auf das sie schossen. Ein Junge, der mit Nachnamen Westphal hieß, spielte auch noch mit.
Als sie schnaufend und verschwitzt von dem Gerangel ausruhten, zeigte Westphal den andern beiden pornographische Fotos. Sie zeigten zwei Huren mit schwarzen Strumpfbändern, die es mit einem Mann trieben.
Erregt schnaufend und schweigend beugten sie sich über die säuischen Bilder. Chick war erregt, aber zugleich ekelte er sich vor den Bildern. Die Huren und der Mann auf den Photos sahen seltsam gleichgültig, fast gelangweilt aus, wobei sie die verrücktesten Stellungen durchprobierten. Die sahen so aus, als bekämen sie dafür bezahlt, daß sie da vor dem Photographen sich verrenkten. Sexuelle Erregung, Geilheit, wie er sie von der Onanie her kannte, war etwas Dunkles, etwas Süßes und Geheimnisvolles, etwas Schönes. Er schwieg und machte keine Sprüche zu den Bildern wie Dete. Nach kurzer Zeit hatten die Bilder ihren Reiz verloren, und Westphal steckte sie wieder weg.
„Die habe ich meinem älteren Bruder geklaut“, sagte er.
„Wart ihr schon mal unter der Schule?“ fragte Dete, mit einer Betonung, als gäbe es wer weiß was dort unten zu sehen.
„Da unten, in den unterirdischen Gängen. Das ist wahnsinnig da unten.“
„Was soll da schon sein?“ Westphal dachte wohl, daß Dete ihm nur die Schau stehlen wolle. Schließlich war er es, der denen die geilen Bilder gezeigt hatte.
Dete zappelte herum und deutete aufgeregt auf den Fahrradkellereingang.
„Ich war mit Borkowski letzte Woche nach dem Sport da unten. Da kann man bis zur anderen Straßenseite und noch viel weiter unten langgehen. Hier, da hinten …“ – er zeigte auf die Straße, auf einen Gully – „… da hinten, aus dem Gully, da kann man von unten hochsteigen und rausschauen. Los!“
Er quengelte, wollte sie überreden.
„Laß uns doch da mal runtergehen. Hier ist jetzt sowieso nichts mehr los. Der Eingang ist im Fahrradkeller. Es kann auch nichts passieren. Außerdem habe ich eine Kerze und Streichhölzer dabei.“
Westphal murmelte etwas. Er müsse zum Essen nach Hause und so. Besann sich dann aber, er wollte nicht als Feigling dastehen, und die drei Jugendlichen gingen in den Fahrradkeller hinein.
Chick dachte bei sich: Der hat das geplant, der Dete, ist aber zu feige, allein da runterzugehen. Der glaubt, er müsse jetzt die Schau abziehen, wo der Westphal die geilen Bilder rausgerückt hat.
Im Fahrradkeller war es dunkel, und Westphal griff hastig zur Wand und knipste das Licht an.
„Damit uns hier keiner stört!“ sagte Dete verschwörerisch und schlug die schwere Stahltür hinter ihnen zu.
Im Keller standen die nun leeren Reihen der Fahrradständer, gespenstische Gestelle aus dunklem, verrosteten Eisen, vor den dunkelgrauen, schmutzigen Betonwänden.
Hinter den Säulen sah schwarz und unheimlich die Dunkelheit hervor. Die einzige Lampe im Raum störte sie. Über der Lampe, einer Art Baulampe, war ein Gitter aus schwerem Draht befestigt. Staub hatte sich auf dem gewölbten Glas der Lampe niedergelassen und trübte das Licht. Chick folgte Dete und Westphal und sah zu seinem Fahrrad hinüber, das in der zweiten Reihe vom Gang aus als einziges in dem Gestell stand. Sein alter Schlurren.
Wenigstens hatten die Lutschen ihm heute nicht die Luft aus den Reifen gelassen oder gar die Ventile rausgeschraubt. Diese Arschkekse, dachte er, sollen lieber zu ihren Muttis heimgehen und Hausaufgaben machen.
Ihre Schritte hallten zwischen den kahlen Kellerwänden. Es war kühl hier unten. Dete ging um den letzten Fahrradständer herum und auf eine Einbuchtung in der Wand zu. Es sah aus, als hätte man hier im Beton eine Öffnung für eine Tür gelassen. Die Öffnung war allerdings mit einer großen Platte aus Preßholz abgedichtet.
Sie blieben vor der Platte stehen. Es war noch dunkler um sie geworden. Das diffuse Licht der verstaubten Lampe drang kaum noch in diese Ecke des Fahrradkellers vor.
Dete beugte sich vor und zeigte mit dem Finger nach unten. „Da unten, da ist ein Stück von der Holzplatte abgebrochen. Da können wir einsteigen. Es ist zwar eng, aber wenn man sich ordentlich zusammenquetscht, kommt man noch durch. Außerdem, wenn ich das schaffe, dann schafft ihr das allemal. Wenn ihr durch seid, geht es etwas runter, dann kommt eine Wand, etwa so hoch“ – er zeigte bis zu seinen Schultern – „… da müssen wir rüber. Paßt auf, wenn ihr euch von dieser Wand fallen laßt. Es geht da etwa zwei Meter runter. Und bleibt immer bei mir. Ich habe eine Kerze und Streichhölzer. Da unten ist es stockdunkel.“
Die drei standen dicht beisammen, so daß ihre Körper sich berührten.
Chick traute sich nicht, seiner Angst Ausdruck zu verleihen. Er schwieg und kroch als letzter, Dete und Westphal waren schon verschwunden im Dunkel, durch das Loch. Mit einem letzten Blick, bevor er sich ganz in das Loch rutschen ließ, erfaßte er die trostlose Leere des Fahrradkellers.
Dann setzte er auf dem Boden auf. Er stützte sich mit den Händen ab. Neben sich hörte und spürte er die anderen. Es war dunkel.
„Ich mach die Kerze erst auf der anderen Seite der Mauer an“, sagte Dete.
Chick hörte Kratzen und Schlurfen. Dann ein dumpfes Plumpsen. Über seinem Kopf konnte er das Loch, durch das sie gekrochen waren, nur noch als einen fahlen Schimmer ausmachen.
Er drehte sich um und stieß gegen Westphal, der gereizt aufschrie:
„Paß doch auf, du Idiot!“
Er hörte, wie Westphal sich schnaufend daranmachte, die Wand hochzuklettern. Wieder war ein dumpfes Plumpsen zu vernehmen.
Er spürte mit den Fingern die Wand, tastete mit den Händen an ihr entlang. Mörtel rieselte zu Boden. Die Ziegel fühlten sich rauh und sandig an. Dann hatten seine Hände die obere Kante der Mauer erreicht. Er mußte es schaffen, sich an dieser Mauer hochzuziehen. Ich bin doch gar nicht so schwer, dachte er. Und oben? Wenn da oben was ist, wenn ich mich hochwuchte, und ich stoße dagegen? Dann zog er seinen Körper hoch, spreizte ein Bein ab, schwang es über die Mauerkante und zog den Rest des Körpers nach, bis er rittlings auf der Mauer saß. Auf der anderen Seite ließ er sich hinunter, bis sein Körper nur noch von den Händen gehalten wurde. Er baumelte über der Tiefe.
„Na los, laß schon los“, hörte er Dete sagen.
Er fiel nach unten und kam schwer auf. Seine Hände gruben sich in weichen, feuchten Sand.
„Hier ist es ja feucht“, sagte er.
„Na und, hier sind ja auch überall Abwässergräben.“
Chick schwieg. In seiner Vorstellung sah er sich schon in einem randvoll mit Scheiße gefüllten Abwassergraben versinken. Bloß das nicht!
„Nun mach doch endlich die Kerze an“, hörte er Westphal mit hoher, ungeduldiger Stimme schreien.
Dete, der die Situation genoß, ließ sich Zeit mit dem Anzünden der Kerze. Zwei Streichhölzer brachen ab oder gingen gleich wieder aus, bevor es ihm gelang, den Docht in Brand zu setzen. Sie sahen sich um.
Sie fanden sich zwischen Mauern, die an die drei Meter auseinanderstanden, in einem Gang. Oben, über ihren Köpfen, wurde es sehr dunkel. Sie vermuteten dort eine Betondecke, vielleicht den Fußboden der Aula, die etwa über dem Fahrradkeller liegen mochte.
Der Gedanke an die Aula, eine dumpfe Erinnerung, trieb sofort ab ins Dunkel. Nur Bilderfetzen, Bruchstücke einer Schulfeier, wo Jungen auf der Bühne standen und, die Münder aufgerissen, zu singen versuchten, während vor ihnen ein allseitig gehaßter Musiklehrer sich in der Pose eines Dirigenten versuchte, wobei seine Rückansicht die Schüler zu hämischen Bemerkungen veranlaßte, weil die Hose und das Jackett, in denen er steckte, gar zu lustige Falten warfen. Die Schule trug den Namen eines Philosophen, von dem keiner der Schüler etwas anderes außer dem Namen wußte. Ein Lehrer erwähnte unverständliche Sachen von dem in einer Ansprache. Und dann breitete sich das Dunkel wieder aus, und die Erinnerungen verschwanden.
Die Kerze flackerte, und jedes Flackern ließ die Dunkelheit nach ihnen schnappen – hohnlachend. So als wollte sie sagen:
„Was, ihr Kindsköpfe wagt es mit eurer kümmerlichen Kerze, hier herumzutappen?“
Das LACHEN der Dunkelheit, grause, aber unüberhörbare Realität, umkroch sie. Der Druck des Aulagebäudes lastete auf ihnen. Die Wände der Tunnel verloren sich unten im feuchten Sand, Sand, den ihre Halbschuhe aufwühlten und wo sich kleine Wasserpfützen bildeten.
Sie gingen nach links in den Gang hinein, dicht an der Wand entlang. Dete ging vorne mit der flatternden Kerze. Luftzüge, von denen niemand wußte, woher sie kamen, bissen nach der mickrig flackernden Kerzenflamme. Ihre Schatten umtanzten sie nach einem unhörbaren gequälten Rhythmus. Der Bauch der Dunkelheit quoll und schmerzte, so sehr fiel Lachen aus ihm heraus.
Chick hatte Angst, die anderen zu verlieren. Er lief als letzter. Er wußte irgendwie genau, und es schauerte ihm bei dem Gedanken, er würde sie verlieren.
„Hier!“ Detes Stimme klang verzerrt. „Hier muß es sein, da muß es eine Leitergeben“.
Die Stimme schien leiser zu werden.
„Die Leiter endet an einem Gully, der liegt genau auf halbem Weg zwischen den Schulhöfen, da, wo es zur Nachbarschule rübergeht.“
Chick konnte Detes Ausführungen nicht mehr folgen. Die Angst schottete ihn immer mehr von den anderen beiden ab. Und schon wieder redete Dete.
Leiser werdend. Kaum noch wahrnehmbar im Geflacker des Kerzenlichtes.
„Letztes Mal, als ich da unten war, haben wir den Gullydeckel hochgelüftet und hinausgesehen. Die von der Nachbarschule spielten gerade Korbball. Das sah vielleicht bescheuert aus. Die von hier unten aus zu sehen. Und die merkten natürlich nicht, daß wir sie beobachteten.“
Noch leiser und unverständlicher wurde die Stimme. Chick hatte Mühe, sich unter dem Wort „Nachbarschule“ etwas vorzustellen. Das einzig Sichere war für ihn seine Hand, die er an der Wand entlangstreifen ließ und wo er dem Schmerz nachsann, wenn die rauhe Oberfläche der Mauer ihm die Haut langsam abschmirgelte.
Sie kamen an eine unterirdische Kreuzung, wo sich die Dunkelheit im freien Raum zwischen den Mauern an sie herandrückte. Schrei nicht! Er lauschte auf das Geräusch, das seine Schritte im Sand verursachten. Das Schlurren schien von weither zu kommen. Die Luft roch muffig und naß. Er traute sich nicht, Westphals Cordjacke, die er vor sich wußte, zu packen und sich von Westphal ziehen zu lassen.
Chick hatte Angst.{1}
Chick hatte Angst vor dem Verlöschen des Lichtes. Die Zufälligkeit, mit der die sonderbaren Luftströmungen des Ganges die Kerzenflamme flackern ließen, erschreckte ihn. Das Licht könnte ja jeden Moment weg sein.
Er streckte den Arm aus, um sich an Westphal festzuhalten. Er griff aber ins Leere. Die Dunkelheit schlug zu.
Die Kerze war erloschen.
Weit vorne hörte er Dete herumschreien. Die Stimme verhallte dumpf. Wurde abgewürgt.
„Diese Scheiß winde hier unten …“
Er hastete vorwärts und stieß gegen eine Wand. Er hörte sich schreien, und die Wände warfen ihm sein eigenes Gebrüll entgegen:
„Dete, Westphal, wo seid ihr?“
Und er hörte, kaum noch unterscheidbare Laute, weit weg und verzerrt, verschluckt von dazwischenliegenden Tunnelwänden:
„… fin… Streichhölzer …“
Laute können sehr leise sein.
Er hörte das Geräusch seiner Schultern, die an der Wand entlangschabten, an der er herunterrutschte. Er schrie.
Tränen traten ihm in die Augen, in die sich, er hatte sie aus Angst weit aufgerissen, gierig die Dunkelheit hineinstürzte. Und hinter der Dunkelheit lauerte die Stille. Nur der Stein war mildtätig, die Wand, die sich hart, krümelig und sandig ertasten ließ. Er röchelte und spürte, wie seine Arme, er war immer mehr vornübergesunken, langsam den Boden berührten. Er sank in sich zusammen.
Die Dunkelheit hatte ihn umzingelt und eingeschlossen.
Die Stille ließ ihn nur noch das Rascheln seiner Kleidung hören, die sein schnelles Atmen leicht bewegte. Seine Schuhe schabten auf dem sandigen Boden. Seine Knie und Ellenbogen fühlten sich etwas feucht an.
Weit, ganz weit weg, ganz hinten, hörte er Stimmen. Er verstand sie nicht mehr.
Schrei nicht, schien eine mütterliche Stimme ihn trösten zu wollen. Don’t cry. Aber er schrie dennoch. Er stülpte seine Verzweiflung, sein Elend und seine Einsamkeit, seine Wut über seinen ihn verratenden Körper aus sich heraus, er schrie, und all seine Erfahrung, sein ganzes Leben, lag in diesem Schreien fixiert; er schrie und preßte Luft aus den Lungen an seinen Stimmbändern vorbei. Und je mehr er sich verausgabte durch sein Gebrüll, das die Wände des Labyrinthes, in dem er sich verloren hatte, zurückwarfen, desto mehr schienen fremde Mächte von ihm Besitz zu ergreifen und seine Schädeldecke zu durchdringen.
Die Dunkelheit. Die Stille.
Und Ihnen ausgeliefert sein junger, sexuell erregbarer, nach Befriedigung lechzender, zersehnter Körper.
Er schrie sein Elend aus sich raus, mit Pausen, in denen er die Stille fühlte, die keine Antwort mehr zu ihm durchließ. Und schrie röchelnd, verstummend, weil seine Lungen, seine Stimmbänder, sein Körper sich weigerten, sein Geschrei zu formen und hinauszulassen in die ihn hermetisch umgebende Unterwelt.
Sie haben dich nicht im Stich gelassen. Sie sind vielleicht hinter einer Wegbiegung verlorengegangen, gerade in jenem unwägbaren Augenblick, in dem ich es nicht mehr schaffte, Westphals dunkelgrüne Cordjacke zu erhaschen.
Ich bin allein. Der Gedanke war auf einmal da. Er riß die Augen auf und sah nichts. Erlauschte und hörte nur seinen Körper von innen her monoton rauschen. Er rieb sich die aufgerissenen Augen, bis sie schmerzten. Aber die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Wieder rieb er mit den Knöcheln der Hände an den Wänden entlang, nur um den Schmerz zu spüren. Über mir die Aula … oder der Sportplatz … oder die Straße. Er wußte keine Richtung mehr. Und unter mir? Immer feuchtere, grundwassergetränkte Erde, immer weniger Sand. Fester und klumpiger wird der Boden, undurchdringlicher und schwärzer. Und ich? Aber ein Ich zu denken fiel ihm zu schwer. Er begnügte sich damit, die Einzelheiten seiner Körperwahrnehmungen zu registrieren. Zusammenhänge konnte er nicht mehr herstellen.
Er richtete sich an der Wand auf, tastete mit den Händen langsam nach oben. Er fand aber keine Unterbrechung in der Mauer. Mit ausgestreckten Händen taumelte er weiter, ließ die linke Hand an der Mauer entlangstreifen. Manchmal hielt er inne, um an dem linken Handknöchel zu lutschen. Durch den Schmerz bewahrte er sich vor Persönlichkeitsverlust, vor Identitätsverlust, vor Realitätsverlust – vor der zunehmenden Kristallisierung seines Körpers. Ein schwarzer Schnee sank ununterbrochen, lautlos hernieder, während er fort und fort ging. Er war in einer Vorwärtsbewegung gefangen. Den Gedanken, den Weg zurück, zu dem Einstiegsloch zu finden, hatte er verworfen. Er glaubte manchmal, sich vorstellen zu dürfen, wie er am anderen Ende dieses unterirdischen Tunnels im Schulhof der Nachbarschule, des Gymnasiums, rauskäme, auftauchte, wo sie ihn, den Sonderschüler, anstarren würden. Sie würden ihn sicherlich wieder ins Dunkel hinabstoßen. Ein Aufstieg war ihm versperrt. Lange glaubte er so unter der Erde sich herumzutasten. Er kam an eine Kreuzung, er spürte es an den Luftveränderungen, und ging nach links weiter, weil er Angst hatte, seine Hände von der Wand zu lösen.
Ein tumber Gedanke: Wenn ich immer nach links gehe, komme ich irgendwie zurück. Aber wohin zurück? Er hatte verabsäumt, immer nach oben zu schauen, um, wenn möglich, auch den geringsten Lichtschimmer sofort erkennen zu können. Aber die Dunkelheit war gnadenlos.
Was war er denn? Wo war er denn? Wer war er denn?
Ein halbfertiges menschliches Gestell mit einem unbekannten amerikanischen Soldaten als Vater, der vor lauter Öde auf seiner Mutter herumgerammelt hatte. Und dem versoffenen Subjekt von einem Zuhälter, der nun in dem Loch herumhing, das er als sein Zuhause bezeichnen sollte, was ihm nie gelungen war. Ich bin doch schon immer allein gewesen. Und dabei gehört mein Körper mir noch immer nicht. Wie ungemacht, die groben, verletzten Hände. Und vor allem, was soll ich damit hier unten, wo nur noch Dunkelheit, Stille und Stein und Sand sind.
Er war in einer Ecke, wo zwei Wände zusammenliefen, zusammengesunken. Schlaf überfiel ihn. Eine gnädige Macht, die von Traumgestalten attackiert wurde. Er versank. Der Schlaf entzog ihn der Wirklichkeit. Er tötet das Gewissen, das Denken, das Handeln. Er spielt mit Halluzinationen. Die Welt wird farbig und voller Bewegungen. Die Größen der Gegenstände verschieben sich. Tödlich ist nur die ständige Wiederholung des Schreckens. Die Endlosschlaufe. Der Körper atmet tief durch, um weiterleben zu können. Um das Panikanhängsel am Leben zu erhalten in der lebensverneinenden Umwelt. Er schlief.
Aus dem Schlaf wurde er gerissen, als lose Steine, Mörtel und Sand auf ihn herunterrieselten. Instinktiv wälzte er sich, noch benommen, zur Seite, weg von der Wand, die zusammenstürzen und ihn unter sich begraben könnte. Er wälzte sich in den offenen Raum, ins Leere hinaus.
Unter ihm die Erde warf sich brüllend auf. Ein wahnsinniges Bersten war um ihn. Geräusche stürzten zusammen. Die Dunkelheit schien zu zerreißen. Die Erde warf sich brüllend auf. Er wurde hingeworfen und begraben. Er gab die Verantwortung für seinen Körper ab. Jetzt geschieht etwas mit dir, dachte er. Jetzt machen sich Stein, Sand und Erde einen Dreck aus dir. Du wirst hin und her geschmissen. Steine fielen auf ihn, drückten sich in ihn ein.
Er wimmerte und kauerte sich zusammen, hatte das Gefühl, als würde Luft aus dem Dunkel, in dem er lag, herausgezogen und dann wieder über ihn gepreßt. Schweflige, brennende Luft. Luft, die sich nicht mehr atmen ließ. Er riß den Mund auf und sog die Luft und den Dreck in sich ein. Er strampelte den Sand, den Mörtel und die Ziegel von sich, noch ehe ihm bewußt wurde, daß die Erde aufgehört hatte, sich aufzuwerfen. Die Dunkelheit war vom Staub eingedickt und schwül. Sie schwelte nun auch tief in ihm. Aber immer noch erdrückten ihn Steinwände. Er tastete sich vorwärts und wurde erneut von Lärm niedergeschlagen. Die Materie brüllte auf, überrollte ihn, riß ihn in ihr Innerstes, beleckte ihn blutig. Mit beiden Händen faßte er den feuchten, brennenden Boden. Dunkel und unten und oben bildeten eins. Feucht die Knie und Ellenbogen, auf denen er kroch. Über ihm ein Inferno, das sich ihm nicht mitteilte. Es war zu weit weg. Er war eingedost und trieb den Strom hinunter. Ein Fußtritt. Ein Hund pißte ihn an. Schläge. Er kroch mühsam vorwärts und schmeckte nassen Dreck im Maul. Er preßte sein Gesicht an eine Wand, an die er hingekrochen war. Nach dem Aufwerfen der Erde war die Stille wieder da. Und die Dunkelheit. Nur die Steine buchstabierten sich in seinen weichen Leib. Er fuhr sich mit der Hand zwischen die Beine und rieb sein Geschlecht. Es war da, klein, verschrumpelt, verängstigt, aber es war da. Er spürte, daß etwas Entsetzliches, etwas Unwiederbringliches mit der Materie um ihn vorgegangen war. Und wieder schlief er ein und ließ es zu, daß Traumgeschehen den Schrecknissen, die sein Körper kaum noch aufzunehmen imstande war, entfloh, indem er die Schrecknisse bis ins Absurde durchspielte. Er trieb mit Entsetzen Scherz. Das war sein momentanes Überlebensprogramm. Und schlief. Schlief lange, existierte für Raum/Zeit nicht mehr. Existierte nicht mehr für die Form, in der sich die Materie gerade organisierte, sich vom Bewußtsein erholte. Verschlief, wie sie sich in einem Dritten Weltkrieg, in einem strategischen Inferno ohnegleichen, über ihm austobte und verformte. Weder drang ein Verständnis dessen, was Krieg verursachte und bedeutete, an sein vernebeltes Sein, noch nahm er wahr, wie es über ihm menschliche Körper zu Tausenden hinraffte und verformte. Sprengköpfe krepierten in der Luft über einer Stadt, zu der er, Chick, der Sohn des Amerikaners, schon seit langem keinen Zugang mehr hatte. Der Krieg geschah. Er hätte genausogut auf Alpha Proxima stattfinden können. Sein Gemüt verschlief das Schlimmste. Der erste Schlag, die erste Explosion als Verstärker seines schon vorhandenen Schreckens, hatte nicht ausgereicht, etwas Neues in seinen Wahrnehmungen zu strukturieren. Er verschlief, wie in einem Radius um den Abwurf des Sprengkopfes das Leben verzischte, wie es in einem weiteren Radius verseucht wurde. Er verschlief alles, er hatte für Politik und deren Auswirkungen nie ein Bewußtsein aufbringen können. Die Realität war ihm schon zu früh vorenthalten worden. Was sollte er von den militärtechnischen Prozessen verstehen, die kübelweise über ihm eingeleitet worden waren. Er hielt mit beiden, muschelförmig geschlossenen Händen sein Geschlecht umfaßt, als wolle er es vor gefährlichen Strahlungen bewahren. Er hörte, im Schlaf befangen, der der Dunkelheit, der Stille und dem Atomschlag den Schrecken nahm, hundert Jahre alte, dunkle, samtene Negerstimmen einen Blues anstimmen, unterbrochen, blau und gestirnt wie der Himmel, begleitet von dem schrillen Gekreisch der Mundharmonika, der fiebrigen Vibration von Gitarrensaiten, dem Gestampfe von Füßen. Er überlebte mit seinem Körper, eine Verzögerung, ein Durchstehen der Sklaverei, ein menschliches Warten, den BLUES!
Jemand sagte in seinem vom Schlaf verschlossenen Kopf:
MY BABY IS GONE
Er verstand die Sprache nicht. Aber er fühlte, aufatmend, tief und voll süßem Elend.
MA PRETTY WORLD HAS GONE
Und er schlief seinen Blues über den Ausbruch des Dritten, West und Ost erfassenden, Weltkrieges, eine Abstraktion, hinweg. Unkundig des Englischen, unkundig des Dialektes. Nur noch: Analogie. Wiederholer der Situation. Überlebender ohne Zukunftsprogrammatik und Wissen. Mit den Händen seine Samenbank umschließend. Ich werde mir meine Menschheit nicht rauben lassen. Von niemandem.
I CAN’T DO NOTHING BUT JUST RING MY HANDS AND CRY
sang es jahrhundertealt, das Leben verteidigend, in ihm.
Er schlief.
EVERYTHING IS JUST A THING MA LOVE WILL NEVER CHANGE
Der Blues, irgendwoher, irgendwie, spielte auf seinem Gehör, auf seinen Sinnen und ließ ihn, zusammengekauert, zusammengesunken im unterirdischen Labyrinth unter der Schule, unter der Aula, überleben. Ein Lebensrhythmus, dessen er sich nicht bewußt war, ließ ihn ins Überleben hineinschlafen. Er wimmerte leise vor sich hin.
Und lauschte angespannt. Jahrzehnte schienen vergangen zu sein. Dennoch, die Zeit stand still. Er sog die Luft langsam ein, um kein Geräusch zu machen und umspannte seine Waffe. Er wartete.
Er hörte, wie sich Steine lösten und in das, was vom Tunnel übriggeblieben war, hineinfielen, wie Mörtel runterrieselte. Er fühlte den Druck von Steinmassen auf sich lasten und begann zu kriechen, bis ihn seine Knie schmerzten, weil der Steinschutt sie aufriß. Die Augen drückten sich ihm schwarz in den Kopf ein. Von vorn wehte ein lauer Luftzug gegen ihn, erst nur ein wenig und dann kräftiger werdend, als würden die schwarzen Steinmassen die Luft aus anderen Räumen in sich hineinsaugen. Die Luft wurde wärmer und roch verbrannt. Er mißachtete die Schmerzen an Händen und Knien und Ellenbogen und zog sich weiter vorwärts mit vortastenden Händen. Plötzlich fuhr er erschrocken zurück und verhielt bewegungslos. Etwas Weiches und Warmes, etwas Nasses hatte ihn berührt, war gegen seine vorwärts tastende Hand gestoßen. Er überwand ein neuartiges Entsetzen, das sich in seinem Nacken, schmerzhaft die Muskeln verkrampfend, festbohrte, und streckte die rechte Hand vor, ließ sie durch den Schutt kriechen in Richtung auf das Weiche, das Warme, das Nasse, das Körperhafte, in dasjenige, welches nicht in die Steinwelt hineinpaßte. Er tastete darüber hin. Erstarrt. Es war ein menschlicher Körper.
Er spürte, daß der Körper verzerrt, verbrannt und verkrümmt war, und stellte, weitertastend, fest, daß es sich um mehr als einen Körper handeln mußte. Er kroch weiter vor. Gestank, Leichengeruch, verbranntes Fleisch in der Nase, gefühllos. Seine Bewegungen sollten sein Entsetzen mildern, ihn vor der Leichenstarre bewahren. Weiter, immer weiter. Und spürte, wie die Leichen ihn von allen Seiten umgaben. Oben und unten. Alle Richtungen zu. Wie er sich gefangen fand in ihrer undurchdringlichen, im Dunkel befangenen, ausrinnenden Wärme. Er zappelte, glaubte sein Herz aussetzen zu spüren. Sein Bewußtsein erlosch. Er fiel in eine Ohnmacht.
Auftauchend aus der gnädigen Ohnmacht, spürte er Kälte, wurde gewahr, daß er verkeilt in einem Berg von Leichen steckte, und begann, wahnsinnig geworden, sich durch den Berg, der kein Ende zu nehmen schien, der ganze Tunnel schien mit Leichen verstopft, hindurchzuwühlen. Blut drang auf ihn ein, leblose Glieder, Einzelteile, drückten sich in seinen lebendigen Leib. Knochen, die freilagen, ritzten ihn. Er wühlte herum, bis ihn die Kräfte verließen, der Gestank ihn erstickte und er wieder in Bewußtlosigkeit versank.
Doch die Programme seines Gehirns hatten die ersten Sensationen (das erste Entsetzen) eingespeichert und verarbeitet. Ihm wurde eine weitere Ohnmacht verwehrt. Er bekämpfte die Panik, die Erstickungsangst, die Angst, erdrückt zu werden, die Angst, daß ihm sein Leben entzogen würde, und kroch langsamer, aber unaufhörlich in Bewegung bleibend weiter. Nach langer Zeit fühlte er, wie die Luft von oben, wo er ein Oben vermutete, wo seine Hand nur mit Anstrengung hinlangen konnte, kühler zu werden schien.
Er krabbelte weiter fort. Die Luft ließ sich besser atmen. Hoffentlich lebt keiner mehr und bewegt sich, dachte er. Dann war er auf einmal aus dem Leichenberg heraus und ertastete eine Abrißkante aus Stein, aus festem, verläßlichem Stein, und lag auf dem Bauch. Ich überlebe.
Er richtete sich auf. Er ging mit vorgestreckten Händen tappend vorwärts. Er stieß gegen eine Glasscheibe, tastete sich an ihr entlang und gelangte in eine Öffnung, die ihm die Maße einer Tür zu haben schien.
Er lauschte. Wieder hörte er das Tappen in dem Tunnel, in dem er sich seit Tagen, oder waren es schon Wochen, versteckt hielt und umfaßte seinen Speer. Er spürte, wie ein Mensch sich ihm näherte.
Der andere blieb stehen. Er hörte, wie der vor sich hingrunzte, wie der unartikulierte Laute ausstieß. Kein Wort, das er verstehen konnte.
„Tu mir nichts!“ sagte er laut und lauschte seinen Worten nach, die in der ihn umschließenden Schwärze verhallten. „Tu mir nichts!“
Der andere röchelte weiter vor sich hin, näherte sich aber nicht mehr.
Sie belauerten sich.
Chick hielt seinen stählernen Speer fest umklammert und drückte sich dicht an die Wand.
Die Zeit verging langsam. Chick hielt die Ungewißheit nicht mehr aus. Er stellte den Speer neben sich an die Wand und streckte beide Arme vor sich aus, mit gespreizten Fingern, in die Richtung, aus der die unartikulierten Laute gekommen waren und wo er den anderen im Dunkel vermutete.
Er hörte ein Tappen und bezwang die Panik. Er blieb stehen. Jemand näherte sich ihm. Vor ihm, er drückte sich fest an die Wand, erstarrte, verhielten die Schritte. Jemand berührte ihn vorsichtig an der Schulter.
Er hob langsam seine linke Hand und legte sie auf die Hand, die auf seiner Schulter lag.
Ihre Hände berührten sich.
„Wer bist du?“ fragte Chick.
Niemand antwortete. Er nahm vorsichtig auch den anderen Arm hoch und betastete den Körper, der vor ihm stand. Es war der Körper einer Frau oder eines Mädchens. Das erschreckte ihn. Seine Hände wanderten nun, er war ruhiger geworden, über den anderen Körper, der sich ihm nicht entzog. Als er über das Gesicht fuhr, stellte er fest, daß der Unterkiefer fehlte. Er spürte eine große Wunde, aus der ein Wimmern drang.
Sie umarmten sich, und eine Wärme und Geborgenheit, von der sie nicht mehr wußten, daß es sie noch für sie geben könnte, ließ Schauer des Entzückens über ihre Körper laufen. Nicht mehr fähig, ihre Umwelt wahrzunehmen, so sehr hatte sie der warme Körper des anderen gefangengenommen mit seiner lebenden Wärme, bemerkten der augenlose Chick und die mundlose Frau nicht, daß sich ihnen am Ende des Ganges zwei Gestalten näherten.
Die beiden trugen glänzende Anzüge, die nahtlos Arme und Beine umschlossen. Nur an Füßen und Händen schien festeres Material über die glänzende Folie gegossen worden zu sein. Der Kopfteil der Anzüge war halslos und zerknittert. Er hatte vorne drei eingelassene schwarzumrandete Öffnungen. Auf den bleiverglasten Öffnungen spiegelte sich die Dunkelheit und grinste.
Die beiden unförmigen, langsam dahertappenden Gestalten, die in den dicken Plastikhandschuhen lange Rohre trugen, verharrten, wobei die Folie der Anzüge knisterte. Gedämpft drangen Stimmen aus den Anzügen.
„Notierst du?“ fragte der eine Anzug.
„Warte“, antwortete der andere, „ich muß erst eine neue Karte finden, ich habe kaum noch welche.“
„Es sind zu viele noch hier unten.“
„Ist sowieso Quatsch, die aufzunehmen.“
Der eine Anzug bückte sich und zog aus einer Tasche, die sich auf dem Oberschenkel befand, eine Karte mit der Nummer 3968, auf der stand:
Verletztenbegleitkarte.
Bei den Spalten „Name“, „Straße“ und „Wohnort“ machte er mit der Spitze des rechten Zeigefingers, an der sich ein Schreibgerät befand, einen Strich.
Darunter war ein menschlicher Körper auf der Karte abgebildet, wobei nur die Umrisse sowie einige Innenlinien aufgedruckt waren.
Er machte über den unteren Teil des Kopfes der Figur einen groben Strich. Dann notierte er hinter dem Wort „Zeit“ 19.42, darunter hinter „im“ einen Strich, ebenso bei der Abkürzung „iv“, unter der sich die stilisierte Abbildung einer medizinischen Spritze befand.
Chick und die Frau hielten sich umschlungen und erschufen aus der Wärme ihrer Körper eine erträglichere Welt. Eine Welt, in der es viel Zärtlichkeit gab.
Unter der Spalte mit der Abbildung der medizinischen Spritze folgten auf der Karte drei weitere Spalten, wobei in der Mitte der Wörter, die diese Spalten ausfüllten, die Zahlen 1 bis 3 vorgedruckt waren.
Das sah so aus:
Behandlungs 1 priorität
Transport 2 priorität
spätere 3 Versorgung
Der Anzug machte durch diese drei Spalten mit dem Schreibgerät an seinem Finger einen Strich.
„Was ist mit dem anderen?“ fragte er und zog mühsam eine zweite Karte aus einer Tasche, nachdem er die erste Karte weggesteckt hatte.
Bei der zweiten Karte kreuzte er die Stelle an, wo sich beim Menschen die Augen befinden, und verfuhr im übrigen genauso wie bei der ersten Karte. Dann steckte er auch diese Karte weg. „Wir können nun“, sagte er.
Indem sahen die sechs bleiverglasten runden Öffnungen, die sich oben an den Anzügen befanden, die Folien knisterten bei jeder Bewegung, sich an.
Sie hoben beide ihre dicken Rohre und richteten sie auf Chick und seine Begleiterin.
Nachdem die Flammenwerfer ihr Werk der Zerstörung vollbracht hatten, schleppten die beiden Anzüge die verkohlten Leichen in einen Tunnel, der schon bis obenhin mit Leichen angefüllt war.
Dann verschwanden die beiden mattglänzenden Anzüge in der Dunkelheit.
„Was liegt an mir. Ich gehe gerne ein.
Die Mutter weint. Man muß aus Eisen sein.
Die Sonne fällt zum Horizont hinab.
Bald wirft man mich ins milde Massengrab.“
(aus: Abschied, kurz vor der Abfahrt zum Kriegsschauplatz, für Peter Scher)
Alfred Lichtenstein