Ge­ro Rei­mann

Chick’s Po­lis

 

Ei­ne Frot­ta­ge auf ei­ne Ge­schich­te von Am­bro­se Bier­ce. (Warum soll man ei­ne gu­te Ge­schich­te nicht zwei­mal er­zäh­len?)

 

Bei ei­ner Frot­ta­ge wird die Ober­flä­chen­struk­tur ei­nes Ge­gen­stan­des auf ein Stück Pa­pier ge­rie­ben oder über­tra­gen. Es han­delt sich um die äl­tes­te druck­gra­phi­sche Tech­nik. (Warum soll man in der Li­te­ra­tur nicht auch frot­tie­ren?) Am­bro­se Bier­ce ist ein Schrift­stel­ler aus Ame­ri­ka (geb. 1842, 1913 in Me­xi­ko in den Wir­ren der Re­vo­lu­ti­on ver­schol­len), des­sen ät­zen­de short sto­ries bei uns in mehr oder we­ni­ger schlecht edier­ten An­tho­lo­gi­en und zer­pflück­ten Aus­ga­ben sei­ner Wer­ke in zu­meist elen­den Über­set­zun­gen er­schie­nen sind. Ei­ner, bei dem sich vie­le Leu­te be­die­nen, Ide­en klau­en, Tech­ni­ken klau­en und nun so­gar ei­ne sei­ner Er­zäh­lun­gen als Ge­gen­stand für ei­ne Frot­ta­ge ab­rei­ben.

Mit Leu­ten wie Am­bro­se Bier­ce oder bei uns et­wa Os­kar Pa­niz­za tut sich die eta­blier­te Li­te­ra­tur­kri­tik und -theo­rie sehr schwer.

Doch be­gin­nen wir nun end­lich zu rei­ben, und se­hen wir, wie sich lang­sam das hel­le Pa­pier ein­zu­dun­keln be­ginnt. Und je mehr wir rei­ben, de­sto dunk­ler wird die Ge­schich­te, die das Pa­pier uns er­zählt.

Be­gin­nen wir da­mit, wie die Dun­kel­heit sich im­mer mehr auf der Er­de aus­brei­te­te. Wie sie sich aus­dehn­te und im­mer tiefer in die un­ter­ir­di­schen An­la­gen der stol­zen Städ­te hin­ab­kroch.

Auf ih­rem Sie­ges­zug ver­losch ei­ne Stra­ßen­la­ter­ne nach der an­de­ren. Letz­te mit Die­sel­kraft­stoff an­ge­trie­be­ne Not­strom­ag­gre­ga­te, tu­ckern­de Mo­tor­rad­mo­to­ren, die die Men­schen in ih­rer Not um­funk­tio­niert hat­ten, blie­ben klop­fend ste­hen. Der Strom der Elek­tro­nen, den die Ag­gre­ga­te in die schlan­ken, plas­ti­kums­chlos­se­nen Bün­del der Ka­bel speis­ten, ver­sieg­te ge­räusch­los. Lam­pen ver­lo­schen.

Die Dun­kel­heit kroch wei­ter, lau­er­te ge­dul­dig, wo sich Holz­feu­er in sie hin­ein­fra­ßen, ließ sich Zeit und kroch dann lang­sam in die Asche, um die letz­ten, dun­kel­rot auf­glü­hen­den Fun­ken zu er­sti­cken und in sich zu be­gra­ben.

Die Dun­kel­heit war mäch­tig, war all­ge­gen­wär­tig, und nichts konn­te sie mehr auf­hal­ten auf ih­rem Sie­ges­zug. Die Er­de ver­sank in ihr. Laut­los.

 

Der Jun­ge, der in ei­ner Ecke in dem un­ter­ir­di­schen La­by­rinth der Tun­nel und Ab­wäs­ser­kanä­le zu­sam­men­ge­kau­ert da­saß und vor sich hin wim­mer­te, weil ihn die Au­gen schmerz­ten, moch­te 16 Jah­re alt sein.

Sei­ne Ge­sichts­haut fühl­te sich feucht an, und an ei­ni­gen Stel­len wur­de sie von Pi­ckeln ver­un­ziert.

Im Dun­kel, wel­ches kei­ne In­ter­val­le mehr un­ter­brach, er wuß­te nichts mehr von Nacht und Tag, zu lan­ge schon trieb er sich in den Gän­gen un­ter der Stadt her­um, ver­däm­mer­te sein auf­be­geh­ren­des jun­ges Le­ben in rausch­haf­ten kur­z­en Ex­zes­sen, in de­nen er sich mit hal­lu­zi­nier­ten Bil­dern die Sin­ne über­flu­ten und sich da­mit zu be­täu­ben ver­such­te.

Er riß die Au­gen auf, und das Dun­kel dar­in schmerz­te ihn. Manch­mal lehn­te er den Kopf ge­gen ei­ne Wand und ver­such­te sich auf die Zeit zu kon­zen­trie­ren, wo er noch et­was er­ken­nen konn­te. Wie in ei­nem Film führ­te er sich sei­ne Er­in­ne­rung vor. Nur daß die Re­gie zeit­wei­lig zu­sam­men­brach und die Bil­der wirr in­ein­an­der­stürz­ten. Sei­ne bis­he­ri­ge Le­bens­zeit er­schi­en ihm selt­sam ver­zerrt und ver­kürzt. Es war we­nig, was sich sei­nem Kör­per und sei­nem Geist ein­ge­prägt hat­te. Es fiel ihm schwer, aus sei­nen Pro­gram­men ei­ne Zu­kunft zu bil­den. Grob sprang im­mer wie­der das auf­ge­dun­se­ne Säu­fer­ge­sicht des Man­nes her­vor, der mit der Mut­ter zu­sam­men­leb­te, da­ne­ben, an den Rän­dern ver­deckt und aus­ge­ris­sen, das aus­ge­zehr­te, ge­schmink­te Ge­sicht der Mut­ter.

Er hör­te ein Ge­räusch am En­de des Gan­ges und pack­te sei­ne Waf­fe, ei­ne vorn spitz zu­ge­feil­te Ei­sen­stan­ge, fest mit bei­den Hän­den. Er lau­er­te. Be­we­gungs­los, ge­spannt, er­regt.

 

An ei­nem reg­ne­ri­schen, kal­ten Tag im No­vem­ber ver­ließ ein sech­zehn­jäh­ri­ger Son­der­schü­ler das Klein­gar­ten­haus sei­ner El­tern. Die Klein­gar­ten­ko­lo­nie, de­ren Na­me „Krü­gers Ruh“ lau­te­te, lag an dem Ka­nal, der sich im Nor­den an der Stadt vor­bei­zog, ein öli­ges und stump­fes Ge­wäs­ser mit be­fes­tig­ten Ufern, auf dem lan­ge Schlepp­zü­ge da­hing­lit­ten, tief in das Was­ser ein­ge­taucht, ein­ge­drückt von den Koh­le­ber­gen, die oben aus den La­deräu­men der Käh­ne her­aus­lug­ten.

Das Haus der El­tern wur­de von den Steu­er­be­am­ten als „Gar­ten­lau­be“ ge­führt und war ei­gent­lich nicht als Wohn­haus vor­ge­se­hen. Aber die Be­hör­den hat­ten nicht ver­hin­dern kön­nen, daß sich hier, in der Nä­he der In­dus­trie­an­la­gen der Nord­stadt, am Ka­nal, auf frei­ste­hen­den Rui­nen­grund­stücken Klein­gar­ten­ko­lo­ni­en aus­brei­te­ten. Die Macht der Ge­wohn­heit hat­te Ver­hält­nis­se ge­schaf­fen, wo gan­ze Ar­bei­ter­fa­mi­li­en sich in Gar­ten­lau­ben zu­sam­men­pferch­ten, um hier aus­zu­har­ren, bis das Geld reich­te, um in ei­ne en­ge Woh­nung in ein mehr­stö­cki­ges Miets­haus zu zie­hen. Die Pacht war bil­lig in der Ko­lo­nie und wur­de für das Jahr be­rech­net. Die Be­hör­den über­sa­hen die il­le­gal wu­chern­den Woh­nun­gen, die sich hier, als Gar­ten­lau­ben ge­tarnt, aus­brei­te­ten.

Manch­mal, wenn ein Be­am­ter des Bau­am­tes an­ge­kün­digt war, schie­nen die Häu­ser zu­sam­men­zu­schrump­fen, ihr häß­lichs­tes Äu­ße­res an­zu­le­gen – nur um den Ein­druck der Un­be­wohnt­heit her­vor­zu­ru­fen.

Seit­dem es von der Stadt ge­stat­tet wor­den war, elek­tri­sches Licht in ei­ner Gar­ten­lau­be zu in­stal­lie­ren, hat­ten die Fern­se­her und Me­dien­tür­me mit ih­rer Be­rie­se­lung die Gar­ten­ko­lo­nie „Krü­gers Ruh“ an das In­for­ma­ti­ons­sys­tem und Me­di­en­netz der Stadt an­ge­schlos­sen. Man fühl­te sich als Bür­ger. Man war nicht län­ger au­ßen vor.

Doch der Jun­ge hat­te es schwer, sich in das So­zi­al­ge­fü­ge der Stadt ein­zu­le­ben.

Der Va­ter war dem Suff er­ge­ben, hat­te schon lan­ge auf­ge­ge­ben, da­ge­gen an­zu­kämp­fen. Die Mut­ter war ver­schlampt. Die bei­den la­gen in stän­di­gem Streit mit­ein­an­der.

Er war je­des­mal aufs neue froh, den muf­fi­gen Wohn­raum, in dem sie zu­sam­men le­ben muß­ten, zu ver­las­sen. Die Kü­che war ein an den ein­zi­gen Raum des Hau­ses an­ge­bau­ter Vor­bau. Das Was­ser muß­ten sie sich an der im Gar­ten ste­hen­den Pum­pe mit dem Ei­mer ho­len.

Das Klo lag drau­ßen im Gar­ten und be­stand aus ei­nem wack­li­gen Bret­ter­ver­schlag über ei­nem Sitz­brett (dem Don­ner­bal­ken), un­ter dem ein Kü­bel, von der Sor­te, in dem auf dem Bau der Ver­putz an­ge­rührt wird, im Dun­kel stand. Er hat­te ei­nes Ta­ges, durch das Loch in den Kü­bel hin­un­ter­schau­end, und ihm war da­bei fast schlecht ge­wor­den vor Ekel, Un­men­gen klei­ner wei­ßer Wür­mer sich durch­ein­an­der­win­den ge­se­hen.

Er nahm sein al­tes Fahr­rad aus dem Schup­pen. Das Rad war für ihn zu groß, es hat­te einen 28er-Rah­men. Der Sat­tel war ganz auf den Rah­men run­ter­ge­schraubt. Wenn er fuhr, muß­te er „ei­ern“. Au­ßer­dem hat­te das Rad noch kei­ne Gang­schal­tung, statt des­sen einen Rück­tritt.

Er rol­ler­te bis zur Gar­ten­pfor­te, die nur an­ge­lehnt war, stieß sie auf und war froh, aus dem Gar­ten­weg raus, aus der Klein­gar­ten­ko­lo­nie raus, am Ka­nal ent­lang, in ei­ne Ge­gend zu ge­lan­gen, wo vier­stö­cki­ge, ein­för­mi­ge, hell­grün­ge­stri­che­ne Miets­ka­ser­nen stan­den. Er fuhr am Ob­dach­lo­sen­asyl vor­bei, vor dem zer­lump­te Män­ner mit brau­nen Bier­fla­schen in den Hän­den auf der klei­nen Mau­er vor dem Ki­osk sa­ßen. Ei­ner der Pen­ner gröl­te et­was hin­ter ihm her.

Er war froh, auf die Haupt­stra­ße zu kom­men, auf der Stra­ßen­bah­nen, Bus­se und Au­tos in die Stadt hin­ein­dräng­ten. Der Ver­kehrs­lärm be­täub­te ihn. Die schlech­te, von Au­to­ab­gas­en ver­seuch­te LUFT fraß sich in sei­ne Lun­gen. Er ra­del­te so schnell er konn­te auf dem schma­len Rad­weg da­hin, um­kurv­te hals­bre­che­risch Fuß­gän­ger, wo­bei er laut klin­gel­te.

Ei­ne al­te Frau fing an zu kei­fen, als er dicht an ihr vor­bei­zisch­te. Er dreh­te schnell den Kopf, streck­te ihr die Zun­ge lang raus und brüll­te mit rau­her Aus­spra­che: „Blö­de Sau!“ Der Frau blieb die Luft im Hals ste­cken. Er sah ge­ra­de noch, wie sie sich, sich nach al­len Sei­ten bei­fall­hei­schend um­bli­ckend, auf­zu­plus­tern be­gann.

Wei­ter ras­te er.

Dann, nach­dem der ers­te Rausch ver­flo­gen und die Ober­schen­kel vom stän­di­gen Rauf- und Run­ter­tre­ten der Pe­da­le ein we­nig er­mü­det wa­ren, fisch­te er ei­ne zer­knit­ter­te Zi­ga­ret­ten­schach­tel aus sei­ner dun­kelblau­en Cord­ja­cke und steck­te sich ei­ne Zi­ga­ret­te zwi­schen die Lip­pen.

Er fuhr lang­sa­mer, fuhr frei­hän­dig, und er sah, wie ei­ni­ge al­te Mecke­ro­pas em­pört auf ihn zeig­ten.

Er qualm­te große Wol­ken aus sich raus und spür­te, wie das Ni­ko­tin in sei­nem Brust­korb nach­säu­er­te. Er spuck­te klat­schend ge­gen Häu­ser­wän­de und küm­mer­te sich nicht um Schau­fens­ter, Haus­ein­gän­ge und Passan­ten.

Jetzt prü­geln die sich zu Hau­se si­cher schon wie­der. Sie wirft ihm vor, kei­ne Ar­beit zu ha­ben, sich nicht zu be­mü­hen, ein Säu­fer zu sein, sie aus­zu­beu­ten. Sie wä­re ja schließ­lich kei­ne Nut­te. Er wirft ihr vor, ei­ne Schlam­pe zu sein, die es ja so­wie­so mit je­dem trei­ben wür­de. In je­dem frißt das ei­ge­ne Ver­sa­gen. Dann wer­den die Fla­schen raus­ge­holt, und die sau­fen sich, sich im­mer wei­ter wüst be­schimp­fend, in ei­ne Ver­söh­nung hin­ein. Wenn er in die Bu­de zu­rück­kam, la­gen die manch­mal be­sof­fen auf dem Stra­gu­la-Bo­den.

Nee, da­hin wür­de er kei­nen Kum­pel schlep­pen kön­nen. Nicht in die­ses Drecks­loch.

Der Nach­bar war Mau­rer. Nach Fei­er­abend ar­bei­te­te der noch oft im Gar­ten. Der hat­te da Tul­pen im Früh­jahr auf den Bee­ten und ei­ne zu­frie­de­ne di­cke, schwan­ge­re Frau, die in der Kü­che her­um­koch­te. Der Nach­bar sah ihn manch­mal ver­ständ­nis­voll an, so als wol­le er sa­gen: „Du hast es nicht leicht, Jun­ge“. Mit den bei­den Al­ten un­ter­hielt der Nach­bar sich we­nig. Man hielt Ab­stand zu dem Ge­sin­del, wenn man selbst auch nicht viel bes­ser da­stand.

Beim Wich­sen dach­te er oft an die dral­le Nach­bars­frau. Er stell­te sich de­ren ge­wal­ti­ge Schen­kel vor.

Jetzt be­kam die schon wie­der ein Kind und streck­te auf­rei­zend ih­ren Bauch vor.

Er freu­te sich, im­mer mehr in die Stadt hin­ein­ra­delnd, auf den Sonn­tag, wo er mit zwei Kum­pels aus der Ko­lo­nie in die Stadt zu ei­ner Dis­co ge­hen woll­te. Viel­leicht konn­ten sie dort ein paar Frau­en an­hau­en. Auf je­den Fall gab es dort im­mer gei­le Mu­sik. Schei­ße nur, wenn die Al­ten kein Geld, kei­nen Pfen­nig mehr, raus­rücken konn­ten, weil sie al­les ver­sof­fen hat­ten.

Sich im­mer mehr der In­nen­stadt nä­hernd, stell­te er nüch­tern fest, daß er kei­nen Bock hat­te, zur Schu­le zu ge­hen. Er wür­de lie­ber mit dem Rad her­um­fah­ren.

Aber dann traf er durch Zu­fall einen aus sei­ner Klas­se, den sie „De­te“ nann­ten. Einen lan­gen Dür­ren mit ei­ner knar­ren­den Stim­me. Der hat­te ein Rad mit 10er-Schal­tung und Fel­gen­brem­sen.

Mit De­te fuhr er zum Flug­ha­fen raus. Dort lun­ger­ten sie ei­ne Stun­de her­um. Er aß einen Scho­ko­la­den­rie­gel und trank ei­ne Do­se Co­la an ei­nem Ki­osk.

Dann rauch­ten sie noch ei­ne und fuh­ren doch noch zur Schu­le. Dort saß und schlief er miß­mu­tig zwei zer­ri­ge Stun­den ab. Er spür­te Haß in sich auf die Leh­rer, de­ren Ver­ach­tung und Gleich­gül­tig­keit ge­gen­über den Schü­lern er be­merk­te. Er mach­te, was not­wen­dig war, um nicht zu sehr auf­zu­fal­len, nicht einen Klacks mehr.

Er schau­te aus den großen, in Me­tall­rah­men ein­ge­faß­ten Fens­tern des Klas­sen­rau­mes in einen dunst­ver­han­ge­nen No­vem­ber­him­mel hin­aus, in dem ei­ne blei­che und kraft­lo­se Son­ne wie ein Sche­men stand. Hier ein­fach hin­ge­stellt, fremd und un­wis­send, über­flüs­sig kam er sich in der Klas­se vor. Von den Leh­rern konn­te er nichts ler­nen. Die turn­ten ih­re gleich­gül­ti­gen Leh­rer­num­mern vor und wa­ren froh, nach Hau­se, in ih­re ge­müt­li­chen Flucht­bur­gen krie­chen zu kön­nen. Da­sit­zend und an die Ta­fel star­rend, auf der ihm un­ver­ständ­li­che Zei­chen wuch­sen, dach­te er an Tie­re. Er lieb­te Tie­re, weil die zart wa­ren und sich strei­cheln lie­ßen. Die Tie­re wa­ren im­mer dank­bar, wenn sie Wär­me und Zu­nei­gung spür­ten. Sie lie­ßen einen spü­ren, wie dank­bar sie wa­ren, wie wohl sie sich fühl­ten.

Wenn die El­tern ihn strei­chel­ten oder nett zu ihm wa­ren, zog sich in ihm et­was zu­sam­men. Er wuß­te, sie woll­ten dann was von ihm. Sie woll­ten dem an­de­ren zei­gen und vor­spie­len, wie gut und lieb sie als El­tern­teil ge­gen den Jun­gen sein konn­ten. Oder der Al­ko­hol be­ne­bel­te sie, höhlte sie aus, und sie ver­such­ten dann, reu­mü­tig und win­selnd, sich an­zu­bie­dern. Ba­ten um Ver­zei­hung, weil sie ihn vor­her ge­schla­gen hat­ten. Das Elend hat­te sie auf­ge­fres­sen. Von de­nen kam nichts mehr. Die hat­ten ihr Le­ben auf­ge­ge­ben, ver­schenkt, ver­ges­sen, bei­sei­te ge­tan. Man hat­te sie, weil sie schwach wa­ren, in ei­ne Ecke ge­stellt. Der Va­ter, die­ser Wasch­lap­pen, den hat­ten sie als hal­b­es Kind noch ein­ge­zo­gen und an ei­ne Front ge­schickt. Spä­ter lan­de­te er in ei­nem Ge­fan­ge­nen­la­ger. Nach dem Krieg fing er dann mit krum­men Ge­schäf­ten an. Da­bei war das gar nicht sein Va­ter. Sein rich­ti­ger Va­ter muß­te ein ame­ri­ka­ni­scher Sol­dat ge­we­sen sein, mit dem es die Mut­ter ei­ne kur­ze Zeit­lang ge­trie­ben hat­te. Der Kerl, der jetzt woll­te, daß er ihn Va­ter nen­nen soll­te, der hat­te dann im Knast ge­ses­sen. Hat­te an­ge­fan­gen zu sau­fen. Und ihn, ihn hat­te die Mut­ter aus ei­nem sen­ti­men­ta­len Ge­fühl her­aus Chick ge­nannt. Zur Er­in­ne­rung an das Ami-Schwein. Er war froh, als die letz­te Schul­stun­de vor­bei war und er von sei­nen Ge­dan­ken be­freit wur­de.

De­te haute ihn an, ob er noch vor dem Fahr­rad­kel­ler mit „bo­ken“ wol­le. Sie hät­ten einen Ten­nis­ball da­bei. Er sag­te zu. Sie rann­ten aus dem Schul­ge­bäu­de, schmis­sen ih­re Ta­schen in die Tor­ein­fahrt vor dem Fahr­rad­kel­ler und war­te­ten, bis die an­de­ren ih­re Fahr­rä­der her­aus­ge­holt hat­ten. Dann leg­ten sie mit den Ta­schen ein Tor, auf das sie schos­sen. Ein Jun­ge, der mit Nach­na­men West­phal hieß, spiel­te auch noch mit.

Als sie schnau­fend und ver­schwitzt von dem Ge­ran­gel aus­ruh­ten, zeig­te West­phal den an­dern bei­den por­no­gra­phi­sche Fo­tos. Sie zeig­ten zwei Hu­ren mit schwar­zen Strumpf­bän­dern, die es mit ei­nem Mann trie­ben.

Er­regt schnau­fend und schwei­gend beug­ten sie sich über die säu­i­schen Bil­der. Chick war er­regt, aber zu­gleich ekel­te er sich vor den Bil­dern. Die Hu­ren und der Mann auf den Pho­tos sa­hen selt­sam gleich­gül­tig, fast ge­lang­weilt aus, wo­bei sie die ver­rück­tes­ten Stel­lun­gen durch­pro­bier­ten. Die sa­hen so aus, als be­kämen sie da­für be­zahlt, daß sie da vor dem Pho­to­gra­phen sich ver­renk­ten. Se­xu­el­le Er­re­gung, Geil­heit, wie er sie von der Ona­nie her kann­te, war et­was Dunkles, et­was Sü­ßes und Ge­heim­nis­vol­les, et­was Schö­nes. Er schwieg und mach­te kei­ne Sprü­che zu den Bil­dern wie De­te. Nach kur­z­er Zeit hat­ten die Bil­der ih­ren Reiz ver­lo­ren, und West­phal steck­te sie wie­der weg.

„Die ha­be ich mei­nem äl­te­ren Bru­der ge­klaut“, sag­te er.

„Wart ihr schon mal un­ter der Schu­le?“ frag­te De­te, mit ei­ner Be­to­nung, als gä­be es wer weiß was dort un­ten zu se­hen.

„Da un­ten, in den un­ter­ir­di­schen Gän­gen. Das ist wahn­sin­nig da un­ten.“

„Was soll da schon sein?“ West­phal dach­te wohl, daß De­te ihm nur die Schau steh­len wol­le. Schließ­lich war er es, der de­nen die gei­len Bil­der ge­zeigt hat­te.

De­te zap­pel­te her­um und deu­te­te auf­ge­regt auf den Fahr­rad­kel­lerein­gang.

„Ich war mit Bor­kow­ski letz­te Wo­che nach dem Sport da un­ten. Da kann man bis zur an­de­ren Stra­ßen­sei­te und noch viel wei­ter un­ten lang­ge­hen. Hier, da hin­ten …“ – er zeig­te auf die Stra­ße, auf einen Gul­ly – „… da hin­ten, aus dem Gul­ly, da kann man von un­ten hoch­stei­gen und raus­schau­en. Los!“

Er quen­gel­te, woll­te sie über­re­den.

„Laß uns doch da mal run­ter­ge­hen. Hier ist jetzt so­wie­so nichts mehr los. Der Ein­gang ist im Fahr­rad­kel­ler. Es kann auch nichts pas­sie­ren. Au­ßer­dem ha­be ich ei­ne Ker­ze und Streich­höl­zer da­bei.“

West­phal mur­mel­te et­was. Er müs­se zum Es­sen nach Hau­se und so. Be­sann sich dann aber, er woll­te nicht als Feig­ling da­ste­hen, und die drei Ju­gend­li­chen gin­gen in den Fahr­rad­kel­ler hin­ein.

Chick dach­te bei sich: Der hat das ge­plant, der De­te, ist aber zu fei­ge, al­lein da run­ter­zu­ge­hen. Der glaubt, er müs­se jetzt die Schau ab­zie­hen, wo der West­phal die gei­len Bil­der raus­ge­rückt hat.

Im Fahr­rad­kel­ler war es dun­kel, und West­phal griff has­tig zur Wand und knips­te das Licht an.

„Da­mit uns hier kei­ner stört!“ sag­te De­te ver­schwö­re­risch und schlug die schwe­re Stahl­tür hin­ter ih­nen zu.

Im Kel­ler stan­den die nun lee­ren Rei­hen der Fahr­rad­stän­der, ge­spens­ti­sche Ge­stel­le aus dunklem, ver­ros­te­ten Ei­sen, vor den dun­kel­grau­en, schmut­zi­gen Be­ton­wän­den.

Hin­ter den Säu­len sah schwarz und un­heim­lich die Dun­kel­heit her­vor. Die ein­zi­ge Lam­pe im Raum stör­te sie. Über der Lam­pe, ei­ner Art Bau­lam­pe, war ein Git­ter aus schwe­rem Draht be­fes­tigt. Staub hat­te sich auf dem ge­wölb­ten Glas der Lam­pe nie­der­ge­las­sen und trüb­te das Licht. Chick folg­te De­te und West­phal und sah zu sei­nem Fahr­rad hin­über, das in der zwei­ten Rei­he vom Gang aus als ein­zi­ges in dem Ge­stell stand. Sein al­ter Schlur­ren.

We­nigs­tens hat­ten die Lut­schen ihm heu­te nicht die Luft aus den Rei­fen ge­las­sen oder gar die Ven­ti­le raus­ge­schraubt. Die­se Arsch­kek­se, dach­te er, sol­len lie­ber zu ih­ren Mut­tis heim­ge­hen und Haus­auf­ga­ben ma­chen.

Ih­re Schrit­te hall­ten zwi­schen den kah­len Kel­ler­wän­den. Es war kühl hier un­ten. De­te ging um den letz­ten Fahr­rad­stän­der her­um und auf ei­ne Ein­buch­tung in der Wand zu. Es sah aus, als hät­te man hier im Be­ton ei­ne Öff­nung für ei­ne Tür ge­las­sen. Die Öff­nung war al­ler­dings mit ei­ner großen Plat­te aus Preß­holz ab­ge­dich­tet.

Sie blie­ben vor der Plat­te ste­hen. Es war noch dunk­ler um sie ge­wor­den. Das dif­fu­se Licht der ver­staub­ten Lam­pe drang kaum noch in die­se Ecke des Fahr­rad­kel­lers vor.

De­te beug­te sich vor und zeig­te mit dem Fin­ger nach un­ten. „Da un­ten, da ist ein Stück von der Holz­plat­te ab­ge­bro­chen. Da kön­nen wir ein­stei­gen. Es ist zwar eng, aber wenn man sich or­dent­lich zu­sam­men­quetscht, kommt man noch durch. Au­ßer­dem, wenn ich das schaf­fe, dann schafft ihr das al­le­mal. Wenn ihr durch seid, geht es et­was run­ter, dann kommt ei­ne Wand, et­wa so hoch“ – er zeig­te bis zu sei­nen Schul­tern – „… da müs­sen wir rü­ber. Paßt auf, wenn ihr euch von die­ser Wand fal­len laßt. Es geht da et­wa zwei Me­ter run­ter. Und bleibt im­mer bei mir. Ich ha­be ei­ne Ker­ze und Streich­höl­zer. Da un­ten ist es stock­dun­kel.“

Die drei stan­den dicht bei­sam­men, so daß ih­re Kör­per sich be­rühr­ten.

Chick trau­te sich nicht, sei­ner Angst Aus­druck zu ver­lei­hen. Er schwieg und kroch als letz­ter, De­te und West­phal wa­ren schon ver­schwun­den im Dun­kel, durch das Loch. Mit ei­nem letz­ten Blick, be­vor er sich ganz in das Loch rut­schen ließ, er­faß­te er die trost­lo­se Lee­re des Fahr­rad­kel­lers.

Dann setz­te er auf dem Bo­den auf. Er stütz­te sich mit den Hän­den ab. Ne­ben sich hör­te und spür­te er die an­de­ren. Es war dun­kel.

„Ich mach die Ker­ze erst auf der an­de­ren Sei­te der Mau­er an“, sag­te De­te.

Chick hör­te Krat­zen und Schlur­fen. Dann ein dump­fes Plump­sen. Über sei­nem Kopf konn­te er das Loch, durch das sie ge­kro­chen wa­ren, nur noch als einen fah­len Schim­mer aus­ma­chen.

Er dreh­te sich um und stieß ge­gen West­phal, der ge­reizt auf­schrie:

„Paß doch auf, du Idi­ot!“

Er hör­te, wie West­phal sich schnau­fend dar­an­ma­ch­te, die Wand hoch­zu­klet­tern. Wie­der war ein dump­fes Plump­sen zu ver­neh­men.

Er spür­te mit den Fin­gern die Wand, tas­te­te mit den Hän­den an ihr ent­lang. Mör­tel rie­sel­te zu Bo­den. Die Zie­gel fühl­ten sich rauh und san­dig an. Dann hat­ten sei­ne Hän­de die obe­re Kan­te der Mau­er er­reicht. Er muß­te es schaf­fen, sich an die­ser Mau­er hoch­zu­zie­hen. Ich bin doch gar nicht so schwer, dach­te er. Und oben? Wenn da oben was ist, wenn ich mich hoch­wuch­te, und ich sto­ße da­ge­gen? Dann zog er sei­nen Kör­per hoch, spreiz­te ein Bein ab, schwang es über die Mau­er­kan­te und zog den Rest des Kör­pers nach, bis er ritt­lings auf der Mau­er saß. Auf der an­de­ren Sei­te ließ er sich hin­un­ter, bis sein Kör­per nur noch von den Hän­den ge­hal­ten wur­de. Er bau­mel­te über der Tie­fe.

„Na los, laß schon los“, hör­te er De­te sa­gen.

Er fiel nach un­ten und kam schwer auf. Sei­ne Hän­de gru­ben sich in wei­chen, feuch­ten Sand.

„Hier ist es ja feucht“, sag­te er.

„Na und, hier sind ja auch über­all Ab­wäs­ser­grä­ben.“

Chick schwieg. In sei­ner Vor­stel­lung sah er sich schon in ei­nem rand­voll mit Schei­ße ge­füll­ten Ab­was­ser­gra­ben ver­sin­ken. Bloß das nicht!

„Nun mach doch end­lich die Ker­ze an“, hör­te er West­phal mit ho­her, un­ge­dul­di­ger Stim­me schrei­en.

De­te, der die Si­tua­ti­on ge­noß, ließ sich Zeit mit dem An­zün­den der Ker­ze. Zwei Streich­höl­zer bra­chen ab oder gin­gen gleich wie­der aus, be­vor es ihm ge­lang, den Docht in Brand zu set­zen. Sie sa­hen sich um.

Sie fan­den sich zwi­schen Mau­ern, die an die drei Me­ter aus­ein­an­der­stan­den, in ei­nem Gang. Oben, über ih­ren Köp­fen, wur­de es sehr dun­kel. Sie ver­mu­te­ten dort ei­ne Be­ton­de­cke, viel­leicht den Fuß­bo­den der Au­la, die et­wa über dem Fahr­rad­kel­ler lie­gen moch­te.

Der Ge­dan­ke an die Au­la, ei­ne dump­fe Er­in­ne­rung, trieb so­fort ab ins Dun­kel. Nur Bil­der­fet­zen, Bruch­stücke ei­ner Schul­fei­er, wo Jun­gen auf der Büh­ne stan­den und, die Mün­der auf­ge­ris­sen, zu sin­gen ver­such­ten, wäh­rend vor ih­nen ein all­sei­tig ge­haß­ter Mu­sik­leh­rer sich in der Po­se ei­nes Di­ri­gen­ten ver­such­te, wo­bei sei­ne Rück­an­sicht die Schü­ler zu hä­mi­schen Be­mer­kun­gen ver­an­laß­te, weil die Ho­se und das Jackett, in de­nen er steck­te, gar zu lus­ti­ge Fal­ten war­fen. Die Schu­le trug den Na­men ei­nes Phi­lo­so­phen, von dem kei­ner der Schü­ler et­was an­de­res au­ßer dem Na­men wuß­te. Ein Leh­rer er­wähn­te un­ver­ständ­li­che Sa­chen von dem in ei­ner An­spra­che. Und dann brei­te­te sich das Dun­kel wie­der aus, und die Er­in­ne­run­gen ver­schwan­den.

Die Ker­ze fla­cker­te, und je­des Fla­ckern ließ die Dun­kel­heit nach ih­nen schnap­pen – hohn­la­chend. So als woll­te sie sa­gen:

„Was, ihr Kinds­köp­fe wagt es mit eu­rer küm­mer­li­chen Ker­ze, hier her­um­zutap­pen?“

Das LA­CHEN der Dun­kel­heit, grau­se, aber un­über­hör­ba­re Rea­li­tät, um­kroch sie. Der Druck des Au­la­ge­bäu­des las­te­te auf ih­nen. Die Wän­de der Tun­nel ver­lo­ren sich un­ten im feuch­ten Sand, Sand, den ih­re Halb­schu­he auf­wühl­ten und wo sich klei­ne Was­ser­pfüt­zen bil­de­ten.

Sie gin­gen nach links in den Gang hin­ein, dicht an der Wand ent­lang. De­te ging vor­ne mit der flat­tern­den Ker­ze. Luft­zü­ge, von de­nen nie­mand wuß­te, wo­her sie ka­men, bis­sen nach der mick­rig fla­ckern­den Ker­zen­flam­me. Ih­re Schat­ten um­tanz­ten sie nach ei­nem un­hör­ba­ren ge­quäl­ten Rhyth­mus. Der Bauch der Dun­kel­heit quoll und schmerz­te, so sehr fiel La­chen aus ihm her­aus.

Chick hat­te Angst, die an­de­ren zu ver­lie­ren. Er lief als letz­ter. Er wuß­te ir­gend­wie ge­nau, und es schau­er­te ihm bei dem Ge­dan­ken, er wür­de sie ver­lie­ren.

„Hier!“ De­tes Stim­me klang ver­zerrt. „Hier muß es sein, da muß es ei­ne Lei­ter­ge­ben“.

Die Stim­me schi­en lei­ser zu wer­den.

„Die Lei­ter en­det an ei­nem Gul­ly, der liegt ge­nau auf hal­b­em Weg zwi­schen den Schul­hö­fen, da, wo es zur Nach­bar­schu­le rü­ber­geht.“

Chick konn­te De­tes Aus­füh­run­gen nicht mehr fol­gen. Die Angst schot­te­te ihn im­mer mehr von den an­de­ren bei­den ab. Und schon wie­der re­de­te De­te.

Lei­ser wer­dend. Kaum noch wahr­nehm­bar im Ge­fla­cker des Ker­zen­lich­tes.

„Letz­tes Mal, als ich da un­ten war, ha­ben wir den Gul­ly­de­ckel hoch­ge­lüf­tet und hin­aus­ge­se­hen. Die von der Nach­bar­schu­le spiel­ten ge­ra­de Korb­ball. Das sah viel­leicht be­scheu­ert aus. Die von hier un­ten aus zu se­hen. Und die merk­ten na­tür­lich nicht, daß wir sie be­ob­ach­te­ten.“

Noch lei­ser und un­ver­ständ­li­cher wur­de die Stim­me. Chick hat­te Mü­he, sich un­ter dem Wort „Nach­bar­schu­le“ et­was vor­zu­stel­len. Das ein­zig Si­che­re war für ihn sei­ne Hand, die er an der Wand ent­lang­strei­fen ließ und wo er dem Schmerz nachsann, wenn die rau­he Ober­flä­che der Mau­er ihm die Haut lang­sam ab­schmir­gel­te.

Sie ka­men an ei­ne un­ter­ir­di­sche Kreu­zung, wo sich die Dun­kel­heit im frei­en Raum zwi­schen den Mau­ern an sie he­randrück­te. Schrei nicht! Er lausch­te auf das Ge­räusch, das sei­ne Schrit­te im Sand ver­ur­sach­ten. Das Schlur­ren schi­en von weit­her zu kom­men. Die Luft roch muf­fig und naß. Er trau­te sich nicht, West­phals Cord­ja­cke, die er vor sich wuß­te, zu pa­cken und sich von West­phal zie­hen zu las­sen.

Chick hat­te Angst.{1}

Chick hat­te Angst vor dem Ver­lö­schen des Lich­tes. Die Zu­fäl­lig­keit, mit der die son­der­ba­ren Luft­strö­mun­gen des Gan­ges die Ker­zen­flam­me fla­ckern lie­ßen, er­schreck­te ihn. Das Licht könn­te ja je­den Mo­ment weg sein.

Er streck­te den Arm aus, um sich an West­phal fest­zu­hal­ten. Er griff aber ins Lee­re. Die Dun­kel­heit schlug zu.

Die Ker­ze war er­lo­schen.

Weit vor­ne hör­te er De­te her­um­schrei­en. Die Stim­me ver­hall­te dumpf. Wur­de ab­ge­würgt.

„Die­se Scheiß win­de hier un­ten …“

Er has­te­te vor­wärts und stieß ge­gen ei­ne Wand. Er hör­te sich schrei­en, und die Wän­de war­fen ihm sein ei­ge­nes Ge­brüll ent­ge­gen:

„De­te, West­phal, wo seid ihr?“

Und er hör­te, kaum noch un­ter­scheid­ba­re Lau­te, weit weg und ver­zerrt, ver­schluckt von da­zwi­schen­lie­gen­den Tun­nel­wän­den:

„… fin… Streich­höl­zer …“

Lau­te kön­nen sehr lei­se sein.

Er hör­te das Ge­räusch sei­ner Schul­tern, die an der Wand ent­lang­schab­ten, an der er her­un­ter­rutsch­te. Er schrie.

Trä­nen tra­ten ihm in die Au­gen, in die sich, er hat­te sie aus Angst weit auf­ge­ris­sen, gie­rig die Dun­kel­heit hin­ein­stürz­te. Und hin­ter der Dun­kel­heit lau­er­te die Stil­le. Nur der Stein war mild­tä­tig, die Wand, die sich hart, krü­me­lig und san­dig er­tas­ten ließ. Er rö­chel­te und spür­te, wie sei­ne Ar­me, er war im­mer mehr vorn­über­ge­sun­ken, lang­sam den Bo­den be­rühr­ten. Er sank in sich zu­sam­men.

Die Dun­kel­heit hat­te ihn um­zin­gelt und ein­ge­schlos­sen.

Die Stil­le ließ ihn nur noch das Ra­scheln sei­ner Klei­dung hö­ren, die sein schnel­les At­men leicht be­weg­te. Sei­ne Schu­he schab­ten auf dem san­di­gen Bo­den. Sei­ne Knie und El­len­bo­gen fühl­ten sich et­was feucht an.

Weit, ganz weit weg, ganz hin­ten, hör­te er Stim­men. Er ver­stand sie nicht mehr.

Schrei nicht, schi­en ei­ne müt­ter­li­che Stim­me ihn trös­ten zu wol­len. Don’t cry. Aber er schrie den­noch. Er stülp­te sei­ne Ver­zweif­lung, sein Elend und sei­ne Ein­sam­keit, sei­ne Wut über sei­nen ihn ver­ra­ten­den Kör­per aus sich her­aus, er schrie, und all sei­ne Er­fah­rung, sein gan­zes Le­ben, lag in die­sem Schrei­en fi­xiert; er schrie und preß­te Luft aus den Lun­gen an sei­nen Stimm­bän­dern vor­bei. Und je mehr er sich ver­aus­gab­te durch sein Ge­brüll, das die Wän­de des La­by­rin­thes, in dem er sich ver­lo­ren hat­te, zu­rück­war­fen, de­sto mehr schie­nen frem­de Mäch­te von ihm Be­sitz zu er­grei­fen und sei­ne Schä­del­de­cke zu durch­drin­gen.

Die Dun­kel­heit. Die Stil­le.

Und Ih­nen aus­ge­lie­fert sein jun­ger, se­xu­ell er­reg­ba­rer, nach Be­frie­di­gung lech­zen­der, zer­sehn­ter Kör­per.

Er schrie sein Elend aus sich raus, mit Pau­sen, in de­nen er die Stil­le fühl­te, die kei­ne Ant­wort mehr zu ihm durch­ließ. Und schrie rö­chelnd, ver­stum­mend, weil sei­ne Lun­gen, sei­ne Stimm­bän­der, sein Kör­per sich wei­ger­ten, sein Ge­schrei zu for­men und hin­aus­zu­las­sen in die ihn her­me­tisch um­ge­ben­de Un­ter­welt.

Sie ha­ben dich nicht im Stich ge­las­sen. Sie sind viel­leicht hin­ter ei­ner Weg­bie­gung ver­lo­ren­ge­gan­gen, ge­ra­de in je­nem un­wäg­ba­ren Au­gen­blick, in dem ich es nicht mehr schaff­te, West­phals dun­kel­grü­ne Cord­ja­cke zu er­ha­schen.

Ich bin al­lein. Der Ge­dan­ke war auf ein­mal da. Er riß die Au­gen auf und sah nichts. Er­lausch­te und hör­te nur sei­nen Kör­per von in­nen her mo­no­ton rau­schen. Er rieb sich die auf­ge­ris­se­nen Au­gen, bis sie schmerz­ten. Aber die Dun­kel­heit blieb un­durch­dring­lich. Wie­der rieb er mit den Knö­cheln der Hän­de an den Wän­den ent­lang, nur um den Schmerz zu spü­ren. Über mir die Au­la … oder der Sport­platz … oder die Stra­ße. Er wuß­te kei­ne Rich­tung mehr. Und un­ter mir? Im­mer feuch­te­re, grund­was­ser­ge­tränk­te Er­de, im­mer we­ni­ger Sand. Fes­ter und klum­pi­ger wird der Bo­den, un­durch­dring­li­cher und schwär­zer. Und ich? Aber ein Ich zu den­ken fiel ihm zu schwer. Er be­gnüg­te sich da­mit, die Ein­zel­hei­ten sei­ner Kör­per­wahr­neh­mun­gen zu re­gis­trie­ren. Zu­sam­men­hän­ge konn­te er nicht mehr her­stel­len.

Er rich­te­te sich an der Wand auf, tas­te­te mit den Hän­den lang­sam nach oben. Er fand aber kei­ne Un­ter­bre­chung in der Mau­er. Mit aus­ge­streck­ten Hän­den tau­mel­te er wei­ter, ließ die lin­ke Hand an der Mau­er ent­lang­strei­fen. Manch­mal hielt er in­ne, um an dem lin­ken Hand­knö­chel zu lut­schen. Durch den Schmerz be­wahr­te er sich vor Per­sön­lich­keits­ver­lust, vor Iden­ti­täts­ver­lust, vor Rea­li­täts­ver­lust – vor der zu­neh­men­den Kris­tal­li­sie­rung sei­nes Kör­pers. Ein schwar­zer Schnee sank un­un­ter­bro­chen, laut­los her­nie­der, wäh­rend er fort und fort ging. Er war in ei­ner Vor­wärts­be­we­gung ge­fan­gen. Den Ge­dan­ken, den Weg zu­rück, zu dem Ein­stiegs­loch zu fin­den, hat­te er ver­wor­fen. Er glaub­te manch­mal, sich vor­stel­len zu dür­fen, wie er am an­de­ren En­de die­ses un­ter­ir­di­schen Tun­nels im Schul­hof der Nach­bar­schu­le, des Gym­na­si­ums, raus­käme, auf­tauch­te, wo sie ihn, den Son­der­schü­ler, an­star­ren wür­den. Sie wür­den ihn si­cher­lich wie­der ins Dun­kel hin­ab­sto­ßen. Ein Auf­stieg war ihm ver­sperrt. Lan­ge glaub­te er so un­ter der Er­de sich her­um­zu­tas­ten. Er kam an ei­ne Kreu­zung, er spür­te es an den Luft­ver­än­de­run­gen, und ging nach links wei­ter, weil er Angst hat­te, sei­ne Hän­de von der Wand zu lö­sen.

Ein tum­ber Ge­dan­ke: Wenn ich im­mer nach links ge­he, kom­me ich ir­gend­wie zu­rück. Aber wo­hin zu­rück? Er hat­te ver­ab­säumt, im­mer nach oben zu schau­en, um, wenn mög­lich, auch den ge­rings­ten Licht­schim­mer so­fort er­ken­nen zu kön­nen. Aber die Dun­kel­heit war gna­den­los.

Was war er denn? Wo war er denn? Wer war er denn?

Ein halb­fer­ti­ges mensch­li­ches Ge­stell mit ei­nem un­be­kann­ten ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten als Va­ter, der vor lau­ter Öde auf sei­ner Mut­ter her­um­ge­ram­melt hat­te. Und dem ver­sof­fe­nen Sub­jekt von ei­nem Zu­häl­ter, der nun in dem Loch her­um­hing, das er als sein Zu­hau­se be­zeich­nen soll­te, was ihm nie ge­lun­gen war. Ich bin doch schon im­mer al­lein ge­we­sen. Und da­bei ge­hört mein Kör­per mir noch im­mer nicht. Wie un­ge­macht, die gro­ben, ver­letz­ten Hän­de. Und vor al­lem, was soll ich da­mit hier un­ten, wo nur noch Dun­kel­heit, Stil­le und Stein und Sand sind.

Er war in ei­ner Ecke, wo zwei Wän­de zu­sam­men­lie­fen, zu­sam­men­ge­sun­ken. Schlaf über­fiel ihn. Ei­ne gnä­di­ge Macht, die von Traum­ge­stal­ten at­ta­ckiert wur­de. Er ver­sank. Der Schlaf ent­zog ihn der Wirk­lich­keit. Er tö­tet das Ge­wis­sen, das Den­ken, das Han­deln. Er spielt mit Hal­lu­zi­na­tio­nen. Die Welt wird far­big und vol­ler Be­we­gun­gen. Die Grö­ßen der Ge­gen­stän­de ver­schie­ben sich. Töd­lich ist nur die stän­di­ge Wie­der­ho­lung des Schre­ckens. Die End­los­schlau­fe. Der Kör­per at­met tief durch, um wei­ter­le­ben zu kön­nen. Um das Pa­nik­an­häng­sel am Le­ben zu er­hal­ten in der le­bens­ver­nei­nen­den Um­welt. Er schlief.

Aus dem Schlaf wur­de er ge­ris­sen, als lo­se Stei­ne, Mör­tel und Sand auf ihn her­un­ter­rie­sel­ten. In­stink­tiv wälz­te er sich, noch be­nom­men, zur Sei­te, weg von der Wand, die zu­sam­men­stür­zen und ihn un­ter sich be­gra­ben könn­te. Er wälz­te sich in den of­fe­nen Raum, ins Lee­re hin­aus.

Un­ter ihm die Er­de warf sich brül­lend auf. Ein wahn­sin­ni­ges Bers­ten war um ihn. Ge­räusche stürz­ten zu­sam­men. Die Dun­kel­heit schi­en zu zer­rei­ßen. Die Er­de warf sich brül­lend auf. Er wur­de hin­ge­wor­fen und be­gra­ben. Er gab die Ver­ant­wor­tung für sei­nen Kör­per ab. Jetzt ge­schieht et­was mit dir, dach­te er. Jetzt ma­chen sich Stein, Sand und Er­de einen Dreck aus dir. Du wirst hin und her ge­schmis­sen. Stei­ne fie­len auf ihn, drück­ten sich in ihn ein.

Er wim­mer­te und kau­er­te sich zu­sam­men, hat­te das Ge­fühl, als wür­de Luft aus dem Dun­kel, in dem er lag, her­aus­ge­zo­gen und dann wie­der über ihn ge­preßt. Schwef­li­ge, bren­nen­de Luft. Luft, die sich nicht mehr at­men ließ. Er riß den Mund auf und sog die Luft und den Dreck in sich ein. Er stram­pel­te den Sand, den Mör­tel und die Zie­gel von sich, noch ehe ihm be­wußt wur­de, daß die Er­de auf­ge­hört hat­te, sich auf­zu­wer­fen. Die Dun­kel­heit war vom Staub ein­ge­dickt und schwül. Sie schwelte nun auch tief in ihm. Aber im­mer noch er­drück­ten ihn Stein­wän­de. Er tas­te­te sich vor­wärts und wur­de er­neut von Lärm nie­der­ge­schla­gen. Die Ma­te­rie brüll­te auf, über­roll­te ihn, riß ihn in ihr In­ners­tes, be­leck­te ihn blu­tig. Mit bei­den Hän­den faß­te er den feuch­ten, bren­nen­den Bo­den. Dun­kel und un­ten und oben bil­de­ten eins. Feucht die Knie und El­len­bo­gen, auf de­nen er kroch. Über ihm ein In­fer­no, das sich ihm nicht mit­teil­te. Es war zu weit weg. Er war ein­ge­dost und trieb den Strom hin­un­ter. Ein Fuß­tritt. Ein Hund piß­te ihn an. Schlä­ge. Er kroch müh­sam vor­wärts und schmeck­te nas­sen Dreck im Maul. Er preß­te sein Ge­sicht an ei­ne Wand, an die er hin­ge­kro­chen war. Nach dem Auf­wer­fen der Er­de war die Stil­le wie­der da. Und die Dun­kel­heit. Nur die Stei­ne buch­sta­bier­ten sich in sei­nen wei­chen Leib. Er fuhr sich mit der Hand zwi­schen die Bei­ne und rieb sein Ge­schlecht. Es war da, klein, ver­schrum­pelt, ver­ängs­tigt, aber es war da. Er spür­te, daß et­was Ent­setz­li­ches, et­was Un­wie­der­bring­li­ches mit der Ma­te­rie um ihn vor­ge­gan­gen war. Und wie­der schlief er ein und ließ es zu, daß Traum­ge­sche­hen den Schreck­nis­sen, die sein Kör­per kaum noch auf­zu­neh­men im­stan­de war, ent­floh, in­dem er die Schreck­nis­se bis ins Ab­sur­de durch­spiel­te. Er trieb mit Ent­set­zen Scherz. Das war sein mo­men­ta­nes Über­le­ben­s­pro­gramm. Und schlief. Schlief lan­ge, exis­tier­te für Raum/Zeit nicht mehr. Exis­tier­te nicht mehr für die Form, in der sich die Ma­te­rie ge­ra­de or­ga­ni­sier­te, sich vom Be­wußt­sein er­hol­te. Ver­schlief, wie sie sich in ei­nem Drit­ten Welt­krieg, in ei­nem stra­te­gi­schen In­fer­no oh­ne­glei­chen, über ihm aus­tob­te und ver­form­te. We­der drang ein Ver­ständ­nis des­sen, was Krieg ver­ur­sach­te und be­deu­te­te, an sein ver­ne­bel­tes Sein, noch nahm er wahr, wie es über ihm mensch­li­che Kör­per zu Tau­sen­den hin­raff­te und ver­form­te. Spreng­köp­fe kre­pier­ten in der Luft über ei­ner Stadt, zu der er, Chick, der Sohn des Ame­ri­ka­ners, schon seit lan­gem kei­nen Zu­gang mehr hat­te. Der Krieg ge­sch­ah. Er hät­te ge­nau­so­gut auf Al­pha Pro­xi­ma statt­fin­den kön­nen. Sein Ge­müt ver­schlief das Schlimms­te. Der ers­te Schlag, die ers­te Ex­plo­si­on als Ver­stär­ker sei­nes schon vor­han­de­nen Schre­ckens, hat­te nicht aus­ge­reicht, et­was Neu­es in sei­nen Wahr­neh­mun­gen zu struk­tu­rie­ren. Er ver­schlief, wie in ei­nem Ra­di­us um den Ab­wurf des Spreng­kop­fes das Le­ben ver­zisch­te, wie es in ei­nem wei­te­ren Ra­di­us ver­seucht wur­de. Er ver­schlief al­les, er hat­te für Po­li­tik und de­ren Aus­wir­kun­gen nie ein Be­wußt­sein auf­brin­gen kön­nen. Die Rea­li­tät war ihm schon zu früh vor­ent­hal­ten wor­den. Was soll­te er von den mi­li­tär­tech­ni­schen Pro­zes­sen ver­ste­hen, die kü­bel­wei­se über ihm ein­ge­lei­tet wor­den wa­ren. Er hielt mit bei­den, mu­schel­för­mig ge­schlos­se­nen Hän­den sein Ge­schlecht um­faßt, als wol­le er es vor ge­fähr­li­chen Strah­lun­gen be­wah­ren. Er hör­te, im Schlaf be­fan­gen, der der Dun­kel­heit, der Stil­le und dem Atom­schlag den Schre­cken nahm, hun­dert Jah­re al­te, dunkle, sam­te­ne Ne­ger­stim­men einen Blues an­stim­men, un­ter­bro­chen, blau und ge­stirnt wie der Him­mel, be­glei­tet von dem schril­len Ge­kreisch der Mund­har­mo­ni­ka, der fie­bri­gen Vi­bra­ti­on von Gi­tar­ren­sai­ten, dem Ge­stamp­fe von Fü­ßen. Er über­leb­te mit sei­nem Kör­per, ei­ne Ver­zö­ge­rung, ein Durch­ste­hen der Skla­ve­rei, ein mensch­li­ches War­ten, den BLUES!

Je­mand sag­te in sei­nem vom Schlaf ver­schlos­se­nen Kopf:

MY BA­BY IS GO­NE

Er ver­stand die Spra­che nicht. Aber er fühl­te, auf­at­mend, tief und voll süßem Elend.

MA PRET­TY WORLD HAS GO­NE

Und er schlief sei­nen Blues über den Aus­bruch des Drit­ten, West und Ost er­fas­sen­den, Welt­krie­ges, ei­ne Ab­strak­ti­on, hin­weg. Un­kun­dig des Eng­li­schen, un­kun­dig des Dia­lek­tes. Nur noch: Ana­lo­gie. Wie­der­ho­ler der Si­tua­ti­on. Über­le­ben­der oh­ne Zu­kunfts­pro­gram­ma­tik und Wis­sen. Mit den Hän­den sei­ne Sa­men­bank um­schlie­ßend. Ich wer­de mir mei­ne Mensch­heit nicht rau­ben las­sen. Von nie­man­dem.

I CAN’T DO NOTHING BUT JUST RING MY HANDS AND CRY

sang es jahr­hun­der­te­alt, das Le­ben ver­tei­di­gend, in ihm.

Er schlief.

EVE­R­Y­THING IS JUST A THING MA LOVE WILL NE­VER CHANGE

Der Blues, ir­gend­wo­her, ir­gend­wie, spiel­te auf sei­nem Ge­hör, auf sei­nen Sin­nen und ließ ihn, zu­sam­men­ge­kau­ert, zu­sam­men­ge­sun­ken im un­ter­ir­di­schen La­by­rinth un­ter der Schu­le, un­ter der Au­la, über­le­ben. Ein Le­bens­rhyth­mus, des­sen er sich nicht be­wußt war, ließ ihn ins Über­le­ben hin­ein­schla­fen. Er wim­mer­te lei­se vor sich hin.

 

Und lausch­te an­ge­spannt. Jahr­zehn­te schie­nen ver­gan­gen zu sein. Den­noch, die Zeit stand still. Er sog die Luft lang­sam ein, um kein Ge­räusch zu ma­chen und um­spann­te sei­ne Waf­fe. Er war­te­te.

 

Er hör­te, wie sich Stei­ne lös­ten und in das, was vom Tun­nel üb­rig­ge­blie­ben war, hin­ein­fie­len, wie Mör­tel run­ter­rie­sel­te. Er fühl­te den Druck von Stein­mas­sen auf sich las­ten und be­gann zu krie­chen, bis ihn sei­ne Knie schmerz­ten, weil der Stein­schutt sie auf­riß. Die Au­gen drück­ten sich ihm schwarz in den Kopf ein. Von vorn weh­te ein lau­er Luft­zug ge­gen ihn, erst nur ein we­nig und dann kräf­ti­ger wer­dend, als wür­den die schwar­zen Stein­mas­sen die Luft aus an­de­ren Räu­men in sich hin­ein­sau­gen. Die Luft wur­de wär­mer und roch ver­brannt. Er miß­ach­te­te die Schmer­zen an Hän­den und Kni­en und El­len­bo­gen und zog sich wei­ter vor­wärts mit vor­tas­ten­den Hän­den. Plötz­lich fuhr er er­schro­cken zu­rück und ver­hielt be­we­gungs­los. Et­was Wei­ches und War­mes, et­was Nas­ses hat­te ihn be­rührt, war ge­gen sei­ne vor­wärts tas­ten­de Hand ge­sto­ßen. Er über­wand ein neu­ar­ti­ges Ent­set­zen, das sich in sei­nem Nacken, schmerz­haft die Mus­keln ver­kramp­fend, fest­bohr­te, und streck­te die rech­te Hand vor, ließ sie durch den Schutt krie­chen in Rich­tung auf das Wei­che, das War­me, das Nas­se, das Kör­per­haf­te, in das­je­ni­ge, wel­ches nicht in die Stein­welt hin­ein­paß­te. Er tas­te­te dar­über hin. Er­starrt. Es war ein mensch­li­cher Kör­per.

Er spür­te, daß der Kör­per ver­zerrt, ver­brannt und ver­krümmt war, und stell­te, wei­ter­tas­tend, fest, daß es sich um mehr als einen Kör­per han­deln muß­te. Er kroch wei­ter vor. Ge­stank, Lei­chen­ge­ruch, ver­brann­tes Fleisch in der Na­se, ge­fühl­los. Sei­ne Be­we­gun­gen soll­ten sein Ent­set­zen mil­dern, ihn vor der Lei­chen­star­re be­wah­ren. Wei­ter, im­mer wei­ter. Und spür­te, wie die Lei­chen ihn von al­len Sei­ten um­ga­ben. Oben und un­ten. Al­le Rich­tun­gen zu. Wie er sich ge­fan­gen fand in ih­rer un­durch­dring­li­chen, im Dun­kel be­fan­ge­nen, aus­rin­nen­den Wär­me. Er zap­pel­te, glaub­te sein Herz aus­set­zen zu spü­ren. Sein Be­wußt­sein er­losch. Er fiel in ei­ne Ohn­macht.

Auf­tau­chend aus der gnä­di­gen Ohn­macht, spür­te er Käl­te, wur­de ge­wahr, daß er ver­keilt in ei­nem Berg von Lei­chen steck­te, und be­gann, wahn­sin­nig ge­wor­den, sich durch den Berg, der kein En­de zu neh­men schi­en, der gan­ze Tun­nel schi­en mit Lei­chen ver­stopft, hin­durch­zu­wüh­len. Blut drang auf ihn ein, leb­lo­se Glie­der, Ein­zel­tei­le, drück­ten sich in sei­nen le­ben­di­gen Leib. Kno­chen, die frei­la­gen, ritz­ten ihn. Er wühl­te her­um, bis ihn die Kräf­te ver­lie­ßen, der Ge­stank ihn er­stick­te und er wie­der in Be­wußt­lo­sig­keit ver­sank.

Doch die Pro­gram­me sei­nes Ge­hirns hat­ten die ers­ten Sen­sa­tio­nen (das ers­te Ent­set­zen) ein­ge­spei­chert und ver­ar­bei­tet. Ihm wur­de ei­ne wei­te­re Ohn­macht ver­wehrt. Er be­kämpf­te die Pa­nik, die Er­sti­ckungs­angst, die Angst, er­drückt zu wer­den, die Angst, daß ihm sein Le­ben ent­zo­gen wür­de, und kroch lang­sa­mer, aber un­auf­hör­lich in Be­we­gung blei­bend wei­ter. Nach lan­ger Zeit fühl­te er, wie die Luft von oben, wo er ein Oben ver­mu­te­te, wo sei­ne Hand nur mit An­stren­gung hin­lan­gen konn­te, küh­ler zu wer­den schi­en.

Er krab­bel­te wei­ter fort. Die Luft ließ sich bes­ser at­men. Hof­fent­lich lebt kei­ner mehr und be­wegt sich, dach­te er. Dann war er auf ein­mal aus dem Lei­chen­berg her­aus und er­tas­te­te ei­ne Ab­riß­kan­te aus Stein, aus fes­tem, ver­läß­li­chem Stein, und lag auf dem Bauch. Ich über­le­be.

Er rich­te­te sich auf. Er ging mit vor­ge­streck­ten Hän­den tap­pend vor­wärts. Er stieß ge­gen ei­ne Glas­schei­be, tas­te­te sich an ihr ent­lang und ge­lang­te in ei­ne Öff­nung, die ihm die Ma­ße ei­ner Tür zu ha­ben schi­en.

 

Er lausch­te. Wie­der hör­te er das Tap­pen in dem Tun­nel, in dem er sich seit Ta­gen, oder wa­ren es schon Wo­chen, ver­steckt hielt und um­faß­te sei­nen Speer. Er spür­te, wie ein Mensch sich ihm nä­her­te.

Der an­de­re blieb ste­hen. Er hör­te, wie der vor sich hin­grunz­te, wie der un­ar­ti­ku­lier­te Lau­te aus­stieß. Kein Wort, das er ver­ste­hen konn­te.

„Tu mir nichts!“ sag­te er laut und lausch­te sei­nen Wor­ten nach, die in der ihn um­schlie­ßen­den Schwär­ze ver­hall­ten. „Tu mir nichts!“

Der an­de­re rö­chel­te wei­ter vor sich hin, nä­her­te sich aber nicht mehr.

Sie be­lau­er­ten sich.

Chick hielt sei­nen stäh­ler­nen Speer fest um­klam­mert und drück­te sich dicht an die Wand.

Die Zeit ver­ging lang­sam. Chick hielt die Un­ge­wiß­heit nicht mehr aus. Er stell­te den Speer ne­ben sich an die Wand und streck­te bei­de Ar­me vor sich aus, mit ge­spreiz­ten Fin­gern, in die Rich­tung, aus der die un­ar­ti­ku­lier­ten Lau­te ge­kom­men wa­ren und wo er den an­de­ren im Dun­kel ver­mu­te­te.

Er hör­te ein Tap­pen und be­zwang die Pa­nik. Er blieb ste­hen. Je­mand nä­her­te sich ihm. Vor ihm, er drück­te sich fest an die Wand, er­starr­te, ver­hiel­ten die Schrit­te. Je­mand be­rühr­te ihn vor­sich­tig an der Schul­ter.

Er hob lang­sam sei­ne lin­ke Hand und leg­te sie auf die Hand, die auf sei­ner Schul­ter lag.

Ih­re Hän­de be­rühr­ten sich.

„Wer bist du?“ frag­te Chick.

Nie­mand ant­wor­te­te. Er nahm vor­sich­tig auch den an­de­ren Arm hoch und be­tas­te­te den Kör­per, der vor ihm stand. Es war der Kör­per ei­ner Frau oder ei­nes Mäd­chens. Das er­schreck­te ihn. Sei­ne Hän­de wan­der­ten nun, er war ru­hi­ger ge­wor­den, über den an­de­ren Kör­per, der sich ihm nicht ent­zog. Als er über das Ge­sicht fuhr, stell­te er fest, daß der Un­ter­kie­fer fehl­te. Er spür­te ei­ne große Wun­de, aus der ein Wim­mern drang.

Sie um­arm­ten sich, und ei­ne Wär­me und Ge­bor­gen­heit, von der sie nicht mehr wuß­ten, daß es sie noch für sie ge­ben könn­te, ließ Schau­er des Ent­zückens über ih­re Kör­per lau­fen. Nicht mehr fä­hig, ih­re Um­welt wahr­zu­neh­men, so sehr hat­te sie der war­me Kör­per des an­de­ren ge­fan­gen­ge­nom­men mit sei­ner le­ben­den Wär­me, be­merk­ten der au­gen­lo­se Chick und die mund­lo­se Frau nicht, daß sich ih­nen am En­de des Gan­ges zwei Ge­stal­ten nä­her­ten.

Die bei­den tru­gen glän­zen­de An­zü­ge, die naht­los Ar­me und Bei­ne um­schlos­sen. Nur an Fü­ßen und Hän­den schi­en fes­te­res Ma­te­ri­al über die glän­zen­de Fo­lie ge­gos­sen wor­den zu sein. Der Kopf­teil der An­zü­ge war hals­los und zer­knit­tert. Er hat­te vor­ne drei ein­ge­las­se­ne schwarzum­ran­de­te Öff­nun­gen. Auf den blei­ver­glas­ten Öff­nun­gen spie­gel­te sich die Dun­kel­heit und grins­te.

Die bei­den un­för­mi­gen, lang­sam da­her­tap­pen­den Ge­stal­ten, die in den di­cken Plas­tik­hand­schu­hen lan­ge Roh­re tru­gen, ver­harr­ten, wo­bei die Fo­lie der An­zü­ge knis­ter­te. Ge­dämpft dran­gen Stim­men aus den An­zü­gen.

„No­tierst du?“ frag­te der ei­ne An­zug.

„War­te“, ant­wor­te­te der an­de­re, „ich muß erst ei­ne neue Kar­te fin­den, ich ha­be kaum noch wel­che.“

„Es sind zu vie­le noch hier un­ten.“

„Ist so­wie­so Quatsch, die auf­zu­neh­men.“

Der ei­ne An­zug bück­te sich und zog aus ei­ner Ta­sche, die sich auf dem Ober­schen­kel be­fand, ei­ne Kar­te mit der Num­mer 3968, auf der stand:

Ver­letz­ten­be­gleit­kar­te.

Bei den Spal­ten „Na­me“, „Stra­ße“ und „Wohn­ort“ mach­te er mit der Spit­ze des rech­ten Zei­ge­fin­gers, an der sich ein Schreib­ge­rät be­fand, einen Strich.

Dar­un­ter war ein mensch­li­cher Kör­per auf der Kar­te ab­ge­bil­det, wo­bei nur die Um­ris­se so­wie ei­ni­ge In­nen­li­ni­en auf­ge­druckt wa­ren.

Er mach­te über den un­te­ren Teil des Kopf­es der Fi­gur einen gro­ben Strich. Dann no­tier­te er hin­ter dem Wort „Zeit“ 19.42, dar­un­ter hin­ter „im“ einen Strich, eben­so bei der Ab­kür­zung „iv“, un­ter der sich die sti­li­sier­te Ab­bil­dung ei­ner me­di­zi­ni­schen Sprit­ze be­fand.

Chick und die Frau hiel­ten sich um­schlun­gen und er­schu­fen aus der Wär­me ih­rer Kör­per ei­ne er­träg­li­che­re Welt. Ei­ne Welt, in der es viel Zärt­lich­keit gab.

Un­ter der Spal­te mit der Ab­bil­dung der me­di­zi­ni­schen Sprit­ze folg­ten auf der Kar­te drei wei­te­re Spal­ten, wo­bei in der Mit­te der Wör­ter, die die­se Spal­ten aus­füll­ten, die Zah­len 1 bis 3 vor­ge­druckt wa­ren.

Das sah so aus:

 

Be­hand­lungs  1  prio­ri­tät

Trans­port  2  prio­ri­tät

spä­te­re  3  Ver­sor­gung

 

Der An­zug mach­te durch die­se drei Spal­ten mit dem Schreib­ge­rät an sei­nem Fin­ger einen Strich.

„Was ist mit dem an­de­ren?“ frag­te er und zog müh­sam ei­ne zwei­te Kar­te aus ei­ner Ta­sche, nach­dem er die ers­te Kar­te weg­ge­steckt hat­te.

Bei der zwei­ten Kar­te kreuz­te er die Stel­le an, wo sich beim Men­schen die Au­gen be­fin­den, und ver­fuhr im üb­ri­gen ge­nau­so wie bei der ers­ten Kar­te. Dann steck­te er auch die­se Kar­te weg. „Wir kön­nen nun“, sag­te er.

In­dem sa­hen die sechs blei­ver­glas­ten run­den Öff­nun­gen, die sich oben an den An­zü­gen be­fan­den, die Fo­li­en knis­ter­ten bei je­der Be­we­gung, sich an.

Sie ho­ben bei­de ih­re di­cken Roh­re und rich­te­ten sie auf Chick und sei­ne Be­glei­te­rin.

Nach­dem die Flam­men­wer­fer ihr Werk der Zer­stö­rung voll­bracht hat­ten, schlepp­ten die bei­den An­zü­ge die ver­kohl­ten Lei­chen in einen Tun­nel, der schon bis oben­hin mit Lei­chen an­ge­füllt war.

Dann ver­schwan­den die bei­den matt­glän­zen­den An­zü­ge in der Dun­kel­heit.

 

Was liegt an mir. Ich ge­he ger­ne ein.

Die Mut­ter weint. Man muß aus Ei­sen sein.

 

Die Son­ne fällt zum Ho­ri­zont hin­ab.

Bald wirft man mich ins mil­de Mas­sen­grab.

 

(aus: Ab­schied, kurz vor der Ab­fahrt zum Kriegs­schau­platz, für Pe­ter Scher)

 

Al­fred Lich­ten­stein