Gerd
Maximovič
Das
Spinnenloch
Es ist bekannt, daß das Universum voller Wunder ist. Es liegt auf der Hand, daß ein so großer Raum ein Vielfaches der Formen, Spielarten, Entwicklungsmöglichkeiten des Lebens im Sonnensystem mit sich bringen wird. Trotzdem wäre es töricht, glaubte man, daß bisher jedem Raumfahrer ein solches Wunder begegnet sei. Das liegt aber nicht allein an der Unermeßlichkeit des Raums – in dem sich ja leicht ein Wunder verlieren kann –, sondern auch daran, daß man Wunder nur entdeckt, wenn man auch sehen kann.
Im 23. Jahrhundert war die Technik der Menschheit so weit vervollkommnet, daß ein Flug zu den Sternen – durch den Zwischenraum – fast ein, wenn auch anstrengendes, Vergnügen war, ein zwar strapaziöser Trip, der mitunter Stürme, magnetische Fallen, Untiefen und vielerlei elektromagnetische Erscheinungen bereithielt, der aber gleichwohl schon so perfektioniert worden war, daß man nicht mehr nur im Geleitzug, sondern, wie die Familie Wagenseil, auch schon auf Privatjachten den Zwischenraum durchquerte.
Es ist vielleicht bemerkenswert, daß die seelische Entwicklung der Menschheit mit der ihrer Technik nicht vollständig Schritt gehalten hat. Die Konstruktion überlichtschneller Raumschiffe scheint einfacher als der behutsame Umgang mit anderen Menschen zu sein. Es versteht sich auch, daß, obwohl in der weltweiten Gesellschaft mehr Gleichheit geschaffen worden ist, sich noch viel Verhaltensmaterial aus der alten Gesellschaft in den Herzen und Köpfen der Menschen auffand.
Hätte man die Familie Wagenseil, die auf dem Weg zum Colosom war, unter einem besonders tiefblickenden Elektronenmikroskop seziert, so hätte man in ihrem Normalverhalten allerlei Unzulänglichkeiten, allerlei Spannungszustände, allerlei verdrängte Probleme festgestellt, derer sich nur ein Teil der Familie (und dieser auch nur bis zu einem gewissen Grad) bewußt geworden war – aber wozu auch, so hätten die Wagenseils diesen Gedanken moniert, wird in uns herumgewühlt, wo an den Dingen doch nichts zu ändern ist. Oder aber: Es ist doch entscheidend, daß das, was wir machen, funktioniert.
So richtig dieser Gedanke ist, so sehr bricht sein Boden ein, wenn eine Familie wie die Wagenseils, durch die Umstände bedingt, in eine Situation gerät, in der das alte Verhalten nicht mehr weiterhilft. Dies schien schon am dritten Tag ihrer Reise, als die Urmiel noch sicher durch den blauen, ein wenig von Dunst überwogten Zwischenraum lief, der Fall zu sein. Karin, die ältere Tochter, hatte es zuerst gespürt.
Sie holte schon vom ersten Tag ihrer Reise an ihr Pensum an Mathematik nach, da sie sich sagte, daß es so mit ihren schulischen Leistungen nicht weiterging. Sie saß über ihrem Algebra-Buch und rechnete eine gemischt-quadratische Gleichung durch. Als sie den Zettel, auf dem sie schrieb, nach Linearfaktoren überflog, waren alle Zahlen auf einmal wie weggewischt. Gleichzeitig tropften die Unbekannten nach unten davon, als ergäbe sich ein Sog, der sie hinunter auf den teppichüberdeckten metallenen Boden zog.
Karin, die dachte, daß zuviel Arbeit an einem Stück ihr auch nicht guttat, blickte auf die Uhr. Während der Sekundenzeiger unter dem Glase kroch, bog sich diese nach unten, verjüngte sich und tropfte jetzt, als würde sie unter einer starken Strahlung aufgelöst. Schon im nächsten Augenblick kippte die Kabine um Karin weg, blähten sich die Wände auf, hatte Karin sekundenlang in den Weltraum hinaus und auf die verschwimmenden Sterne geblickt.
Als Karin wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett, und sie sah ihrem Vater, der sich streng über sie beugte, direkt ins Gesicht. Er hielt ein Buch, das Rezepte gegen Raumkrankheit und hohes Fieber enthielt, in der Hand und hatte Karins Handgelenk umfaßt. Karin fühlte sich ganz schlaff, und sie empfand während der Prozedur ein Gefühl der Unwirklichkeit.
„Na, es geht schon wieder“, hatte die Mutter gesagt. „So fängt die Raumkrankheit meistens an.“
„Aber“, murmelte Karins Bruder Tobias aus dem Hintergrund, „ich denke, da wird einem nur schlecht, und man bricht und bricht.“
„Sei still“, hatte die Mutter gesagt, „und beunruhige das Kind nicht zusätzlich noch.“
Tobias murmelte etwas, das Karin nicht verstand.
„So“, brummte der Vater und ließ Karins Handgelenk los und füllte eine Flüssigkeit aus einem Fläschchen ab. „Du kannst mich hören?“ fragte er, und als sie nickte, fuhr er fort: „Jetzt nimmst du das!“
„Aber was ist das?“ fragte Karin mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam.
Die Mutter sagte: „Sei still, dein Vater weiß schon, was er tut!“
Tobias hatte sich aus der Kabine verdrückt, während die Flüssigkeit mühsam Karins Kehle hinunterglitt. Nach einer Weile wurde es warm in ihrer Brust. Auch schien es Karin, daß die Zimmertemperatur anstieg. Das Licht an der Decke flackerte etwas. Das Gesicht ihrer Mutter, die sich jetzt, als der Vater zurückgetreten war, über sie beugte, erschien ihr spitz und streng.
„Schlafe jetzt, mein Kind“, sagte die Mutter fast schrill, aber es war eine Bedrückung da, die über Karin lag und die die ganze Nacht nicht wich.
In der Nacht, als Karins Fieber stieg, hatte der Vater ein Telegramm durch den Zwischenraum abgeschickt. Er fragte darin bei der nächsten Robotmedizinischen Station – einem kleinen, dunklen, im Quadranten X/12 gelegenen Stern – nach Verhaltensanweisungen, falls die Entwicklung, in der Karin sich zu befinden schien, sich nicht unterbinden ließ. Die Antwort, die mit einer merkwürdigen Verspätung von fast zwei Stunden im Morgengrauen einlief und deren Schwingungsmuster der Computer nur verschwommen aufnahm, beruhigte ihn. Die mitgeteilten Symptome wären normal: Das Kind zeige typische Verhaltensmerkmale, wie sie für Heranwachsende in diesem Alter und unter den Bedingungen des Zwischenraumes üblich seien.
Karin, die die ganze Nacht kaum schlief, hatte, als sie einmal für kurze Zeit in einen tiefen, bleiernen Schlummer fiel, einen Traum. Sie war als kleines Mädchen auf einem Planeten, der nur mit grünen Wiesen bedeckt war, ausgesetzt. Sie lag, als sie die Augen aufschlug, in saftigem Gras, an dem noch der Tau des frühen Morgens hing. Als sie um sich sah, waren weder ihr Vater noch ihre Mutter da. Dann hatte sie die beiden auch schon aus ihren Gedanken verdrängt, denn der Himmel, der eben noch tiefblau gewesen war, hatte sich bewölkt, und über einem fernen, ausgezackten, stahlblau erscheinenden Gebirge zuckten die ersten Blitze auf.
Jetzt erst hatte sie den einsamen Baum, der fast im Zentrum der Wiese stand, entdeckt. Ihr Haar und die Schleifen, in die das Haar gebunden war, flatterten in dem Wind, der jetzt aufkam. Während der Wind durch ihre Kleider fuhr und sie ein Gefühl der Befreiung empfand, setzte unter den ersten vom Gebirge herüberlaufenden Donnerschlägen fast ihr Herzschlag aus. Was tue ich nur? Was tue ich nur, dachte Karin rasch. Und da der einsame, knorrige Baum, der als fahle Silhouette wie mit knochigen Armen vor dem silbrigen Himmel stand, bei allem Bedenken, das ihr kam, ihr einziger Fluchtpunkt war, rannte sie, ihre Ängste beiseite schiebend, zu ihm hin.
Während sie rannte, setzte der Regen, der aus tief vorüberziehenden Wolken fiel, heftig ein, und schon nach wenigen Minuten war Karin bis auf die Haut durchnäßt. Aber trotz der Angst in ihr fühlte sie, während sie zu dem Baum hinlief, gleichzeitig, da das Wasser über ihren Körper rann, ein ungeheures Gefühl der Erleichterung. Dann hatte sie den Baum erreicht, an dessen Rinde das Wasser in breiten Rinnsalen niederfloß.
Der Sturm über ihr erreichte seinen Höhepunkt. Die Wolken flogen tief dahin, und Blitze schlugen in die Wiese ein, über der es sonst fast völlig finster war. In der Luft lag Schwefelgeruch. Das herabfallende Wasser drang gurgelnd zu Karins Füßen in den Boden ein. Noch mehrmals brüllte der Himmel unter schmetternden Schlägen auf. Ein Blitz, der die Wolkenwand aufriß, schlug wenige Meter neben dem Baum in einen Erdhügel ein, den er als dampfende, rauchende Mulde hinterließ. Dann riß der Himmel auf. Der Regen hörte auf. Die Sonne schien erst ein fahler Mond zu sein und drang dann mit ihrer vollen Strahlung durch. Ein Regenbogen bildete sich und verging so schnell, wie er entstanden war. Zwischen den Zweigen des kahlen Baums, unter dem Karin jetzt frierend stand, blitzte im Sonnenlicht ein winziges Spinnennetz, das den Sturm und Regenguß anscheinend unversehrt überstanden hatte.
Einmal beugte, während Karin schlief, sich ein Riese über sie. Er hatte ein modriges, schlüpfriges, fauliges Gesicht, von dem eine Art Schlamm auf ihr weißes Kissen troff. Sie zuckte vor dem stinkenden Atem des Riesen in ihre Kissen zurück. Schützend schlug sie die Hände vors Gesicht. Aber das Vieh wich nicht zurück. Es war, als stoße der Riese gelbe Wolken aus. Sein Gesicht war schief, während er sabbernd mit sich sprach. Einmal streckte er seine Hände nach Karin aus, die endlich verzweifelt mit dem Kissen nach ihm warf, woraufhin er plötzlich verschwand.
Sie wußte nicht, wieviel Zeit verrann, während ihr Fieber stieg. Unter dem Bettlaken war sie naßgeschwitzt. Einmal war ihr, als fühlte sie Hände in ihrem Gesicht. Streichelnde, sanfte Hände waren das. Aber als sie den Namen ihrer Mutter rief, stellte sie fest, daß sie die Hände bloß in ihrem glühenden Kopfe sah. Wieder fiel sie in eine schwarze Nacht hinab. In dieser Nacht traten Stimmen auf. Einmal hatte sie Licht gemacht, als ein Gespinst, haarfein, hauchdünn und ein wenig klebrig, über ihre Züge strich.
Es war, als rufe eine Stimme wie von ferne Karin an. Im Schlaf noch lallte sie: „Ja, was ist?“ Aber die Stimme, ohne auf Karin einzugehen, schlug wieder in einem Tonfall an, der in Karins Herz eindrang. Mit einer tastenden Hand machte sie das Nachttischlämpchen an. Sie war allein in ihrem kleinen Raum. Mit zitternden Beinen stand sie auf. Einen Bademantel um die Schultern, trat sie auf den Flur hinaus.
Die Tür zur Kabine ihres Bruders stand halb offen. „Tobias“, flüsterte sie durch den Spalt, ohne daß von dort eine Antwort kam. Aus seiner Kabine fiel ein schmales, gelbes Licht. Sie drückte die Türe auf. Tobias lag auf seinem Bett, er hatte noch seine Kleider an. Sie starrte ihn einen Augenblick von der Tür aus an. „Tobias“, flüsterte sie, als zweifle sie an seinem Erscheinungsbild.
Dann, als vom Bett nicht die kleinste Regung kam, hatte sie die Tür ganz aufgemacht. Sie trat ans Bett heran. Sie sah auf das Gesicht ihres Bruders hinab. Tobias’ Gesicht wirkte kalt. Es schien bleich wie Marmor zu sein. In die Blässe mischte sich eine blaue Färbung ein. Sein Mund war weit aufgesperrt, ohne daß sein Atem ging. Die Augäpfel waren nach oben gedreht. Eine Hand, nach der Karin griff, hing schlaff herab; sie war noch warm.
Der Gang den Flur hinab währte eine Ewigkeit. Am Flurende zweigte das große Badezimmer ab. Als Karin an der Badezimmertür vorüberkam, verspürte sie einen Stich im Herz. Taumelnd trat sie durch die Türe ein. Das Badezimmer lag in einem weißen Licht. Ein durchsichtiger Plastikvorhang, hinter dem etwas lag, teilte es in zwei Hälften auf.
Karin zog den Vorhang auf und sah ihre Mutter, die nackt vor ihr lag. Es ist nicht so, daß die Wagenseils eine prüde Familie sind. Welche Geheimnisse sollte es geben, wenn man so eng zusammenwohnt? Es war vielmehr die Art, wie ihre Mutter auf dem Boden lag: ein wenig verkrümmt, ein wenig zusammengerollt, als wäre sie ein Tier, das auf dem Boden schlief. Ihre Haut glänzte unter einem weißen Schleim, während sich ihre Brust unter ihren Atemzügen leicht senkte und hob.
Noch immer schwindlig, trat Karin in die Zentrale ein. Sie preßte, als sie ihren Vater sah, die Hand vor den Mund. Er hatte sich im Steuersessel zurückgelehnt. Sein Kopf lag auf der Seite, als würde er schlafen. Er war über und über in seidige Fäden eingehüllt, in einen Kokon, der um seinen ganzen Körper lief. Vor der Berührung der klebrigen Fäden zuckte Karin zurück.
Sie blickte auch ihrem Vater ins Gesicht, das ganz grau erschien. In dieser grauen Färbung zeichneten sich scharlachrote Flecken ab. Seine Lippen waren purpurrot. Das Seidengespinst, das auch über sein Gesicht gebreitet war, bewegte sich ganz leicht, während sein Atem ging. Seine Augen waren grau und leuchteten in einem kalten Licht. Vorsichtig und fröstelnd trat Karin einige Schritte von ihm zurück.
Man sagt, daß Kinder sinnlos grausam sind. Richtig ist daran sicherlich, daß einem Kind mitunter der Sinn über den Zusammenhang, in den es mit anderen Menschen gestellt ist, abgeht. Schwierig ist es auch, wenn ein menschliches Verhalten gefordert wird, für das die Grundlage nicht gegeben ist. Und schließlich – wer weiß schon, was an zarten Keimen, an zarten Trieben in frühen Kindertagen zugrunde geht und sich auch im späteren Leben endgültig verliert? Wer weiß schon, was das für Schmerzen sind, die es anderen zufügt, wenn der Schmerz ihm selbst nicht geläufig ist? Was Karin Wagenseil betrifft, so war sie wie eine Blume, die ein heftiger Frühlingswind verweht. Noch eben in dem goldenen Licht, das, wenn auch von harten Eltern, über die Kindertage fällt, so war sie jetzt in der Urmiel gleichsam ausgeklinkt. Erst mit der Abwesenheit der Sonne versteht man, wie kühl die Nacht sein kann. Ein Schiff wie die Urmiel scheint nur aus nacktem Metall, aus blanken Leitungen und aus einem gefühllosen Elektronengehirn zu bestehen, wenn man es mit ängstlichen Augen sieht.
Die Flure des Schiffs, durch die Karin kam, waren kalt und still. Die Wände des Turnsaals schienen braun und vergilbt. In dem kugelrunden Bassin, in dem sich das Wasser ewig frisch erhielt, hing Chlorgeruch, der dem Mädchen vorher so intensiv nicht aufgefallen war. Im Maschinensaal stand das Öl klamm und dick. Die Sterne, die sie vor den Bullaugen vorüberziehen sah, blickten kühl auf sie herab. Ihre Stimme, mit der sie auf ein Tonband sprach, kam monoton zurück.
In der Biegung des Korridors hing von der Decke ein Spinnenbein und schaukelte ein wenig in der Ventilation. Karin, die träumend den Flur hinuntergegangen war, bemerkte das Spinnenbein erst, als es ihr seidig, klebrig, auch stinkend über die Züge fuhr. Zugleich trat ein stechender Geruch auf. Das Spinnenbein, in das sie schlug, fühlte sich weich an.
Als Karin auf dem Boden lag, drückte die Spinne ganz langsam ihren riesigen behaarten Leib durch die stählerne Tunnelwand herab. Steif und als hätte sie der Schüttelfrost gepackt, hatte sich Karin herumgewälzt. Aus der Richtung des Korridors, aus der sie gekommen war, fielen kleine Wollknäuel aus der Wand und krabbelten als Spinnen über den Boden fort.
Während sie noch auf dem Boden lag, wurde Karin feucht. Es war ein süßlicher Saft mit einem bitteren Beigeschmack, der von der Decke troff. Die große Spinne über ihr hing jetzt halb von der Decke herab, und jetzt zog sie ihre noch über dem Metall verbliebenen Beine nach. Karin hatte den Saft von ihrem Gesicht gewischt und prallte von der Wand zurück, die aufbrach und den Spalt für ein seidenes Gespinst freigab.
„Mutter Gottes“, murmelte das Kind, schon ganz wirr, „Mutter Gottes, was ist hier nur los? Was ist hier nur los? Wie kann es sein, daß unser schönes Schiff so mit Spinnen angefüllt ist?“
Aber ist es nicht so, daß es Zeiten gibt, in denen sich unser Verstand zusammenzieht? Ist es nicht so, daß man in bestimmten Situationen nicht mehr denkt? Daß man entweder – wenn der Verstand der Lage nicht mehr gewachsen ist – auseinanderfällt oder aber, wenn ein unendliches Vertrauen in uns ist, der Körper ganz am Ende allein die Richtung noch bestimmt?
Man muß zugeben, daß Spinnenaugen etwas Schönes sind. Für Karin war der schwarze Lichterkranz, der sich vor ihr befand, wie ein vielfältiges Kameraauge, das auf sie sah. Vielleicht lag in ihrem Wahnsinn etwas Eitelkeit. Ja, als sie sich vorwärts warf, durch den seidenen Vorhang, der jetzt von allen Seiten kam, richtete sie sich sogar ein wenig auf – sagen wir, wie eine kleine Königin, die ihren auftreibenden Körper dem Kameraauge entgegenwirft.
Schwer zu sagen, wie das kam – während der durchsichtige Schleier, der jetzt nicht übel roch, als dichte, schillernde Masse auf sie herunterkam, hatte Karin zwei, drei Spinnenleiber, die sich aufblähten, zur Seite gefetzt. Sie kroch über einen sich bewegenden, haarigen Körper wie über einen Berg. Sie spürte in der linken Schulter einen brennenden Biß. Dann fiel sie in den Antigravitationsschacht hinab, auf dessen Boden sie eine tiefe Ohnmacht überkam.
Sie wußte nicht, wie lange sie im Antigravschacht lag. Sie schlug die Augen auf, als etwas Kühles, Feuchtes auf sie troff. Sie schrie, da sie in einer fauligen Pfütze lag, dumpf auf. Sie schrie selbst dann noch, als die Erkenntnis hinter ihrer Stirn heraufzog, daß wirkliches, vielleicht brackiges, vielleicht abgestandenes Wasser sie umgab. Dann – sie hatte vergebens nach dem über ihr thronenden Spinnentier gespäht – weinte sie ein wenig.
Dann umgab sie ein grünes Licht, das aus den Wänden des Stahlzylinders fiel. Es schien, als liege die Molekularstruktur der Antigravröhre bloß. Als schattenhaften Umriß konnte sie die Einrichtungsgegenstände der Urmiel hinter der Röhre sehen – ein waberndes, sich aufblähendes, wieder zusammenstürzendes Gewirr, das aus Mikroelementen, Computerkonsole, Schlafkabinen und einem riesigen schwarzen, ein wenig blau strahlenden Motor bestand.
Jetzt fielen die Schiffswände völlig zurück. Sie sah in den Zwischenraum hinaus. Dort, wo sonst eine sanfte energetische Strömung floß, erstreckte sich ein roter, klebriger Brei. Es sah aus, als platzten in diesem Brei hin und wieder in zeitlupenhaftem Tempo dicke Blasen auf. Gelegentlich pulsierte der Brei. Dann schob er große Klumpen einer schillernden Materie auf die Urmiel hinauf. Einmal riß der Brei, und Karin erkannte durch die entstandene Öffnung den milden Glanz des Zwischenraums.
Jetzt sah sie auch, daß der Brei mit seltsamen Wesen bevölkert war. Aus einer der Blasen hatte eine riesige, feuchte Zunge über die Urmiel geleckt. Ein Ding, das wie ein purpurner Frosch aussah, fiel seitlich von dem Schiff aus einem Loch, das der Brei freigab, und stürzte, sich verlängernd, in den blauen, schillernden Schatten einer einzelnen Sonne hinab. Ein pulsierendes Kiemenpaar zog sich so abrupt von der Urmiel zurück, daß sich sekundenlang der Umriß eines drahtigen Wesens mit glitzernden Augen vor dem schmatzenden Brei abhob.
Der Brei vibrierte und bildete eine große, schwarze Höhle aus, an deren Rändern eine Doppelreihe blitzender, blauweißer Zähne sproß. Inmitten der Höhle glühte es purpurrot. Mit zwei, drei Lidschlägen taten sich zwei gewaltige fahle Augen auf. Als das Ding näher kam, wuchs es logarithmisch an. Dann erlosch rings um Karin das grüne Licht, und es schien, als werde das Schiff nach vorn gesaugt. Der Antigravschacht erhielt einen schweren Stoß, Metall barst in der Dunkelheit, es roch nach verbranntem Fleisch.
Wenn man auf dem Boden eines tiefen Brunnens steht, leuchten hoch über dem Kopf, in dem kleinen Ausschnitt, den die Brunnenöffnung vom Himmel freigibt, die Sterne auf. Wir haben als Kinder, wenn die Klassenfahrt zu einer mittelalterlichen Burg hinging, alle, der Reihe nach, so in den Himmel geschaut. Man sagt auch, daß Kinder unter einem besonderen Leitstern stehen. Der hellste Stern, ein weißer Riese, den der Zwischenraum durch eine Verwerfung einließ, schien nur für Karin dort angebracht.
Wer war sie? Wo befand sie sich? Was war das für ein behaartes Tier, das über ihre Beine strich? Manchmal erreicht das Grauen einen Punkt, wo einem alles gleichgültig wird. Es scheint so, daß die Welt mit einem Ausmaß an Schrecken ausgestattet ist, daß er – jedenfalls in einen solch kleinen Kopf – nicht mehr hineinpassen will. Während sie noch in dem Tropf Steinwasser auf dem Grund der Höhle lag, jagten Fieberschauer ihren Rücken hinab.
Eine kühle Hand strich über ihren Mund. Etwas streichelte elektrisch ihr Nervengeflecht. Sie war – hätte man sie gesehen – weiß im Gesicht. Ihre Gedanken bauten sich zu einer einzigen phantastischen, lebenserhaltenden Kette auf. Neben ihr waren die Wände der Höhle mit lautem Geräusch geplatzt. Klebrige Feuchtigkeit rann ihre Schenkel hinab.
Sie hatte nach der eisernen Leiter, die in die Wand eingelassen war, gefaßt und rutschte ein halbes dutzendmal in das stinkende, klebrige Wasser ab. Zwei, drei der metallenen Bügel brachen aus, und aus einer Höhe von vielleicht zehn Metern stürzte sie fast ab. Wie in Trance kletterte sie wieder den Antigravschacht hinauf. Einmal glühten die Wände auf. Einen kurzen Augenblick sah sie über die Bordwand der Urmiel in den Zwischenraum hinaus.
Es schien, daß eine grüne Flüssigkeit das Raumschiff von allen Seiten umgab. Die Flüssigkeit spülte über das Schiff hinweg, wie von einer von draußen pumpenden, großen Lunge bewegt. Einmal drang die Flüssigkeit bis zu Karin vor, drang ihr in Mund und Nase ein und glitt durch sie hindurch, bevor das Kind auf der eisernen Leiter das Gleichgewicht verlor. Der Stern über ihr leuchtete noch.
Einmal war Karin mitten in der Nacht aufgewacht, als der Mond bleich und blaß durch das Kabinenfenster schien. Schnell hüpften von dem halb zurückgeschlagenen Laken ein Dutzend Zwerge ab. In der Ecke der Kabine raschelte etwas. Glühende Augen starrten aus der Dunkelheit. Sie verstand nicht, woher das Seufzen und Stöhnen, gleich neben ihr, gleich um die Ecke, kam.
Als sie wieder in den Schlaf, auf den Boden des Brunnenschachts hinab, fiel, zerrieb sie ihre Kiefer in einem malmenden Geräusch. Sie lag in ihrem Bett, in einem gelben Licht, die kleinen Hände zu trotzigen Fäusten geballt. Manchmal trat Schaum über ihre Lippen aus. Das Spinnennetz über ihrem Kopf strich immer wieder auf die Kissen herab. Eine Pflanze wuchs in dem Bettkasten neben Karin auf – groß, grün, schlürfend blähte sie sich über einem fleischigen, roten Kelch.
Entgegen dem Befehl ihres Vaters war sie – noch als kleines Kind – zum Fenster hinausgeschlüpft. Sie stand auf dem Fenstervorsprung in dem von unten heraufdringenden Licht hoch über der summenden Stadt. Als sich die Erde drehte, wurde ihr schwindlig. Der Mond hatte sich als große rote Scheibe über den Himmel bewegt. Ein Paar Krähen segelte mit krächzenden Rufen unter einem dünnen Wolkensaum hinweg.
Auf dem gläsernen Dach, unter dem ein Treibhaus lag, hob Karin ein weggeworfenes Spielzeug auf – ein von Tobias gebasteltes Projektil, eine Spindel, ein schlankes Raketending. Das Projektil erzitterte in ihrer Hand. Wie wenn man in die Zukunft sehen kann, erkannte sie, wie sich das Projektil ihrer Hand entwand. Es stieg steil über den Dächern auf, bohrte sich in den Wolkenschleier hinein und erstrahlte zuletzt als weißer Punkt, der um die Erde lief.
Sie öffnete die an der Spitze der Urmiel angebrachte Luke mit einem Ruck. Die Luft, die ihr entgegenschlug, war frisch und rein. In einem Luftloch kletterte sie durch die Luke auf die Außenwand des Schiffs hinaus. Unter ihren bloßen Füßen lag die Schiffshülle nackt und kalt. Von der Spitze des Schiffs, von dem dort angebrachten Antennenwald, war ein feines, glitzerndes, silbriges Netz weit hinaus zu den entferntesten Sternen gespannt.
Vorsichtig, mit nackten Zehen, trat Karin auf ein dickes Tau hinaus, das direkt von der Luke zu den Sternen lief. Das Tau unter ihren Füßen war feucht und kalt. Es zitterte unter der kleinen Last. Tauperlen fielen von ihm ab. Das entfernte Spinnennetz leuchtete in roten und blauen Farben auf. Kristall regnete vom Himmel herab. In dem Kristall war jetzt ein dunkler Leib zu sehen – ein unförmiges Ding, das erstaunlich behende über die Fäden herunterglitt.
Dann wuchsen aus dem Leib seidene Härchen auf, bald ein ganzer klebriger, finsterer Wald. Die Spinne schickte ein leises Zischen voraus. Aus ihren Kiefern tropfte Gelee herab – es war ein roter, süßer, den Atem nehmender Saft. An einer Kreuzung im Netz hielt die Spinne an. Karin nahm eine große Nadel aus der Hutschachtel heraus und feuchtete sie mit der Zunge an. Die Nadel blitzte auf, als die Spinne herunterkam.
Zwei, drei rote Blutstropfen fielen in den sich auftürmenden Kristall. Der Kristall, der noch eben in eisigem Blau erschien, wurde an seiner Oberfläche matt. Der Wind, der jetzt wieder blies, zerriß das Netz. Die Spinne stürzte mit in der Luft rudernden Beinen von dem Netz herab. Die Urmiel löste sich aus dem Zentrum des fortschwingenden Netzes heraus. Ihre Düsen flammten auf. An Bord des Schiffes wurde Licht gemacht.
Tobias hatte sich auf der Seite wie ein schlafender Hund zusammengerollt. Von irgendwo kam ein Sturm auf, der grauen Sand in seine Kabine blies. Während Tobias schwer atmend schlief, häufte sich der Sand über ihm, bis von dem Jungen nur noch ein Auge, ein Ohr, eine Haarsträhne übrigblieb.
Manche Erinnerungen, von denen wir glauben, daß sie eigentlich vergessen sind, sitzen tief in uns fest. Vielleicht war es ein zufälliges Wort, vielleicht hatte der Vater vom letzten Theaterbesuch erzählt. Sicher ist, Tobias’ Phantasie hatte sich über dem Sandmann, der im Theater aufgetreten war, gerade deswegen, weil er ihn nicht selbst gesehen hatte, erhitzt.
Während die Urmiel flüsternd durch den Zwischenraum strich, zeigte sich über dem Sichtfenster, das zum Flur hinausging, ein graues, wie von einer schwarzen Maske halb verdecktes Gesicht. Der Sandmann hielt sein Gesicht schief, fletschte sein Gebiß, runzelte die Stirn, als hätte der kleine Tobias in seinen Gedanken Revue passiert.
Dann raschelte es an der Tür, die in den Schatten der dämmernden Kabine zurückwich. Der Sturm, der aus den Wänden kam, verschärfte sich, pfiff hohl und kalt. Reif senkte sich über die Sandverwehung und über Tobias herab, und der Sand strich auf den Flur und klemmte die geöffnete Tür fest.
Der Sandmann nahm seinen Sack von der Schulter herab und trat ans Bett heran. Mit einem gläsernen Auge und einem höhnischen Blick sah er auf Tobias hinab – so, als hätte er einen schönen Gruß an dessen Eltern bestellt. Der Junge unter dem Sand regte sich. Mit dem einen geöffneten Auge hatte er auf den Sandmann geblickt. Er rief etwas, aber das Geräusch wurde vom Pfeifen des Windes zugedeckt.
Mit einer fast nachlässigen Gebärde hatte der Sandmann, als sei dies eine Routineangelegenheit, Tobias mit zwei, drei Griffen in den Sack gesteckt. Als er durch die Türe glitt, lachte er höhnisch auf. Tobias, in dem Sack, war es bitterkalt. Als der Sandmann gebückt am Badezimmer vorüberkam, fiel aus der halb geöffneten Tür ein gelbes Licht.
Wieder, als Tobias auf dem Rücken des Sandmanns um sich schlug, lachte der Maskierte auf. „Hä, hä“, bellte seine rauhe Stimme. Dann erlosch das gelbe Licht, der Sandmann huschte den Gang hinab, es wurde wieder kalt, und bittere Tränen rollten über Tobias’ Gesicht.
Manchmal denkt man, daß Erwachsene große Kinder sind. Wenn man jemanden wiedertrifft, den man als Kind gekannt hat, so fallen einem die altbekannten, vielleicht vergröberten Züge des Kindes auf. Es ist ja klar, daß jede Person die Summe ihrer Erfahrungen ist und daß also der kleine Mann und die kleine Frau in der größeren Ausgabe enthalten sind.
Gleichwohl stürzte die Mutter Wagenseil in der Zeit, da die Urmiel im Spinnennetz gefangen war, wie einen riesigen Abhang, auf dem ihre gesammelte Erfahrung, ihr gesammeltes Wissen wuchs – hier ein fröhliches Lachen, eine zarte Regung da, geballte Energie fast an jedem Ort –, hinab. Es ist seltsam, wie leicht sich doch die psychische Sperre, die uns vom Abgrund trennt, lösen läßt. Es scheint, daß unter unseren Füßen ein schwankender Boden liegt, den man schon mit einem unachtsamen Schritt durchbrechen kann – hingegen scheint es ein schier endloser Kampf, wenn man wieder an Höhe gewinnen will.
Es versteht sich, daß Irene Wagenseil nackt in die Tiefe gefallen war. Als sie sich auf dem Boden regte, lag sie zwischen feuchten Pilzen da. Ein Schmetterling taumelte durch die Luft über ihr. Ein Dutzend roter Weinbergschnecken kroch – da sie noch nicht ganz bei Sinnen war – mit weißer, schleimiger Spur feucht über sie hinweg. Da schrie sie auf.
Ein riesiges Ding senkte sich, während sie auf dem Rücken lag – ein Mann? ein Tier? – auf sie herab. Schlamm troff von dem Ding auf sie, das wie eine riesige Fledermaus mit schlagenden Flügeln knapp über ihr verhielt. Sie schaute in ein spitzes Maul. Schaum troff in langen Fäden aus der Schnauze der menschlichen Fledermaus.
Der Farn links und rechts, das Moos unter ihr, die Lianen, die sie vom Himmel hängen sah, färbten sich wie der Himmel rot. Es war so laut in diesem Wald, daß Irene Wagenseil nicht mehr wußte, ob nur sie alleine schrie. Das Ding stieß einen heiseren Laut über ihr aus, und als Frau Wagenseil in Ohnmacht fiel – eine purpurne Röte stieg über ihren Nacken auf –, schäumte die Fledermaus, und aus dem Schaum trat ein stattlicher junger Mann heraus, der sich neben Irene auf das Moospolster sinken ließ.
Wie das so mit Träumen geht – sie liebten sich in dieser Frühlingsnacht, und als der Tag anbrach, regnete es große Tauperlen herab, von denen eine sie in ihrer Membrane einschloß. So sanken sie auf den Grund eines vorsintflutlichen Meeres in eine ewige weiße Nacht hinab.
In ihrem Badezimmer an Bord der Urmiel wachte Irene Wagenseil auf. Nackt, gelatiniert, lag sie auf dem Boden ausgestreckt. Eiskristalle türmten sich über ihr. Es war unendlich kalt. Als sie sich regte, stürzten die Eiskristalle von ihrem Körper herab. Neben ihr lag eine bleiche Haut – sie war geschwärzt und von der Kälte zusammengerafft, über ihren Rückenteil liefen ein Dutzend roter Striemen hinab. Unter ihren abgebrochenen Fingernägeln, die Frau Wagenseil im Badezimmer in die Höhe hielt, zeichneten sich Blutspuren und Hautfetzen ab.
Sie weinte jetzt. Der Bademantel, nach dem sie griff, löste sich in weißes Pulver auf. Als sie zur Tür ging, fiel ein blinder Spiegel in tausend Scherben auf sie herab. Die Tür war fest verklemmt. Erschöpft sank Frau Wagenseil mit dem Rücken an der Tür herab. Jetzt erst erkannte sie, sie war in einem Spiegelkabinett. Mit grausamer Schärfe warf das Badezimmer ihre Erscheinung in allen Winkeln, in allen Brechungen zu ihr zurück.
In den Ecken regte es sich. Eine alte Frau hatte scharf von der Seite auf sie geblickt. Ein Salamander huschte durch das Bad, und ein Kind weinte in der Nacht. Über ihr stand ein Mann wie ein Berg und blickte auf sie herab. Eine Reihe goldener Zähne blitzte in seinem Munde auf. Sie wich zurück, als er sprach.
Eine der Birnen in der Decke war explodiert. Wie unter einem Schuß fiel eine zweite Birne aus. Im Badezimmer wurde es Nacht. Ein blauweißes Licht glühte in der Ecke auf. Jetzt sah Irene, wie ihr müder Kopf durch den Türrahmen glitt. Ihr Haar bewegte sich. Sie schrie auf, als sich ein Schlangenleib gegen den anderen rieb. Dann wurde es wieder Nacht, und aus ihrem Kopf stürzten die Erinnerungen als kleine graue Stäubchen herab, während das Wasser aus dem laufenden Hahn sachte in die Höhe stieg.
Hatte Werner Wagenseil früher immer nur gute Träume erlebt, so stimmte etwas nicht, als er durch den dicken Boden des Glases sah. Die Welt, die gerade himmelblau gewesen war, verfärbte sich und schwankte unter der Flüssigkeit. Wo eben noch die braune Wandtäfelung der Kneipe war, platzte das Holz auf, und aus dem schwitzenden Metall, das darunter lag, strömte ein Dutzend rosiger, kleiner Mädchen heraus.
Einen Augenblick hatte Herr Wagenseil in Anbetracht der lieblich-rosigen Flut gelacht. Aber schon im nächsten Moment erzitterte das Bild und löste sich auf – was eine Schar rosiger, verführerischer Leiber gewesen war, schwamm mit raschen, geschmeidigen Bewegungen herauf, und eine Doppelreihe weißer Zähne blitzte in jedem der verschwimmenden Gesichter auf.
Trotz des Alkohols traf der Anblick Herrn Wagenseil wie ein Schock. Er war von dem Barhocker nach hinten herabgestürzt. Einen Augenblick lösten sich seine Gedanken auf. Es war, als suche er einen Anhalt, eine Zuflucht, einen Ruhepunkt. Sekundenlang blitzten in seinen Gedanken eine Wiese, ein Baum, ein blauer Lichtschein auf, sah er ein über eine Wiese schreitendes Kind, das in seinen Händen eine Kerze hielt.
Schon im nächsten Moment holten ihn die sich durch die Luft schwingenden Gestalten in die Wirklichkeit zurück. Er warf das Glas, das er fest umklammert hatte, nach der ersten Gestalt. Das Glas riß ein Loch in den braunroten Leib, Rauch umhüllte die Gestalt, das Ding schrie auf.
Während er noch auf dem Boden lag, stürzte ein blaßgrünes Kind mit gespreizten Krallen auf ihn herab. Der Schmerz, da das Kind sich in seiner Schulter verbiß, war so stark, daß Werner Wagenseil in eine tiefe Ohnmacht fiel. Selbst in diese Ohnmacht hinein attackierten sie ihn. Sie kamen – während eine knochige Hand Herrn Wagenseil aufrecht hielt – von allen Seiten auf ihn herab – große rote Klumpen, wie von heißem Wasser verbrüht, ein grauer Pelz, der mit rasiermesserscharfen Krallen um sich hieb, ein langgestreckter weißer Lurch, der mit seinen Zähnen Herrn Wagenseils Oberschenkelvenen aufriß.
Die Kneipe war von Gestank und Lärm erfüllt. Flüssiges Metall rollte in winzigen Kügelchen durch den Raum. Der Computer las mit sich überschlagender Stimme Zahlenkolonnen ab. Ein Ventil war geplatzt, und weiße Sauerstoffwolken senkten sich herab. Da ging gegenüber, fast durch den ausströmenden Dampf verhüllt, die Tür auf, und der Sandmann kam herein.
In diesem Augenblick fiel die Schwerkraft aus, der Computer spuckte lange, leere Blätter aus, und Herr Wagenseil schoß, seiner Trägheit gehorchend, quer durch den Raum, rannte den Sandmann um, riß ihm die Maske vom Gesicht und fand unter seinen Händen nur gärenden Schaum – einen schmutzigen, perlenden, sich zersetzenden Brei, der in dicken, schmutzigen Spritzern zu Boden fiel. Mit einem Plumps fiel der Sack, der über der Schulter des Sandmanns gelegen hatte, auf den Metallbelag hinab, und ein Dutzend glitzernder, gläserner Perlen rollte heraus.
Herr Wagenseil, von dem Blutverlust geschwächt, war in den Schleim und zwischen die Glaskugeln gestürzt. Als er so auf dem Rücken lag und das Blut aus seinem Körper lief, sah er ein Kind, das mit spitzer Nadel in eine Spinne stach. Rote Schleier legten sich über das Bild. Hinter den Schleiern schaukelte unter der Decke ein Spinnennetz. Ein großes schwarzes Tier ließ sich an einem Faden, der aus seinem After lief, behende zu Herrn Wagenseil herab. Auf seiner Zunge spürte Werner Wagenseil Salzgeschmack. Eine bittere Flüssigkeit troff auf ihn. Sein Körper wurde steif. Nur noch in Gedanken hob er abwehrend einen Arm, dann umfing ihn Dunkelheit.
Mit einem Mal war Karin Wagenseil erwacht. Ganz plötzlich war sie völlig klar. Während sie noch ein wenig fror, stellte sie fest, daß sie in ihrer halbdunklen Kabine auf den Boden gefallen war. Ihr Nachtkleid war verrutscht. Es war in der Kabine schwül und feucht. Etwas wie Blut sickerte über ihr Gesicht. Als sie danach griff, hielt sie gelben Speichel in der Hand.
Die Wände, im aufflammenden Licht, waren ausgebeult. Über sie liefen ringsum schwarze Schleifspuren hinab. An einer Wand hing – unübersehbar – ein langes behaartes Bein, das langsam in die Tiefe fiel. Obwohl die Ventilation auf vollen Touren lief, hing über der Kabine ein pestilenzartiger Gestank. Aus den Augenwinkeln schien es dem Kind, eine Spinne habe sie mit großen schwarzen Augen angeblickt. Vorsichtig stand sie auf und wäre beinahe auf dem langsam trocknenden Schleim ausgerutscht.
Das flackernde Bild auf der Wand verging. Die Tapeten waren naßgeschwitzt. Irgendwo unten, in der Tiefe, röchelte der Raumschiffgenerator, der mit geringer Spannung lief. Karin Wagenseil taumelte etwas, während eine Röte ihr Gesicht überflog. Wo waren ihre Mutter, ihr Vater, was war mit Tobias los? War das wirklich hier ihr Schiff? Sie fror, die Türklinke in der Hand. Ein Teil des Korridors war vom Sand zugeweht.
Schwitzend preßte sie die Tür zu Tobias’ Kabine auf. Als sie endlich in sein Zimmer trat, war ihr, als ziehe sich ein großer schwarzer Schatten von dem Bett zurück. Tobias, der mit geöffnetem Mund röchelnd auf dem Sofa lag, regte sich. Sie starrte auf sein Gesicht, das zu zucken begann. Sie fühlte seinen Puls, der taumelnd, flatternd in Gang gekommen war.
Sie wischte ihrem Bruder Erbrochenes und Schweiß von Kinn und Wangen ab, legte ihm eine kühle Kompresse auf und trat, als sie sah, wie er wieder zu sich kam, von seinem Bett zurück. Aus dem Bad, vor dem sie stand, lief das Wasser auf den Flur. Während sie zum Wasserhahn eilte, glitt sie fast aus. Mit flatternden Händen zog sie den Kopf ihrer Mutter aus der Badewanne heraus – er hatte gerade noch mit den Nasenlöchern aus dem randvollen Becken gezeigt.
Unter der Berührung verlor ihre Mutter den starren Blick, ihre Augen kehrten wie aus weiter Ferne zurück, sie röchelte, hustete und erbrach sich. Karin wischte und trocknete ihre Mutter ab, die, noch ganz schwach, in der Ecke lag. Noch bevor sie sprechen konnte, bedeutete sie Karin mit der Hand, daß ihre Fürsorge ausreichend sei, daß das Kind jetzt besser nach dem Vater sah.
Zuerst hatte Karin geglaubt, daß ihr Vater ein Bestandteil der metallenen Wandverkleidung im Kontrollraum geworden sei. Dann aber merkte sie, wie dumm sie doch war – denn eben, als sie dies dachte, rollte er aus der Wand heraus, wo er offenbar auf einem Klappbett lag. Er gähnte, raschelte, räusperte sich und fuhr eine Weile mit beiden Händen wild in der Luft herum.
Dann erst nahm er Karin wahr, die demütig, fast ein wenig linkisch vor ihm stand. Ein Ausdruck der Angst flackerte in seinen Augen auf. Instinktiv horchte er in die Raumschifftiefe hinab, sah mit einem gehetzten Blick die Instrumente an, sprang auf die Beine und riß zwei, drei Hebel herum, unter denen sich – wie Karin wußte – ein rascher Kursbeschleuniger befand. Das Schiff brüllte in der Tiefe auf. Alle Konturen in der Zentrale wurden krumm, und krumm waren lange, haarige Schatten in die Ecken gerollt.
Der Bildschirm flammte auf. Einen Augenblick war es, als rolle von draußen eine gierige Energiesee gegen die Urmiel Rote und grüne Fratzen, gekrümmte Finger sah man da – hier war es ein Gnom, der in einer Ecke des Bildschirms hing, dort war es ein energetischer Aal, aus dem blendend weiße Strahlung fiel. Im Hintergrund bewegte sich ein Baum, von dem ein Dutzend sich windender Schlangen hing.
Wieder brüllte die Urmiel auf. Eine ganze Weile blieben die Konturen in der Zentrale rund und krumm. Minutenlang durchpflügte die Urmiel eine schwarze, schillernde See. Faulblasen platzten über dem Bildschirm auf. Dann, als die Maschine, die jetzt warmgelaufen war, die Energie von draußen auf sich zog, arbeitete sich die Urmiel deutlich sichtbar, Stück für Stück, aus dem Sumpf heraus, ließ das Sumpfloch immer schneller hinter sich. Und dann plötzlich lag vor ihnen der Himmel schwarz und klar, und in ihm schimmerten die vielen Sterne der Milchstraße in ungeheurem Glänze auf.
Wissen Sie, wie das ist, wenn einem vollständige Macht über andere Menschen verliehen ist? Kennen Sie das Gefühl, wenn das Schicksal anderer Menschen in Ihren Händen liegt? Wissen Sie, was Ihnen an magnetischen Kräften zuwachsen kann, wenn Ihnen die Aufmerksamkeit vieler Menschen sicher ist?
Der Weltraum ist, wie wir eingangs sahen, ein wunderbares Ding. In seinem Schoß brütet er eine Vielzahl materieller und energetischer Erscheinungen aus. Eine große Zahl dieser Phänomene, die die Menschheit im Weltraum sieht, ist noch unerforscht. Von dieser Art war auch das Spinnenloch, in dem die Urmiel gefangen war.
Das Schiff erlitt einen Masseschwund, als es in dem Spinnenloch hing. Es brauchte lange Zeit, bis es zu seiner alten Leistung zurückfand. Was die psychischen Phänomene an Bord des Schiffs betrifft, so ist die Frage ihres Wirklichkeitsgehaltes ungeklärt. An verschiedenen Stellen des Schiffes wurden salzhaltige Ablagerungen, wie sie der Speichel bestimmter Spinnen hinterläßt, aufgefunden.
Auch wurden verschiedentlich Beschädigungen der Urmiel festgestellt, von denen eine jede jedoch längst ausgebessert ist. Ganz unleugbar scheint zu sein, daß dem Schiff eine Zeitspanne von drei Tagen abhanden gekommen ist. Ein Beobachter, der zu dieser Zeit in großer Entfernung an der Urmiel im Zwischenraum vorüberflog (der Kapitän des Schiffes Tarr) erklärte, die Urmiel habe auf höfliche Anrufe mit dem Wunsch, ungestört bleiben zu wollen, reagiert.
Nach dem Kampf mit der Spinne war Karin Wagenseil noch eine geraume Weile ganz verstört. Wenn jede der drei wichtigsten Bezugspersonen schläft, ist es schwierig, festzustellen, wie die Umstände zu bewerten sind, in denen man gefangen ist. Noch eine Zeitlang wurde Karin von der Erinnerung an die Ereignisse in ihren Träumen aufgestört.
Einmal träumte sie davon, daß sie alle Spinnen aus ihrem Kopf in einen großen Nachtschrank tat. Dort lebten und vermehrten sie sich, waren aber gut unter Verschluß. Sie warf einen einzigen Blick in den Schrank hinein – das war noch während ihrer Krankenzeit – und erschrak vor den vielen kleinen und der einen großen Spinne, die mit kohlschwarzen Augen in der Ecke hing; da lief ein Schauer über den Leib des Kinds, als ihm dämmerte, welche Ungeheuer in uns enthalten sind.
Einmal – das Ereignis war schon Monate her – sprach sie ihren Vater vorsichtig auf ihre Erlebnisse innerhalb und außerhalb des Fiebertraumes an. Doch, wie dies der Sprachregelung in der Familie Wagenseil entspricht, lehnte ihr Vater jede Erwähnung dieser Dinge außerhalb des Fiebers ab. Auch die Mutter hatte all die gräßlichen Dinge, die sie erlebt hatte, verdrängt. Selbst Tobias zog ein Gesicht, als Karin ihn vertraulich zur Seite nahm. Da kehrte auch Karin in die Scheinwelt der Geborgenheit zurück, zumal dies auch leichter möglich war, seit der Vater auf ihren Reisen die Spinnengewässer sorgfältig mied.