Gerd Ma­xi­mo­vič
Das Spinnenloch

 

Es ist be­kannt, daß das Uni­ver­sum vol­ler Wun­der ist. Es liegt auf der Hand, daß ein so großer Raum ein Viel­fa­ches der For­men, Spiel­ar­ten, Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten des Le­bens im Son­nen­sys­tem mit sich brin­gen wird. Trotz­dem wä­re es tö­richt, glaub­te man, daß bis­her je­dem Raum­fah­rer ein sol­ches Wun­der be­geg­net sei. Das liegt aber nicht al­lein an der Un­er­meß­lich­keit des Raums – in dem sich ja leicht ein Wun­der ver­lie­ren kann –, son­dern auch dar­an, daß man Wun­der nur ent­deckt, wenn man auch se­hen kann.

Im 23. Jahr­hun­dert war die Tech­nik der Mensch­heit so weit ver­voll­komm­net, daß ein Flug zu den Ster­nen – durch den Zwi­schen­raum – fast ein, wenn auch an­stren­gen­des, Ver­gnü­gen war, ein zwar stra­pa­zi­öser Trip, der mit­un­ter Stür­me, ma­gne­ti­sche Fal­len, Un­tie­fen und vie­ler­lei elek­tro­ma­gne­ti­sche Er­schei­nun­gen be­reit­hielt, der aber gleich­wohl schon so per­fek­tio­niert wor­den war, daß man nicht mehr nur im Ge­leit­zug, son­dern, wie die Fa­mi­lie Wa­gen­seil, auch schon auf Pri­vat­jach­ten den Zwi­schen­raum durch­quer­te.

Es ist viel­leicht be­mer­kens­wert, daß die see­li­sche Ent­wick­lung der Mensch­heit mit der ih­rer Tech­nik nicht voll­stän­dig Schritt ge­hal­ten hat. Die Kon­struk­ti­on über­licht­schnel­ler Raum­schif­fe scheint ein­fa­cher als der be­hut­sa­me Um­gang mit an­de­ren Men­schen zu sein. Es ver­steht sich auch, daß, ob­wohl in der welt­wei­ten Ge­sell­schaft mehr Gleich­heit ge­schaf­fen wor­den ist, sich noch viel Ver­hal­tens­ma­te­ri­al aus der al­ten Ge­sell­schaft in den Her­zen und Köp­fen der Men­schen auf­fand.

Hät­te man die Fa­mi­lie Wa­gen­seil, die auf dem Weg zum Co­lo­som war, un­ter ei­nem be­son­ders tief­bli­cken­den Elek­tro­nen­mi­kro­skop se­ziert, so hät­te man in ih­rem Nor­mal­ver­hal­ten al­ler­lei Un­zu­läng­lich­kei­ten, al­ler­lei Span­nungs­zu­stän­de, al­ler­lei ver­dräng­te Pro­ble­me fest­ge­stellt, de­rer sich nur ein Teil der Fa­mi­lie (und die­ser auch nur bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad) be­wußt ge­wor­den war – aber wo­zu auch, so hät­ten die Wa­gen­seils die­sen Ge­dan­ken mo­niert, wird in uns her­um­ge­wühlt, wo an den Din­gen doch nichts zu än­dern ist. Oder aber: Es ist doch ent­schei­dend, daß das, was wir ma­chen, funk­tio­niert.

So rich­tig die­ser Ge­dan­ke ist, so sehr bricht sein Bo­den ein, wenn ei­ne Fa­mi­lie wie die Wa­gen­seils, durch die Um­stän­de be­dingt, in ei­ne Si­tua­ti­on ge­rät, in der das al­te Ver­hal­ten nicht mehr wei­ter­hilft. Dies schi­en schon am drit­ten Tag ih­rer Rei­se, als die Ur­miel noch si­cher durch den blau­en, ein we­nig von Dunst über­wog­ten Zwi­schen­raum lief, der Fall zu sein. Ka­rin, die äl­te­re Toch­ter, hat­te es zu­erst ge­spürt.

Sie hol­te schon vom ers­ten Tag ih­rer Rei­se an ihr Pen­sum an Ma­the­ma­tik nach, da sie sich sag­te, daß es so mit ih­ren schu­li­schen Leis­tun­gen nicht wei­ter­ging. Sie saß über ih­rem Al­ge­bra-Buch und rech­ne­te ei­ne ge­mischt-qua­dra­ti­sche Glei­chung durch. Als sie den Zet­tel, auf dem sie schrieb, nach Li­ne­ar­fak­to­ren über­flog, wa­ren al­le Zah­len auf ein­mal wie weg­ge­wischt. Gleich­zei­tig tropf­ten die Un­be­kann­ten nach un­ten da­von, als er­gä­be sich ein Sog, der sie hin­un­ter auf den tep­pich­über­deck­ten me­tal­le­nen Bo­den zog.

Ka­rin, die dach­te, daß zu­viel Ar­beit an ei­nem Stück ihr auch nicht gut­tat, blick­te auf die Uhr. Wäh­rend der Se­kun­den­zei­ger un­ter dem Gla­se kroch, bog sich die­se nach un­ten, ver­jüng­te sich und tropf­te jetzt, als wür­de sie un­ter ei­ner star­ken Strah­lung auf­ge­löst. Schon im nächs­ten Au­gen­blick kipp­te die Ka­bi­ne um Ka­rin weg, bläh­ten sich die Wän­de auf, hat­te Ka­rin se­kun­den­lang in den Welt­raum hin­aus und auf die ver­schwim­men­den Ster­ne ge­blickt.

 

Als Ka­rin wie­der zu sich kam, lag sie in ih­rem Bett, und sie sah ih­rem Va­ter, der sich streng über sie beug­te, di­rekt ins Ge­sicht. Er hielt ein Buch, das Re­zep­te ge­gen Raum­krank­heit und ho­hes Fie­ber ent­hielt, in der Hand und hat­te Ka­rins Hand­ge­lenk um­faßt. Ka­rin fühl­te sich ganz schlaff, und sie emp­fand wäh­rend der Pro­ze­dur ein Ge­fühl der Un­wirk­lich­keit.

„Na, es geht schon wie­der“, hat­te die Mut­ter ge­sagt. „So fängt die Raum­krank­heit meis­tens an.“

„Aber“, mur­mel­te Ka­rins Bru­der To­bi­as aus dem Hin­ter­grund, „ich den­ke, da wird ei­nem nur schlecht, und man bricht und bricht.“

„Sei still“, hat­te die Mut­ter ge­sagt, „und be­un­ru­hi­ge das Kind nicht zu­sätz­lich noch.“

To­bi­as mur­mel­te et­was, das Ka­rin nicht ver­stand.

„So“, brumm­te der Va­ter und ließ Ka­rins Hand­ge­lenk los und füll­te ei­ne Flüs­sig­keit aus ei­nem Fläsch­chen ab. „Du kannst mich hö­ren?“ frag­te er, und als sie nick­te, fuhr er fort: „Jetzt nimmst du das!“

„Aber was ist das?“ frag­te Ka­rin mit ei­ner Stim­me, die ihr selbst fremd vor­kam.

Die Mut­ter sag­te: „Sei still, dein Va­ter weiß schon, was er tut!“

To­bi­as hat­te sich aus der Ka­bi­ne ver­drückt, wäh­rend die Flüs­sig­keit müh­sam Ka­rins Keh­le hin­un­ter­g­litt. Nach ei­ner Wei­le wur­de es warm in ih­rer Brust. Auch schi­en es Ka­rin, daß die Zim­mer­tem­pe­ra­tur an­stieg. Das Licht an der De­cke fla­cker­te et­was. Das Ge­sicht ih­rer Mut­ter, die sich jetzt, als der Va­ter zu­rück­ge­tre­ten war, über sie beug­te, er­schi­en ihr spitz und streng.

„Schla­fe jetzt, mein Kind“, sag­te die Mut­ter fast schrill, aber es war ei­ne Be­drückung da, die über Ka­rin lag und die die gan­ze Nacht nicht wich.

 

In der Nacht, als Ka­rins Fie­ber stieg, hat­te der Va­ter ein Te­le­gramm durch den Zwi­schen­raum ab­ge­schickt. Er frag­te dar­in bei der nächs­ten Ro­bot­me­di­zi­ni­schen Sta­ti­on – ei­nem klei­nen, dunklen, im Qua­dran­ten X/12 ge­le­ge­nen Stern – nach Ver­hal­tens­an­wei­sun­gen, falls die Ent­wick­lung, in der Ka­rin sich zu be­fin­den schi­en, sich nicht un­ter­bin­den ließ. Die Ant­wort, die mit ei­ner merk­wür­di­gen Ver­spä­tung von fast zwei Stun­den im Mor­gen­grau­en ein­lief und de­ren Schwin­gungs­mus­ter der Com­pu­ter nur ver­schwom­men auf­nahm, be­ru­hig­te ihn. Die mit­ge­teil­ten Sym­pto­me wä­ren nor­mal: Das Kind zei­ge ty­pi­sche Ver­hal­tens­merk­ma­le, wie sie für Her­an­wach­sen­de in die­sem Al­ter und un­ter den Be­din­gun­gen des Zwi­schen­rau­mes üb­lich sei­en.

Ka­rin, die die gan­ze Nacht kaum schlief, hat­te, als sie ein­mal für kur­ze Zeit in einen tie­fen, blei­er­nen Schlum­mer fiel, einen Traum. Sie war als klei­nes Mäd­chen auf ei­nem Pla­ne­ten, der nur mit grü­nen Wie­sen be­deckt war, aus­ge­setzt. Sie lag, als sie die Au­gen auf­schlug, in saf­ti­gem Gras, an dem noch der Tau des frü­hen Mor­gens hing. Als sie um sich sah, wa­ren we­der ihr Va­ter noch ih­re Mut­ter da. Dann hat­te sie die bei­den auch schon aus ih­ren Ge­dan­ken ver­drängt, denn der Him­mel, der eben noch tief­blau ge­we­sen war, hat­te sich be­wölkt, und über ei­nem fer­nen, aus­ge­zack­ten, stahl­blau er­schei­nen­den Ge­bir­ge zuck­ten die ers­ten Blit­ze auf.

Jetzt erst hat­te sie den ein­sa­men Baum, der fast im Zen­trum der Wie­se stand, ent­deckt. Ihr Haar und die Schlei­fen, in die das Haar ge­bun­den war, flat­ter­ten in dem Wind, der jetzt auf­kam. Wäh­rend der Wind durch ih­re Klei­der fuhr und sie ein Ge­fühl der Be­frei­ung emp­fand, setz­te un­ter den ers­ten vom Ge­bir­ge her­über­lau­fen­den Don­ner­schlä­gen fast ihr Herz­schlag aus. Was tue ich nur? Was tue ich nur, dach­te Ka­rin rasch. Und da der ein­sa­me, knor­ri­ge Baum, der als fah­le Sil­hou­et­te wie mit kno­chi­gen Ar­men vor dem silb­ri­gen Him­mel stand, bei al­lem Be­den­ken, das ihr kam, ihr ein­zi­ger Flucht­punkt war, rann­te sie, ih­re Ängs­te bei­sei­te schie­bend, zu ihm hin.

Wäh­rend sie rann­te, setz­te der Re­gen, der aus tief vor­über­zie­hen­den Wol­ken fiel, hef­tig ein, und schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten war Ka­rin bis auf die Haut durch­näßt. Aber trotz der Angst in ihr fühl­te sie, wäh­rend sie zu dem Baum hin­lief, gleich­zei­tig, da das Was­ser über ih­ren Kör­per rann, ein un­ge­heu­res Ge­fühl der Er­leich­te­rung. Dann hat­te sie den Baum er­reicht, an des­sen Rin­de das Was­ser in brei­ten Rinn­sa­len nie­der­floß.

Der Sturm über ihr er­reich­te sei­nen Hö­he­punkt. Die Wol­ken flo­gen tief da­hin, und Blit­ze schlu­gen in die Wie­se ein, über der es sonst fast völ­lig fins­ter war. In der Luft lag Schwe­fel­ge­ruch. Das her­ab­fal­len­de Was­ser drang gur­gelnd zu Ka­rins Fü­ßen in den Bo­den ein. Noch mehr­mals brüll­te der Him­mel un­ter schmet­tern­den Schlä­gen auf. Ein Blitz, der die Wol­ken­wand auf­riß, schlug we­ni­ge Me­ter ne­ben dem Baum in einen Erd­hü­gel ein, den er als damp­fen­de, rau­chen­de Mul­de hin­ter­ließ. Dann riß der Him­mel auf. Der Re­gen hör­te auf. Die Son­ne schi­en erst ein fah­ler Mond zu sein und drang dann mit ih­rer vol­len Strah­lung durch. Ein Re­gen­bo­gen bil­de­te sich und ver­ging so schnell, wie er ent­stan­den war. Zwi­schen den Zwei­gen des kah­len Baums, un­ter dem Ka­rin jetzt frie­rend stand, blitz­te im Son­nen­licht ein win­zi­ges Spin­nen­netz, das den Sturm und Re­gen­guß an­schei­nend un­ver­sehrt über­stan­den hat­te.

Ein­mal beug­te, wäh­rend Ka­rin schlief, sich ein Rie­se über sie. Er hat­te ein mod­ri­ges, schlüpf­ri­ges, fau­li­ges Ge­sicht, von dem ei­ne Art Schlamm auf ihr wei­ßes Kis­sen troff. Sie zuck­te vor dem stin­ken­den Atem des Rie­sen in ih­re Kis­sen zu­rück. Schüt­zend schlug sie die Hän­de vors Ge­sicht. Aber das Vieh wich nicht zu­rück. Es war, als sto­ße der Rie­se gel­be Wol­ken aus. Sein Ge­sicht war schief, wäh­rend er sab­bernd mit sich sprach. Ein­mal streck­te er sei­ne Hän­de nach Ka­rin aus, die end­lich ver­zwei­felt mit dem Kis­sen nach ihm warf, wor­auf­hin er plötz­lich ver­schwand.

Sie wuß­te nicht, wie­viel Zeit ver­rann, wäh­rend ihr Fie­ber stieg. Un­ter dem Bett­la­ken war sie naß­ge­schwitzt. Ein­mal war ihr, als fühl­te sie Hän­de in ih­rem Ge­sicht. Strei­cheln­de, sanf­te Hän­de wa­ren das. Aber als sie den Na­men ih­rer Mut­ter rief, stell­te sie fest, daß sie die Hän­de bloß in ih­rem glü­hen­den Kopfe sah. Wie­der fiel sie in ei­ne schwar­ze Nacht hin­ab. In die­ser Nacht tra­ten Stim­men auf. Ein­mal hat­te sie Licht ge­macht, als ein Ge­spinst, haar­fein, hauch­dünn und ein we­nig kleb­rig, über ih­re Zü­ge strich.

 

Es war, als ru­fe ei­ne Stim­me wie von fer­ne Ka­rin an. Im Schlaf noch lall­te sie: „Ja, was ist?“ Aber die Stim­me, oh­ne auf Ka­rin ein­zu­ge­hen, schlug wie­der in ei­nem Ton­fall an, der in Ka­rins Herz ein­drang. Mit ei­ner tas­ten­den Hand mach­te sie das Nacht­tischlämp­chen an. Sie war al­lein in ih­rem klei­nen Raum. Mit zit­tern­den Bei­nen stand sie auf. Einen Ba­de­man­tel um die Schul­tern, trat sie auf den Flur hin­aus.

Die Tür zur Ka­bi­ne ih­res Bru­ders stand halb of­fen. „To­bi­as“, flüs­ter­te sie durch den Spalt, oh­ne daß von dort ei­ne Ant­wort kam. Aus sei­ner Ka­bi­ne fiel ein schma­les, gel­bes Licht. Sie drück­te die Tü­re auf. To­bi­as lag auf sei­nem Bett, er hat­te noch sei­ne Klei­der an. Sie starr­te ihn einen Au­gen­blick von der Tür aus an. „To­bi­as“, flüs­ter­te sie, als zweifle sie an sei­nem Er­schei­nungs­bild.

Dann, als vom Bett nicht die kleins­te Re­gung kam, hat­te sie die Tür ganz auf­ge­macht. Sie trat ans Bett her­an. Sie sah auf das Ge­sicht ih­res Bru­ders hin­ab. To­bi­as’ Ge­sicht wirk­te kalt. Es schi­en bleich wie Mar­mor zu sein. In die Bläs­se misch­te sich ei­ne blaue Fär­bung ein. Sein Mund war weit auf­ge­sperrt, oh­ne daß sein Atem ging. Die Au­gäp­fel wa­ren nach oben ge­dreht. Ei­ne Hand, nach der Ka­rin griff, hing schlaff her­ab; sie war noch warm.

Der Gang den Flur hin­ab währ­te ei­ne Ewig­keit. Am Flu­ren­de zweig­te das große Ba­de­zim­mer ab. Als Ka­rin an der Ba­de­zim­mer­tür vor­über­kam, ver­spür­te sie einen Stich im Herz. Tau­melnd trat sie durch die Tü­re ein. Das Ba­de­zim­mer lag in ei­nem wei­ßen Licht. Ein durch­sich­ti­ger Plas­tik­vor­hang, hin­ter dem et­was lag, teil­te es in zwei Hälf­ten auf.

Ka­rin zog den Vor­hang auf und sah ih­re Mut­ter, die nackt vor ihr lag. Es ist nicht so, daß die Wa­gen­seils ei­ne prü­de Fa­mi­lie sind. Wel­che Ge­heim­nis­se soll­te es ge­ben, wenn man so eng zu­sam­men­wohnt? Es war viel­mehr die Art, wie ih­re Mut­ter auf dem Bo­den lag: ein we­nig ver­krümmt, ein we­nig zu­sam­men­ge­rollt, als wä­re sie ein Tier, das auf dem Bo­den schlief. Ih­re Haut glänz­te un­ter ei­nem wei­ßen Schleim, wäh­rend sich ih­re Brust un­ter ih­ren Atem­zü­gen leicht senk­te und hob.

Noch im­mer schwind­lig, trat Ka­rin in die Zen­tra­le ein. Sie preß­te, als sie ih­ren Va­ter sah, die Hand vor den Mund. Er hat­te sich im Steu­er­ses­sel zu­rück­ge­lehnt. Sein Kopf lag auf der Sei­te, als wür­de er schla­fen. Er war über und über in sei­di­ge Fä­den ein­gehüllt, in einen Ko­kon, der um sei­nen gan­zen Kör­per lief. Vor der Be­rüh­rung der kleb­ri­gen Fä­den zuck­te Ka­rin zu­rück.

Sie blick­te auch ih­rem Va­ter ins Ge­sicht, das ganz grau er­schi­en. In die­ser grau­en Fär­bung zeich­ne­ten sich schar­lach­ro­te Fle­cken ab. Sei­ne Lip­pen wa­ren pur­pur­rot. Das Sei­den­ge­spinst, das auch über sein Ge­sicht ge­brei­tet war, be­weg­te sich ganz leicht, wäh­rend sein Atem ging. Sei­ne Au­gen wa­ren grau und leuch­te­ten in ei­nem kal­ten Licht. Vor­sich­tig und frös­telnd trat Ka­rin ei­ni­ge Schrit­te von ihm zu­rück.

 

Man sagt, daß Kin­der sinn­los grau­sam sind. Rich­tig ist dar­an si­cher­lich, daß ei­nem Kind mit­un­ter der Sinn über den Zu­sam­men­hang, in den es mit an­de­ren Men­schen ge­stellt ist, ab­ge­ht. Schwie­rig ist es auch, wenn ein mensch­li­ches Ver­hal­ten ge­for­dert wird, für das die Grund­la­ge nicht ge­ge­ben ist. Und schließ­lich – wer weiß schon, was an zar­ten Kei­men, an zar­ten Trie­ben in frü­hen Kin­der­ta­gen zu­grun­de geht und sich auch im spä­te­ren Le­ben end­gül­tig ver­liert? Wer weiß schon, was das für Schmer­zen sind, die es an­de­ren zu­fügt, wenn der Schmerz ihm selbst nicht ge­läu­fig ist? Was Ka­rin Wa­gen­seil be­trifft, so war sie wie ei­ne Blu­me, die ein hef­ti­ger Früh­lings­wind ver­weht. Noch eben in dem gol­de­nen Licht, das, wenn auch von har­ten El­tern, über die Kin­der­ta­ge fällt, so war sie jetzt in der Ur­miel gleich­sam aus­ge­klinkt. Erst mit der Ab­we­sen­heit der Son­ne ver­steht man, wie kühl die Nacht sein kann. Ein Schiff wie die Ur­miel scheint nur aus nack­tem Me­tall, aus blan­ken Lei­tun­gen und aus ei­nem ge­fühl­lo­sen Elek­tro­nen­ge­hirn zu be­ste­hen, wenn man es mit ängst­li­chen Au­gen sieht.

Die Flu­re des Schiffs, durch die Ka­rin kam, wa­ren kalt und still. Die Wän­de des Turn­saals schie­nen braun und ver­gilbt. In dem ku­gel­run­den Bas­sin, in dem sich das Was­ser ewig frisch er­hielt, hing Chlor­ge­ruch, der dem Mäd­chen vor­her so in­ten­siv nicht auf­ge­fal­len war. Im Ma­schi­nen­saal stand das Öl klamm und dick. Die Ster­ne, die sie vor den Bullau­gen vor­über­zie­hen sah, blick­ten kühl auf sie her­ab. Ih­re Stim­me, mit der sie auf ein Ton­band sprach, kam mo­no­ton zu­rück.

 

In der Bie­gung des Kor­ri­dors hing von der De­cke ein Spin­nen­bein und schau­kel­te ein we­nig in der Ven­ti­la­ti­on. Ka­rin, die träu­mend den Flur hin­un­ter­ge­gan­gen war, be­merk­te das Spin­nen­bein erst, als es ihr sei­dig, kleb­rig, auch stin­kend über die Zü­ge fuhr. Zu­gleich trat ein ste­chen­der Ge­ruch auf. Das Spin­nen­bein, in das sie schlug, fühl­te sich weich an.

Als Ka­rin auf dem Bo­den lag, drück­te die Spin­ne ganz lang­sam ih­ren rie­si­gen be­haar­ten Leib durch die stäh­ler­ne Tun­nel­wand her­ab. Steif und als hät­te sie der Schüt­tel­frost ge­packt, hat­te sich Ka­rin her­um­ge­wälzt. Aus der Rich­tung des Kor­ri­dors, aus der sie ge­kom­men war, fie­len klei­ne Woll­knäu­el aus der Wand und krab­bel­ten als Spin­nen über den Bo­den fort.

Wäh­rend sie noch auf dem Bo­den lag, wur­de Ka­rin feucht. Es war ein süß­li­cher Saft mit ei­nem bit­te­ren Bei­ge­schmack, der von der De­cke troff. Die große Spin­ne über ihr hing jetzt halb von der De­cke her­ab, und jetzt zog sie ih­re noch über dem Me­tall ver­blie­be­nen Bei­ne nach. Ka­rin hat­te den Saft von ih­rem Ge­sicht ge­wischt und prall­te von der Wand zu­rück, die auf­brach und den Spalt für ein sei­de­nes Ge­spinst frei­gab.

„Mut­ter Got­tes“, mur­mel­te das Kind, schon ganz wirr, „Mut­ter Got­tes, was ist hier nur los? Was ist hier nur los? Wie kann es sein, daß un­ser schö­nes Schiff so mit Spin­nen an­ge­füllt ist?“

Aber ist es nicht so, daß es Zei­ten gibt, in de­nen sich un­ser Ver­stand zu­sam­men­zieht? Ist es nicht so, daß man in be­stimm­ten Si­tua­tio­nen nicht mehr denkt? Daß man ent­we­der – wenn der Ver­stand der La­ge nicht mehr ge­wach­sen ist – aus­ein­an­der­fällt oder aber, wenn ein un­end­li­ches Ver­trau­en in uns ist, der Kör­per ganz am En­de al­lein die Rich­tung noch be­stimmt?

Man muß zu­ge­ben, daß Spin­nen­au­gen et­was Schö­nes sind. Für Ka­rin war der schwar­ze Lich­ter­kranz, der sich vor ihr be­fand, wie ein viel­fäl­ti­ges Ka­me­ra­au­ge, das auf sie sah. Viel­leicht lag in ih­rem Wahn­sinn et­was Ei­tel­keit. Ja, als sie sich vor­wärts warf, durch den sei­de­nen Vor­hang, der jetzt von al­len Sei­ten kam, rich­te­te sie sich so­gar ein we­nig auf – sa­gen wir, wie ei­ne klei­ne Kö­ni­gin, die ih­ren auf­trei­ben­den Kör­per dem Ka­me­ra­au­ge ent­ge­gen­wirft.

Schwer zu sa­gen, wie das kam – wäh­rend der durch­sich­ti­ge Schlei­er, der jetzt nicht übel roch, als dich­te, schil­lern­de Mas­se auf sie her­un­ter­kam, hat­te Ka­rin zwei, drei Spin­nen­lei­ber, die sich auf­bläh­ten, zur Sei­te ge­fetzt. Sie kroch über einen sich be­we­gen­den, haa­ri­gen Kör­per wie über einen Berg. Sie spür­te in der lin­ken Schul­ter einen bren­nen­den Biß. Dann fiel sie in den An­ti­gra­vi­ta­ti­ons­schacht hin­ab, auf des­sen Bo­den sie ei­ne tie­fe Ohn­macht über­kam.

 

Sie wuß­te nicht, wie lan­ge sie im An­ti­gravschacht lag. Sie schlug die Au­gen auf, als et­was Küh­les, Feuch­tes auf sie troff. Sie schrie, da sie in ei­ner fau­li­gen Pfüt­ze lag, dumpf auf. Sie schrie selbst dann noch, als die Er­kennt­nis hin­ter ih­rer Stirn her­auf­zog, daß wirk­li­ches, viel­leicht bra­cki­ges, viel­leicht ab­ge­stan­de­nes Was­ser sie um­gab. Dann – sie hat­te ver­ge­bens nach dem über ihr thro­nen­den Spin­nen­tier ge­späht – wein­te sie ein we­nig.

Dann um­gab sie ein grü­nes Licht, das aus den Wän­den des Stahl­zy­lin­ders fiel. Es schi­en, als lie­ge die Mo­le­ku­lar­struk­tur der An­ti­gra­v­röh­re bloß. Als schat­ten­haf­ten Um­riß konn­te sie die Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de der Ur­miel hin­ter der Röh­re se­hen – ein wa­bern­des, sich auf­blä­hen­des, wie­der zu­sam­men­stür­zen­des Ge­wirr, das aus Mi­kro­ele­men­ten, Com­pu­ter­kon­so­le, Schlaf­ka­bi­nen und ei­nem rie­si­gen schwar­zen, ein we­nig blau strah­len­den Mo­tor be­stand.

Jetzt fie­len die Schiffs­wän­de völ­lig zu­rück. Sie sah in den Zwi­schen­raum hin­aus. Dort, wo sonst ei­ne sanf­te ener­ge­ti­sche Strö­mung floß, er­streck­te sich ein ro­ter, kleb­ri­ger Brei. Es sah aus, als platz­ten in die­sem Brei hin und wie­der in zeit­lu­pen­haf­tem Tem­po di­cke Bla­sen auf. Ge­le­gent­lich pul­sier­te der Brei. Dann schob er große Klum­pen ei­ner schil­lern­den Ma­te­rie auf die Ur­miel hin­auf. Ein­mal riß der Brei, und Ka­rin er­kann­te durch die ent­stan­de­ne Öff­nung den mil­den Glanz des Zwi­schen­raums.

Jetzt sah sie auch, daß der Brei mit selt­sa­men We­sen be­völ­kert war. Aus ei­ner der Bla­sen hat­te ei­ne rie­si­ge, feuch­te Zun­ge über die Ur­miel ge­leckt. Ein Ding, das wie ein pur­pur­ner Frosch aus­sah, fiel seit­lich von dem Schiff aus ei­nem Loch, das der Brei frei­gab, und stürz­te, sich ver­län­gernd, in den blau­en, schil­lern­den Schat­ten ei­ner ein­zel­nen Son­ne hin­ab. Ein pul­sie­ren­des Kie­men­paar zog sich so ab­rupt von der Ur­miel zu­rück, daß sich se­kun­den­lang der Um­riß ei­nes drah­ti­gen We­sens mit glit­zern­den Au­gen vor dem schmat­zen­den Brei ab­hob.

Der Brei vi­brier­te und bil­de­te ei­ne große, schwar­ze Höh­le aus, an de­ren Rän­dern ei­ne Dop­pel­rei­he blit­zen­der, blau­wei­ßer Zäh­ne sproß. In­mit­ten der Höh­le glüh­te es pur­pur­rot. Mit zwei, drei Lid­schlä­gen ta­ten sich zwei ge­wal­ti­ge fah­le Au­gen auf. Als das Ding nä­her kam, wuchs es lo­ga­rith­misch an. Dann er­losch rings um Ka­rin das grü­ne Licht, und es schi­en, als wer­de das Schiff nach vorn ge­saugt. Der An­ti­gravschacht er­hielt einen schwe­ren Stoß, Me­tall barst in der Dun­kel­heit, es roch nach ver­brann­tem Fleisch.

 

Wenn man auf dem Bo­den ei­nes tie­fen Brun­nens steht, leuch­ten hoch über dem Kopf, in dem klei­nen Aus­schnitt, den die Brun­nen­öff­nung vom Him­mel frei­gibt, die Ster­ne auf. Wir ha­ben als Kin­der, wenn die Klas­sen­fahrt zu ei­ner mit­tel­al­ter­li­chen Burg hin­ging, al­le, der Rei­he nach, so in den Him­mel ge­schaut. Man sagt auch, daß Kin­der un­ter ei­nem be­son­de­ren Leit­stern ste­hen. Der hells­te Stern, ein wei­ßer Rie­se, den der Zwi­schen­raum durch ei­ne Ver­wer­fung ein­ließ, schi­en nur für Ka­rin dort an­ge­bracht.

Wer war sie? Wo be­fand sie sich? Was war das für ein be­haar­tes Tier, das über ih­re Bei­ne strich? Manch­mal er­reicht das Grau­en einen Punkt, wo ei­nem al­les gleich­gül­tig wird. Es scheint so, daß die Welt mit ei­nem Aus­maß an Schre­cken aus­ge­stat­tet ist, daß er – je­den­falls in einen solch klei­nen Kopf – nicht mehr hin­ein­pas­sen will. Wäh­rend sie noch in dem Tropf Stein­was­ser auf dem Grund der Höh­le lag, jag­ten Fie­ber­schau­er ih­ren Rücken hin­ab.

Ei­ne küh­le Hand strich über ih­ren Mund. Et­was strei­chel­te elek­trisch ihr Ner­ven­ge­flecht. Sie war – hät­te man sie ge­se­hen – weiß im Ge­sicht. Ih­re Ge­dan­ken bau­ten sich zu ei­ner ein­zi­gen phan­tas­ti­schen, le­bens­er­hal­ten­den Ket­te auf. Ne­ben ihr wa­ren die Wän­de der Höh­le mit lau­tem Ge­räusch ge­platzt. Kleb­ri­ge Feuch­tig­keit rann ih­re Schen­kel hin­ab.

Sie hat­te nach der ei­ser­nen Lei­ter, die in die Wand ein­ge­las­sen war, ge­faßt und rutsch­te ein hal­b­es dut­zend­mal in das stin­ken­de, kleb­ri­ge Was­ser ab. Zwei, drei der me­tal­le­nen Bü­gel bra­chen aus, und aus ei­ner Hö­he von viel­leicht zehn Me­tern stürz­te sie fast ab. Wie in Tran­ce klet­ter­te sie wie­der den An­ti­gravschacht hin­auf. Ein­mal glüh­ten die Wän­de auf. Einen kur­z­en Au­gen­blick sah sie über die Bord­wand der Ur­miel in den Zwi­schen­raum hin­aus.

Es schi­en, daß ei­ne grü­ne Flüs­sig­keit das Raum­schiff von al­len Sei­ten um­gab. Die Flüs­sig­keit spül­te über das Schiff hin­weg, wie von ei­ner von drau­ßen pum­pen­den, großen Lun­ge be­wegt. Ein­mal drang die Flüs­sig­keit bis zu Ka­rin vor, drang ihr in Mund und Na­se ein und glitt durch sie hin­durch, be­vor das Kind auf der ei­ser­nen Lei­ter das Gleich­ge­wicht ver­lor. Der Stern über ihr leuch­te­te noch.

 

Ein­mal war Ka­rin mit­ten in der Nacht auf­ge­wacht, als der Mond bleich und blaß durch das Ka­bi­nen­fens­ter schi­en. Schnell hüpf­ten von dem halb zu­rück­ge­schla­ge­nen La­ken ein Dut­zend Zwer­ge ab. In der Ecke der Ka­bi­ne ra­schel­te et­was. Glü­hen­de Au­gen starr­ten aus der Dun­kel­heit. Sie ver­stand nicht, wo­her das Seuf­zen und Stöh­nen, gleich ne­ben ihr, gleich um die Ecke, kam.

Als sie wie­der in den Schlaf, auf den Bo­den des Brun­nen­schachts hin­ab, fiel, zer­rieb sie ih­re Kie­fer in ei­nem mal­men­den Ge­räusch. Sie lag in ih­rem Bett, in ei­nem gel­ben Licht, die klei­nen Hän­de zu trot­zi­gen Fäus­ten ge­ballt. Manch­mal trat Schaum über ih­re Lip­pen aus. Das Spin­nen­netz über ih­rem Kopf strich im­mer wie­der auf die Kis­sen her­ab. Ei­ne Pflan­ze wuchs in dem Bett­kas­ten ne­ben Ka­rin auf – groß, grün, schlür­fend bläh­te sie sich über ei­nem flei­schi­gen, ro­ten Kelch.

Ent­ge­gen dem Be­fehl ih­res Va­ters war sie – noch als klei­nes Kind – zum Fens­ter hin­aus­ge­schlüpft. Sie stand auf dem Fens­ter­vor­sprung in dem von un­ten her­auf­drin­gen­den Licht hoch über der sum­men­den Stadt. Als sich die Er­de dreh­te, wur­de ihr schwind­lig. Der Mond hat­te sich als große ro­te Schei­be über den Him­mel be­wegt. Ein Paar Krä­hen se­gel­te mit kräch­zen­den Ru­fen un­ter ei­nem dün­nen Wol­kensaum hin­weg.

Auf dem glä­ser­nen Dach, un­ter dem ein Treib­haus lag, hob Ka­rin ein weg­ge­wor­fe­nes Spiel­zeug auf – ein von To­bi­as ge­bas­tel­tes Pro­jek­til, ei­ne Spin­del, ein schlan­kes Ra­ke­ten­ding. Das Pro­jek­til er­zit­ter­te in ih­rer Hand. Wie wenn man in die Zu­kunft se­hen kann, er­kann­te sie, wie sich das Pro­jek­til ih­rer Hand ent­wand. Es stieg steil über den Dä­chern auf, bohr­te sich in den Wol­ken­schlei­er hin­ein und er­strahl­te zu­letzt als wei­ßer Punkt, der um die Er­de lief.

 

Sie öff­ne­te die an der Spit­ze der Ur­miel an­ge­brach­te Lu­ke mit ei­nem Ruck. Die Luft, die ihr ent­ge­gen­schlug, war frisch und rein. In ei­nem Luft­loch klet­ter­te sie durch die Lu­ke auf die Au­ßen­wand des Schiffs hin­aus. Un­ter ih­ren blo­ßen Fü­ßen lag die Schiffs­hül­le nackt und kalt. Von der Spit­ze des Schiffs, von dem dort an­ge­brach­ten An­ten­nen­wald, war ein fei­nes, glit­zern­des, silb­ri­ges Netz weit hin­aus zu den ent­fern­tes­ten Ster­nen ge­spannt.

Vor­sich­tig, mit nack­ten Ze­hen, trat Ka­rin auf ein dickes Tau hin­aus, das di­rekt von der Lu­ke zu den Ster­nen lief. Das Tau un­ter ih­ren Fü­ßen war feucht und kalt. Es zit­ter­te un­ter der klei­nen Last. Tau­per­len fie­len von ihm ab. Das ent­fern­te Spin­nen­netz leuch­te­te in ro­ten und blau­en Far­ben auf. Kris­tall reg­ne­te vom Him­mel her­ab. In dem Kris­tall war jetzt ein dunk­ler Leib zu se­hen – ein un­för­mi­ges Ding, das er­staun­lich be­hen­de über die Fä­den her­un­ter­g­litt.

Dann wuch­sen aus dem Leib sei­de­ne Här­chen auf, bald ein gan­zer kleb­ri­ger, fins­te­rer Wald. Die Spin­ne schick­te ein lei­ses Zi­schen vor­aus. Aus ih­ren Kie­fern tropf­te Ge­lee her­ab – es war ein ro­ter, sü­ßer, den Atem neh­men­der Saft. An ei­ner Kreu­zung im Netz hielt die Spin­ne an. Ka­rin nahm ei­ne große Na­del aus der Hutschach­tel her­aus und feuch­te­te sie mit der Zun­ge an. Die Na­del blitz­te auf, als die Spin­ne her­un­ter­kam.

Zwei, drei ro­te Bluts­trop­fen fie­len in den sich auf­tür­men­den Kris­tall. Der Kris­tall, der noch eben in ei­si­gem Blau er­schi­en, wur­de an sei­ner Ober­flä­che matt. Der Wind, der jetzt wie­der blies, zer­riß das Netz. Die Spin­ne stürz­te mit in der Luft ru­dern­den Bei­nen von dem Netz her­ab. Die Ur­miel lös­te sich aus dem Zen­trum des fort­schwin­gen­den Net­zes her­aus. Ih­re Dü­sen flamm­ten auf. An Bord des Schif­fes wur­de Licht ge­macht.

 

To­bi­as hat­te sich auf der Sei­te wie ein schla­fen­der Hund zu­sam­men­ge­rollt. Von ir­gend­wo kam ein Sturm auf, der grau­en Sand in sei­ne Ka­bi­ne blies. Wäh­rend To­bi­as schwer at­mend schlief, häuf­te sich der Sand über ihm, bis von dem Jun­gen nur noch ein Au­ge, ein Ohr, ei­ne Haar­sträh­ne üb­rig­b­lieb.

Man­che Er­in­ne­run­gen, von de­nen wir glau­ben, daß sie ei­gent­lich ver­ges­sen sind, sit­zen tief in uns fest. Viel­leicht war es ein zu­fäl­li­ges Wort, viel­leicht hat­te der Va­ter vom letz­ten Thea­ter­be­such er­zählt. Si­cher ist, To­bi­as’ Phan­ta­sie hat­te sich über dem Sand­mann, der im Thea­ter auf­ge­tre­ten war, ge­ra­de des­we­gen, weil er ihn nicht selbst ge­se­hen hat­te, er­hitzt.

Wäh­rend die Ur­miel flüs­ternd durch den Zwi­schen­raum strich, zeig­te sich über dem Sicht­fens­ter, das zum Flur hin­aus­ging, ein grau­es, wie von ei­ner schwar­zen Mas­ke halb ver­deck­tes Ge­sicht. Der Sand­mann hielt sein Ge­sicht schief, fletsch­te sein Ge­biß, run­zel­te die Stirn, als hät­te der klei­ne To­bi­as in sei­nen Ge­dan­ken Re­vue pas­siert.

Dann ra­schel­te es an der Tür, die in den Schat­ten der däm­mern­den Ka­bi­ne zu­rück­wich. Der Sturm, der aus den Wän­den kam, ver­schärf­te sich, pfiff hohl und kalt. Reif senk­te sich über die Sand­ver­we­hung und über To­bi­as her­ab, und der Sand strich auf den Flur und klemm­te die ge­öff­ne­te Tür fest.

Der Sand­mann nahm sei­nen Sack von der Schul­ter her­ab und trat ans Bett her­an. Mit ei­nem glä­ser­nen Au­ge und ei­nem höh­ni­schen Blick sah er auf To­bi­as hin­ab – so, als hät­te er einen schö­nen Gruß an des­sen El­tern be­stellt. Der Jun­ge un­ter dem Sand reg­te sich. Mit dem einen ge­öff­ne­ten Au­ge hat­te er auf den Sand­mann ge­blickt. Er rief et­was, aber das Ge­räusch wur­de vom Pfei­fen des Win­des zu­ge­deckt.

Mit ei­ner fast nach­läs­si­gen Ge­bär­de hat­te der Sand­mann, als sei dies ei­ne Rou­ti­ne­an­ge­le­gen­heit, To­bi­as mit zwei, drei Grif­fen in den Sack ge­steckt. Als er durch die Tü­re glitt, lach­te er höh­nisch auf. To­bi­as, in dem Sack, war es bit­ter­kalt. Als der Sand­mann ge­bückt am Ba­de­zim­mer vor­über­kam, fiel aus der halb ge­öff­ne­ten Tür ein gel­bes Licht.

Wie­der, als To­bi­as auf dem Rücken des Sand­manns um sich schlug, lach­te der Mas­kier­te auf. „Hä, hä“, bell­te sei­ne rau­he Stim­me. Dann er­losch das gel­be Licht, der Sand­mann husch­te den Gang hin­ab, es wur­de wie­der kalt, und bit­te­re Trä­nen roll­ten über To­bi­as’ Ge­sicht.

 

Manch­mal denkt man, daß Er­wach­se­ne große Kin­der sind. Wenn man je­man­den wie­der­trifft, den man als Kind ge­kannt hat, so fal­len ei­nem die alt­be­kann­ten, viel­leicht ver­grö­ber­ten Zü­ge des Kin­des auf. Es ist ja klar, daß je­de Per­son die Sum­me ih­rer Er­fah­run­gen ist und daß al­so der klei­ne Mann und die klei­ne Frau in der grö­ße­ren Aus­ga­be ent­hal­ten sind.

Gleich­wohl stürz­te die Mut­ter Wa­gen­seil in der Zeit, da die Ur­miel im Spin­nen­netz ge­fan­gen war, wie einen rie­si­gen Ab­hang, auf dem ih­re ge­sam­mel­te Er­fah­rung, ihr ge­sam­mel­tes Wis­sen wuchs – hier ein fröh­li­ches La­chen, ei­ne zar­te Re­gung da, ge­ball­te Ener­gie fast an je­dem Ort –, hin­ab. Es ist selt­sam, wie leicht sich doch die psy­chi­sche Sper­re, die uns vom Ab­grund trennt, lö­sen läßt. Es scheint, daß un­ter un­se­ren Fü­ßen ein schwan­ken­der Bo­den liegt, den man schon mit ei­nem un­acht­sa­men Schritt durch­bre­chen kann – hin­ge­gen scheint es ein schier end­lo­ser Kampf, wenn man wie­der an Hö­he ge­win­nen will.

Es ver­steht sich, daß Ire­ne Wa­gen­seil nackt in die Tie­fe ge­fal­len war. Als sie sich auf dem Bo­den reg­te, lag sie zwi­schen feuch­ten Pil­zen da. Ein Schmet­ter­ling tau­mel­te durch die Luft über ihr. Ein Dut­zend ro­ter Wein­berg­schne­cken kroch – da sie noch nicht ganz bei Sin­nen war – mit wei­ßer, schlei­mi­ger Spur feucht über sie hin­weg. Da schrie sie auf.

Ein rie­si­ges Ding senk­te sich, wäh­rend sie auf dem Rücken lag – ein Mann? ein Tier? – auf sie her­ab. Schlamm troff von dem Ding auf sie, das wie ei­ne rie­si­ge Fle­der­maus mit schla­gen­den Flü­geln knapp über ihr ver­hielt. Sie schau­te in ein spit­zes Maul. Schaum troff in lan­gen Fä­den aus der Schnau­ze der mensch­li­chen Fle­der­maus.

Der Farn links und rechts, das Moos un­ter ihr, die Lia­nen, die sie vom Him­mel hän­gen sah, färb­ten sich wie der Him­mel rot. Es war so laut in die­sem Wald, daß Ire­ne Wa­gen­seil nicht mehr wuß­te, ob nur sie al­lei­ne schrie. Das Ding stieß einen hei­se­ren Laut über ihr aus, und als Frau Wa­gen­seil in Ohn­macht fiel – ei­ne pur­pur­ne Rö­te stieg über ih­ren Nacken auf –, schäum­te die Fle­der­maus, und aus dem Schaum trat ein statt­li­cher jun­ger Mann her­aus, der sich ne­ben Ire­ne auf das Moos­pols­ter sin­ken ließ.

Wie das so mit Träu­men geht – sie lieb­ten sich in die­ser Früh­lings­nacht, und als der Tag an­brach, reg­ne­te es große Tau­per­len her­ab, von de­nen ei­ne sie in ih­rer Mem­bra­ne ein­schloß. So san­ken sie auf den Grund ei­nes vor­sint­flut­li­chen Mee­res in ei­ne ewi­ge wei­ße Nacht hin­ab.

 

In ih­rem Ba­de­zim­mer an Bord der Ur­miel wach­te Ire­ne Wa­gen­seil auf. Nackt, ge­la­ti­niert, lag sie auf dem Bo­den aus­ge­streckt. Eis­kris­tal­le türm­ten sich über ihr. Es war un­end­lich kalt. Als sie sich reg­te, stürz­ten die Eis­kris­tal­le von ih­rem Kör­per her­ab. Ne­ben ihr lag ei­ne blei­che Haut – sie war ge­schwärzt und von der Käl­te zu­sam­men­ge­rafft, über ih­ren Rück­en­teil lie­fen ein Dut­zend ro­ter Strie­men hin­ab. Un­ter ih­ren ab­ge­bro­che­nen Fin­ger­nä­geln, die Frau Wa­gen­seil im Ba­de­zim­mer in die Hö­he hielt, zeich­ne­ten sich Blut­spu­ren und Haut­fet­zen ab.

Sie wein­te jetzt. Der Ba­de­man­tel, nach dem sie griff, lös­te sich in wei­ßes Pul­ver auf. Als sie zur Tür ging, fiel ein blin­der Spie­gel in tau­send Scher­ben auf sie her­ab. Die Tür war fest ver­klemmt. Er­schöpft sank Frau Wa­gen­seil mit dem Rücken an der Tür her­ab. Jetzt erst er­kann­te sie, sie war in ei­nem Spie­gel­ka­bi­nett. Mit grau­sa­mer Schär­fe warf das Ba­de­zim­mer ih­re Er­schei­nung in al­len Win­keln, in al­len Bre­chun­gen zu ihr zu­rück.

In den Ecken reg­te es sich. Ei­ne al­te Frau hat­te scharf von der Sei­te auf sie ge­blickt. Ein Sa­la­man­der husch­te durch das Bad, und ein Kind wein­te in der Nacht. Über ihr stand ein Mann wie ein Berg und blick­te auf sie her­ab. Ei­ne Rei­he gol­de­ner Zäh­ne blitz­te in sei­nem Mun­de auf. Sie wich zu­rück, als er sprach.

Ei­ne der Bir­nen in der De­cke war ex­plo­diert. Wie un­ter ei­nem Schuß fiel ei­ne zwei­te Bir­ne aus. Im Ba­de­zim­mer wur­de es Nacht. Ein blau­wei­ßes Licht glüh­te in der Ecke auf. Jetzt sah Ire­ne, wie ihr mü­der Kopf durch den Tür­rah­men glitt. Ihr Haar be­weg­te sich. Sie schrie auf, als sich ein Schlan­gen­leib ge­gen den an­de­ren rieb. Dann wur­de es wie­der Nacht, und aus ih­rem Kopf stürz­ten die Er­in­ne­run­gen als klei­ne graue Stäub­chen her­ab, wäh­rend das Was­ser aus dem lau­fen­den Hahn sach­te in die Hö­he stieg.

 

Hat­te Wer­ner Wa­gen­seil frü­her im­mer nur gu­te Träu­me er­lebt, so stimm­te et­was nicht, als er durch den di­cken Bo­den des Gla­ses sah. Die Welt, die ge­ra­de him­mel­blau ge­we­sen war, ver­färb­te sich und schwank­te un­ter der Flüs­sig­keit. Wo eben noch die brau­ne Wand­tä­fe­lung der Knei­pe war, platz­te das Holz auf, und aus dem schwit­zen­den Me­tall, das dar­un­ter lag, ström­te ein Dut­zend ro­si­ger, klei­ner Mäd­chen her­aus.

Einen Au­gen­blick hat­te Herr Wa­gen­seil in An­be­tracht der lieb­lich-ro­si­gen Flut ge­lacht. Aber schon im nächs­ten Mo­ment er­zit­ter­te das Bild und lös­te sich auf – was ei­ne Schar ro­si­ger, ver­füh­re­ri­scher Lei­ber ge­we­sen war, schwamm mit ra­schen, ge­schmei­di­gen Be­we­gun­gen her­auf, und ei­ne Dop­pel­rei­he wei­ßer Zäh­ne blitz­te in je­dem der ver­schwim­men­den Ge­sich­ter auf.

Trotz des Al­ko­hols traf der An­blick Herrn Wa­gen­seil wie ein Schock. Er war von dem Bar­ho­cker nach hin­ten her­ab­ge­stürzt. Einen Au­gen­blick lös­ten sich sei­ne Ge­dan­ken auf. Es war, als su­che er einen An­halt, ei­ne Zu­flucht, einen Ru­he­punkt. Se­kun­den­lang blitz­ten in sei­nen Ge­dan­ken ei­ne Wie­se, ein Baum, ein blau­er Licht­schein auf, sah er ein über ei­ne Wie­se schrei­ten­des Kind, das in sei­nen Hän­den ei­ne Ker­ze hielt.

Schon im nächs­ten Mo­ment hol­ten ihn die sich durch die Luft schwin­gen­den Ge­stal­ten in die Wirk­lich­keit zu­rück. Er warf das Glas, das er fest um­klam­mert hat­te, nach der ers­ten Ge­stalt. Das Glas riß ein Loch in den braun­ro­ten Leib, Rauch um­hüll­te die Ge­stalt, das Ding schrie auf.

Wäh­rend er noch auf dem Bo­den lag, stürz­te ein blaß­grü­nes Kind mit ge­spreiz­ten Kral­len auf ihn her­ab. Der Schmerz, da das Kind sich in sei­ner Schul­ter ver­biß, war so stark, daß Wer­ner Wa­gen­seil in ei­ne tie­fe Ohn­macht fiel. Selbst in die­se Ohn­macht hin­ein at­ta­ckier­ten sie ihn. Sie ka­men – wäh­rend ei­ne kno­chi­ge Hand Herrn Wa­gen­seil auf­recht hielt – von al­len Sei­ten auf ihn her­ab – große ro­te Klum­pen, wie von heißem Was­ser ver­brüht, ein grau­er Pelz, der mit ra­sier­mes­ser­schar­fen Kral­len um sich hieb, ein lang­ge­streck­ter wei­ßer Lurch, der mit sei­nen Zäh­nen Herrn Wa­gen­seils Ober­schen­kel­ve­nen auf­riß.

Die Knei­pe war von Ge­stank und Lärm er­füllt. Flüs­si­ges Me­tall roll­te in win­zi­gen Kü­gel­chen durch den Raum. Der Com­pu­ter las mit sich über­schla­gen­der Stim­me Zah­len­ko­lon­nen ab. Ein Ven­til war ge­platzt, und wei­ße Sau­er­stoff­wol­ken senk­ten sich her­ab. Da ging ge­gen­über, fast durch den aus­strö­men­den Dampf ver­hüllt, die Tür auf, und der Sand­mann kam her­ein.

In die­sem Au­gen­blick fiel die Schwer­kraft aus, der Com­pu­ter spuck­te lan­ge, lee­re Blät­ter aus, und Herr Wa­gen­seil schoß, sei­ner Träg­heit ge­hor­chend, quer durch den Raum, rann­te den Sand­mann um, riß ihm die Mas­ke vom Ge­sicht und fand un­ter sei­nen Hän­den nur gä­ren­den Schaum – einen schmut­zi­gen, per­len­den, sich zer­set­zen­den Brei, der in di­cken, schmut­zi­gen Sprit­zern zu Bo­den fiel. Mit ei­nem Plumps fiel der Sack, der über der Schul­ter des Sand­manns ge­le­gen hat­te, auf den Me­tall­be­lag hin­ab, und ein Dut­zend glit­zern­der, glä­ser­ner Per­len roll­te her­aus.

Herr Wa­gen­seil, von dem Blut­ver­lust ge­schwächt, war in den Schleim und zwi­schen die Glas­ku­geln ge­stürzt. Als er so auf dem Rücken lag und das Blut aus sei­nem Kör­per lief, sah er ein Kind, das mit spit­zer Na­del in ei­ne Spin­ne stach. Ro­te Schlei­er leg­ten sich über das Bild. Hin­ter den Schlei­ern schau­kel­te un­ter der De­cke ein Spin­nen­netz. Ein großes schwar­zes Tier ließ sich an ei­nem Fa­den, der aus sei­nem Af­ter lief, be­hen­de zu Herrn Wa­gen­seil her­ab. Auf sei­ner Zun­ge spür­te Wer­ner Wa­gen­seil Salz­ge­schmack. Ei­ne bit­te­re Flüs­sig­keit troff auf ihn. Sein Kör­per wur­de steif. Nur noch in Ge­dan­ken hob er ab­weh­rend einen Arm, dann um­fing ihn Dun­kel­heit.

 

Mit ei­nem Mal war Ka­rin Wa­gen­seil er­wacht. Ganz plötz­lich war sie völ­lig klar. Wäh­rend sie noch ein we­nig fror, stell­te sie fest, daß sie in ih­rer halb­dunklen Ka­bi­ne auf den Bo­den ge­fal­len war. Ihr Nacht­kleid war ver­rutscht. Es war in der Ka­bi­ne schwül und feucht. Et­was wie Blut si­cker­te über ihr Ge­sicht. Als sie da­nach griff, hielt sie gel­ben Spei­chel in der Hand.

Die Wän­de, im auf­flam­men­den Licht, wa­ren aus­ge­beult. Über sie lie­fen rings­um schwar­ze Schleif­spu­ren hin­ab. An ei­ner Wand hing – un­über­seh­bar – ein lan­ges be­haar­tes Bein, das lang­sam in die Tie­fe fiel. Ob­wohl die Ven­ti­la­ti­on auf vol­len Tou­ren lief, hing über der Ka­bi­ne ein pe­sti­lenz­ar­ti­ger Ge­stank. Aus den Au­gen­win­keln schi­en es dem Kind, ei­ne Spin­ne ha­be sie mit großen schwar­zen Au­gen an­ge­blickt. Vor­sich­tig stand sie auf und wä­re bei­na­he auf dem lang­sam trock­nen­den Schleim aus­ge­rutscht.

Das fla­ckern­de Bild auf der Wand ver­ging. Die Ta­pe­ten wa­ren naß­ge­schwitzt. Ir­gend­wo un­ten, in der Tie­fe, rö­chel­te der Raum­schiff­ge­ne­ra­tor, der mit ge­rin­ger Span­nung lief. Ka­rin Wa­gen­seil tau­mel­te et­was, wäh­rend ei­ne Rö­te ihr Ge­sicht über­flog. Wo wa­ren ih­re Mut­ter, ihr Va­ter, was war mit To­bi­as los? War das wirk­lich hier ihr Schiff? Sie fror, die Tür­klin­ke in der Hand. Ein Teil des Kor­ri­dors war vom Sand zu­ge­weht.

Schwit­zend preß­te sie die Tür zu To­bi­as’ Ka­bi­ne auf. Als sie end­lich in sein Zim­mer trat, war ihr, als zie­he sich ein großer schwar­zer Schat­ten von dem Bett zu­rück. To­bi­as, der mit ge­öff­ne­tem Mund rö­chelnd auf dem So­fa lag, reg­te sich. Sie starr­te auf sein Ge­sicht, das zu zu­cken be­gann. Sie fühl­te sei­nen Puls, der tau­melnd, flat­ternd in Gang ge­kom­men war.

Sie wisch­te ih­rem Bru­der Er­bro­che­nes und Schweiß von Kinn und Wan­gen ab, leg­te ihm ei­ne küh­le Kom­pres­se auf und trat, als sie sah, wie er wie­der zu sich kam, von sei­nem Bett zu­rück. Aus dem Bad, vor dem sie stand, lief das Was­ser auf den Flur. Wäh­rend sie zum Was­ser­hahn eil­te, glitt sie fast aus. Mit flat­tern­den Hän­den zog sie den Kopf ih­rer Mut­ter aus der Ba­de­wan­ne her­aus – er hat­te ge­ra­de noch mit den Na­sen­lö­chern aus dem rand­vol­len Be­cken ge­zeigt.

Un­ter der Be­rüh­rung ver­lor ih­re Mut­ter den star­ren Blick, ih­re Au­gen kehr­ten wie aus wei­ter Fer­ne zu­rück, sie rö­chel­te, hus­te­te und er­brach sich. Ka­rin wisch­te und trock­ne­te ih­re Mut­ter ab, die, noch ganz schwach, in der Ecke lag. Noch be­vor sie spre­chen konn­te, be­deu­te­te sie Ka­rin mit der Hand, daß ih­re Für­sor­ge aus­rei­chend sei, daß das Kind jetzt bes­ser nach dem Va­ter sah.

Zu­erst hat­te Ka­rin ge­glaubt, daß ihr Va­ter ein Be­stand­teil der me­tal­le­nen Wand­ver­klei­dung im Kon­troll­raum ge­wor­den sei. Dann aber merk­te sie, wie dumm sie doch war – denn eben, als sie dies dach­te, roll­te er aus der Wand her­aus, wo er of­fen­bar auf ei­nem Klapp­bett lag. Er gähn­te, ra­schel­te, räus­per­te sich und fuhr ei­ne Wei­le mit bei­den Hän­den wild in der Luft her­um.

Dann erst nahm er Ka­rin wahr, die de­mü­tig, fast ein we­nig lin­kisch vor ihm stand. Ein Aus­druck der Angst fla­cker­te in sei­nen Au­gen auf. In­stink­tiv horch­te er in die Raum­schiff­tie­fe hin­ab, sah mit ei­nem ge­hetz­ten Blick die In­stru­men­te an, sprang auf die Bei­ne und riß zwei, drei He­bel her­um, un­ter de­nen sich – wie Ka­rin wuß­te – ein ra­scher Kurs­be­schleu­ni­ger be­fand. Das Schiff brüll­te in der Tie­fe auf. Al­le Kon­tu­ren in der Zen­tra­le wur­den krumm, und krumm wa­ren lan­ge, haa­ri­ge Schat­ten in die Ecken ge­rollt.

Der Bild­schirm flamm­te auf. Einen Au­gen­blick war es, als rol­le von drau­ßen ei­ne gie­ri­ge Ener­gie­see ge­gen die Ur­miel Ro­te und grü­ne Frat­zen, ge­krümm­te Fin­ger sah man da – hier war es ein Gnom, der in ei­ner Ecke des Bild­schirms hing, dort war es ein ener­ge­ti­scher Aal, aus dem blen­dend wei­ße Strah­lung fiel. Im Hin­ter­grund be­weg­te sich ein Baum, von dem ein Dut­zend sich win­den­der Schlan­gen hing.

Wie­der brüll­te die Ur­miel auf. Ei­ne gan­ze Wei­le blie­ben die Kon­tu­ren in der Zen­tra­le rund und krumm. Mi­nu­ten­lang durch­pflüg­te die Ur­miel ei­ne schwar­ze, schil­lern­de See. Faulbla­sen platz­ten über dem Bild­schirm auf. Dann, als die Ma­schi­ne, die jetzt warm­ge­lau­fen war, die Ener­gie von drau­ßen auf sich zog, ar­bei­te­te sich die Ur­miel deut­lich sicht­bar, Stück für Stück, aus dem Sumpf her­aus, ließ das Sumpf­loch im­mer schnel­ler hin­ter sich. Und dann plötz­lich lag vor ih­nen der Him­mel schwarz und klar, und in ihm schim­mer­ten die vie­len Ster­ne der Milch­stra­ße in un­ge­heu­rem Glän­ze auf.

 

Wis­sen Sie, wie das ist, wenn ei­nem voll­stän­di­ge Macht über an­de­re Men­schen ver­lie­hen ist? Ken­nen Sie das Ge­fühl, wenn das Schick­sal an­de­rer Men­schen in Ih­ren Hän­den liegt? Wis­sen Sie, was Ih­nen an ma­gne­ti­schen Kräf­ten zu­wach­sen kann, wenn Ih­nen die Auf­merk­sam­keit vie­ler Men­schen si­cher ist?

Der Welt­raum ist, wie wir ein­gangs sa­hen, ein wun­der­ba­res Ding. In sei­nem Schoß brü­tet er ei­ne Viel­zahl ma­te­ri­el­ler und ener­ge­ti­scher Er­schei­nun­gen aus. Ei­ne große Zahl die­ser Phä­no­me­ne, die die Mensch­heit im Welt­raum sieht, ist noch un­er­forscht. Von die­ser Art war auch das Spin­nen­loch, in dem die Ur­miel ge­fan­gen war.

Das Schiff er­litt einen Mas­se­schwund, als es in dem Spin­nen­loch hing. Es brauch­te lan­ge Zeit, bis es zu sei­ner al­ten Leis­tung zu­rück­fand. Was die psy­chi­schen Phä­no­me­ne an Bord des Schiffs be­trifft, so ist die Fra­ge ih­res Wirk­lich­keits­ge­hal­tes un­ge­klärt. An ver­schie­de­nen Stel­len des Schif­fes wur­den salz­hal­ti­ge Ab­la­ge­run­gen, wie sie der Spei­chel be­stimm­ter Spin­nen hin­ter­läßt, auf­ge­fun­den.

Auch wur­den ver­schie­dent­lich Be­schä­di­gun­gen der Ur­miel fest­ge­stellt, von de­nen ei­ne je­de je­doch längst aus­ge­bes­sert ist. Ganz un­leug­bar scheint zu sein, daß dem Schiff ei­ne Zeit­span­ne von drei Ta­gen ab­han­den ge­kom­men ist. Ein Be­ob­ach­ter, der zu die­ser Zeit in großer Ent­fer­nung an der Ur­miel im Zwi­schen­raum vor­über­flog (der Ka­pi­tän des Schif­fes Tarr) er­klär­te, die Ur­miel ha­be auf höf­li­che An­ru­fe mit dem Wunsch, un­ge­stört blei­ben zu wol­len, rea­giert.

 

Nach dem Kampf mit der Spin­ne war Ka­rin Wa­gen­seil noch ei­ne ge­rau­me Wei­le ganz ver­stört. Wenn je­de der drei wich­tigs­ten Be­zugs­per­so­nen schläft, ist es schwie­rig, fest­zu­stel­len, wie die Um­stän­de zu be­wer­ten sind, in de­nen man ge­fan­gen ist. Noch ei­ne Zeit­lang wur­de Ka­rin von der Er­in­ne­rung an die Er­eig­nis­se in ih­ren Träu­men auf­ge­stört.

Ein­mal träum­te sie da­von, daß sie al­le Spin­nen aus ih­rem Kopf in einen großen Nacht­schrank tat. Dort leb­ten und ver­mehr­ten sie sich, wa­ren aber gut un­ter Ver­schluß. Sie warf einen ein­zi­gen Blick in den Schrank hin­ein – das war noch wäh­rend ih­rer Kran­ken­zeit – und er­schrak vor den vie­len klei­nen und der einen großen Spin­ne, die mit kohl­schwar­zen Au­gen in der Ecke hing; da lief ein Schau­er über den Leib des Kinds, als ihm däm­mer­te, wel­che Un­ge­heu­er in uns ent­hal­ten sind.

Ein­mal – das Er­eig­nis war schon Mo­na­te her – sprach sie ih­ren Va­ter vor­sich­tig auf ih­re Er­leb­nis­se in­ner­halb und au­ßer­halb des Fie­ber­trau­mes an. Doch, wie dies der Sprach­re­ge­lung in der Fa­mi­lie Wa­gen­seil ent­spricht, lehn­te ihr Va­ter je­de Er­wäh­nung die­ser Din­ge au­ßer­halb des Fie­bers ab. Auch die Mut­ter hat­te all die gräß­li­chen Din­ge, die sie er­lebt hat­te, ver­drängt. Selbst To­bi­as zog ein Ge­sicht, als Ka­rin ihn ver­trau­lich zur Sei­te nahm. Da kehr­te auch Ka­rin in die Schein­welt der Ge­bor­gen­heit zu­rück, zu­mal dies auch leich­ter mög­lich war, seit der Va­ter auf ih­ren Rei­sen die Spin­nen­ge­wäs­ser sorg­fäl­tig mied.