Ar­thur Jean Cox
Eine Passage in Kursivbuchstaben
A PAS­SA­GE IN ITA­LICS

 

Die­se Ge­schich­te han­delt von der Ver­gan­gen­heit.

Es war im Jah­re 1952. Schau­platz war ein Fri­seur­sa­lon mit­ten in Man­hat­tan, auf der ehe­ma­li­gen Sechs­ten Ave­nue. Das Ge­schäft sah ei­gent­lich ganz ge­wöhn­lich aus. Vor der Tür be­fand sich wie üb­lich ei­ne sich dre­hen­de ge­streif­te Stan­ge und über dem großen Schau­fens­ter ei­ne ziem­lich arm­se­li­ge, ver­bli­che­ne Son­nen­pla­ne zur Ab­hal­tung der Mor­gen­son­ne. Der La­den selbst – um hin­ein­zu­kom­men, muß­te man die Glas­tür auf­ma­chen, auf der in gol­de­ner Schrift mit großen Kur­siv­buch­sta­ben To­nys Fri­sier­la­den auf­ge­malt war, und ging dann un­ter ei­ner an­schla­gen­den Glo­cke drei Be­ton­stu­fen hin­un­ter – er­wies sich so­dann als klein, aber sau­ber. Es gab dort drei Stüh­le (das heißt, me­cha­nisch ver­stell­ba­re Fri­sier­stüh­le: an der Wand links stan­den noch meh­re­re höl­zer­ne Ses­sel für die war­ten­den Kun­den). Das Gan­ze war of­fen­sicht­lich ein­mal ein Sei­ten­ein­gang in dem Ge­bäu­de ge­we­sen, in dem das Ge­schäft un­ter­ge­bracht war. Ein in ei­nem der drei Ses­sel Sit­zen­der sah di­rekt über die be­leb­te Stra­ße in ei­ne Sei­ten­gas­se hin­ein, die so eng war und sich so zwi­schen die ho­hen Ge­bäu­de preß­te, daß es selbst mit­tags fins­ter war. Beim Hin­aus­bli­cken aus dem Fens­ter, denn das tat er häu­fig, hat­te Tony mehr als ein­mal ei­ne klei­ne, blei­che Ge­stalt er­blickt, die quer über je­ne dunkle Schlucht husch­te. Den­noch war die­se Gas­se nicht völ­lig men­schen­leer. In grö­ße­ren Zeitab­stän­den sah er, wie je­mand aus der of­fe­nen Stra­ße in das Gäß­chen hin­ein­ging und von der Dun­kel­heit ver­schluckt wur­de (wenn­gleich nicht für ewig, wie er an­nahm) – denn dar­in be­fan­den sich die Hin­ter­ein­gän­ge meh­re­rer Ge­schäf­te und Bü­ros, ei­nes Dampf­ba­des, ei­nes ita­lie­ni­schen Re­stau­rants und zu­min­dest ei­ner ent­setz­li­che­ren Ge­schäfts­stel­le. Er hat­te sich je­doch dar­über nie viel den Kopf zer­bro­chen. Warum auch? Je­der, der nur für zwan­zig Se­kun­den zum Fens­ter hin­aus­blick­te, be­merk­te so ziem­lich das­sel­be, was er in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ge­se­hen hat­te. Was be­weist, wie we­nig selbst die dras­tischs­ten po­li­ti­schen Er­eig­nis­se un­ser un­be­deu­ten­des All­tags­le­ben be­ein­flus­sen. Tony hat­te einen Krieg und meh­re­re Re­gie­rungs­wech­sel er­lebt, und doch hat­te sich der An­blick dort drau­ßen le­dig­lich in be­zug auf die Mo­de der Klei­der und der Au­tos ver­än­dert. Heut­zu­ta­ge war es noch im­mer so ziem­lich das­sel­be wie frü­her.

Zur frag­li­chen Mit­tags­stun­de stand we­gen der Hit­ze die Tür of­fen, und der Klei­der­stän­der am En­de der Rei­he höl­zer­ner Ses­sel war aus dem glei­chen Grun­de schwer be­hängt. Al­le drei Fri­sier­ses­sel wa­ren be­setzt, doch war Tony nur mit dem Mann im mitt­le­ren Ses­sel be­schäf­tigt, der in ei­ner Zeit­schrift las, wäh­rend er sich das Haar schnei­den ließ. Der Mann im ers­ten Ses­sel beim Fens­ter hat­te sich das lan­ge Tuch, das wäh­rend der Ra­sur sei­nen Kör­per be­deckt hat­te – Tony hat­te den ge­gen­wär­ti­gen Kun­den ge­gen­über be­merkt, er ha­be den Mann ge­ra­de fer­tig ra­siert, als sie zur Tür her­ein­ka­men – übers Ge­sicht ge­zo­gen, wo­durch sei­ne brau­nen Schu­he, So­cken und die eben­falls brau­ne Ho­se sicht­bar wur­den, und schlief ver­mut­lich. „Ver­mut­lich“, denn so­weit man durch blo­ßes Hin­se­hen fest­stel­len konn­te, moch­te er ge­nau­so­gut tot sein. Der un­ter dem Tuch her­aus­ra­gen­de Arm mit der schlaf­fen, sich nicht weh­ren­den Hand und den her­un­ter­hän­gen­den Fin­gern hät­te je­den Be­ob­ach­ter un­fehl­bar auf den Ge­dan­ken ge­bracht, Tony ha­be dem Man­ne zu­fäl­lig die Keh­le durch­ge­schnit­ten, und, nach­dem er sich im lee­ren La­den vol­ler Schuld­ge­füh­le um­ge­se­hen hat­te, ihm das Tuch über das Ge­sicht ge­zo­gen, um den Be­weis sei­ner Fahr­läs­sig­keit zu ver­ber­gen. Die­se schein­ba­re Leb­lo­sig­keit weck­te auch in Tony selbst ei­ne be­un­ru­hi­gen­de Er­in­ne­rung. Vor zwan­zig Jah­ren, als er sein Ge­schäft ge­ra­de er­öff­net hat­te, war sein Lo­kal ganz un­schul­dig zum Schau­platz ei­nes bru­ta­len Mor­des ge­wor­den. Ei­ner sei­ner Stamm­kun­den, ein lie­bens­wür­di­ger Herr aus Si­zi­li­en, wur­de, als er sich in eben die­sem Ses­sel ra­sie­ren ließ, als Op­fer mar­kiert (wie sich die Zei­tun­gen aus­drück­ten) und vor dem Fens­ter auf dem Geh­steig von ei­nem Ma­fia-Kil­ler über den Hau­fen ge­schos­sen. Tony, der das al­les mit an­ge­se­hen hat­te und nie ver­ges­sen konn­te, ver­dräng­te das grau­sa­me Bild eilends und fuhr mit sei­ner Ar­beit fort. Glück­li­cher­wei­se pas­sier­te der­glei­chen nicht mehr.

Der Kun­de im drit­ten Ses­sel, ein schwar­zer Mann mit weißem Hemd und ro­ter Kra­wat­te, war­te­te ein­fach dar­auf, daß Tony mit dem Kun­den vor ihm fer­tig wür­de. In sei­nem Ge­sicht zeig­te sich kei­ner­lei Un­ge­duld. In ihm drück­te sich viel­mehr Be­lus­ti­gung aus – aber die­se Mie­ne schi­en ihm zur Ge­wohn­heit ge­wor­den zu sein; viel­leicht war sie ihm so­gar „ein­ge­baut“. Tony, der ihn nie zu­vor ge­se­hen hat­te und nun schon ein paar­mal ver­wun­dert zu ihm hin­ge­blickt hat­te, hät­te bei­na­he wet­ten mö­gen, daß dies der Fall war: Denn die­se Au­gen­brau­en schie­nen sehr früh zur Hö­he be­lus­tig­ter Ver­ach­tung em­por­ge­zo­gen wor­den und dann in der Po­si­ti­on un­ter Miß­ach­tung je­der Schwer­kraft ste­cken­ge­blie­ben zu sein. Im La­den be­fand sich auch noch ein vier­ter Kun­de. Er saß auf ei­nem der höl­zer­nen Ses­sel an der Wand und war­te­te wie der drit­te dar­auf, daß Tony fer­tig wür­de; und wie beim ers­ten war nichts vom Ge­sicht zu se­hen, denn er hat­te ei­ne Zei­tung er­grif­fen und hielt sie beim Le­sen vor sich hin. (EI­SEN­HOWER SCHLIESST SICH DER FOR­DE­RUNG DES PAPS­TES NACH RECHT UND ORD­NUNG AN ver­kün­de­te ei­ne sicht­ba­re Schlag­zei­le). Sein Hut lag ne­ben ihm auf ei­nem an­de­ren Ses­sel; er­trug ei­ne graue Ho­se, blaue So­cken und brau­ne Schu­he.

Der Kerl im mitt­le­ren Ses­sel ki­cher­te. Er war ein Mitt­drei­ßi­ger mit blon­dem Haar und blau­en Au­gen und kräf­ti­ger Sta­tur: Rie­sen­brust­korb, di­cke Ar­me und Bei­ne. Die gut­mü­ti­ge Ru­he sei­nes Ge­sichts­aus­drucks – und viel­leicht die blo­ße Tat­sa­che, daß er las – tru­gen viel zur Ab­schwä­chung die­ser Merk­ma­le bei, die sonst bei so­viel Mas­se grob und er­drückend ge­wirkt hät­ten.

Der Mann im drit­ten Ses­sel wand­te ihm die Au­gen­brau­en zu, als woll­te er­fra­gen: „Was gibt es so Lus­ti­ges?“

„Die­se Ge­schich­te“, er­wi­der­te der blon­de Rie­se, als sei die Fra­ge laut ge­stellt wor­den. „Le­sen Sie manch­mal Science Fic­ti­on?“

„Nie­mals“, ent­geg­ne­te der mit den Au­gen­brau­en. „Und wie steht’s mit dir, Tony?“

„Ich ha­be kei­ne Zeit zum Le­sen“, ant­wor­te­te Tony und wand­te sich ab, um Sei­fen­schaum zu schla­gen, den er in ei­nem Kaf­fee­topf er­wärmt hat­te.

„Sie nennt sich Be­ding­te Zeit und han­delt von ei­nem an­de­ren Zeit­strom …“

„Ei­nem an­de­ren was?“ Dem Mann mit den Au­gen­brau­en ge­lang das schier Un­mög­li­che – er zog sie noch wei­ter in die Hö­he.

„Ein an­de­rer Zeit­strom. Ei­ne an­de­re Welt, ei­ne al­ter­na­ti­ve Welt zu die­ser, in der sich al­les an­ders ab­ge­spielt hat.“

„Wie ist das mög­lich?“ frag­te Tony und schmier­te sei­nem Kun­den den Schaum in den Nacken.

„Das ist doch Un­sinn.“

„Das ist die Prä­mis­se, Tony“, sag­te der Le­ser. „Man muß sich mit die­ser Prä­mis­se ab­fin­den, sonst folgt die üb­ri­ge Er­zäh­lung nicht dar­aus. Wie auch im­mer, hör zu: In die­sem Zeit­strom, von dem in der Ge­schich­te die Re­de ist, ha­ben Deutsch­land und Ja­pan den Zwei­ten Welt­krieg ge­won­nen! Wie ge­fällt dir das?“ Und er ki­cher­te er­neut vol­ler Wohl­be­ha­gen.

Tony, der den Kopf des Kun­den mit der einen Hand fest­hielt, be­gann mit dem Ra­sier­mes­ser in der an­de­ren den Nacken aus­zu­ra­sie­ren, wo­bei er zwei­felnd den Kopf schüt­tel­te. „Ich weiß nicht. … Du soll­test froh sein, daß sie nicht ge­won­nen ha­ben. Du bist doch jü­di­scher Ab­stam­mung, nicht wahr, Wil­ly? Nun, die Deut­schen – Ent­schul­di­gung, ich soll­te sa­gen, die Na­zis –, die Na­zis sind mit den Ju­den äu­ßerst bru­tal um­ge­sprun­gen. Du hast doch von die­sen La­gern ge­hört, die man gleich nach dem Krieg ent­deckt hat? Da hast du es. Wenn die Deut … die Na­zis in die­ses Land ge­kom­men wä­ren, hät­ten sie ver­mut­lich dich und al­le dei­ne An­ge­hö­ri­gen weg­ge­räumt. Du hast al­so Glück ge­habt. Viel­leicht ha­ben wir al­le Glück ge­habt und wis­sen es bloß nicht.“

„Nun ja“, sag­te Au­gen­braue, „du bist na­tür­lich die­ser An­sicht, Tony“.

Tony hielt mit dem Ra­sier­mes­ser mit­ten in der Luft in­ne, als woll­te er die Be­deu­tung die­ser Be­mer­kung er­grün­den. „Ja, na­tür­lich“, er­klär­te er mit Ent­schie­den­heit und doch mit ei­ner an­hal­ten­den Spur von Zwei­fel, „na­tür­lich bin ich froh, daß die Na­zis ver­lo­ren ha­ben. Du kannst mir glau­ben, ich ha­be Ge­schich­ten von ei­ni­gen der Sa­chen ge­hört, die sie an­ge­stellt ha­ben, daß sich dir die Haa­re auf dem Kopf auf­stel­len wür­den. Ich glau­be, wir ha­ben rich­tig ge­han­delt, ich mei­ne Eng­land und Ame­ri­ka, daß wir ge­gen sie Krieg ge­führt ha­ben.“

„Ja­wohl“, stimm­te Wil­ly zu, „wir kön­nen dank­bar sein, daß Deutsch­land und Ja­pan so un­rühm­lich be­siegt wur­den. Aber hör bloß zu.“ Und er las aus sei­ner Zeit­schrift vor, die, da sie nur Klein­for­mat hat­te, in sei­ner großen Hand bei­na­he ver­schwand:

„Der Krieg ver­lief für die Deut­schen güns­tig. Na­tür­lich. Denn sie wa­ren die ers­ten mit ei­ner ein­satz­be­rei­ten Atom­bom­be. Die Bom­be war es, die die Wen­de brach­te, als das Drit­te Reich vor dem Un­ter­gang zu ste­hen schi­en. Die ame­ri­ka­ni­schen und rus­si­schen Ar­meen stan­den be­reits un­mit­tel­bar vor den To­ren Ber­lins, als …“

„Wo ist es denn bloß?“ sag­te Wil­ly und über­flog einen oder zwei Ab­sät­ze. „Aha, da ha­be ich es schon:

Das Na­zi-Ober­kom­man­do er­wog tat­säch­lich, die Bom­be mit den ja­pa­ni­schen Ver­bün­de­ten zu tei­len, ent­schied sich aber dann aus ein­leuch­ten­den Grün­den da­ge­gen …

Und jetzt kommt das Bes­te:

Zu ei­nem wa­ren die Deut­schen je­doch ab­so­lut ent­schlos­sen, das furcht­ba­re Ge­heim­nis nicht mit ih­ren Freun­den im Sü­den zu tei­len. Hit­ler for­mu­lier­te es kurz und bün­dig: ‚Dem ita­lie­ni­schen Volk fehlt es an Mut, an Durch­schlags­kraft, an der Fä­hig­keit zu be­feh­len und an Or­ga­ni­sa­ti­ons­ta­lent. Das Blut der Ita­lie­ner ist un­rein, und ih­re Psy­che ist ein Saustall. Sie sind ein un­be­deu­ten­des Volk, das sich bloß da­zu eig­net, über Äthio­pier zu herr­schen. Ih­nen die Bom­be zu über­las­sen, wä­re das­sel­be, wie ei­nem Kind ein Ge­wehr in die Hand zu drücken. Die lau­ters­ten Mo­ti­ve, dar­un­ter der Selbs­t­er­hal­tungs­trieb, er­for­dern es, daß wir ih­nen nicht nur nicht die Waf­fe ge­ben, die wir ari­schen Völ­ker so tri­um­phal der Na­tur ab­ge­run­gen ha­ben, son­dern daß wir auch un­ver­züg­lich ent­schei­den­de Maß­nah­men er­grei­fen, um si­cher­zu­stel­len, daß sie sich nie auch nur ei­nes Teils des Ge­heim­nis­ses be­mäch­ti­gen.’

In der Ar­ro­ganz und dem Sie­ges­rausch, die dem Sieg des Drit­ten Rei­ches folg­ten, soll Hit­ler die­se Be­mer­kun­gen zu Mus­so­li­ni per­sön­lich ge­macht ha­ben. II Du­ce war vor Wut au­ßer sich. Hit­lers Be­mer­kung über die Waf­fe, die ‚wir ari­schen Völ­ker … der Na­tur ab­ge­run­gen ha­ben’, brach­te ihn be­son­ders auf denn es war Hit­lers Dienst­ver­pflich­tung – sei­ne buch­stäb­li­che Ent­füh­rung – des bril­lan­ten theo­re­ti­schen Phy­si­kers Ga­bri­el­lo Cas­tel­li, die es Deutsch­land er­mög­licht hat­te, als ers­tes Land die Bom­be zu bau­en. Wir kön­nen nur Ver­mu­tun­gen dar­über an­stel­len, was ge­sche­hen wä­re, wenn Cas­tel­li, wie er es selbst ge­wollt hat­te, wei­ter­hin in der Ab­ge­schie­den­heit sei­ner Ge­burts­stadt ge­lebt und im ge­hei­men ge­ar­bei­tet hät­te …“

„Was hältst du da­von, Tony?“ frag­te Wil­ly ki­chernd.

„Das ist ver­rückt!“

„Hmm“, er­wi­der­te Au­gen­braue. „Mir ge­fällt vor al­lem die Zei­le, daß sich die Ita­lie­ner nur da­zu eig­nen, über Äthio­pier zu herr­schen.“

Der gut­mü­ti­ge Tony Ves­puc­ci wuß­te nicht recht, wie er auf sol­ches Ge­re­de rea­gie­ren soll­te, da­her lös­te er sei­ne Un­ge­wiß­heit mit ei­nem La­chen. „Du ver­gißt, daß Ita­li­en lan­ge Zeit über mehr als Äthio­pi­en ge­herrscht hat. Habt Ihr schon von der Pax ro­ma­na ge­hört?“

„Na­tür­lich“, er­wi­der­te Wil­ly. „Ich ha­be die Ge­schich­te des Al­ter­tums stu­diert.“

„Na al­so, Rom hat jahr­hun­der­te­lang den größ­ten Teil der Welt be­herrscht. Und Rom ist bloß ei­ne Stadt in Ita­li­en. Wenn ei­ne ein­zi­ge Stadt zu so was fä­hig ist – stellt Euch vor, wo­zu erst das gan­ze Land fä­hig wä­re!“ Ein New Yor­ker Stadt­po­li­zist, der in sei­ner blau­en Uni­form vor der Aus­la­gen­schei­be vor­bei­ging, hob grü­ßend den Gum­mi­knüp­pel vor Tony. „Und wißt Ihr“, fuhr der Fri­seur fort, nach­dem er den Gruß er­wi­dert hat­te, „man muß es die­sen Rö­mern las­sen – denn wie hät­ten sie die gan­ze Welt re­gie­ren kön­nen, wenn ein an­de­res Volk tap­fe­rer, mäch­ti­ger oder klü­ger als sie ge­we­sen wä­re?“

Touché, Tony!“ rief Wil­ly und griff sich an den Nacken. „Ich glau­be, du hast mich ge­schnit­ten“.

„Nein, aus­ge­schlos­sen. Seit mei­nen Lehr­jah­ren an der Fri­seur­aka­de­mie ha­be ich nie­man­den mehr ge­schnit­ten.“

„Ach, wirk­lich?“ frag­te Au­gen­braue, senk­te die Stim­me und blick­te höchst be­deu­tungs­voll auf den nach hin­ten ge­lehn­ten Kör­per im ers­ten Stuhl.

„Ach, der ist ganz in Ord­nung. Frag Wil­ly hier. Er weiß es. Er kam her­ein, als ich die­sen Herrn ra­sier­te, und ihm fiel nur plötz­lich ein, daß er noch et­was zu be­sor­gen hät­te, eil­te wie­der hin­aus und …“

„Ja, ja. Ich kann be­zeu­gen, daß er da­mals ganz in Ord­nung war.“

„Und au­ßer­dem“, fuhr Tony fort und ges­ti­ku­lier­te mit dem Ra­sier­mes­ser. „Du hast es nö­tig. Du siehst sel­ber aus, als ha­be dir ge­ra­de je­mand die Keh­le durch­ge­schnit­ten.“

„Wirk­lich wahr, er hat recht!“ ent­geg­ne­te Wil­ly mit ei­nem Sei­ten­blick und ei­nem so deut­lich be­ton­ten Aus­druck des Ab­scheus, daß es ent­schie­den nach Un­höf­lich­keit aus­sah.

Au­gen­braue blick­te auf die Hemd­brust hin­un­ter und be­merk­te, daß die ro­te Kra­wat­te, die er um­ge­bun­den hat­te, wirk­lich ei­ne ab­strak­te Ähn­lich­keit mit ei­nem Schwall Blu­tes aus der Hals­schlag­ader hat­te.

„Wie un­ge­schickt!“ rief er aus, „Mei­ne Ent­schul­di­gung“ – er blick­te sich um, als wol­le er va­ge al­le An­we­sen­den ein­schlie­ßen – „al­len Be­trof­fe­nen“. Und mit lei­se­rer Stim­me: „Als du mich riefst, bin ich so schnell aus dem Haus ge­stürzt, daß ich in der Ei­le nicht dar­auf ge­ach­tet ha­be, was ich mir um­ge­bun­den ha­be …“

Tony lang­te hin­un­ter und er­griff mit ei­ner Hand die Kra­wat­te na­he beim Kno­ten, wäh­rend er mit dem Ra­sier­mes­ser in der an­de­ren her­um­fuch­tel­te. „Är­gert dich dei­ne Kra­wat­te, schneid’ sie ab …“

„He!“ stieß Au­gen­braue her­vor und „Mein Gott!“ Wil­ly, und je­der zuck­te un­will­kür­lich zu­sam­men, was Tony, der kei­ne der­ar­ti­ge Re­ak­ti­on er­war­tet hat­te, be­trächt­lich aus der Fas­sung brach­te. „In Ord­nung!“ rief Au­gen­braue, in­dem er sein über­rasch­tes Zu­sam­men­zu­cken ko­misch über­trieb. „In Ord­nung, ich neh­me zu­rück, was ich über die Ita­lie­ner ge­sagt ha­be.“ Er lach­te. Al­le drei lach­ten, auch Tony, der plötz­lich sehr ver­le­gen war. Er mach­te ein paar Schrit­te in den hin­te­ren Teil des Ge­schäf­tes und ent­le­dig­te sich un­be­hol­fen des Ra­sier­mes­sers – er hat­te Wil­ly so­wie­so fer­tig ra­siert –, das er auf das dort be­find­li­che Schränk­chen fal­len ließ. Er be­merk­te, daß der Mann, der ne­ben dem Schrank die Zei­tung las, von ih­ren der­ben Scher­zen über­haupt kei­ne No­tiz ge­nom­men hat­te; of­fen­sicht­lich hat­te er auf den Sei­ten der Ti­mes in­ter­essan­te­re Din­ge ent­deckt. (Beim Ab­wen­den fiel Tony ei­ne Film­an­zei­ge auf: Ab heu­te / in der RA­DIO CI­TY MU­SIC HALL Ros­se­li­nis größ­ter Film / AU­GUS­TUS CAE­SAR.)

„Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben“, sag­te Tony, der zu­rück­kam, um das Tuch und den Strei­fen Krepp­a­pier von Wil­lys Hals zu ent­fer­nen. „Hier gibt es nichts als Re­de­frei­heit. Ei­ne Se­kun­de, bit­te, wäh­rend ich das ab­rei­ße, dann fan­ge ich mit dei­nem Freund an.“

Er er­griff das Tuch mit bei­den Hän­den und schüt­tel­te es so hef­tig, um die Haa­re her­aus­zu­beu­teln, daß es in der Luft einen Knall gab wie von ei­nem hef­ti­gen Schlag oder – und das war un­mit­tel­bar da­nach To­nys bruch­stück­haf­ter Ein­druck – wie ein Zau­be­rer, der be­feh­lend mit den Rin­gen schnipp­te. Denn un­mit­tel­bar dar­auf gab es ein höchst un­er­war­te­tes und über­ra­schen­des Phä­no­men, als auf dem lin­ken Stuhl ein an­de­res Tuch mit Ge­walt, ja aus­ge­spro­chen thea­tra­lisch, in die Luft ge­schleu­dert wur­de. Der Mann, der dar­in gehüllt ge­we­sen war, stand plötz­lich mit stren­gem, um nicht zu sa­gen wil­dem Blick vor ih­nen. Es war, als sei ein Leich­nam all den Un­sinn über den Tod gründ­lich satt ge­wor­den und ha­be das Lei­chen­tuch bei­sei­te ge­wor­fen, das jetzt – wäh­rend sie ihn an­starr­ten – zu Bo­den fiel. Er war ein Fünf­zi­ger mit ei­nem lan­gen, pfer­de­ähn­li­chen Ge­sicht und grau­en Schlä­fen. Sein Hemd war von der­sel­ben Far­be wie Ho­se, So­cken und Schu­he – als wä­re er ein Au­to­me­cha­ni­ker oder ein Haus­in­spek­tor–, und sie be­merk­ten so­gleich, daß sein Sak­ko eben­falls von die­ser Far­be war; denn oh­ne die Au­gen von ih­nen ab­zu­wen­den, trat er auf den Klei­der­stän­der zu, pflück­te das dort hän­gen­de brau­ne Sak­ko her­ab und zog es an. Er ver­voll­stän­dig­te die Wir­kung die­ser Hand­lung, in­dem er aus der lin­ken Ta­sche ei­ne brau­ne Kra­wat­te her­vor­hol­te, die er sich mit er­staun­li­cher Ge­schick­lich­keit um den Hals schlang und knüpf­te, als sei er ein ge­schick­ter Wür­ger, und in­dem er aus der an­de­ren Ta­sche zwei klei­ne An­steck­na­deln her­vor­hol­te, die er eben­so ge­schickt auf dem Re­vers an­brach­te. Ei­ne zeig­te ein Ru­ten­bün­del, das fest um ei­ne Axt ge­bun­den war: das Sym­bol der Fa­s­cis­ti. Die an­de­re war ein mehr oder we­ni­ger schuh­för­mi­ges Sil­ber­stück, das Wahr­zei­chen der Pax ro­ma­na und, ge­nau­er ge­sagt, der Po­li­zia mi­li­ta­re der Be­sat­zungs­trup­pen.

Tony, Wil­ly und der Mann mit den Au­gen­brau­en schau­ten al­le den Neu­an­kömm­ling an (um ihn mal als einen sol­chen zu be­zeich­nen), und er schau­te zu ih­nen mit Au­gen zu­rück, die so hart und tro­cken wa­ren wie im Töp­fer­ofen ge­brann­te Ton­wa­ren. Der an­de­re Mann im Raum las noch im­mer die New York Ti­mes.

„Ich ha­be hier Re­den ver­nom­men“, sag­te der Neu­an­kömm­ling, „die für Ita­li­en und sei­nen großen Füh­rer be­lei­di­gend sind.“

„Die­se Bur­schen ha­ben bloß ge­scherzt“, er­wi­der­te Tony mit ei­nem Aus­druck und in ei­nem Ton, der halb Pro­test und halb Bit­te war.

Wil­ly zuck­te die Ach­seln. „Es tut mir leid, daß ich Ih­ren Schlaf ge­stört ha­be.“

„Wis­sen Sie, wer ich bin?“ frag­te der Po­li­zist.

„Ich glau­be schon“, sag­te Wil­ly, „aber be­den­ken Sie, daß ich nicht völ­lig si­cher bin – ich glau­be je­den­falls, Sie sind Oberst Gi­u­sep­pe Pes­ca, der bes­ser als ‚Schläch­ter von Co­ney Is­land’ be­kannt ist.“ Er blick­te sei­nen Freund im nächs­ten Ses­sel an, der mit ei­ner Art an­ma­ßen­dem Ernst, als wä­re sei­ne Be­stä­ti­gung die­ser Iden­ti­fi­ka­ti­on ei­ne so wich­ti­ge Sa­che, wie es sei­ne Au­gen­brau­en nur zu­las­sen konn­te, hin­zu­füg­te: „Ich wür­de ihn un­ter ei­ner Mil­li­on er­ken­nen.“ Sei­ne Art war ver­schmitzt, aber sei­ne Stim­me klang merk­wür­dig dick und be­legt. Und kein Wun­der! Pes­ca. Das war ein Na­me, der die Her­zen der Kin­der mit Schre­cken er­fül­len muß­te … und auch die der El­tern. Mag sein, daß der Mann, der in der Ecke die Ti­mes las, ein Va­ter war, denn an den äu­ße­ren Ecken der Zei­tung zeig­te sich ei­ne schwa­che, fer­ne Er­schüt­te­rung. Au­gen­braue be­merk­te es beim Hin­schau­en. Es fiel ihm auch ei­ne Schlag­zei­le auf, die ihm hell­se­he­risch in die Au­gen stach: OBERST PES­CA ER­KLÄRT, DIE VER­HAF­TUNG DER TER­RO­RIS­TEN STE­HE UN­MIT­TEL­BAR BE­VOR.

„Ich bin froh, daß Sie wis­sen, wer ich bin“, sag­te Pes­ca, „denn dann wis­sen Sie auch, daß ich mei­ne, was ich sa­ge, Si­gno­re Ebreo und Si­gno­re So­prac­ciglio“ – was, wie sie wuß­ten, ‚Herr Ju­de’ und ‚Herr Au­gen­braue’ zu be­deu­ten hat­te. „Ihr zwei mel­det euch mor­gen hier im öst­li­chen Haupt­quar­tier …“ mit ei­nem schar­fen Zu­rück­rei­ßen des Kopf­es – „… Punkt 9 Uhr mor­gens, zum Ver­hör. Bloß ei­ne Rou­ti­ne­sa­che, Sie ver­ste­hen, aber viel­leicht er­scheint es uns nö­tig, euch auf einen un­se­rer Un­ter­wei­sungs­son­der­kur­se zu schi­cken. Seid da. Falls ihr nicht er­scheint, neh­men wir uns eu­ren Freund hier vor“ – er warf beim Spre­chen dem Fri­seur einen ver­ächt­li­chen Blick zu –, „da­mit wir eu­re Na­men und was er sonst noch al­les über euch wis­sen mag, her­aus­be­kom­men … und das könn­te für ihn sehr un­be­quem wer­den. Und Sie, Mr. Ves­puc­ci, Sie nen­nen sich einen Ita­lie­ner?“

„Nein, mein Herr“, er­wi­der­te Tony stand­haft. „Ich nen­ne mich einen Ita­lo-Ame­ri­ka­ner. Mei­ne Fa­mi­lie ist schon seit drei Ge­ne­ra­tio­nen in die­sem Land. Mei­ne zwei Jun­gen“ – und Tony warf einen nach­denk­li­chen Blick auf die zwei lee­ren Fri­seur­stüh­le zu sei­ner Rech­ten, als ver­möch­te er ir­gend­wie sei­ne kräf­ti­gen Söh­ne in wei­ßen Jacketts zu er­bli­cken, aus de­ren Brust­ta­schen schwar­ze Käm­me her­aus­rag­ten –, „mei­ne zwei Söh­ne sind im letz­ten Krieg in Ita­li­en ge­fal­len. Sie ha­ben aber nicht für Ita­li­en ge­kämpft.“

Auf Pes­cas Ge­sicht zeig­te sich Er­hei­te­rung. Sei­ne Bli­cke wan­der­ten be­zie­hungs­voll in den hin­te­ren Teil des La­dens. „Die­ser lee­re Platz über dem Schrank da. Sei­ne Blö­ße be­lei­digt mich. Be­sorg dir ein Bild von Il Du­ce und häng es auf. Ein großes. Ich möch­te es hier se­hen, wenn ich das nächs­te Mal her­ein­kom­me.“

Mit ei­nem wei­te­ren kal­ten Blick zu den An­we­sen­den wand­te er sich um und ging die drei Stu­fen mit ei­nem Aus­druck hin­auf, der auf dem Ge­sicht ei­nes po­li­ti­schen Ge­fan­ge­nen, der die Stu­fen der Guil­lo­ti­ne hin­auf­steigt, nicht un­an­ge­bracht ge­we­sen wä­re. Aber ehe er noch auf dem Geh­steig drau­ßen war, schi­en ihm et­was ein­zu­fal­len, denn er hielt einen Au­gen­blick schwei­gend in­ne, den einen Fuß auf der obers­ten Stu­fe, den an­de­ren auf der zwei­ten.

„Es ist viel, viel bes­ser, wenn ich es tue …“ fiel Au­gen­braue ein.

Pes­ca blick­te nach­denk­lich zu ih­nen zu­rück. „,Wil­ly …’“, über­leg­te er bei sich. „,Wil­ly?’ Ist das die Ver­klei­ne­rungs­form von Wil­helm?“

„Nee­ein“, er­wi­der­te der Blon­de mit ei­nem er­fin­de­ri­schen Lä­cheln. „Ich wur­de wirk­lich ‚Wil­ly’ ge­tauft, ob Sie es glau­ben oder nicht.“

„Wir sind auf der Su­che nach ei­nem Mann na­mens Wil­helm – oder viel­leicht Wil­liam-Mar­cus.“

Wil­ly zuck­te die Ach­seln und griff wie­der nach sei­ner Zeit­schrift. „Wil­liam-Mar­cus ist ein häu­fi­ger Na­me.“

„Stimmt. Der Mar­cus, den wir su­chen, ist der An­füh­rer ei­ner Ban­de, die die Frech­heit be­sitzt, sich selbst nach ei­ner ruhm­rei­chen Epo­che un­se­rer ita­lie­ni­schen Ge­schich­te Il risor­gi­men­to zu nen­nen. Sie schwat­zen von Frei­heit und Va­ter­lands­lie­be, sind aber“, und hier wur­den Pes­cas Au­ge und Stim­me et­was wär­mer, „bloß ein Hau­fen von Hals­ab­schnei­dern wie …“

„Wie die Ma­fia“, warf Au­gen­braue ein.

Pes­ca be­äug­te ihn mit gleich­gül­ti­ger Ver­ach­tung, sein Fie­ber fiel ein oder zwei Grad auf die nor­ma­le Tem­pe­ra­tur zu­rück. „Die Ma­fia gibt es nicht mehr“, mein­te er selbst­zu­frie­den. „Da­für ha­ben wir ge­sorgt.“

„Gib uns un­se­re Ma­fia zu­rück“, mur­mel­te Au­gen­braue.

Pes­ca trat ins grel­le Son­nen­licht hin­aus. Die drei Män­ner im La­den schau­ten zu, wie er die Ave­nue des Neu­en Rom (wie die of­fi­zi­el­le Be­zeich­nung lau­te­te) über­quer­te, und, we­der nach links noch nach rechts schau­end – als wür­den die Au­tos nicht wa­gen, ihn zu über­fah­ren –, auf das klaf­fen­de Maul des Sei­ten­gäß­chens zu­ging, wo sich der nächst­ge­le­ge­ne Ein­gang zum Haupt­quar­tier der Be­zirks­mi­li­tär­po­li­zei be­fand.

Man hör­te das Ra­scheln von Pa­pier, als der Mann, der in der Ecke die Ti­me­si­sis, sie has­tig zer­knüll­te und auf den Schrank warf. Er griff zum Hut und stürz­te zur Tür. „Ich be­mer­ke eben, daß mei­ne Mit­tags­pau­se schon um ist“, mur­mel­te er und hielt den Hut un­be­hol­fen vor das Ge­sicht, als sei er ihm un­be­wußt in die­ser La­ge ste­cken­ge­blie­ben, als er im Be­grif­fe stand, ihn zum Kopf zu füh­ren. Viel­leicht wich er ih­ren Au­gen aus – vor al­lem, glaub­te Tony, dem sar­do­ni­schen Blick von Au­gen­braue, der ihm folg­te, als er, ei­ne Spur zu schnell, um voll­kom­me­ne Wür­de zu be­wah­ren, die Trep­pen­stie­gen hin­auf- und zur Tür hin­aus­ging. Einen Au­gen­blick spä­ter be­merk­ten sie, wie er auf der Stra­ße den Au­tos aus­wich.

„Ach“, sprach Tony mit ei­nem Seuf­zer, „die Po­li­zei ver­scheucht mir die Kund­schaft. Mehr brau­che ich nicht! Ei­ne gan­ze Men­ge mei­ner al­ten Kun­den kommt nicht mehr zu mir … Nun“ – mit ei­ner weg­wer­fen­den Hand­be­we­gung –, „ihr wißt schon. Ich bin froh, daß du nie so ge­dacht hast, Wil­ly. Ich weiß das zu schät­zen. Wenn ich ge­wußt hät­te, daß der Kerl ein Bul­le war, hät­te ich dich ge­warnt.“

Den schwe­ren Kopf­schüt­telnd, trat er zum Schrank und er­griff die Zei­tung, um sie glatt­zu­strei­chen und zu­sam­men­zu­le­gen. Und lang­sam … er­starr­te er. Er starr­te un­gläu­big auf den Schrank und den lee­ren Fuß­bo­den vor ihm. Er rich­te­te die Au­gen auf, gar nicht schnell, und blick­te sei­ne zwei Kun­den an. Wil­ly schlüpf­te ge­ra­de in sei­ne Tweed-Ja­cke und stopf­te das Ma­ga­zin in ei­ne sei­ner Ta­schen, wo­bei er et­was ab­we­send zu ihm hin­blick­te. Der an­de­re hat­te es sich an­schei­nend über­legt, sich die Haa­re schnei­den zu las­sen, denn auch er griff nach dem Rock. Einen Au­gen­blick lang er­kann­te ihn Tony kaum, denn er sah nun aus, als sei die sar­do­ni­sche oder lis­ti­ge Er­hei­te­rung sei­nem Ge­sicht doch nicht un­aus­lösch­lich auf­ge­prägt. Die Au­gen­brau­en wa­ren ge­senkt, die Au­gen eben­falls; die Iro­nie war wie aus­ge­löscht. Tony konn­te es sich nicht ver­knei­fen, an ihm vor­bei und beim Fens­ter hin­aus­zu­se­hen – aber was in al­ler Welt er­war­te­te er zu se­hen? Er er­blick­te nichts an­de­res als das, was er die letz­ten zwan­zig Jah­re ge­se­hen hat­te: die ver­trau­ten Ge­schäf­te und ih­re La­den­schil­der, die dunkle Bruch­li­nie der Gas­se, die Frem­den und die auf der Stra­ße hin und her fah­ren­den Au­tos.

Er wand­te sich um und ließ die Ti­mes auf den erst kürz­lich frei ge­wor­de­nen Ses­sel fal­len. Er öff­ne­te ei­ne Schub­la­de in dem Schrank, nahm ein Ra­sier­mes­ser aus dem klei­nen Vor­rat, den er dort auf­be­wahr­te, und leg­te es schwei­gend oben auf den Schrank, an­stel­le des einen, ver­schwun­de­nen.

Die Hand zit­ter­te ihm leicht da­bei.