Arthur Jean
Cox
Eine Passage in Kursivbuchstaben
A PASSAGE IN ITALICS
Diese Geschichte handelt von der Vergangenheit.
Es war im Jahre 1952. Schauplatz war ein Friseursalon mitten in Manhattan, auf der ehemaligen Sechsten Avenue. Das Geschäft sah eigentlich ganz gewöhnlich aus. Vor der Tür befand sich wie üblich eine sich drehende gestreifte Stange und über dem großen Schaufenster eine ziemlich armselige, verblichene Sonnenplane zur Abhaltung der Morgensonne. Der Laden selbst – um hineinzukommen, mußte man die Glastür aufmachen, auf der in goldener Schrift mit großen Kursivbuchstaben Tonys Frisierladen aufgemalt war, und ging dann unter einer anschlagenden Glocke drei Betonstufen hinunter – erwies sich sodann als klein, aber sauber. Es gab dort drei Stühle (das heißt, mechanisch verstellbare Frisierstühle: an der Wand links standen noch mehrere hölzerne Sessel für die wartenden Kunden). Das Ganze war offensichtlich einmal ein Seiteneingang in dem Gebäude gewesen, in dem das Geschäft untergebracht war. Ein in einem der drei Sessel Sitzender sah direkt über die belebte Straße in eine Seitengasse hinein, die so eng war und sich so zwischen die hohen Gebäude preßte, daß es selbst mittags finster war. Beim Hinausblicken aus dem Fenster, denn das tat er häufig, hatte Tony mehr als einmal eine kleine, bleiche Gestalt erblickt, die quer über jene dunkle Schlucht huschte. Dennoch war diese Gasse nicht völlig menschenleer. In größeren Zeitabständen sah er, wie jemand aus der offenen Straße in das Gäßchen hineinging und von der Dunkelheit verschluckt wurde (wenngleich nicht für ewig, wie er annahm) – denn darin befanden sich die Hintereingänge mehrerer Geschäfte und Büros, eines Dampfbades, eines italienischen Restaurants und zumindest einer entsetzlicheren Geschäftsstelle. Er hatte sich jedoch darüber nie viel den Kopf zerbrochen. Warum auch? Jeder, der nur für zwanzig Sekunden zum Fenster hinausblickte, bemerkte so ziemlich dasselbe, was er in den letzten zwanzig Jahren gesehen hatte. Was beweist, wie wenig selbst die drastischsten politischen Ereignisse unser unbedeutendes Alltagsleben beeinflussen. Tony hatte einen Krieg und mehrere Regierungswechsel erlebt, und doch hatte sich der Anblick dort draußen lediglich in bezug auf die Mode der Kleider und der Autos verändert. Heutzutage war es noch immer so ziemlich dasselbe wie früher.
Zur fraglichen Mittagsstunde stand wegen der Hitze die Tür offen, und der Kleiderständer am Ende der Reihe hölzerner Sessel war aus dem gleichen Grunde schwer behängt. Alle drei Frisiersessel waren besetzt, doch war Tony nur mit dem Mann im mittleren Sessel beschäftigt, der in einer Zeitschrift las, während er sich das Haar schneiden ließ. Der Mann im ersten Sessel beim Fenster hatte sich das lange Tuch, das während der Rasur seinen Körper bedeckt hatte – Tony hatte den gegenwärtigen Kunden gegenüber bemerkt, er habe den Mann gerade fertig rasiert, als sie zur Tür hereinkamen – übers Gesicht gezogen, wodurch seine braunen Schuhe, Socken und die ebenfalls braune Hose sichtbar wurden, und schlief vermutlich. „Vermutlich“, denn soweit man durch bloßes Hinsehen feststellen konnte, mochte er genausogut tot sein. Der unter dem Tuch herausragende Arm mit der schlaffen, sich nicht wehrenden Hand und den herunterhängenden Fingern hätte jeden Beobachter unfehlbar auf den Gedanken gebracht, Tony habe dem Manne zufällig die Kehle durchgeschnitten, und, nachdem er sich im leeren Laden voller Schuldgefühle umgesehen hatte, ihm das Tuch über das Gesicht gezogen, um den Beweis seiner Fahrlässigkeit zu verbergen. Diese scheinbare Leblosigkeit weckte auch in Tony selbst eine beunruhigende Erinnerung. Vor zwanzig Jahren, als er sein Geschäft gerade eröffnet hatte, war sein Lokal ganz unschuldig zum Schauplatz eines brutalen Mordes geworden. Einer seiner Stammkunden, ein liebenswürdiger Herr aus Sizilien, wurde, als er sich in eben diesem Sessel rasieren ließ, als Opfer markiert (wie sich die Zeitungen ausdrückten) und vor dem Fenster auf dem Gehsteig von einem Mafia-Killer über den Haufen geschossen. Tony, der das alles mit angesehen hatte und nie vergessen konnte, verdrängte das grausame Bild eilends und fuhr mit seiner Arbeit fort. Glücklicherweise passierte dergleichen nicht mehr.
Der Kunde im dritten Sessel, ein schwarzer Mann mit weißem Hemd und roter Krawatte, wartete einfach darauf, daß Tony mit dem Kunden vor ihm fertig würde. In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Ungeduld. In ihm drückte sich vielmehr Belustigung aus – aber diese Miene schien ihm zur Gewohnheit geworden zu sein; vielleicht war sie ihm sogar „eingebaut“. Tony, der ihn nie zuvor gesehen hatte und nun schon ein paarmal verwundert zu ihm hingeblickt hatte, hätte beinahe wetten mögen, daß dies der Fall war: Denn diese Augenbrauen schienen sehr früh zur Höhe belustigter Verachtung emporgezogen worden und dann in der Position unter Mißachtung jeder Schwerkraft steckengeblieben zu sein. Im Laden befand sich auch noch ein vierter Kunde. Er saß auf einem der hölzernen Sessel an der Wand und wartete wie der dritte darauf, daß Tony fertig würde; und wie beim ersten war nichts vom Gesicht zu sehen, denn er hatte eine Zeitung ergriffen und hielt sie beim Lesen vor sich hin. (EISENHOWER SCHLIESST SICH DER FORDERUNG DES PAPSTES NACH RECHT UND ORDNUNG AN verkündete eine sichtbare Schlagzeile). Sein Hut lag neben ihm auf einem anderen Sessel; ertrug eine graue Hose, blaue Socken und braune Schuhe.
Der Kerl im mittleren Sessel kicherte. Er war ein Mittdreißiger mit blondem Haar und blauen Augen und kräftiger Statur: Riesenbrustkorb, dicke Arme und Beine. Die gutmütige Ruhe seines Gesichtsausdrucks – und vielleicht die bloße Tatsache, daß er las – trugen viel zur Abschwächung dieser Merkmale bei, die sonst bei soviel Masse grob und erdrückend gewirkt hätten.
Der Mann im dritten Sessel wandte ihm die Augenbrauen zu, als wollte erfragen: „Was gibt es so Lustiges?“
„Diese Geschichte“, erwiderte der blonde Riese, als sei die Frage laut gestellt worden. „Lesen Sie manchmal Science Fiction?“
„Niemals“, entgegnete der mit den Augenbrauen. „Und wie steht’s mit dir, Tony?“
„Ich habe keine Zeit zum Lesen“, antwortete Tony und wandte sich ab, um Seifenschaum zu schlagen, den er in einem Kaffeetopf erwärmt hatte.
„Sie nennt sich Bedingte Zeit und handelt von einem anderen Zeitstrom …“
„Einem anderen was?“ Dem Mann mit den Augenbrauen gelang das schier Unmögliche – er zog sie noch weiter in die Höhe.
„Ein anderer Zeitstrom. Eine andere Welt, eine alternative Welt zu dieser, in der sich alles anders abgespielt hat.“
„Wie ist das möglich?“ fragte Tony und schmierte seinem Kunden den Schaum in den Nacken.
„Das ist doch Unsinn.“
„Das ist die Prämisse, Tony“, sagte der Leser. „Man muß sich mit dieser Prämisse abfinden, sonst folgt die übrige Erzählung nicht daraus. Wie auch immer, hör zu: In diesem Zeitstrom, von dem in der Geschichte die Rede ist, haben Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg gewonnen! Wie gefällt dir das?“ Und er kicherte erneut voller Wohlbehagen.
Tony, der den Kopf des Kunden mit der einen Hand festhielt, begann mit dem Rasiermesser in der anderen den Nacken auszurasieren, wobei er zweifelnd den Kopf schüttelte. „Ich weiß nicht. … Du solltest froh sein, daß sie nicht gewonnen haben. Du bist doch jüdischer Abstammung, nicht wahr, Willy? Nun, die Deutschen – Entschuldigung, ich sollte sagen, die Nazis –, die Nazis sind mit den Juden äußerst brutal umgesprungen. Du hast doch von diesen Lagern gehört, die man gleich nach dem Krieg entdeckt hat? Da hast du es. Wenn die Deut … die Nazis in dieses Land gekommen wären, hätten sie vermutlich dich und alle deine Angehörigen weggeräumt. Du hast also Glück gehabt. Vielleicht haben wir alle Glück gehabt und wissen es bloß nicht.“
„Nun ja“, sagte Augenbraue, „du bist natürlich dieser Ansicht, Tony“.
Tony hielt mit dem Rasiermesser mitten in der Luft inne, als wollte er die Bedeutung dieser Bemerkung ergründen. „Ja, natürlich“, erklärte er mit Entschiedenheit und doch mit einer anhaltenden Spur von Zweifel, „natürlich bin ich froh, daß die Nazis verloren haben. Du kannst mir glauben, ich habe Geschichten von einigen der Sachen gehört, die sie angestellt haben, daß sich dir die Haare auf dem Kopf aufstellen würden. Ich glaube, wir haben richtig gehandelt, ich meine England und Amerika, daß wir gegen sie Krieg geführt haben.“
„Jawohl“, stimmte Willy zu, „wir können dankbar sein, daß Deutschland und Japan so unrühmlich besiegt wurden. Aber hör bloß zu.“ Und er las aus seiner Zeitschrift vor, die, da sie nur Kleinformat hatte, in seiner großen Hand beinahe verschwand:
„Der Krieg verlief für die Deutschen günstig. Natürlich. Denn sie waren die ersten mit einer einsatzbereiten Atombombe. Die Bombe war es, die die Wende brachte, als das Dritte Reich vor dem Untergang zu stehen schien. Die amerikanischen und russischen Armeen standen bereits unmittelbar vor den Toren Berlins, als …“
„Wo ist es denn bloß?“ sagte Willy und überflog einen oder zwei Absätze. „Aha, da habe ich es schon:
Das Nazi-Oberkommando erwog tatsächlich, die Bombe mit den japanischen Verbündeten zu teilen, entschied sich aber dann aus einleuchtenden Gründen dagegen …
Und jetzt kommt das Beste:
Zu einem waren die Deutschen jedoch absolut entschlossen, das furchtbare Geheimnis nicht mit ihren Freunden im Süden zu teilen. Hitler formulierte es kurz und bündig: ‚Dem italienischen Volk fehlt es an Mut, an Durchschlagskraft, an der Fähigkeit zu befehlen und an Organisationstalent. Das Blut der Italiener ist unrein, und ihre Psyche ist ein Saustall. Sie sind ein unbedeutendes Volk, das sich bloß dazu eignet, über Äthiopier zu herrschen. Ihnen die Bombe zu überlassen, wäre dasselbe, wie einem Kind ein Gewehr in die Hand zu drücken. Die lautersten Motive, darunter der Selbsterhaltungstrieb, erfordern es, daß wir ihnen nicht nur nicht die Waffe geben, die wir arischen Völker so triumphal der Natur abgerungen haben, sondern daß wir auch unverzüglich entscheidende Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, daß sie sich nie auch nur eines Teils des Geheimnisses bemächtigen.’
In der Arroganz und dem Siegesrausch, die dem Sieg des Dritten Reiches folgten, soll Hitler diese Bemerkungen zu Mussolini persönlich gemacht haben. II Duce war vor Wut außer sich. Hitlers Bemerkung über die Waffe, die ‚wir arischen Völker … der Natur abgerungen haben’, brachte ihn besonders auf denn es war Hitlers Dienstverpflichtung – seine buchstäbliche Entführung – des brillanten theoretischen Physikers Gabriello Castelli, die es Deutschland ermöglicht hatte, als erstes Land die Bombe zu bauen. Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, was geschehen wäre, wenn Castelli, wie er es selbst gewollt hatte, weiterhin in der Abgeschiedenheit seiner Geburtsstadt gelebt und im geheimen gearbeitet hätte …“
„Was hältst du davon, Tony?“ fragte Willy kichernd.
„Das ist verrückt!“
„Hmm“, erwiderte Augenbraue. „Mir gefällt vor allem die Zeile, daß sich die Italiener nur dazu eignen, über Äthiopier zu herrschen.“
Der gutmütige Tony Vespucci wußte nicht recht, wie er auf solches Gerede reagieren sollte, daher löste er seine Ungewißheit mit einem Lachen. „Du vergißt, daß Italien lange Zeit über mehr als Äthiopien geherrscht hat. Habt Ihr schon von der Pax romana gehört?“
„Natürlich“, erwiderte Willy. „Ich habe die Geschichte des Altertums studiert.“
„Na also, Rom hat jahrhundertelang den größten Teil der Welt beherrscht. Und Rom ist bloß eine Stadt in Italien. Wenn eine einzige Stadt zu so was fähig ist – stellt Euch vor, wozu erst das ganze Land fähig wäre!“ Ein New Yorker Stadtpolizist, der in seiner blauen Uniform vor der Auslagenscheibe vorbeiging, hob grüßend den Gummiknüppel vor Tony. „Und wißt Ihr“, fuhr der Friseur fort, nachdem er den Gruß erwidert hatte, „man muß es diesen Römern lassen – denn wie hätten sie die ganze Welt regieren können, wenn ein anderes Volk tapferer, mächtiger oder klüger als sie gewesen wäre?“
„Touché, Tony!“ rief Willy und griff sich an den Nacken. „Ich glaube, du hast mich geschnitten“.
„Nein, ausgeschlossen. Seit meinen Lehrjahren an der Friseurakademie habe ich niemanden mehr geschnitten.“
„Ach, wirklich?“ fragte Augenbraue, senkte die Stimme und blickte höchst bedeutungsvoll auf den nach hinten gelehnten Körper im ersten Stuhl.
„Ach, der ist ganz in Ordnung. Frag Willy hier. Er weiß es. Er kam herein, als ich diesen Herrn rasierte, und ihm fiel nur plötzlich ein, daß er noch etwas zu besorgen hätte, eilte wieder hinaus und …“
„Ja, ja. Ich kann bezeugen, daß er damals ganz in Ordnung war.“
„Und außerdem“, fuhr Tony fort und gestikulierte mit dem Rasiermesser. „Du hast es nötig. Du siehst selber aus, als habe dir gerade jemand die Kehle durchgeschnitten.“
„Wirklich wahr, er hat recht!“ entgegnete Willy mit einem Seitenblick und einem so deutlich betonten Ausdruck des Abscheus, daß es entschieden nach Unhöflichkeit aussah.
Augenbraue blickte auf die Hemdbrust hinunter und bemerkte, daß die rote Krawatte, die er umgebunden hatte, wirklich eine abstrakte Ähnlichkeit mit einem Schwall Blutes aus der Halsschlagader hatte.
„Wie ungeschickt!“ rief er aus, „Meine Entschuldigung“ – er blickte sich um, als wolle er vage alle Anwesenden einschließen – „allen Betroffenen“. Und mit leiserer Stimme: „Als du mich riefst, bin ich so schnell aus dem Haus gestürzt, daß ich in der Eile nicht darauf geachtet habe, was ich mir umgebunden habe …“
Tony langte hinunter und ergriff mit einer Hand die Krawatte nahe beim Knoten, während er mit dem Rasiermesser in der anderen herumfuchtelte. „Ärgert dich deine Krawatte, schneid’ sie ab …“
„He!“ stieß Augenbraue hervor und „Mein Gott!“ Willy, und jeder zuckte unwillkürlich zusammen, was Tony, der keine derartige Reaktion erwartet hatte, beträchtlich aus der Fassung brachte. „In Ordnung!“ rief Augenbraue, indem er sein überraschtes Zusammenzucken komisch übertrieb. „In Ordnung, ich nehme zurück, was ich über die Italiener gesagt habe.“ Er lachte. Alle drei lachten, auch Tony, der plötzlich sehr verlegen war. Er machte ein paar Schritte in den hinteren Teil des Geschäftes und entledigte sich unbeholfen des Rasiermessers – er hatte Willy sowieso fertig rasiert –, das er auf das dort befindliche Schränkchen fallen ließ. Er bemerkte, daß der Mann, der neben dem Schrank die Zeitung las, von ihren derben Scherzen überhaupt keine Notiz genommen hatte; offensichtlich hatte er auf den Seiten der Times interessantere Dinge entdeckt. (Beim Abwenden fiel Tony eine Filmanzeige auf: Ab heute / in der RADIO CITY MUSIC HALL Rosselinis größter Film / AUGUSTUS CAESAR.)
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Tony, der zurückkam, um das Tuch und den Streifen Kreppapier von Willys Hals zu entfernen. „Hier gibt es nichts als Redefreiheit. Eine Sekunde, bitte, während ich das abreiße, dann fange ich mit deinem Freund an.“
Er ergriff das Tuch mit beiden Händen und schüttelte es so heftig, um die Haare herauszubeuteln, daß es in der Luft einen Knall gab wie von einem heftigen Schlag oder – und das war unmittelbar danach Tonys bruchstückhafter Eindruck – wie ein Zauberer, der befehlend mit den Ringen schnippte. Denn unmittelbar darauf gab es ein höchst unerwartetes und überraschendes Phänomen, als auf dem linken Stuhl ein anderes Tuch mit Gewalt, ja ausgesprochen theatralisch, in die Luft geschleudert wurde. Der Mann, der darin gehüllt gewesen war, stand plötzlich mit strengem, um nicht zu sagen wildem Blick vor ihnen. Es war, als sei ein Leichnam all den Unsinn über den Tod gründlich satt geworden und habe das Leichentuch beiseite geworfen, das jetzt – während sie ihn anstarrten – zu Boden fiel. Er war ein Fünfziger mit einem langen, pferdeähnlichen Gesicht und grauen Schläfen. Sein Hemd war von derselben Farbe wie Hose, Socken und Schuhe – als wäre er ein Automechaniker oder ein Hausinspektor–, und sie bemerkten sogleich, daß sein Sakko ebenfalls von dieser Farbe war; denn ohne die Augen von ihnen abzuwenden, trat er auf den Kleiderständer zu, pflückte das dort hängende braune Sakko herab und zog es an. Er vervollständigte die Wirkung dieser Handlung, indem er aus der linken Tasche eine braune Krawatte hervorholte, die er sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit um den Hals schlang und knüpfte, als sei er ein geschickter Würger, und indem er aus der anderen Tasche zwei kleine Anstecknadeln hervorholte, die er ebenso geschickt auf dem Revers anbrachte. Eine zeigte ein Rutenbündel, das fest um eine Axt gebunden war: das Symbol der Fascisti. Die andere war ein mehr oder weniger schuhförmiges Silberstück, das Wahrzeichen der Pax romana und, genauer gesagt, der Polizia militare der Besatzungstruppen.
Tony, Willy und der Mann mit den Augenbrauen schauten alle den Neuankömmling an (um ihn mal als einen solchen zu bezeichnen), und er schaute zu ihnen mit Augen zurück, die so hart und trocken waren wie im Töpferofen gebrannte Tonwaren. Der andere Mann im Raum las noch immer die New York Times.
„Ich habe hier Reden vernommen“, sagte der Neuankömmling, „die für Italien und seinen großen Führer beleidigend sind.“
„Diese Burschen haben bloß gescherzt“, erwiderte Tony mit einem Ausdruck und in einem Ton, der halb Protest und halb Bitte war.
Willy zuckte die Achseln. „Es tut mir leid, daß ich Ihren Schlaf gestört habe.“
„Wissen Sie, wer ich bin?“ fragte der Polizist.
„Ich glaube schon“, sagte Willy, „aber bedenken Sie, daß ich nicht völlig sicher bin – ich glaube jedenfalls, Sie sind Oberst Giuseppe Pesca, der besser als ‚Schlächter von Coney Island’ bekannt ist.“ Er blickte seinen Freund im nächsten Sessel an, der mit einer Art anmaßendem Ernst, als wäre seine Bestätigung dieser Identifikation eine so wichtige Sache, wie es seine Augenbrauen nur zulassen konnte, hinzufügte: „Ich würde ihn unter einer Million erkennen.“ Seine Art war verschmitzt, aber seine Stimme klang merkwürdig dick und belegt. Und kein Wunder! Pesca. Das war ein Name, der die Herzen der Kinder mit Schrecken erfüllen mußte … und auch die der Eltern. Mag sein, daß der Mann, der in der Ecke die Times las, ein Vater war, denn an den äußeren Ecken der Zeitung zeigte sich eine schwache, ferne Erschütterung. Augenbraue bemerkte es beim Hinschauen. Es fiel ihm auch eine Schlagzeile auf, die ihm hellseherisch in die Augen stach: OBERST PESCA ERKLÄRT, DIE VERHAFTUNG DER TERRORISTEN STEHE UNMITTELBAR BEVOR.
„Ich bin froh, daß Sie wissen, wer ich bin“, sagte Pesca, „denn dann wissen Sie auch, daß ich meine, was ich sage, Signore Ebreo und Signore Sopracciglio“ – was, wie sie wußten, ‚Herr Jude’ und ‚Herr Augenbraue’ zu bedeuten hatte. „Ihr zwei meldet euch morgen hier im östlichen Hauptquartier …“ mit einem scharfen Zurückreißen des Kopfes – „… Punkt 9 Uhr morgens, zum Verhör. Bloß eine Routinesache, Sie verstehen, aber vielleicht erscheint es uns nötig, euch auf einen unserer Unterweisungssonderkurse zu schicken. Seid da. Falls ihr nicht erscheint, nehmen wir uns euren Freund hier vor“ – er warf beim Sprechen dem Friseur einen verächtlichen Blick zu –, „damit wir eure Namen und was er sonst noch alles über euch wissen mag, herausbekommen … und das könnte für ihn sehr unbequem werden. Und Sie, Mr. Vespucci, Sie nennen sich einen Italiener?“
„Nein, mein Herr“, erwiderte Tony standhaft. „Ich nenne mich einen Italo-Amerikaner. Meine Familie ist schon seit drei Generationen in diesem Land. Meine zwei Jungen“ – und Tony warf einen nachdenklichen Blick auf die zwei leeren Friseurstühle zu seiner Rechten, als vermöchte er irgendwie seine kräftigen Söhne in weißen Jacketts zu erblicken, aus deren Brusttaschen schwarze Kämme herausragten –, „meine zwei Söhne sind im letzten Krieg in Italien gefallen. Sie haben aber nicht für Italien gekämpft.“
Auf Pescas Gesicht zeigte sich Erheiterung. Seine Blicke wanderten beziehungsvoll in den hinteren Teil des Ladens. „Dieser leere Platz über dem Schrank da. Seine Blöße beleidigt mich. Besorg dir ein Bild von Il Duce und häng es auf. Ein großes. Ich möchte es hier sehen, wenn ich das nächste Mal hereinkomme.“
Mit einem weiteren kalten Blick zu den Anwesenden wandte er sich um und ging die drei Stufen mit einem Ausdruck hinauf, der auf dem Gesicht eines politischen Gefangenen, der die Stufen der Guillotine hinaufsteigt, nicht unangebracht gewesen wäre. Aber ehe er noch auf dem Gehsteig draußen war, schien ihm etwas einzufallen, denn er hielt einen Augenblick schweigend inne, den einen Fuß auf der obersten Stufe, den anderen auf der zweiten.
„Es ist viel, viel besser, wenn ich es tue …“ fiel Augenbraue ein.
Pesca blickte nachdenklich zu ihnen zurück. „,Willy …’“, überlegte er bei sich. „,Willy?’ Ist das die Verkleinerungsform von Wilhelm?“
„Neeein“, erwiderte der Blonde mit einem erfinderischen Lächeln. „Ich wurde wirklich ‚Willy’ getauft, ob Sie es glauben oder nicht.“
„Wir sind auf der Suche nach einem Mann namens Wilhelm – oder vielleicht William-Marcus.“
Willy zuckte die Achseln und griff wieder nach seiner Zeitschrift. „William-Marcus ist ein häufiger Name.“
„Stimmt. Der Marcus, den wir suchen, ist der Anführer einer Bande, die die Frechheit besitzt, sich selbst nach einer ruhmreichen Epoche unserer italienischen Geschichte Il risorgimento zu nennen. Sie schwatzen von Freiheit und Vaterlandsliebe, sind aber“, und hier wurden Pescas Auge und Stimme etwas wärmer, „bloß ein Haufen von Halsabschneidern wie …“
„Wie die Mafia“, warf Augenbraue ein.
Pesca beäugte ihn mit gleichgültiger Verachtung, sein Fieber fiel ein oder zwei Grad auf die normale Temperatur zurück. „Die Mafia gibt es nicht mehr“, meinte er selbstzufrieden. „Dafür haben wir gesorgt.“
„Gib uns unsere Mafia zurück“, murmelte Augenbraue.
Pesca trat ins grelle Sonnenlicht hinaus. Die drei Männer im Laden schauten zu, wie er die Avenue des Neuen Rom (wie die offizielle Bezeichnung lautete) überquerte, und, weder nach links noch nach rechts schauend – als würden die Autos nicht wagen, ihn zu überfahren –, auf das klaffende Maul des Seitengäßchens zuging, wo sich der nächstgelegene Eingang zum Hauptquartier der Bezirksmilitärpolizei befand.
Man hörte das Rascheln von Papier, als der Mann, der in der Ecke die Timesisis, sie hastig zerknüllte und auf den Schrank warf. Er griff zum Hut und stürzte zur Tür. „Ich bemerke eben, daß meine Mittagspause schon um ist“, murmelte er und hielt den Hut unbeholfen vor das Gesicht, als sei er ihm unbewußt in dieser Lage steckengeblieben, als er im Begriffe stand, ihn zum Kopf zu führen. Vielleicht wich er ihren Augen aus – vor allem, glaubte Tony, dem sardonischen Blick von Augenbraue, der ihm folgte, als er, eine Spur zu schnell, um vollkommene Würde zu bewahren, die Treppenstiegen hinauf- und zur Tür hinausging. Einen Augenblick später bemerkten sie, wie er auf der Straße den Autos auswich.
„Ach“, sprach Tony mit einem Seufzer, „die Polizei verscheucht mir die Kundschaft. Mehr brauche ich nicht! Eine ganze Menge meiner alten Kunden kommt nicht mehr zu mir … Nun“ – mit einer wegwerfenden Handbewegung –, „ihr wißt schon. Ich bin froh, daß du nie so gedacht hast, Willy. Ich weiß das zu schätzen. Wenn ich gewußt hätte, daß der Kerl ein Bulle war, hätte ich dich gewarnt.“
Den schweren Kopfschüttelnd, trat er zum Schrank und ergriff die Zeitung, um sie glattzustreichen und zusammenzulegen. Und langsam … erstarrte er. Er starrte ungläubig auf den Schrank und den leeren Fußboden vor ihm. Er richtete die Augen auf, gar nicht schnell, und blickte seine zwei Kunden an. Willy schlüpfte gerade in seine Tweed-Jacke und stopfte das Magazin in eine seiner Taschen, wobei er etwas abwesend zu ihm hinblickte. Der andere hatte es sich anscheinend überlegt, sich die Haare schneiden zu lassen, denn auch er griff nach dem Rock. Einen Augenblick lang erkannte ihn Tony kaum, denn er sah nun aus, als sei die sardonische oder listige Erheiterung seinem Gesicht doch nicht unauslöschlich aufgeprägt. Die Augenbrauen waren gesenkt, die Augen ebenfalls; die Ironie war wie ausgelöscht. Tony konnte es sich nicht verkneifen, an ihm vorbei und beim Fenster hinauszusehen – aber was in aller Welt erwartete er zu sehen? Er erblickte nichts anderes als das, was er die letzten zwanzig Jahre gesehen hatte: die vertrauten Geschäfte und ihre Ladenschilder, die dunkle Bruchlinie der Gasse, die Fremden und die auf der Straße hin und her fahrenden Autos.
Er wandte sich um und ließ die Times auf den erst kürzlich frei gewordenen Sessel fallen. Er öffnete eine Schublade in dem Schrank, nahm ein Rasiermesser aus dem kleinen Vorrat, den er dort aufbewahrte, und legte es schweigend oben auf den Schrank, anstelle des einen, verschwundenen.
Die Hand zitterte ihm leicht dabei.