Mi­cha­el Bi­shop
Kleine Geschichte des Fahrrads
(401 v.Chr. - 2677 A.D.)
A SHORT HIS­TO­RY OF THE BI­CY­CLE:
401 B.C. TO 2677 A.D.

 

Bar­ry Malz­berg ge­wid­met

 

Auf dem Pla­ne­ten Drai­si­enne, ei­ner Welt wel­li­ger Sa­van­nen, de­ren knö­chel­ho­he Grä­ser hier und da ei­ne Un­ter­bre­chung durch Pfa­de aus nie­der­ge­preß­ter or­ga­ni­scher Ma­te­rie er­fuh­ren, ge­walzt in Mut­ter­er­de, er­kann­te Prae­ger, die Ge­schich­te des Fahr­rads muß­te neu ge­schrie­ben wer­den. Prae­ger, in des­sen Um­kreis es hun­dert Licht­jah­re weit kei­nen an­de­ren Men­schen gab, saß un­ter dem Vor­dach sei­nes Zel­tes und ver­such­te, ein reich­hal­ti­ges und um­wäl­zen­des his­to­ri­sches Ge­we­be zu flech­ten, das fürs Fahr­rad tun konn­te, was der Wand­tep­pich von Bayeux für die Schlacht von Has­ting ge­leis­tet hat­te. Und was zu­dem über­fäl­lig war, längst über­fäl­lig. Ge­le­gent­lich hob er den Blick von sei­nem Mi­kro­film­be­trach­ter (im Zelt hin­ter ihm sah es aus wie in ei­nem Kas­set­ten­ar­chiv, und die Küh­le un­ter den Zelt­bah­nen aus Se­gel­tuch war mehr mit Ge­schichts­zeug­nis­sen als mit Do­sen­nah­rung voll­ge­stopft) und späh­te über das Ge­wim­mel je­ner Ge­schöp­fe aus, die er nun seit fast ei­nem Jahr Erd­stan­dard­zeit stu­dier­te.

 

„Weil das Fahr­rad die ma­te­ri­el­len Res­sour­cen und die Ener­gie­pro­duk­ti­on we­nig in An­spruch nimmt, kaum zur Um­welt­ver­schmut­zung bei­trägt, da­ge­gen po­si­tiv zur Ge­sund­heit, es über­dies sel­ten Ver­let­zun­gen oder To­des­fäl­le ver­ur­sacht, kann es als die se­gens­reichs­te al­ler Ma­schi­nen be­trach­tet wer­den.“{2}

 

Leich­ter Wind weh­te Prae­ger die stroh­blon­de, al­ters­be­dingt an­ge­weiß­lich­te Lo­cke aus der Stirn, blies in sei­nen Blou­son und be­lüf­te­te sei­ne Ach­sel­höh­len und Rip­pen. Un­ter­des­sen blie­ben die Drai­sies in stän­di­ger Be­we­gung. ‚Ein Ru­del’, dach­te Prae­ger. ‚Ich ha­be ei­ne Grup­pe von ih­nen als Ru­del be­zeich­net, ob­wohl der rich­ti­ge Ter­mi­nus wahr­schein­lich Her­de ist – vor al­lem, weil Her­de ihr Ge­mein­schaft­stum zum Aus­druck bringt, oh­ne einen Räu­ber­tum zu im­pli­zie­ren, das sie in Wirk­lich­keit nicht ken­nen.’ „Ja, se­gens­reich sind sie, al­ter Jun­ge“, sag­te er dann laut und mein­te den pa­ra­dig­ma­ti­schen Geist S. S. Wil­sons, im 22. Jh. Ver­fas­ser des Ar­ti­kels „Bi­cy­cle Tech­no­lo­gy“, den er sich ge­ra­de zu Ge­mü­te ge­führt hat­te. „Aber Ma­schi­nen sind sie nicht, ganz be­stimmt sind sie kei­ne Ma­schi­nen. Zu­min­dest hier nicht.“ Die Bri­se trug sei­ne Wor­te da­von, und in wei­ter Fer­ne, im Dunst bläu­lich, je­doch dank der an­mu­ti­gen Ge­stal­ten, die im Vor­der­grund da­hin­ra­del­ten, schimm­lig sub­stan­ti­ell, brei­te­te ein Berg sei­ne ver­schie­de­nen ab­ge­flach­ten Kup­pen aus, wie ein sil­ber­häup­ti­ger Olym­pier, der sei­ne Schul­tern in vor­sätz­lich krie­ge­ri­scher Hal­tung wölb­te. Prae­ger, der sich ein biß­chen in der ur­al­ten Spra­che der Mas­sai aus­kann­te, hat­te die nächst­ge­le­ge­ne Kuppe des Hö­hen­zu­ges Ngàje Ngài ge­nannt, Haus Got­tes. Au­ßer­dem wa­ren die Ver­hält­nis­se auf Drai­si­enne de­nen im al­ten Tan­sa­nia tat­säch­lich sehr ähn­lich, und die Drai­sies, die so fried­fer­tig auf den aus­ge­fah­re­nen Pfa­den durch die Sa­van­nen des Pla­ne­ten ein­her­ra­del­ten, er­in­ner­ten ihn an ir­di­sche Ze­bras oder Weiß­schwanz­g­nus. „Her­de“, be­kräf­tig­te er laut, „nicht Ru­del. Wie bin ich auf Ru­del ge­kom­men?“

 

Trotz al­ler In­di­zi­en, die für das Ge­gen­teil spre­chen (schrieb Prae­ger), ist das Fahr­rad nicht im 19. Jahr­hun­dert er­fun­den wor­den. Ob­wohl Män­ner wie Ba­ron von Drais de Sau­er­brun, der Schot­te Kirk­pa­tric Mac­mil­lan, die Ge­brü­der Michaux aus Pa­ris und die Star­leys aus Co­ven­try recht­mä­ßig den Sta­tus von Wie­der­ent­de­ckern und Wei­ter­ent­wick­lern des Fahr­rads be­an­spru­chen kön­nen, hat kei­ner von ih­nen den gleich­na­mi­gen Ap­pa­rat er­fun­den. Die­se Eh­re ge­bührt ei­nem grie­chi­schen Söld­ner na­mens Po­ly­bi­ces. Im Jah­re 401 v. Chr., wäh­rend des „Rück­zugs der Zehn­tau­send“ von Cun­a­xa in Per­si­en (ein Aben­teu­er, des­sen Chro­nik in Xe­no­phons Ana­ba­sis mög­li­cher­wei­se reich­lich über­trie­ben dar­ge­stellt wor­den ist), er­sann Po­ly­bi­ces an­hand der pla­ton­schen Ideal­vor­stel­lung, wie das per­fek­te, vom Be­nut­zer selbst be­trie­be­ne Ge­fährt aus­zu­se­hen ha­be, die Mor­pho­lo­gie des Fahr­rads. Wäh­rend sei­ne Söld­ner­ka­me­ra­den in den Hü­geln Kur­dist­ans und Ar­me­ni­ens mit den rach­gie­ri­gen Krie­gern des Arta­xer­xes foch­ten und sie in Schach hiel­ten, kon­stru­ier­te Po­ly­bi­ces sein Pro­to­typ-Ge­rät aus den Grif­fen zer­bro­che­ner Schwer­ter, aus lie­gen­ge­las­se­nen Spee­ren, den le­der­nen Flä­chen und Gur­ten von Schil­den ge­fal­le­ner Ge­fähr­ten so­wie di­ver­sen Ge­gen­stän­den aus der Beu­te, die man im Ver­lauf des Rück­zugs, dem der Feind schwer nach­dräng­te, bei Plün­de­run­gen ge­macht hat­te. Es schnei­te. Nah­rung war knapp. Un­auf­hör­lich fan­den An­grif­fe ge­gen die Nach­hut, an den Flan­ken und so­gar auf die Vor­aus­ab­tei­lun­gen statt. In­fol­ge­des­sen sah sich der ge­schick­te und ent­schlos­se­ne Po­ly­bi­ces, von sei­nen Ka­me­ra­den als Drücke­ber­ger und Bumm­ler be­schimpft und ver­flucht, da­zu ge­zwun­gen, sei­nen Ap­pa­rat zum Groß­teil auf dem Marsch zu­sam­men­zu­bau­en. Aber es ge­lang ihm. Schließ­lich setz­te er, sech­zig oder sieb­zig Ki­lo­me­ter vom Schwar­zen Meer ent­fernt, sein fie­ber­traum­haf­tes pla­ton­sches Pa­ra­dig­ma in die Tat um – wenn­gleich oh­ne den Ket­ten­zahn­rad­an­trieb am Hin­ter­rad, der die Ide­al­form für ein Ge­fährt von ab­so­lu­ter Per­fek­ti­on ge­we­sen wä­re. Un­ter den ge­ge­be­nen ex­tre­men Um­stän­den hat­te Po­ly­bi­ces ge­tan, was men­schen­mög­lich war; au­ßer­dem er­wies das Feh­len des Ket­ten­zahn­rad­an­triebs sich als nur klei­nes Hin­der­nis, denn er mach­te sich un­ver­züg­lich auf den Weg und stram­pel­te die rest­li­chen sech­zig oder sieb­zig Ki­lo­me­ter nach Tra­pe­zus, ei­ner grie­chi­schen Stadt, wo er in Si­cher­heit war, in­ner­halb von bloß ein­ein­halb Ta­gen her­un­ter. Er schaff­te es trotz al­ler­lei Un­bil­den der Wit­te­rung, feind­li­cher per­si­scher Späh­trupps und schlech­ten Stra­ßen­zu­stands und traf meh­re­re Ta­ge vor sei­nen fuß­kran­ken und aus­ge­hun­ger­ten Ka­me­ra­den – von de­nen in­zwi­schen al­ler­dings vie­le der Er­schöp­fung und dem Hun­ger zum Op­fer ge­fal­len wa­ren und in­fol­ge­des­sen das Schwar­ze Meer gar nicht er­reich­ten – in Tra­pe­zus ein. Ei­ne Grup­pe von An­kömm­lin­gen, de­nen Po­ly­bi­ces nichts an­de­res tat, als ih­nen froh­ge­stimmt zur Be­grü­ßung ent­ge­gen­zu­radeln, fiel über ihn her und prü­gel­te ihn zum Dank tot. In ih­rer Wut zer­schlu­gen sie auch die ver­schie­de­nen pro­vi­so­ri­schen Kom­po­nen­ten sei­nes Fahr­rads und ver­streu­ten die Ein­zel­tei­le in den Stra­ßen der Ha­fen­stadt. Mehr als 2300 Jah­re ver­stri­chen, bis Ba­ron von Drais de Sau­er­brun der Welt sein zwei­a­d­ri­ges „Fuß­gän­ger-Ste­cken­pferd“ vor­stell­te, ein au­ßer­or­dent­lich un­zu­läng­li­cher Ver­wirk­li­chungs­ver­such je­nes Ideals, das Po­ly­bi­ces wi­der na­he­zu un­vor­stell­ba­re Hemm­nis­se bei­na­he ins Au­gen­merk ei­ner da­mals noch un­zu­läng­li­che­ren Mensch­heit ge­rückt hat­te. Und der Scha­den – der Scha­den war mit Si­cher­heit un­er­meß­lich groß.{3}

 

Prae­ger blick­te er­neut auf und for­mu­lier­te in Ge­dan­ken vor. Und seit der par­ti­el­len Wie­der­ent­de­ckung von Po­ly­bi­ces Er­fin­dung durch den Ba­ron sind min­des­tens wei­te­re 750 Jah­re ver­gan­gen. Im Lau­fe die­ser Zeit ha­ben wir das Fahr­rad ge­gen das Kraft­fahr­zeug, das Kraft­fahr­zeug ge­gen den He­li­craft, den He­li­craft ge­gen den ein­sit­zi­gen Lichtson­den-Kap­so­pul­ter, den Kap­so­pul­ter ge­gen die ner­ven­zer­fet­zen­de au­to­ge­ne Stra­pa­ze der Ma­te­rie­trans­mis­si­on aus­ge­tauscht. Durch welch letz­te­re Trans­port­me­tho­de Prae­ger, sei­ne Mi­kro­film-Bi­blio­thek und sei­ne Cam­ping-Aus­rüs­tung nach Drai­si­enne ge­langt wa­ren, von der Trans­mit­ter­platt­form in Tean­eck, New Jer­sey, durch die Äther von Nacht, Zeit und Raum ab­ge­strahlt und in wie­der­ver­stoff­lich­te Exis­tenz ge­blitzt: blip­pi­ti-blip, blip­pi­ti-blip, blip-blip. Die Drai­sies in der Sa­van­ne – sie lie­ßen prot­zig ih­re Spei­chen rund­um flit­zen, daß sie nur so schim­mer­ten, jag­ten ein­an­der, voll­führ­ten al­le Ar­ten von Kipp- und Krei­se­l­übun­gen – hat­ten bei sei­ner An­kunft zum Gruß nicht ein­mal mit den Lenk­stan­gen ge­wa­ckelt. Und da es kei­ne Re­trans­mis­si­ons-Ein­rich­tung auf Drai­si­enne gab, wür­de es, um Prae­ger und sei­nen Be­sitz­tü­mern das Wie­der­ver­las­sen des Pla­ne­ten zu er­mög­li­chen, ei­ner Lichtson­den-Fähr­kap­sel (oder ei­ner trans­mit­tier­ten Trans­mit­ter­platt­form) be­dür­fen; da gab es nur gelb-oran­ge­ne Grä­ser, ei­ne An­zahl stark aus­ge­fah­re­ner Pfa­de und „Wen­de­plät­ze“, hier und dort einen Baum (den Af­fen­brot­bäu­men ähn­lich und put­zig an­zu­se­hen), fer­ner die in stän­di­ger Be­we­gung be­find­li­chen, hell ge­färb­ten Krea­tu­ren, de­nen so völ­lig Prae­gers Zeit, Auf­merk­sam­keit und ge­quäl­ter Re­spekt ge­hör­te. Er wid­me­te sich wie­der sei­nem his­to­ri­schen Text und be­gann zu schrei­ben …

 

Im Jah­re 2204 ent­deck­te ei­ne Grup­pe von Wis­sen­schaft­lern im For­schungs­in­sti­tut auf dem Ga­ny­med das trans­ura­ni­sche Ele­ment 237 mit ei­ner Halb­wert­zeit von 1,00872 Na­no­se­kun­den. Dr. J. K. Ko­lod­ny, Lei­ter des For­schungs­pro­gramms, schlug vor, das neue Ele­ment Po­ly­bi­ci­um (Py) zu nen­nen. Warum, woll­ten sei­ne Kol­le­gen wis­sen. Es ist be­rich­tet wor­den, daß Ko­lod­ny, der im Be­sitz eher be­schei­de­ner Geis­tes­ga­ben war, geant­wor­tet ha­be: „Weil wir neue Ele­men­te schon nach so gut wie je­dem be­nannt ha­ben, der ei­ne sol­che Eh­re ver­dient, und Po­ly­bi­ci­um klingt rich­tig nett.“ Die an­de­ren For­scher nah­men das so hin, und des­halb kennt man das Ele­ment 237 heu­te beim Na­men des wah­ren Er­fin­ders des Fahr­rads. Das ist die aus­glei­chen­de Ge­rech­tig­keit des Da­seins.

 

Fahr­rä­der, or­ga­ni­sche Fahr­rä­der. Ganz ge­nau wie man es auf ei­ner Welt er­war­ten durf­te, die so of­fen­sicht­lich an die frucht­ba­ren Ebe­nen Afri­kas er­in­ner­te, und es exis­tier­ten meh­re­re Gat­tun­gen. Ein Jahr lang hat­te Prae­ger sei­ne Be­ob­ach­tun­gen auf ein „Ru­del“ Renn­rä­der kon­zen­triert, de­ren Ter­ri­to­ria­lin­stinkt sie auf den Um­kreis des „Af­fen­brot­baums“ so­wie den Fahr­rad­weg, der dar­un­ter ver­lief, und den da­zu­ge­hö­ri­gen Wen­de­platz be­schränk­te, kaum zwan­zig Me­ter von sei­nem Zelt ent­fernt. Trotz­dem er­mög­lich­te es ihm der evo­lu­tio­näre Reich­tum Drai­si­en­nes, ab und zu auch an­de­re Grup­pen zu be­ob­ach­ten, Hoch­rä­der, Klap­per­müh­len, Drei­rä­der, Zwei­sit­zer, Spor­trä­der und – am un­heim­lichs­ten von al­len – große Ptero­cy­cles, die auf Drai­si­en­nes Win­den se­gel­ten und be­droh­li­che Schat­ten war­fen, aus dem kar­gen, opa­les­zen­ten Him­mel her­ab­stie­ßen wie rep­ti­li­sche Ma­ra­bus. ‚Was wir her­aus­ge­fun­den ha­ben’, sag­te sich Prae­ger, ‚ist doch, daß die phi­lo­so­phi­schen Ide­al­for­men, die Pla­to pos­tu­liert und von de­nen der glück­lo­se Po­ly­bi­ces fie­ber­haft ei­ne ver­wirk­licht hat, auf ei­ge­nen Wel­ten über­all im phy­si­schen Uni­ver­sum tat­säch­lich exis­tie­ren. Und die­se Ide­al­for­men sind in je­dem ein­zel­nen Fall le­ben­di­ge Ge­schöp­fe, selbst wenn ihr schat­ten­haf­ter Ab­klatsch auf un­se­rer Er­de nur aus blo­ßer Ma­te­rie be­steht, see­len- und leb­los.’ Das war die Wahr­heit. In­fol­ge­des­sen war die Mensch­heit auf Pla­ne­ten ge­sto­ßen, die ganz be­völ­kert wa­ren von le­ben­den, at­men­den, evo­lu­tio­när dif­fe­ren­zier­ten Aschen­be­chern, Was­ser­tür­men, Fuß­wär­me­rn, Meß­lat­ten, Wol­ken­krat­zern, Un­ter­ho­sen, Bu­me­rangs, Brot­käs­ten, al­ko­ho­li­schen Ge­trän­ken usw. – ad in­fi­ni­tum?{4}

 Spe­zi­es die­ser Din­ge exis­tier­ten auf je­der die­ser Wel­ten, weil so­gar ei­ne un­voll­kom­me­ne Ma­ni­fes­ta­ti­on ei­ner be­stimm­ten ein­zel­nen Idee zu ih­rer be­son­de­ren „Va­rie­tät der Un­voll­kom­men­heit“ ein „per­fek­tes“ pla­ton­sches Ge­gen­stück hat, und un­ter die­sen Gat­tun­gen lie­ßen sich In­di­vi­du­en fin­den, die die ver­schie­de­nen „per­fek­ten“ Ma­ni­fes­ta­tio­nen der denk­ba­ren „Va­rie­tät der Un­voll­kom­men­heit“ je­ner Be­stand­tei­le re­prä­sen­tier­ten, die ein ein­zel­nes Ex­em­plar der Spe­zi­es aus­ma­chen. Ab­strus – ja­wohl, furcht­bar ab­strus. Nicht ein­mal Prae­ger konn­te das so recht ver­ste­hen. Nichts­de­sto­trotz, die­se Ein­schät­zung bot ei­ne Er­klä­rung für die vie­len un­ter­schied­li­chen Ar­ten des­sel­ben Ge­gen­stan­des, de­nen man un­ver­meid­lich auf den Wel­ten der Pla­ton­schen Norm be­geg­nen konn­te. In­fol­ge­des­sen leb­ten auf Drai­si­enne die voll­kom­men un­be­hol­fe­nen „Ste­cken­pferd-Fahr­rä­der“ des al­ten Ba­rons in Ko­exis­tenz mit den ab­so­lut per­fekt mor­pho­lo­gi­schen Ro­ver-Rä­dern, die im Jah­re 1885 auf der Er­de J. K. Star­ley „er­fand.“ ‚Das Uni­ver­sum hört nie auf’, dach­te sich Prae­ger, ‚uns in Stau­nen zu ver­set­zen.’

 

Wah­rend der letz­ten rund drei­ßig Jah­re des ge­gen­wär­ti­gen Jahr­hun­derts (von 2644 bis 2673, um ge­nau zu sein) hat die Po­pu­la­ri­tät des Fahr­rads einen neu­en Auf­schwung er­hal­ten, ver­gleich­bar mit dem, der En­de der 1960er An­fang der 1970er Jah­re in der da­ma­li­gen po­li­ti­schen Ein­heit Ver­ei­nig­te Staa­ten von Ame­ri­ka, Er­de, Sek­tor 2 J-21LP statt­fand. Die kürz­lich ein­ge­tre­te­ne ga­la­xis­wei­te Re­zes­si­on je­doch, zu­sam­men­ge­fal­len mit der An­ni­hilati­on von neun nicht­pla­ton­schen, von Men­schen be­wohn­ten Pla­ne­ten der Lichtson­den-Al­li­anz durch Ko­balt-Zer­trüm­me­rer, hat zu Ab­satz­rück­gän­gen ge­führt, de­ren Um­fang pro­por­tio­nal mit den ent­spre­chen­den Kon­se­quen­zen der „In­fla­ti­onss­pi­ra­le“ je­ner ver­gan­ge­nen, so gut wie ver­ges­se­nen Ära kor­re­spon­diert. Auf Drai­si­enne wird man sich, wenn man den strom­li­ni­en­för­mi­gen Wuchs und die um­gäng­li­chen Ge­wohn­hei­ten der Renn­rä­der be­trach­tet, ge­mein­sam mit den an­de­ren Gat­tun­gen or­ga­ni­scher Me­cha­nis­men, die oh­ne Zwei­fel zur Ent­wick­lung/Evo­lu­ti­on der Renn­rä­der bei­ge­tra­gen ha­ben, wie­der über die Not­wen­dig­keit klar, zu ver­ein­fa­chen, zu ver­ein­fa­chen, zu ver­ein­fa­chen. So hat das Fahr­rad es ge­macht. Und wie schon sein frü­her His­to­ri­ker S. S. Wil­son scharf­sin­nig be­merk­te, „hat es sich so ent­wi­ckelt, daß sein De­sign er­go­no­misch op­ti­mal ist.“ (Her­vor­he­bung vom Ver­fas­ser){5}. In die­sem Sin­ne ist Drai­si­enne al­so mein Wai­den ge­wor­den.{6}

 

Wie­der­um hob Prae­ger den Blick. Wich sei­ne his­to­ri­sche Dar­stel­lung hier vom Ge­bot der Ob­jek­ti­vi­tät ab? Der letz­te Satz ent­hielt ein Pos­se­siv­pro­no­men der ers­ten Per­son. Wenn er so wei­ter­mach­te, wür­de er bald scham­los da­her­plau­dern, wie er und sei­ne Frau, da­heim auf den un­brauch­bar ge­wor­de­nen Au­to­bah­nen von Old New Eng­land, ein­mal ih­re zwei Kin­der in heck­wär­ti­gen Kü­bel­sit­zen aus Plas­tik spa­zie­ren­ge­fah­ren hat­ten. Knall­gelb wa­ren sie ge­we­sen, die­se Sit­ze; wie die Son­ne mit­ten im Mai. Nein, sol­che Ab­schwei­fun­gen konn­ten sei­ner Ar­beit nur scha­den, sol­che Rad­tou­ren durch Zei­ten und Ge­füh­le, die auf Drai­si­enne nur im schlag­licht­haf­ten Auf­kom­men von Er­in­ne­run­gen Wirk­lich­keits­wert be­sa­ßen, die ihm durch die stro­bo­sko­pi­schen Spei­chen sei­nes Ver­stan­des saus­ten. Und wer zum Teu­fel au­ßer sei­ner Frau Dai­sy, sei­nem Sohn Ma­se­ra­ti und sei­ner Toch­ter Gi­ta­ne wür­de denn schon die tra­gi­sche Ko­mik des „Volks­lie­des“ be­grei­fen kön­nen, das er für sie kom­po­niert hat­te und den Ti­tel trug: Ich fiel vom Zwei­rad der Lie­be?{7} Schreib bloß nichts dar­über’, sag­te er sich, wäh­rend er zwei Ein­rä­dern zu­sah, wie sie im Baum vor sei­nem Zelt auf ei­nem der obe­ren Äs­te reich­lich hei­kel ba­lan­cier­ten, ‚bleib auf ei­ner ge­lehr­sa­men, his­to­ri­schen Ba­sis, Prae­ger. Es ist dei­ne Auf­ga­be, nach Mög­lich­keit her­aus­zu­fin­den, ob die or­ga­ni­schen Fahr­rä­der von Drai­si­enne nicht viel­leicht uns al­len einen Aus­weg aus dem Ho­lo­caust zei­gen, der al­le Wel­ten der Lichtson­den-Al­li­anz be­droht. Ei­ne neue, ak­ku­ra­te Ge­schich­te des Fahr­rads, das darf man ru­hig glau­ben, kann uns wo­mög­lich den Schlüs­sel zu die­ser Ent­de­ckung lie­fern.’

Wann aber soll­te er dann über das an­de­re schrei­ben? Wenn er Dai­sy, Mas und die klei­ne Gi­ta­ne wie­der­sah? Als er sich das frag­te, be­merk­te Prae­ger, wie die Spit­ze ei­ner Lenk­stan­ge wie­der­holt das Kha­ki an sei­nem Ell­bo­gen an­s­tieß. Es war das Drai­sie, das er Dai­sy rief, ein Zwei­sit­zer oh­ne An­hang, der be­reits zu ei­nem frü­hen Zeit­punkt in Schlan­gen­li­ni­en zu Prae­gers La­ger­platz ge­schau­kelt ge­kom­men war und ihm seit­her et­li­che Mög­lich­kei­ten zur Nah­be­ob­ach­tung der Renn­rä­der, die sich in der Ebe­ne tum­mel­ten, ver­schafft hat­te. Und nicht nur das, Dai­sy hat­te ihn so­gar bei den ur­sprüng­li­chen For­schun­gen für sein Pro­jekt we­sent­lich un­ter­stützt. Weil er sich er­kennt­lich zeig­te, in­dem er sie ge­le­gent­lich ab­schmier­te, ge­lang es ihm, sie im Be­reich sei­nes La­ger­plat­zes zu hal­ten. „Mo­ment mal, Mäd­chen“, sag­te er laut und strei­chel­te Dai­sys Rück­sitz, „Mo­ment mal, ich muß hier noch ’ne Klei­nig­keit er­le­di­gen.“ Er be­faß­te sich er­neut mit sei­nem No­tiz­buch. Nein, es war un­mög­lich, am Per­so­nal­pro­no­men vor­bei­zu­kom­men; völ­lig aus­ge­schlos­sen, die Quel­le sei­ner Er­kennt­nis­se au­then­tisch auf­zu­zei­gen, oh­ne sei­nen Vor­ge­setz­ten die Wahr­heit mit­zu­tei­len. Die Wahr­heit. Kein Weg führ­te vor­bei am an­ma­ßen­den ICH …

 

Vie­le von Ih­nen mö­gen fra­gen: „Wie will ein ein­sa­mer, auf dem Pla­ne­ten Drai­si­enne iso­lier­ter Xe­no­bio­lo­ge, nichts zur Hand als ei­ne mit­ge­brach­te Mi­kro­film-Bi­blio­thek, das Ge­heim­nis der Ers­ter­fin­dung des Fahr­rads auf­ge­deckt ha­ben? Ist die­se Ge­schich­te von dem grie­chi­schen Söld­ner nicht nur ei­ne Ver­rückt­heit, die er uns aus dem Ver­steck sei­ner Iso­la­ti­on her­aus auf­schwat­zen möch­te?“ Nein, das ist kei­nes­wegs der Fall. Es ist ei­ne Tat­sa­che, daß ich die Tem­po­ral­trans­port- und Si­tua­ti­ons­fak­si­mi­la­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten ei­ner Ein­ge­bo­re­nen (zur Gat­tung der zwei­sit­zi­gen Fahr­rä­der ge­hö­rig) be­nutzt ha­be, um mich ins Jahr 401 nach Tra­pe­zus zu ver­set­zen, um die An­kunft des Po­ly­bi­ces und sei­nes Fahr­rads in der ge­nann­ten Stadt re­al mit­er­le­ben zu kön­nen. Um die­sen chro­no­stra­ti­schen Trans­fer zu er­mög­li­chen, muß­te ich mich zu­nächst kör­per­lich aus der Sa­van­ne, in der sich mei­ne La­ger­stel­le be­fand, in ei­ne drai­si­en­nis­che Re­gi­on be­ge­ben, de­ren Hö­hen­la­ge ge­nau der Hö­he des Ti­gris-Eu­phrat-Land­strichs ent­sprach, dem Schau­platz des „Rück­zugs der Zehn­tau­send.“ Dai­sy, mein do­mes­ti­zier­ter Zwei­sit­zer, trug mich, nach­dem sie mir durch Lenk­stan­gen­stö­ße und Läu­ten der Klin­gel zu ver­ste­hen ge­ge­ben hat­te, daß ein sol­cher Trip un­be­dingt er­for­der­lich sei, in­ner­halb von zwan­zig Ta­gen nord­wärts bis in die rich­ti­ge Hö­he; es schi­en, als trä­te auf dem Vor­der­sitz ein Phan­tom die Pe­da­le und ver­lie­he uns die schnei­di­ge Fahrt, de­ren es be­durf­te, um die ent­spre­chen­de Stre­cke so schnell zu­rück­zu­le­gen. Dann fing mein Zwei­sit­zer am un­ge­fäh­ren Äqui­va­lent von 41° nörd­li­cher und 38° öst­li­cher Brei­te (ein schö­nes Stück ab­seits von den tat­säch­li­chen Ko­or­di­na­ten des al­ten Tra­pe­zus, aber nicht ge­nug, um Dai­sys Tt- und Sk-Ka­pa­zi­tä­ten zu be­ein­träch­ti­gen) mit der tem­po­ra­len „Ziel­su­che“ an, der zy­klo­tro­ni­schen Be­schleu­ni­gung der Rä­der bei gleich­zei­ti­ger Er­zeu­gung der Raum­ver­zer­rung, in der schließ­lich als Er­geb­nis die geo­gra­fi­sche Sze­ne­rie der klas­si­schen Ha­fen­stadt er­schei­nen soll­te.{8} „Ziel­su­che“ ist durch­aus ei­ne zu­tref­fen­de Be­zeich­nung, weil mein Fahr­zeug ver­such­te, in der Zeit ge­nau zu je­nem Mo­ment zu­rück­zu­keh­ren, an dem Po­ly­bi­ces das Ve­hi­kel-Ide­al ver­wirk­lich­te, das von den Krea­tu­ren auf Drai­si­enne ver­kör­pert wird; fer­ner ist zu be­ach­ten, daß die Tt- und Sk-Ka­pa­zi­tä­ten die­ser „Ap­pa­ra­te“ nicht wei­ter als bis ins Jahr 401 v. Chr. zu­rück­rei­chen, denn ih­re ei­ge­ne phy­si­sche Ent­wick­lung auf der Pla­ton­schen Norm­welt Drai­si­enne setz­te nicht frü­her als zum Zeit­punkt ein, als Po­ly­bi­ces sei­ne Er­fin­dung mach­te, wäh­rend sie da­vor in Drai­si­en­nes At­mo­sphä­re so äthe­risch und in­sub­stan­zi­ell wie je­de un­ver­wirk­lich­te ab­strak­te Kon­zep­ti­on schweb­ten.{9} Nichts­de­sto­we­ni­ger führ­te Dai­sys „Ziel­su­che“ zu dem Er­geb­nis, daß ich, so­wohl ich wie auch das Fahr­rad (ich auf sei­nem Rück­sitz) für die all­ge­mei­ne Welt (da bin ich si­cher) bes­ten­falls als un­kennt­li­ches, schwa­ches Wal­len und Flim­mern der Luft wahr­nehm­bar, Po­ly­bi­ces auf sei­nem Ge­rät in der Stadt ein­tref­fen sah; da­nach sprang ich in der Zeit zwei Ta­ge vor­wärts, um eben­so Au­gen­zeu­ge sei­ner Er­mor­dung und der Ver­nich­tung sei­nes hand­ge­fer­tig­ten Ori­gi­na­le­xem­plars zu wer­den, und zum Schluß schwirr­te ich drei­tau­send Jah­re weit wie­der in die Zu­kunft, wäh­rend Son­ne, Ster­ne, Wol­ken und Land­schaft bläu­lich an mir vor­über­feg­ten, als zer­stie­be der Kos­mos selbst zu ei­ner ab­strak­ten Kon­zep­ti­on, zu dürf­tig, um je noch ein­mal den Auf­wand ei­ner Wie­der­ver­wirk­li­chung zu ver­die­nen. Zu gu­ter Letzt, als die Welt re­nor­ma­li­siert war, be­för­der­ten Dai­sy und der Phan­tom­fah­rer auf dem Vor­der­sat­tel mich die et­wa tau­send Ki­lo­me­ter süd­wärts in die Plain, zu­rück zu mei­nem La­ger­platz. Ich ver­su­che nun zu re­kon­stru­ie­ren, was ich er­fah­ren ha­be, jetzt aus ei­ge­nem Er­le­ben weiß, an Kennt­nis­sen der selt­sa­men, mul­ti­di­men­sio­na­len Spritz­tour ver­dan­ke, von der ich ge­ra­de erst zu­rück­ge­kehrt bin. Sie se­hen al­so, ich selbst bin mei­ne Do­ku­men­ta­ti­on.{10}

 

Viel blieb nicht mehr zu tun. Die Ge­schich­te des Fahr­rads for­der­te nur zu Spe­ku­la­tio­nen auf: Prae­gers Vor­schlä­ge zur Lö­sung der viel­fäl­ti­gen Kri­sen, die so be­droh­lich un­heil­voll der Zu­kunft der Al­li­anz im We­ge la­gen. Fast al­le – so sah Prae­ger das je­den­falls – wa­ren die Fol­gen ent­we­der erb­li­cher mensch­li­cher Schwä­chen oder aber mensch­li­cher Las­ter, letz­te­re ent­stan­den durch ei­ne heut­zu­ta­ge all­ge­mein to­le­rier­te Dis­so­zia­ti­on der Emo­tio­nen. Konn­te das Fahr­rad die­se Män­gel be­he­ben? Ei­ner­seits Hab­gier, Ehr­geiz, Räu­be­rei, Ego­is­mus. An­de­rer­seits Ent­frem­dung, Arg­wohn, ver­stock­ter Wil­le nach Ab­son­de­rung. Und war er selbst kein Op­fer die­ser schluß­end­li­chen Auf­lö­sungs­er­schei­nung? Nein, ein­deu­tig nicht; er be­fand sich in­fol­ge ei­nes zu­ge­wie­se­nen Auf­trags auf Drai­si­enne, nicht weil es ihm frei­wil­lig ein­ge­fal­len wä­re, sich für län­ge­re Zeit von Dai­sy und den Kin­dern zu tren­nen. Und er dach­te oft an sie, das konn­te man wohl sa­gen, er hat­te sich der Pest der An­ti­so­zia­li­tät noch nicht ge­beugt, die – we­nigs­tens in­di­rekt – im Fal­le von neun Pla­ne­ten zur Ko­balt-Zer­trüm­me­rung und in der Fol­ge zu ei­nem Rück­gang der Fahr­ra­dum­sät­ze ge­führt hat­te. ‚Ich nicht’, sag­te sich Prae­ger, ‚nicht ich’. Die Leh­re, die man aus der Exis­tenz des Fahr­rads zie­hen muß­te, lau­te­te na­tür­lich: ver­ein­fa­chen, ver­ein­fa­chen, ver­ein­fa­chen, und dank der to­ta­len Po­si­ti­vi­tät, die mit der Ge­sel­lig­keit des Fahr­rads ein­her­ging, kam man mit die­ser Lö­sung leicht zu Pot­te. Selbst Dai­sy (das Fahr­rad, nicht sei­ne Frau) hat­te sich einen Ge­fähr­ten ge­sucht, nach­dem sie von ih­rer Sip­pe no­ma­di­scher Zwei­sit­zer ab­ge­irrt war. Viel­leicht war das die Ant­wort: Rad­fah­ren war ge­sund; und Fri­schluft, Son­nen­schein und Be­we­gung wür­den die Mensch­heit wie­der („Wie­der?“ frag­te er laut und an nie­man­den ge­wandt) in weit­her­zi­gen Ein­klang mit sich selbst brin­gen. Das Sin­ken der Fahr­ra­dum­sät­ze muß­te des­halb rück­gän­gig ge­macht wer­den. Für ei­ne Wei­le schau­te Prae­ger ver­son­nen den Renn­rä­dern zu, wie sie ih­re Ren­nen mach­ten, und den Ein­rä­dern, die im „Af­fen­brot­baum“ ih­re Zir­ku­s­akro­ba­tik voll­führ­ten. ‚Ha­be ich viel­leicht schon bis zu dem Punkt ver­ein­facht’, frag­te er sich dann, ‚an dem die Ver­ein­fa­chung ins Ein­fäl­ti­ge um­schlägt?’ Doch Dai­sy be­dräng­te ihn zärt­lich mit ih­ren schwung­voll nach vorn ge­bo­ge­nen Lenk­stan­gen, und es ge­lang ihm nicht, die­se drin­gen­de Fra­ge ab­zu­klä­ren. „Na schön“, sag­te er laut. Um ihr sein In­ter­es­se zu zei­gen, rieb er ih­re bei­den Sät­tel mit ei­ner Le­der­pfle­ge­pas­te ein, öl­te und tät­schel­te ih­re Trom­meln und füll­te oral ih­re leicht auf­blas­ba­ren Schläu­che nach. Da­nach sag­te er ihr gu­te Nacht, brach­te sein No­tiz­buch ins Zelt und tipp­te dort mit Sorg­falt an sei­ne Zen­tra­le ei­ne Lichtson­den-Mit­tei­lung, die die ers­ten Ab­schnit­te sei­ner Ge­schich­te des Fahr­rads ent­hielt. In der Nacht je­doch sam­mel­te er im Schlaf wei­ter Ma­te­ri­al, schrieb, kom­men­tier­te …

 

Na­tür­lich wol­len vie­le von uns un­ter­be­wußt das Fahr­rad. Wie­viel leich­ter wä­re dann al­les! So­lan­ge dies Trans­port­mit­tel nur in un­zu­rei­chen­dem Ma­ße er­hält­lich ist, be­trach­ten vie­le an­de­re es da­ge­gen mit un­ge­recht­fer­tig­tem Miß­trau­en und un­ter­stel­len ihm – so­gar auf von Men­schen be­wohn­ten Wel­ten, wo es ein­deu­tig ein Ap­pa­rat ist, kein or­ga­ni­sches We­sen –, es sei ei­ne Ab­art von Mons­ter, das sie ent­we­der hin­ter­ge­hen oder rund­her­aus ver­nich­ten will.{11} Auf Drai­si­enne ha­be ich mich häu­fig da­bei er­tappt, daß ich die Hal­tung und das Be­neh­men ei­nes Fahr­rads nach­zuah­men ver­such­te, ob­wohl ein der­ar­ti­ger Ver­such auf­grund der Un­ter­schie­de in der Ana­to­mie ziem­lich un­an­ge­nehm ist. Auch bin ich da­von über­zeugt, daß mein Un­ver­mö­gen, ei­ne er­folg­rei­che Nach­ah­mung mei­ner Gast­ge­ber zu be­werk­stel­li­gen, mich in man­cher­lei Be­zie­hung ge­schä­digt hat, die noch gar nicht in vol­lem Um­fang evi­dent wird.{12} Ich ha­be kei­nes­wegs den Wunsch, ein Mis­an­throp zu wer­den, zu­mal ich hof­fe, mei­ne For­schun­gen kön­nen ein Heil­mit­tel ge­gen den epi­de­mi­schen Haß lie­fern, den wir ge­gen an­de­re un­se­rer Art emp­fin­den und der nun den Stoff aus dem die Lichtson­den-Al­li­anz be­steht, zu zer­rei­ßen droht. Denn da­für, das muß man ein­se­hen, kön­nen wir nicht dem Fahr­rad die Schuld ge­ben; nein, ganz be­stimmt nicht dem Fahr­rad …

 

Am fol­gen­den Mor­gen er­wach­te Prae­ger von hart­nä­cki­gem Klin­geln, ab­sicht­li­chem Rat­schen­las­sen der Gän­ge und dem Klap­pern ver­la­ger­ter Spei­chen. Als er sei­ne Zelt­la­sche hob, sah er da­vor ei­ne Ver­samm­lung von Renn­rä­dern, Dai­sy in ih­rer Mit­te, ei­ne Zu­sam­men­rot­tung wie ein Lynch­mob. Prae­ger merk­te, wie er sich asch­fahl ver­färb­te, und die schar­fe Sal­zig­keit, mit der ihm der Schweiß aus­brach, ließ sein Ge­sicht und sei­ne Sei­ten in Furcht schwim­men. Dai­sy ent­fern­te sich aus der Mit­te der an­de­ren Rä­der, blieb ste­hen, leg­te die Lenk­stan­ge an (bei­de En­den) und ließ sie dann mehr­mals nach vorn ru­cken, so daß sie auf ihn deu­te­ten. So­bald zwei oder drei Renn­rä­der die­se Ges­te wie­der­hol­ten, be­griff er – und war heil­froh dar­über –, daß sie nicht die Ab­sicht heg­ten, ihn aus­ein­an­der­zu­neh­men, son­dern wünsch­ten, daß er sie auf ei­ne wich­ti­ge mor­gend­li­che Rad­tour be­glei­te. „Al­so gut, ein­ver­stan­den“, sag­te er, „ich kom­me mit.“ Der Zwei­sit­zer ge­stat­te­te ihm so­fort, das Bein über den Rück­sitz zu schwin­gen, und Prae­ger ent­fern­te sich auf ihm vom La­ger­platz, an­ge­führt durch ei­ne Grup­pe von Rä­dern in kräf­ti­gen Lack­far­ben, Rot, Grün, Gelb und Blau. Über einen der von Gras durch­bro­che­nen, „as­phal­te­nen“ Fahr­rad­pfa­de Drai­si­en­nes jag­ten sie da­hin, der Wind teil­te sich um Prae­gers steif auf­ge­rich­te­ten Ober­kör­per und zog die üb­ri­gen Renn­rä­der im Luftsog mit, der da­bei ent­stand. Schließ­lich spran­gen sie, die Schläu­che ge­dehnt, un­ter Ge­schnur­re der Spei­chen und in­dem ih­re Rah­men in der Son­ne auf­blitz­ten, in die freie Sa­van­ne selbst und saus­ten ost­wärts, oh­ne sich vom gra­si­gen Un­ter­grund ab­schre­cken zu las­sen. Ge­gen Abend er­reich­ten sie ei­ne Land­zun­ge, von der aus man über einen schma­len Strand aus­bli­cken konn­te, und dort sah Prae­ger im letz­ten Licht des Ta­ges, wie We­sen sei­ner Art ei­ne An­zahl ei­ner pri­mi­ti­ven Gat­tung von Drai­sies (es han­del­te sich um Zwei­rä­der mit Tret­brett­an­trieb) zu­sam­men­trie­ben und auf ei­ne aus Fer­tig­tei­len am Ufer er­rich­te­te Trans­mit­ter­platt­form scheu­chen. Von die­ser Platt­form aus trans­mit­tier­te man die­se plum­pen, arg­lo­sen Ve­hi­ke­l­ide­al­for­men mit ei­ner trag­ba­ren Trans­mit­te­r­ein­heit vom Pla­ne­ten fort, und die Be­die­nung der Ein­heit er­folg­te in den Hän­den ei­nes kalt­schnäu­zi­gen Preß­ban­den-Chefs, ei­ner un­ter­setz­ten Ge­stalt, de­ren zwei­fel­los sym­bo­li­scher schwar­zer Um­hang wie ei­ne ver­rück­te Fle­der­maus im Wind des Mee­res flat­ter­te. ‚Skla­ven­jä­ger’, er­kann­te Prae­ger auf An­hieb. ‚Skla­ven­jä­ger, die mit Fahr­rä­dern ihr schmut­zi­ges Ge­schäft ma­chen.’ Dai­sy und die Zehn­gang-Renn­rä­der, be­griff er, hat­ten ihn an die­sen Ort ge­bracht, da­mit er et­was un­ter­näh­me, sie wünsch­ten, daß er ge­gen die­se Un­ge­heu­er­lich­keit ein­schritt, die Mit­glie­der sei­ner Spe­zi­es hier be­gin­gen. Al­so stieg er ab, trat dicht an den Rand des Fel­sens, auf dem sie ge­hal­ten hat­ten, und schrie „Auf­hö­ren!“ in den Wind. „Sie da, so­fort auf­hö­ren!“

 

Im Erd­stan­dard­jahr 2677 (schrieb Prae­ger ei­ne Wo­che spä­ter) sind auf der Pla­ton­schen Norm­welt Drai­si­enne meh­re­re Gat­tun­gen von Fahr­rä­dern durch die Skla­ven­jagd aus­ge­rot­tet wor­den. Von die­ser Welt sind das Tret­brettzwei­rad, das Schwen­geld­rei­rad, das Bam­bus-Tou­ren­rad so­wie die Ori­ent-Rik­scha be­reits völ­lig ver­schwun­den. Mit je­dem Tag drin­gen die un­barm­her­zi­gen Wil­de­rer wei­ter land­ein­wärts vor, und es macht kaum einen Un­ter­schied aus, daß sie ih­re Beu­te nicht auf der Stel­le tö­ten, son­dern sie von Drai­si­en­nes Ober­flä­che be­a­men, um zu ver­su­chen, ih­re Tt- und Sk-Ka­pa­zi­tä­ten kom­mer­zi­ell zu ver­wer­ten.{13} Ich be­fürch­te, nichts­de­sto­trotz wird das end­gül­ti­ge Re­sul­tat die voll­stän­di­ge Aus­rot­tung sein. Au­ßer­dem furchte ich, daß die Leu­te, die die­sen un­aus­bleib­li­chen me­cho­lo­gi­schen Völ­ker­mord be­ge­hen, Agen­ten der­sel­ben Be­hör­de sind, die ur­sprüng­lich mich nach Drai­si­enne ge­schickt hat, da­mit ich die Drai­sies stu­die­re.{14} Im­mer­hin sind sie näm­lich an dem Mor­gen hier ein­ge­trof­fen, nach­dem ich die ers­ten Ab­schnit­te mei­ner Ge­schich­te des Fahr­rads per Lichtson­den-Mit­tei­lung wei­ter­ge­reicht hat­te; und trotz mei­ner wie­der­hol­ten Bit­ten um Hil­fe ist von der Lichtson­den-Al­li­anz, seit die­se Schur­ken hier ma­te­ria­li­siert sind und ei­ne ei­ge­ne Trans­mit­ter­platt­form er­rich­tet ha­ben, kei­ner­lei Un­ter­stüt­zung ein­ge­trof­fen. Auf mich wol­len die Wil­de­rer nicht hö­ren und ich – wie sie ver­mut­lich ganz ge­nau aus mei­ner Per­so­nal­ak­te wis­sen – brin­ge es nicht fer­tig, Ge­walt ge­gen sie an­zu­wen­den. Un­ter­des­sen zei­gen Dai­sy und die Renn­rä­der mir un­er­bitt­lich das kal­te Rück­licht, Aus­druck ge­recht­fer­tig­ter Ver­ach­tung, und ich spü­re, wie sich in mir mein all­zu mensch­li­ches Ner­ven­sys­tem auf­trennt wie ein fa­den­schei­nig ge­wor­de­nes Ge­flecht von Träu­men. Das ist tat­säch­lich ein schwar­zer Tag für die Xe­no­bio­lo­gie und Roald Prae­ger. Das ist wahr­haf­tig ein schwar­zer Tag in der Ge­schich­te des Fahr­rads …

 

Als er am sel­ben Nach­mit­tag das Zelt ver­ließ, be­merk­te er, Dai­sy war ver­schwun­den. Hat­te sie ihn ver­las­sen? War sie ge­fan­gen und auf ei­ne Welt der Al­li­anz trans­mit­tiert wor­den? Die Renn­rä­der, die sich stets un­term „Af­fen­brot­baum“ ge­tum­melt hat­ten, wa­ren auch fort, ge­nau­so die leb­haf­ten Ein­rä­der, die ihn oben in den Äs­ten häu­fig mit ih­ren Kunst­stück­chen un­ter­hal­ten hat­ten. Von der gan­zen klei­nen Her­de Zehn­gang-Fahr­rä­der (nicht „Ru­del“, wie er sich im­mer wie­der ver­deut­lich­te, denn die­ser Be­griff war den Ge­schöp­fen ei­ner völ­lig an­de­ren Spe­zi­es zu­ge­ord­net) wa­ren nur noch zwei ge­schmei­di­ge, lack­schwar­ze Rä­der zu­rück­ge­blie­ben, die wie zum Sprung ge­duck­te Leo­par­den auf der Mat­te vor sei­nem Zelt lau­er­ten. „Was wollt ihr?“ frag­te Prae­ger, den Furcht pack­te. „Was gibt’s denn?“ Er kam bald da­hin­ter, daß die Fahr­rä­der woll­ten, er sol­le sie be­glei­ten, ihm aber um kei­nen Preis er­lau­ben moch­ten, einen ih­rer Sät­tel zu be­stei­gen. Wäh­rend die Abend­däm­merung her­ab­sank, muß­te er zwi­schen den bei­den mit­ter­nachts­schwar­zen Renn­rä­dern mit­lau­fen, als wä­re er ein Ab­ge­ur­teil­ter auf dem Weg zum Gal­gen. ‚Und das bin ich auch’, sann er. ‚Haar­ge­nau das bin ich! Denn sie brach­ten ihn aus der Ebe­ne in hö­her ge­le­ge­ne Be­rei­che, näm­lich hin­auf zu der schroff zer­klüf­te­ten Kup­pe, die Prae­ger Ngàje Ngài ge­nannt hat­te, er­klom­men mit ihm die mit Fels­bro­cken über­sä­ten Ser­pen­ti­nen, die im Zwie­licht em­por zu Drai­si­en­nes Haus Got­tes führ­ten. Ein­mal im Ver­lauf des

Auf­stiegs hob er be­stürzt den Blick, sah einen selbst er­schro­cke­nen Ptero­cy­cle hoch dro­ben im Wind schwe­ben, und sein Schat­ten glitt über Prae­gers Ge­sicht, ehe er flucht­ar­tig hin­ter ei­ne Fels­bas­ti­on au­ßer Sicht se­gel­te. Auf der Berg­kup­pe lie­ßen die Renn­rä­der Prae­ger al­lein. Sie wen­de­ten und flitz­ten da­von in die Dun­kel­heit, die un­ten das Land über­flu­te­te. Als er von ei­nem Fels­sims der Kup­pe in ein schma­les, von Gra­nithän­gen be­grenz­tes Tal hin­un­ter­schau­te, sah der Xe­no­bio­lo­ge die ge­bleich­ten, ent­stell­ten Über­res­te von ei­ner Mil­li­ar­de to­ter Fahr­rä­der; er sah den Fahr­rad­fried­hof al­ler ab­ge­nutz­ten und un­brauch­ba­ren, voll­kom­men un­voll­kom­me­nen Ve­hi­ke­l­ide­al­for­men, die Drai­si­enne je­mals be­wohn­ten – denn auch sie, hat­te es den An­schein, wa­ren sterb­lich. Auf die­se Wei­se wür­dig­ten Dai­sy und die Renn­rä­der, ob­wohl sie Prae­ger als Ver­tre­ter der Mensch­heit mit ih­rer letzt­end­li­chen Schick­sals­prü­fung kon­fron­tier­ten, sei­ne per­sön­li­che Schuld­lo­sig­keit an ih­rer un­frei­wil­li­gen, all­um­fas­sen­den Ver­brin­gung auf die Wel­ten der Al­li­anz; wäh­rend sie selbst ih­rem Schick­sal ent­ge­gen­gin­gen, er­laub­ten sie ihm, auf die­ser er­ha­be­nen Fels­flä­che ei­nes Ber­ges zu ster­ben, im An­ge­sicht der Grab­stät­te ih­rer auf ewig wie­der teil­wei­se in­tui­ti­vier­ten Ge­fähr­ten. „Ach, Po­ly­bi­ces“, sag­te Prae­ger laut, „mei­ne Er­he­bung an die­sen Ort ist ei­ne Ana­ba­sis, die dei­ner gleich­kommt, ein Auf­stieg in ewi­ge An­ony­mi­tät.“ Und ob­wohl er sich zu­frie­den­gab, mach­te er mit dem Sam­meln von Ma­te­ri­al und dem For­mu­lie­ren sei­ner Kom­men­ta­re wei­ter, wäh­rend er an Er­schöp­fung und Hun­ger starb …

 

Zu­min­dest in ei­nem Fall (schrieb Prae­ger im Geis­te und ent­schied, das sol­le der letz­te Ab­schnitt sei­ner Ge­schich­te des Fahr­rads wer­den), hat ein Schrift­stel­ler das Fahr­rad als Me­ta­pher für den Tod be­nutzt.{15} Das ist aus­ge­spro­chen un­fair so­wohl ge­gen­über dem We­sen wie auch dem Ve­hi­kel die­ser Ana­lo­gie – um es ein­mal so aus­zu­drücken –, denn ei­ner­seits hat das Fahr­rad nur sehr we­nig be­deu­ten­de dich­te­ri­sche Wer­ke in­spi­riert, und an­de­rer­seits war der Tod nie ein so be­lieb­tes Fort­be­we­gungs­mit­tel wie das Fahr­rad.

 

Die Agen­ten der Lichtson­den-Al­li­anz schaff­ten es, je­den ein­zel­nen Ein­woh­ner Drai­si­en­nes von dem Pla­ne­ten zu ver­frach­ten und zu Wu­cher­prei­sen zu ver­kau­fen. Ein­mü­tig ver­schrot­te­ten die Men­schen ih­re me­cha­ni­schen Fahr­rä­der. Die or­ga­ni­schen Fahr­rä­der ge­die­hen in der Ge­fan­gen­schaft je­doch nicht be­son­ders gut und wei­ger­ten sich, ih­re Tt- und Sk-Ka­pa­zi­tä­ten für die Auf­ga­ben ein­zu­set­zen, die ih­re hab­süch­ti­gen Ei­gen­tü­mer von ih­nen ver­lang­ten. Bin­nen drei Jah­ren ir­di­scher Stan­dard­zeit wa­ren sie – vom pri­mi­tivs­ten „Fuß­gän­ger-Ste­cken­pferd“ bis zum aus­ge­feil­tes­ten, strom­li­ni­en­för­mi­gen Zehn­gang-Fahr­rad – al­le­samt tot. Et­was spä­ter barg man von Drai­si­enne Prae­gers Hab­se­lig­kei­ten und stell­te sie den Ver­ant­wort­li­chen in der Zen­tra­le zu. Ei­nes Mor­gens brach­te in der Ver­wal­tungs­ab­tei­lung der Al­li­anz-Kom­mand­o­be­hör­de ein Un­ter­ge­be­ner ein zer­fled­der­tes No­tiz­buch ins Bü­ro sei­nes Vor­ge­setz­ten. „Sir, hier ist Roald Prae­gers ‚Ge­schich­te des Fahr­rads’“, mel­de­te er merk­lich un­si­cher. Wor­auf sein Vor­ge­setz­ter, in­dem er auf­blick­te, zer­streut mit der Fra­ge ant­wor­te­te: „Was ist ein Fahr­rad?“{16}