Reinmar
Cunis
Ogun für einen Weißen
In das hohle Pfeifen der Triebwerke hinein räusperten sich die Bordlautsprecher.
„… landen wir in wenigen Minuten auf dem Flughafen von Mombasa. Bitte legen Sie Ihre Sitzgurte wieder an und stellen Sie auch das Rauchen ein, sobald die Zeichen über Ihnen aufleuchten. Am Zielort herrscht zur Zeit klares Wetter mit Temperaturen um 30 Grad …“
Cord Fenter genoß Wärme und Sonne im Vorgefühl, streckte seine taub gewordenen Beine von sich und schloß die Augen, der große Urlaub begann.
„Dreißig Grad!“ wiederholte er. „Sonne – Wärme – klarer Himmel …“ sang er, räkelte sich, noch immer ätzte der schale Geschmack von Malariatabletten seinen Mund.
Die beiden Kinder preßten ihre Nasen gegen die Scheiben, schrien „Da! Die Küste!“ und „Sieh! Die Insel! Die vielen Häuser! Der Damm zum Festland!“
„Mombasa!“ sagte Fenter feierlich.
„Schade“, meinte die achtjährige Christine, „ich dachte, da gibt’s einen echten Negerkral.“
„Hochhäuser. Autos. Eisenbahnschienen.“ Cord junior war enttäuscht; er war sieben und liebte Elefanten.
Das Flugzeug näherte sich rasch der sattgrünen Ebene, weitausladenden Palmen und niedrigen, grünen Dächern, und grün waren auch das Meer und die hohe Luft über dem Horizont.
„Wart ab!“ sagte sein Vater lächelnd, die Augen noch immer geschlossen. „Du wirst sie erleben, deine Löwen und Elefanten und die buntbemalten Wilden in den Krals.“
„In den Tourist-Informationen steht, man darf die Eingeborenen nicht fotografieren“, sagte Carola Fenter schrill, sie schwitzte vor Aufregung, ihre buntscheckige Bluse spannte sich feucht über die üppige Figur.
In diesem Augenblick sah Kwa-n-Sana die Gesichter, schattenhaft flach in den rissigen Spuren des Lehms, seine Lider brannten, ein Hauch von Buschkraut und versengten Löwenhaaren dünstete ihm entgegen. Starren Blicks hockte er auf dem Boden, die faltigen, elfenbeingeschmückten Lippen geöffnet, in der linken Hand das leere Hörn, mit der rechten berührte er sein Stirnband. Barfuß und stumm hockte er auf der ausgedehnten, versteppten Ebene, sein dürrer Körper stach spitzig durch den staubroten Kitoi, er hockte und rührte sich nicht und sah die Gesichter.
Röhrend setzte die Urlaubermaschine auf der Landebahn auf, rumpelte der Halteposition zu, von der Decke quoll Musik herab, Fenter sang mit.
„Mombasa!“ hieß sein Text; elf Monate hatte er im Versicherungsbüro hinter einem Schreibtisch gehockt, elf Monate Zahlen eingetippt und Computer abgefragt, Kaffee getrunken und Sportberichte gelesen, und sonntags war er auf den Fußballplatz gepilgert. Das alles hatte er vor sieben Stunden in dämmrigen Regenschauern hinter sich gelassen, die SONNE KENIAS wartete auf ihn, er sang, sein müdes Gesicht rötete sich, zeigte den papiernen Glanz von Pauschalreiseprospekten.
Seine Frau Carola drängte ihm bereits Handkoffer und Filmkamera auf, sie war nervös, voll zupfender Unruhe und mürbe wie ein zerschlissenes Wischtuch, halbtags nägelkauend im Büro und danach hinter den Schularbeiten der Kinder, nägelkauend auch, und viel Regen, der ihren Ärger noch vermehrte.
Jetzt platzte die Sonne durch den geöffneten Ausstieg, die Urlauber stelzten hinaus.
„So viele Fahnen!“ staunte das Söhnchen über den prächtigen Schmuck des Flughafengebäudes.
Die Tochter sagte: „Sieh mal, sogar einen roten Teppich für uns!“
Ein Mann neben Fenter lachte. Teppich und Fahnen seien für den Minister, nicht für die Urlauber, belehrte er sie, der Entwicklungshilfeminister aus Bonn sei zum offiziellen Besuch in Kenia und vor einer halben Stunde, von Nairobi kommend, in Mombasa gelandet. Fenter murmelte: „Verschenkt hier wieder unsere Steuergelder.“
Die bunten Flaggen hingen schlaff im gleißenden Nachmittag, schwül die Luft unter Dächern und Markisen, in der Abfertigungshalle tropfte eine Empfangsdurchsage ungehört herab.
„Was …?“ fragte Carola.
„Waikiki-Hotel, Bus 3“, wiederholte Cord junior laut.
Schwül war auch die Luft in dem neuen, aus Deutschland importierten Fahrzeug – und bis zum Hotel noch eine Stunde. Die Ebene, die an den getönten Fenstern vorbeizog, zeigte sich nun nicht mehr so sattfarben wie von oben, dünn und staubig waren das Gras und die niedrigen Häuser und die Palmen, und die Luft über dem Horizont flirrte. Die Stunde dehnte sich, dann, endlich, die langgestreckten Reihen der Hotelzimmer, der Empfangstrakt, das Ausladen, die Duschen.
In der Nacht sanken zwar die Temperaturen um einige Grad, aber die Schwüle blieb, die fremde, tropische Luft stülpte sich wie eine Glocke über die Neuangekommenen, fahl und fettig glänzte der Mond.
Kwa-n-Sana hatte sich erhoben, die Aschenreste ringsum sorgfältig aufgesammelt und die Spuren seiner Zehen verwischt. Hier über der trockenen Savanne war die Luft klar, der Mond klein und grell, die Nacht voll katzenhafter Geschmeidigkeit. Der Mann schritt behend und geräuschlos voran, dem fernen Dorf am Rand der Hochebene entgegen.
Als sich der Horizont rötete, sah er das Tal und den kleinen Wald, auch die Hütten, er blieb stehen und wandte sich den Sonnenstrahlen zu und verneigte sich.
DIE SONNE KENIAS, blinzelte Fenter in diesem Augenblick und rekapitulierte den Prospekttext, TRAUMURLAUB AM INDISCHEN OZEAN. IDYLLISCHE, RUHIGE GEGEND, HOTEL MIT FAMILIÄREM CHARAKTER, ABENDS AUCH UNTERHALTUNG, UNTERKUNFT FÜR 180 GÄSTE, ALLE ZIMMER MIT WC UND DUSCHE, BALKON, AUF WUNSCH MIT KLIMAANLAGE. WASSERSPORTMÖGLICHKEITEN, TAUCHEN, SCHNORCHELN, SEGELN, SURFEN, HOCHSEEFISCHEN. AUSSERDEM FOTOSAFARIS. ERLEBEN SIE LAND, LEUTE UND DIE HERRLICHE TIERWELT.
Fenter sprang summend aus dem Bett, REICHE VEGETATION, MALERISCHER SANDSTRAND, er betrachtete die lange Kette der Hotelzimmer, die leere Terrasse, auf der weiße, zweirädrige Sessel herumstanden, eine Bierdose rollte am Rand der wenigen Stufen, die zur Bucht hinabführten, SÜSSWASSERSCHWIMMBAD, RUSTIKALER GRILLROOM, Fenter fühlte sich unausgeschlafen, hatte keinen Appetit, auch Carola hatte die ganze Nacht gewühlt, ihr langes, blondes Haar klebte auf den Kissen. Nur die Kinder, schweißglänzend, lagen still.
SICHERE BUCHT, SPIELMÖGLICHKEITEN, WEITES, 50000 QM GROSSES GELÄNDE. Mit der Sonne kam frische Luft vom Meer herüber, im zwielichtigen Morgen sah Fenter den Mond verblassen. Ihm war, als schaukelte er noch immer in zwölftausend Metern Höhe.
Hier, in der Weite der Savanne, unter dem wispernden Himmel, war Kwa-n-Sana aufgewachsen, zwischen den Geistern der Nacht und der Kraft des Tags. Während er die Augen schloß und das Stirnband mit der rechten Handfläche berührte, rief er um Schutz für das Dorf und die zwölf Familien, die hier mit ihm lebten.
Es waren Kikuju, ein Volk von Bauern, die seit alters her östlich der Großen Königreiche gelebt hatten. Sie waren nie mächtig gewesen, doch durch harte Arbeit wohlhabend geworden, ihr Land diesseits des Viktoria-Sees war gut und fruchtbar, die Nachbarn hatten ihre Märkte gesucht. Doch als auf den alten Handelsstraßen zwischen Hochland und Küste die Eisenbahn gebaut wurde, ging es mit dem Frieden der Kikuju zu Ende. Weiße Kolonisten vertrieben sie von ihren Äckern und Weiden, zerstörten ihren Handel und nahmen ihnen die Selbständigkeit. Nun machte die Imperial East Africa Company die Gesetze, regierte und richtete, und die zähen, stillen Kikuju zogen sich auf das trockene, unfruchtbare Savannenland zurück und schwiegen.
Kwa-n-Sana war in diesem Schweigen groß geworden, kannte die Not seines Volkes und die unstillbaren Wünsche, aber auch den Rausch der afrikanischen Befreiung, das Mau-mau des Löwen und die wilden Reden der politischen Führer.
In dieser Nacht, in der er die Gesichter gesehen hatte, war ihm klargeworden, daß das Schweigen zu Ende war. Der Große Rat würde zu ihm sprechen.
Kwa-n-Sana war der gewählte Orkoyote des Dorfes, der Zauberer. Seit drei Tagen hatte er seinen Körper auf diese Begegnung vorbereitet, hatte nichts gegessen und lange Wanderungen durch das Land der Kikuju gemacht. Nun war der Rat der Ahnen zusammengetreten, Kwa-n-Sana ins Dorf zurückgekehrt.
Die Häuser liegen noch in tiefem Schlaf, vierzehn Hütten, im Norden das Gemeindehaus, ein größerer Lehmbau mit mächtigen Pfählen, im Süden die Getreidewanne, der Dorfaltar und das Haus des Zauberers. Die langen Schatten des frühen Morgens zeichnen das Dorf reliefartig nach, die Runddächer, den spitzen Altarstein, die Dorfmauer, dahinter die Gärten und den Wald.
Zwei Häuser im Dorf stehen leer, Kwa-n-Sana schreitet auf eins davon zu, die Augen geschlossen, die rechte Handfläche noch immer am Stirnband.
In der engen, finsteren Hütte bleibt er stehen und wartet, die Zehen nach Osten gestreckt, den Arm angewinkelt, plötzlich bricht der erste Strahl der Sonne durch die Spitze des Eingangs, im roten Schein erblickt der Orkoyote die Versammlung.
Du hast uns gerufen, sagen die Geister.
Er antwortet: Wir sind in Not.
Sie sagen: Die Kikuju verlassen ihre Häuser. Die Dörfer sterben.
Sie sagen: Zu lange haben die Bauern auf den Äckern gearbeitet und kaum geerntet, ihre Kraft ist geschwunden.
Sie sagen: Der trügerische Glanz der Städte hat sie ihnen geraubt.
Sie hoffen auf schnelle Arbeit in den Fabriken und auf modernen, europäischen Plunder, sagen sie. Unsere Führer holen selbst das Elend ins Land, die Industrie und den Tourismus.
Kwa-n-Sana hört ihnen zu und nickt.
Die Geister sagen: Die Kikuju verlassen ihre Dörfer und gehen in den Slums zugrunde.
Sie sagen: Heute hat die East Africa Company viele Namen, aber noch immer zehrt sie unsere Kräfte aus.
Wir müssen das Schweigen beenden, sagen die Geister. Wir wollen ein Zeichen setzen.
Kwa-n-Sana nickt und wartet.
Ein Zeichen, das die Fremden verstehen, lautet der Rat.
Und wieder blitzt der rote Strahl der Sonne in die Hütte, und Kwa-n-Sana sieht den Speer herabfallen.
Die Fenterfamilie frühstückte im hohen, afrikanisch gestalteten Grillroom des Hotels. Totems schmückten die hölzernen Wände, grellrote Masken, billige Touristenware, an der Reception auf Bestellung erhältlich.
„Wie im Völkerkundemuseum“, sagte Carola und schlürfte dabei den britischen Tee, seichte Musik rieselte aus der hölzernen Decke.
TÄTIGEN SIE IHRE EINKÄUFE IN DEN VORMITTAGSSTUNDEN, fiel Cord der Prospekthinweis ein. Er saß da und starrte auf Brötchen und Marmelade und griesgrauen Porridge, sein Hals war trocken, hitzig die Stirn, er mochte nichts zu sich nehmen. Durch die hoch verglaste Front des Raums brütete die Sonne herein, er blinzelte, die Luft war stickig.
„Ich muß mal raus“, sagte er und stand auf.
Carola wies ihn ein: „Am Ende der Halle, drei Stufen links, da ist für HERREN.“
„Nein“, sagte er, „frische Luft brauche ich.“
Vom Ozean kam leichter Wind herüber, die Schwüle der Nacht war nicht mehr, obwohl das Thermometer bereits wieder 31 Grad zeigte. Ein paar Frühaufsteher saßen schon mit heimatlicher Boulevardzeitung am Swimmingpool, aus den Zimmerfenstern hinter ihnen lüftete die erste Nacht. Der Schlaftrakt des Hotels versperrte Cord Fenter zum Land hin die Sicht; wenn nicht die bräunlichdürren Palmen auf der Terrasse gewesen wären, hätte sich die Anlage mit einer Neubausiedlung am Rande europäischer Großstädte verwechseln lassen. Auch die öden Kinderspielplätze, eingerahmt von Garagen, fehlten nicht, und die sorgsam gesäumten, kurzgeschorenen Wiesen vor den Häusern. Fenter atmete tief ein, schlenderte dann langsam und unschlüssig am Swimmingpool entlang, verließ schließlich über einen Feldweg das Areal des Hotels und wandte sich dem Meer zu. Der Sand des langgestreckten, weißen Strandes war noch kühl, er zog sich die Turnschuhe aus und trug sie zwischen den Fingern, der klebrigsalzige Boden kitzelte seine Fußsohlen.
Kwa-n-Sana tritt aus der Hütte, klatscht in die Hände und wartet. Da kommen aus allen Häusern die Männer, bilden vor ihm einen Halbkreis und blicken ihn erwartungsvoll an. Von der Savanne weht der Ruf des Löwen herüber.
Das Dorf steht und schweigt, selbst die Kinder sind still.
„Der Speer fällt aus den Himmeln!“ sagt der Orkoyote.
Erschrecken. Die Frauen wenden sich ab, die Männer blicken furchtsam zu Boden. Der Zauberer hat den Speer gesehen, das bedeutet nichts Gutes, sie hatten eine tröstlichere Mitteilung erhofft. Was nützt der Speer? Er bringt kein Wasser auf den trockenen Boden, läßt die Rinder nicht kalben, der Speer wehrt nicht einmal Krankheiten ab.
Er verlangt Entbehrung und Verfolgung; keiner der Männer wünscht sich, der Arm des Speeres zu werden. So stehen sie stumm und warten und schauen dem dürren, hoch aufgerichteten Orkoyoten nicht ins Gesicht.
Doch Kwa-n-Sana wählt keinen von ihnen aus; nach langen Minuten zähen Wartens sehen die Männer ihn wieder in der leeren Hütte verschwinden, überrascht, erleichtert gehen sie auseinander, und erst auf den Feldern hört man ihr Lachen.
UNTERNEHMEN SIE KEINE AUSFLÜGE AUF EIGENE FAUST, erinnerte sich Fenter an die Reisebroschüre, er grinste, ich schau mir doch nur den Strand an, nicht wahr? Er wanderte am Rand des Meeres entlang und fühlte, wie sein Kopf frei und klar wurde, weit wie der anmutig wellenlose Ozean, der hellgrüne Schimmer über dem Land, der menschenleere Sand. Endlose Ruhe, als ob sich seit Bestehen der Erde nichts geändert hätte, Stille, als ob die Zeit abhanden gekommen sei. Nichts rührt sich, dachte Fenter und bemerkte plötzlich, daß auch er selbst starr war wie eine Puppe. Er wollte die Augen zusammenkneifen, den Fuß voransetzen, doch wie angehalten war der Ort, an dem er stand.
Und dann schien sich doch etwas zu verändern: Die Welt schrumpfte – oder wuchs er? Er dehnte sich aus, aber ein anderer, stofflicher Teil von ihm blieb zurück: Er sah sich am Strand stehen, und gleichzeitig wuchs er weit über das Land.
Das Meer hatte in der Nacht schmale Pfützen im Sand zurückgelassen, eine dünne Spur olivgrüner Ablagerungen markierte den höchsten Wasserstand, der starre, zurückgelassene Fenter wurzelte unmittelbar an dieser Linie. Und plötzlich war ein Vogel vor seinen Füßen, trippelte in sonderbaren Bewegungen um sich selbst und spreizte das Gefieder, so daß die Flügelspitzen in die Pfützen tippten.
Na also! sagte der schwebende Fenter erleichtert und nickte dem staubroten Vogel zu, es ist doch noch ein Wesen außer mir auf der Welt …!, aber seltsamerweise hörte er sich selber nicht. Er sah den Vogel tanzen und doch keine Bewegung, wie aneinandergehackte, schnell aufeinanderfolgende Fotos wirkte der Tanz des Tieres, und von einem Augenblick zum anderen war der Vogel wieder verschwunden, blaß dehnte sich die Zeitlosigkeit zwischen Fenter und dem Strand.
Dann hatte die Blässe zugenommen, das Meer, der Sand, die Silhouette des Hotels waren nicht mehr; kaum konnte er noch die weißen, riesigen Felsbrocken unter sich erkennen. Als ob die Sonne dünn und milchig wird, so versickerten Licht und Himmel, Fenter fühlte sich zu einem riesigen, farblosen Netz auseinandergezogen, nichts als Felssteine unter und Wassertropfen über sich, er schwebte in einem Fetzen Ewigkeit. Nach und nach konnte er ringsum etwas mehr erkennen, ein vages, reliefartiges Foto Ostafrikas zeichnete sich ab, und er rührte mit den Schultern an den Kilimandscharo und mit den Zehen an den Viktoriasee, und als er genau hinschaute, sah er in der kahlen, weiten Ebene unter sich den staubroten Vogel tanzen.
Doch schon wurde es dunkler und dunkler, der Himmel schloß sich als strohigschwarze Kuppel über ihm, er schrumpfte wieder und sackte schwer zu Boden, das Netz, das er gewesen war, verknotete und ballte sich zusammen zu einem unbeweglichen Stein, ohne Kopf, ohne Arme, Beine, Augen, Finger, und wieder war nichts außer ihm in der Welt.
Plötzlich dann: Bewegung, Geräusche, Kopfschmerzen, Hunger, Fenter glaubte, den Vogel hinausflattern zu sehen, der dicht gewebte Vorhang schlug etwas zur Seite, und grelles Sonnenlicht stach herein, jemand lachte draußen, ein Baby kreischte, von der Weide her war das vertraute Muhen der Zebus zu hören.
„Or-d-Fente, was ist mit dir?“ fragte Carola, er rieb sich die Augen, sprang auf und fiel stöhnend aufsein Lager zurück, sein Hirn schwappte wie lehmiger Brei.
„Was soll sein?“ brummte er und hielt sich den Kopf, in seinen Ohren dröhnten nun all die Geräusche, die ihm zuvor abhanden gekommen waren.
Seine Frau sagte tadelnd: „Die anderen sind längst auf dem Feld. Und heute früh hat eine Versammlung stattgefunden, aber ich habe dich einfach nicht wecken können, wie ein Stein hast du geschlafen.“
Eine Versammlung?
„Der Orkoyote hat etwas angekündigt, ich konnte es nicht verstehen, und die Männer wollten nicht darüber reden“, sagte sie und ging wieder hinaus und ließ dabei den Vorhang zurückgeschoben.
Eine Versammlung beim Orkoyoten? Fenters Hirn konnte keinen klaren Gedanken fassen, der seltsame. Alptraum umspann es noch mit klebrigen Fäden.
Carola kam zurück und erinnerte ihn: „Du mußt die Pfähle im Garten richten. Bitte tu es heute.“ Sie trug das bunte, wadenlange Hemd, das sie sich zum Urlaub gekauft hatte, um ihren Hals hing eine Kette aus glitzernden Platten, auf ihrem Kopf …
„Was ist mit deinem Haar?“ sagte er verwirrt.
Sie wies ihn zurecht: „Was soll mit meinem Haar sein?“ sagte sie gereizt. „Du weißt, daß ich gern Kopftücher trage.“ Sie runzelte ihre glänzende, ebenholzschwarze Stirn und fauchte: „Geh endlich in den Garten, du Faultier.“
Er trollte sich.
Draußen vor der Hütte wurde ihm wohler, die Welt war wirklich und vertraut, unter seinen Füßen heizte der lehmige, sonnengetrocknete Boden. Er stand unschlüssig, ob er zunächst noch etwas essen oder gleich in die Gärten gehen sollte, blickte die leere Dorfstraße entlang. Die Siedlung war nicht groß, die Häuser waren schmucklos und rund wie überall üblich, nur das Gemeindehaus ruhte breit auf kräftigen Baumstämmen. Vor ein paar Jahren hatten sie die Dorfmauer zur Savanne hin gebaut, um wilde Tiere abzuwehren, sonst war alles wie immer, seit seiner Kindheit hatte sich hier nichts verändert. Den Bauern fehlte das Geld, nicht einmal ein Radio konnte man sich leisten. Aber wozu auch, seufzte Fenter, all die großartigen Meldungen vom Fortschritt im Land, die darin zu hören waren, trafen für sie nicht zu, nicht für die Bauern der Steppengebiete. Ob ein weißer Gouverneur oder ein schwarzer Präsident in der Hauptstadt – hier im Dorf war das bestenfalls von theoretischer Bedeutung.
Neben Fenters Haus stand Mbises Hütte, seit zwei Jahren verlassen, er war mit seiner Familie in die Stadt gezogen, aber man wußte, daß er dort noch schlechter lebte als hier, mal hatte er Arbeit, mal nicht, die Lebensmittel waren teuer, seine Tochter …
Kwa-n-Sana hatte berichtet, sie sei Prostituierte geworden. Fenter erinnerte sich gut an das hübsche, runde Mädchen, Nadina hieß sie und war in der Mission getauft worden.
„Gut, daß du noch im Dorf bist“, sagte eine tiefe Stimme neben ihm; es war der Orkoyote.
„Hab’ verschlafen“, murmelte Fenter eilig.
Der Mann im staubroten Kitoi beugte sich nahe an sein Ohr, flüsterte: „Ich will dich sprechen, heute abend, allein.“ und tanzte davon, Fenter schien es, als spreizte er sein Gefieder.
Einen Augenblick lang starrte er ihm nach, die Worte des Zauberers hatten irgend etwas mit dem nächtlichen Traum zu tun, aber Fenter brachte es nicht fertig, seine Erinnerungen zu ordnen, sein Kopf dröhnte noch immer, und so vergaß er den Orkoyoten wieder und beschäftigte sich weiter mit der schönen Nadina.
Er arbeitete den ganzen Tag, langsam und lustlos, spürte keinen Appetit und wurde auch nicht gesprächig, als die Frauen in die Gärten kamen, den ganzen Tag über schien sein Hirn breiig und eingezwängt.
Als die Sonne die Wipfel des Wäldchens erreichte, ging er ins Dorf zurück, von der Weide kam sein Sohn zusammen mit den anderen Hütejungen, er hatte einen Solustab geschnitzt und zeigte ihn stolz, und Fenter lächelte. Der Junge war geschickt und klug, brachte aus der Missionsschule viel Lob mit, Fenter bildete sich ein, aus ihm könnte etwas Besonderes werden.
Und auch meine Tochter, murmelte er, sie redete mit ihren acht Jahren die Sprache der Fremden schon fast so gut wie ihr heimisches Suaheli. Da wird einem armen Bauern wie mir nichts anderes übrigbleiben, als eines Tages beide Kinder zur Hochschule nach Nairobi zu schicken, dachte er und seufzte glücklich. Sie werden studieren und fortgehen, und dann werden sie auf ihr kleines Dorf und ihre dummen Eltern herabsehen; da schau her, Mbise, ich bin auch nur ein kleiner Bauer gewesen, wie du.
Im Abendlicht färbte sich das Dorf rosa, der heiße Tag versank im Schatten der Häuser, Behaglichkeit breitete sich aus. Fenter streckte sich vor dem Eingang seiner Hütte aus und schloß die Augen, wie er es immer tat, aber heute entspannte es ihn nicht.
Der Orkoyote wartete auf ihn.
Die Hütte des Zauberers war kleiner als die anderen Häuser, eng und atemlos, Licht flackerte in einer blauen Lampe.
Kwa-n-Sana bat ihn, sich zu setzen, hockte sich selbst in den unruhigen Schein der Flamme und sagte sehr seltsame und unverständliche Dinge.
Fenter verstand nur soviel, er sei der Arm eines Speeres, und irgendwo habe der Orkoyote ihn als Auserwählten gesehen. Auch daß es ein besonderer Speer sei, vermutlich ein heiliges Symbol, begriff Fenter noch, doch erinnerte er sich nicht, jemals vorher von diesen Dingen gehört zu haben.
„Was werden wir mit dem Speer tun?“ fragte er vorsichtig. Kwa-n-Sana antwortete: „Ein Zeichen setzen.“
Fenter, nun völlig verwirrt, schwieg, hoffte, der Zauberer würde ihm die Zusammenhänge erläutern. Doch der saß starr da, wie entrückt, die Flamme in der blauen Lampe verdämmerte.
Plötzlich sprach Kwa-n-Sana, damals, vor fünf Generationen, hätten weiße Kolonialisten das Hochland gestohlen, die Kikuju seien in die dürre, kaum fruchtbare Steppe verdrängt worden, das Bauernvolk, früher wohlhabend, sei heute arm und ausgezehrt. Aber trotz aller Schwierigkeiten sei die Dorfgemeinschaft erhalten geblieben, die Tradition; die Regeln des Zusammenlebens und den Rat der Ahnen habe man befolgt.
„Doch jetzt, wo Kenia unabhängig ist und Handelspartnerzwischen Mächtigen werden will, sterben Tradition und Dorfgemeinschaft“, sagte er, „wir zerstören uns selbst.“
Die Erzählungen vom Hochland hatte Fenter parat, wie Legenden wurden sie von Eltern an die Kinder weitergegeben, er glaubte sie nicht so recht, eher schienen sie ihm dazu nützlich, die Vergangenheit zu vergolden.
„Das Hochland ist sicher gut und fruchtbar“, sagte er, „aber auch voller Schädlinge. Onchozerkose und Filarienkrankheit plagen die Farmen, und selbst wenn der Bauer verschont bleibt, ist die Arbeit kaum zu bewältigen. Hier sind wir arm, aber sicherer, ich glaube nicht, daß unsere Dorfgemeinschaft stirbt.“
Er wollte aufstehen und gehen, die Angelegenheit schien erledigt.
Doch der Orkoyote wies ihn jäh auf seinen Platz, zischte: „Unsere Krankheiten heißen Industrialisierung und Tourismus,“ und redete schnell und monoton auf Fenter ein, so als ob er eine Broschüre über Ostafrikas Probleme verläse. „Wir holen fremdes Kapital ins Land, aber das Geld dient nicht unserem Aufbau, sondern dem Reichtum der europäischen und amerikanischen Konzerne. Wir rufen Touristen mit viel Devisen an unsere Strände, aber von ihrem Geld müssen Hotels, Schwimmbäder, Flughäfen und Kraftwerke gebaut werden, die ihnen und nicht uns nützen. Uns selbst bleibt so gut wie nichts, kaum ein Fünftel nämlich, wir dürfen nur die Handlanger sein, die Fabrikarbeiter und Autobusfahrer, die Köche, Kellner und Kofferträger. Die Krankheiten heißen Industrialisierung und Tourismus, und immer mehr von uns werden davon befallen.“
Fenter konnte diesen verschrobenen Gedankenausgängen nicht recht folgen, Wirtschaftsaufschwung, Konjunktur, Deviseneinnahmen – das waren doch alles Begriffe, die positiv waren, nicht wahr?
Es fiel ihm nicht leicht, die richtigen Ausdrücke zu finden, schließlich kam ihm ein Text in den Sinn, der zu passen schien.
KENIAS PRODUKTIONSZIFFERN STEIGEN, DER EXPORT WIRD IMMER BEDEUTENDER, DIE PRODUKTIVITÄT LIEGT AN DER SPITZE ALLER AFRIKANISCHEN STAATEN.
Und dieser: AUCH DAS PROKOPFEINKOMMEN DER LANDBEVÖLKERUNG STEIGT, UND IN DEN STÄDTEN LEBEN DIE SCHWARZEN FREI UND REICH WIE EUROPÄER.
„Das ist nicht unser Leben!“ rief Kwa-n-Sana heftig. „Damals zwangen sie uns ihre Herrschaft, jetzt zwingen sie uns ihre Wirtschaft auf. Wieder dienen wir den Fremden, lecken ihnen die Hände und müssen uns in ihren Fabriken und Hotels quälen, und uns bleibt nichts als zerstörte Familien und verlassene Dörfer.“
Fenter strich sich über seine dünnen, schwarzen Locken und schwieg, er war Bauer, nicht Politiker, und der einzige, völlig unverständliche Satz, der ihm einfiel, lautete: WAIKIKI-HOTEL, BUS 3.
Er mochte ihn nicht sagen.
In der Hütte wurde es kalt, das Licht, fast schon erloschen, ließ groteske Schatten über die Wände zittern, wie ein Netz, dachte Fenter, wie ein schwarzes Netz, das sich zusammenzieht …
Kwa-n-Sana sagte: „Der Speer kommt uns zu Hilfe. Und du bist es, der ihn führen wird.“
GRILLROOM. ABENDESSEN ZWISCHEN 18 UND 22 UHR. ANGEMESSENE KLEIDUNG ERBETEN.
Fenter fühlte sich plump, als runder, glatter Stein, ohne Kopf, Hals und Gliedmaßen.
„Was soll ich tun, Kwa-n-Sana?“ fragte er.
Wieder hielt der Orkoyote eine umständliche, sehr politische Rede: „Das Unglück kommt von den Fremden. Sie sagen Hilfe und meinen Geschäft. Sie wollen Industrie und Wirtschaft in unserem Land fördern, aber die Gewinne daraus werden sie selbst einstecken. Unsere Regierung in Nairobi setzt eifrig Unterschriften unter diese Verträge und lädt alle Welt ein, noch mehr Verträge abzuschließen, und die Minister und Industrievertreter übertrumpfen sich gegenseitig mit ihren Angeboten.“ Er hob die Stimme. „Wir wollen aber das fremde Geld nicht, es verdirbt und zerstört uns. Wir müssen den Fremden sagen, daß wir es nicht wollen.“
Fenter, zögernd: „Wie können wir es ihnen sagen?“
Kwa-n-Sana erhob sich, breitete seine Arme wie Schwingen aus, seine kleinen Vogelaugen funkelten.
„Du wirst den weißen Minister töten, der gestern abend in Mombasa gelandet ist.“
Die Flamme der Lampe war nun ganz erloschen, doch der Kitoi des Zauberers loderte in der Dunkelheit.
Ein Blutopfer!
Fenter murmelte bleich: „Ich kann nicht, n-Sana, das nicht.“
Und dann sagte er völlig zusammenhanglos: „Ich möchte gern noch einen Spaziergang am Strand machen.“
Kwa-n-Sana schrie: „Du wirst den Speer führen, Or-d-Fente. Du bist auserwählt.“ Und Fenter hockte verstört in der Hütte des Zauberers und begriff nicht mehr, was mit ihm geschah.
Von draußen zirpte nächtliches Lied herein, zaghaft, leise, wie von Grasharfen, darunter grollte das Mau-mau des Löwen als ferner, verhaltener Donner. Kwa-n-Sana hatte sich wieder auf den Boden gekauert, saß abwesend und in sich gekehrt, als ob er nie mit Fenter gesprochen hätte, sein hellroter Kitoi wirkte jetzt schattenhaft grau.
Fenter floh aus der Hütte und rannte durchs Dorf, und erst draußen, an den Gärten, unter den spärlichen Palmen des Wäldchens, glaubte er zu begreifen, daß der Zauberer ein böses Spiel mit ihm getrieben hatte.
Den fremden Minister töten? Den Mann, der Hilfe und Unterstützung brachte? Dem es darum ging, die schwachen Völker zu stärken? Das konnte das Zeichen nicht sein, das der Rat der Ahnen von dem Orkoyoten erwartete.
Kwa-n-Sana war klug und stark, gewiß, er kannte Vergangenheit und Zukunft und alle geheimen Kräfte des Lebens, konnte Krankheiten erkennen und Mißernten abwenden, es gab nicht viele Zauberer, die sich mit ihm messen konnten – aber er war kein politischer Führer.
„Es ist unser Minister Ettlinger“, sagte Fenter laut, „unser Entwicklungshilfeminister, er verschleudert hier unsere Steuergelder, deshalb bringe ich ihn doch nicht um!“
Aber ich, Or-d-Fente, bin auserwählt, den Speer zu führen, am Spruch der Geister läßt sich nicht rütteln, wehe dem Kikuju, der sich gegen sie stellt!
Die Geister haben mir den bösen Traum geschickt, mich zu prüfen, sie haben verhindert, daß ich an der Versammlung teilnahm, schon heute früh war ich dazu bestimmt, Arm des Speeres zu sein.
Ergeben trottete er ins Dorf zurück, schlich an den Hütten entlang, die meisten Familien schliefen bereits. Schließlich blieb er stehen, seufzte, es gab keinen Ausweg.
Das Haus, vor dem er stand, ragte wie abgestorben in die schwüle Nacht, Mbise hatte hier gewohnt, ein stiller, fleißiger Bauer, verheiratet mit der ehrgeizigen Sarah, gestraft mit drei schnatternden Töchtern, Mbise war sein Freund gewesen.
Auch er hat getan, was er nicht gern tat, dachte Fenter und lugte in den Eingang, abgestandene Luft kroch ihm entgegen. Mbise war in die Stadt gezogen, weil alle ihm eingeredet hatten, er müsse reich werden.
„Mbise ist tot“, sagte Kwa-n-Sana.
Erschrocken sprang Fenter zurück – warum saß der Orkoyote in dem leeren Haus?
„Mbise hat sich selbst getötet.“
„Warum erschreckst du mich, n-Sana?“ fragte Fenter.
„Laß mich allein, bis ich die Kraft gefunden habe, dir zu folgen.“
„Mbise hat sich umgebracht, er wußte keinen Ausweg mehr. Sarah ist ihm fortgerannt, seine Tochter Nadina verkauft ihren Leib an Fremde, die beiden anderen Töchter hungern.“
Der Zauberer sprach mit monotoner Stimme und blickte Fenter nicht an.
„Mbise war dein Freund.“
Fenter schrie: „Ich habe ihm nicht helfen können! Ich habe ihn nicht halten können, als er wegzog! Was ist eine Freundschaft, wenn das Geld sie zerstört?“
Kwa-n-Sana stand neben ihm, flüsterte ihm ins Ohr: „Das Geld kommt von den Fremden!“ und verschwand in der Dunkelheit.
Carolas Stimme schnitt durch die Nacht.
„Or-d-Fente, wo treibst du dich herum?“
Sie schlug den Vorhang zurück, Licht fiel auf die lehmige Straße. Fenter blinzelte, wie aufgereiht wirkten die Häuser links und rechts, uniform und eckig, für einen Augenblick glaubte er, der Himmel über dem Dorf sei aus Holz, und auch der Flur, auf dem er stand.
Als er in die Hütte trat, schliefen die Kinder, stickig war die Luft, der Boden trocken wie krümelnder Polyesterschaum …
Was war das für ein Wort, durchfuhr es Fenter, ich weiß nicht, was Polyesterschaum ist, und doch kenne ich dieses Wort! Er fragte Carola.
Sie lachte. „Natürlich weißt du, was das ist“, sagte sie und nahm das Kopftuch von ihrem schwarzen Kraushaar, „du bist ein Spinner, Or-d-Fente, oder weißt du es wirklich nicht?“ Sie begann, ihre tief dunkle Haut mit einer Ölsalbe einzureiben. „Das sind diese großen weißen Kunststoffplatten, dieses Dämm-Material, denk doch mal nach, als wir die Kaffeemaschine kauften: Die war in Polyester verpackt.“ Der Duft des Öls verbreitete sich wie Weihrauch.
Er starrte sie an und hatte überhaupt nichts verstanden. Wann hatten sie jemals eine Kaffeemaschine gekauft, und was war das? Stellte man jetzt auf den Plantagen Kaffee maschinell her?
Sein ganzer Körper schmerzte, stöhnend preßte er die Hände aufs Gesicht, trotz der brütenden Wärme im Haus war ihm kalt.
„Ist dir nicht gut?“ hörte er Carola.
Kaffeemaschine. Polyesterschaum. Nadina. TÄTIGEN SIE IHRE EINKÄUFE IN DEN VORMITTAGSSTUNDEN.
„Weiß nicht, muß schlafen“, sagte er und fiel aufsein Lager, von irgendwoher klirrte Lachen durchs Dorf.
Minister Ettlinger. Export. Prokopfeinkommen, UNTERNEHMEN SIE KEINE AUSFLÜGE AUF EIGENE FAUST.
Als Carola sich niederlegte, schlief er bereits. Mitten in der Nacht weckte ihn der Orkoyote.
„Es ist Zeit. Komm.“
Fenter fährt auf, stolpert hinaus. „Nach Mombasa, jetzt?“ sagte er entsetzt.
Kwa-n-Sana antwortet nur: „Folge mir.“
Sie verlassen das Dorf, vorbei an den Gärten, am Wäldchen und den ausgedehnten Weiden, Fenter stapft zaghaft und schweigsam hinter dem Zauberer her, der Hochebene entgegen. Klar ist die Nacht, hohler Wind bewegt das Savannengras, n-Sanas staubroter Kitoi raschelt wie Brandung. Er wandert schnell in kräftigen, weit ausholenden Schritten, blickt sich nicht um, von seiner linken Schulter pendelt ein elfenbeinernes Hörn herab. Fenter hat Mühe mitzukommen, obwohl der Weg eben und schnurgerade ist, mehrfach fällt er in holpernden Trab, sein Atem geht stoßweise. Angst, aber auch Neugier erfüllt ihn: heute nacht – nach Mombasa – zu Fuß! Er ist noch nie in seinem Leben in der großen Hafenstadt gewesen, weiß nur, daß sie viele Tagesreisen fern liegt, ein lärmendes, menschenfressendes Ungeheuer jenseits der Steppe …
Jetzt tauchen im Licht des Mondes Felsbrocken auf, erst vereinzelt, wie hingewürfelt, dann größere Blöcke, eine skurrile, dämonische Landschaft voll steinerner, stummer Riesen, Gesichter wie Masken, wuchtige Körper, aufgereiht stehen sie da, wie zum Großen Rat versammelt, der blasse Mondschein gibt ihnen einen Hauch von Bewegung. Doch Fenter hat keine Zeit, sie zu betrachten, schon verschwindet n-Sana zwischen den Steinen und wandert auf ein Felsmassiv zu, das hinter den Megalithen in den westlichen Nachthimmel ragt. Ein mannsbreiter Spalt in der Wand führt hinauf in eine Schlucht, die sich gleich darauf zu einer Lichtung weitet, behend flattert der Zauberer hinauf, überwindet herabgestürzte Steine und metertiefe Risse, „Warte!“ keucht Fenter, verliert ihn aus den Augen, rutscht ab, versucht es wieder.
Als er den Orkoyoten einholt, hockt der schon mitten auf dem ebenen, kirchengroßen Platz im fahlhellen Licht des Himmels, der Vollmond neigt sich bereits dem Westen zu. Ringsum ragen Felswände schroff auf, kein Wind, kein Tierlaut ist zu hören.
Kwa-n-Sana hat den Elefantenzahn neben sich gelegt, ihm trockene Kräuter entnommen, die er nun zu einem Kreis streut; befiehlt Fenter, sich auf den Boden zu hocken, und umgibt ihn ebenfalls mit einem Kräuterkreis.
„Ein Ogun-Zauber?“ durchfährt es Fenter.
„Ogun!“ nickt Kwa-n-Sana. „Und jetzt schweig!“
Für wen diese Medizin? Bin ich wirklich krank? Will er mich von den quälenden Träumen heilen, den Wörtern, die mein Hirn verwirren?
Starren Gesichts steigt der Orkoyote in seinen Kreis, hüllt sich in den Kitoi, schließt die Augen und betet, eine Stunde vergeht, eine zweite, es wird Morgen.
Allmählich löst sich in Fenter die krampfende Angst, sein Kopf wird frei und leicht, mit dem Duft der Kräuter steigen die Gedanken auf und schweben in den frühen Morgen. Zunächst sieht er nur n-Sanas kauernde Gestalt, die kleinen, stechenden Augen, in denen sich die Schlucht, die Felswände, der weite, staubrote Himmel spiegeln, dann dehnt sich der Blick über das Felsmassiv hinaus, er sieht das karge, graugrüne Steppenland, Wälder, Wege und Dörfer, riesige Parks voller Wild, Löwen, Elefantenherden, gepflasterte Straßen, die Küste, die Stadt auf der vorgelagerten Insel, den Damm, der sie mit dem Festland verbindet, das große, lichterblinkende Areal, die Landebahn und das flaggengeschmückte Flughafengebäude …
Kwa-n-Sana reißt ihn zurück, „Noch nicht!“ ruft er zornig, und Fenter springt auf, zitternd und todeskalt steht er in der engen Schlucht. Der Orkoyote tanzt in magischen Bewegungen um ihn herum, singt in einer unbekannten Sprache, in rhythmischen Abständen springt er in Fenters Kreis und berührt den steifen Körper mit seinen Handflächen, Fenter spürt, wie Kraft in ihn quillt. Plötzlich greift ihm n-Sana ins Hemd, zieht eine Zeitung heraus, entfaltet sie und hält sie hoch über den Kopf, dort reißt er sie in schnelle, schmale Fetzen. Das Papier flattert zu Boden, raschelt fort, verstummt, ringsum wird es totenstill, selbst die Bewegungen des tanzenden Zauberers sind lautlos und wie aus einer andern Zeit.
Atemlos starrt Fenter den letzten Fetzen Papier an, den er noch immer über den Kopf hält, die perlendschwarzen Augen, die klauenartigen Hände, den Kitoi, der den Zauberer wie Gefieder umgibt. Da bricht der erste Sonnenstrahl in die Schlucht.
„Jetzt!“ schreit der Orkoyote und streckt Fenter den Zeitungsfetzen entgegen, darauf ein Foto: der lächelnde, winkende Entwicklungshilfeminister in Mombasa.
Fenters rechter Arm fliegt nach vorn, sein speerspitzer Zeigefinger durchbohrt das Papier, Blut breitet sich zu ihren Füßen aus.
„Das Zeichen!“ singt Kwa-n-Sana; Fenter, von überschäumendem Glücksgefühl berauscht, reckt den blutigen Finger dem Himmel entgegen.
„Das Zeichen!“ singen sie, und mit ihrem Gesang kehren die Geräusche zurück, der frühe Atem des Tags. Er hört nahes Rauschen und Plätschern, Klirren wie von Keramik oder Porzellan, Kinderlachen, Radiomusik, ein rotbunter Vorhang flattert ins enge Hotelzimmer.
Ihm ist schwindlig, der kehlige Gesang des Orkoyoten füllt seinen leeren, glücklichen, tauben Kopf, vor seine Augen zieht ein blutigroter Schleier, er fällt.
Fenter weiß nicht, wie lange er so gelegen hat, offenbar hat ihn Kwa-n-Sana aus der Lichtung getragen, denn er erwacht am Fuß eines der mächtigen Megalithen, die jetzt in der Hitze des Tages feuchten Schatten spenden. N-Sana tupft Wasser auf seine Lippen, das sich in einer Mulde des Steins gesammelt hat, lächelt, die schwarzen Augen blicken müde und stumpf.
Er sagt: „Du wirst deine Kräfte bald zurückkehren spüren. Es ist gut. Der Ogun war mächtig.“
Fenter sinkt zurück, die Augen fallen ihm wieder zu, das Wasser auf seinen Lippen schmeckt salzig, frisch. Irgendwann während seines langen, kräftigen Schlafs meint er, Kwa-n-Sana neben dem Felsstein stehen zu sehen, die wassergefüllte Mulde sieht aus wie eine Pfütze im feuchten Sand, ein staubroter Vogel stößt seinen scharfen Schnabel hinein, Fenter lächelt und schläft.
„Mein Gott, in was für einer schrecklichen Gegend sind wir hier!“ sagte Carola. Sie lag neben Fenter auf einer grellbunten Luftmatratze, weit und weiß dehnte sich um sie herum der Strand. Weiß glänzten auch ihre schulterlangen Haare, auf ihrer blassen Haut zeigte sich starke Rötung. Sie faltete die Boulevardzeitung zusammen und wandte sich ihrem Mann zu.
Fenter blinzelte.
„Bist du wach?“ fragte sie.
Er schloß die Augen, lauschte der Brandung und dem Stimmengewirr der Badegäste, Kinderkreischen, ein Hund bellte. Vorsichtig tastete er sich über den kahlen Kopf, die Haut brannte.
„Brauchst du noch mal die Creme?“ fragte Carola.
Er blinzelte wieder.
Die blonde Frau auf der Luftmatratze war Carola, kein Zweifel, sie lagen am Strand des Waikikihotels, vor ihnen dehnte sich der hohe, grüne Indische Ozean.
„Cord! Hör doch mal zu!“ sagte sie.
Jetzt sah er auch die Kinder, sie spielten im Sand, auch ihre Rücken und Arme waren rotgebrannt. Cord junior blickte herüber und rief: „Spiel wieder mit, Papi, bitte, du kannst das so gut.“
„O ja!“ assistierte Christine. „Spiel wieder Medizinmann, ich hör so gern, wenn du so schaurig singst.“
Eine Sandburg hatten sie gebaut, nein, das war keine Burg, ein Dorf stand dort mit runden, spitzkegeligen Hütten, einer großen, pfahlgestützten an dem einen Ende des Ortes, in der Mitte, von Sandeimern fachgerecht geformt, die Familienhäuser, dann ein freier Platz mit zwei Steinen, einem flachen, wannenförmigen und einem, der spitz aufragte, und am anderen Ende des Dorfes das Haus des Orkoyoten …
„Hast du schon gelesen, was in Mombasa passiert ist?“ fragte Carola. Er starrte das Dorf im Sand an, die Umfassungsmauer …
„Wir werden noch ein paar Gärten bauen!“ schlug Christine vor.
Carola faltete die Zeitung auseinander. „Gestern wurde auf unseren Minister Ettlinger ein Attentat verübt. Auf unseren Minister!“
„Ettlinger?“
„Mein Gott!“ sagte Carola noch einmal. „Wir sind hier wahrhaftig unter die Wilden geraten.“
„Auf den Minister Ettlinger?“ sagte Fenter.
„Wenn du in Urlaub bist, ist dir wohl alles einerlei. Du hörst keine Nachrichten, liest keine Zeitung!“ Sie warf ihm das Blatt aufs Gesicht.
„Das Zeichen!“ murmelte er.
„Er ist tot!“ schrie Carola.
Fenter nahm die Zeitung nicht auf. „Wer hat es getan?“ murmelte er uninteressiert.
Sie faltete das Blatt wieder zusammen, auf der ersten Seite der große Aufmacher mit Fotos und Berichten.
„Irgend so ein Mau-mau-Terrorist, vermuten die Behörden. Keiner hat eine Erklärung dafür, wie es überhaupt passieren konnte. Große Untersuchung wird angekündigt, Spezialtruppe aus Bonn ist unterwegs.“
Cord junior sprang auf und raste in die Wellen.
„Das Dorf!“ schrie Christine. „Du zertrampelst ja alles!“
Fenter meinte, in der Hand seines Sohnes einen Zebustab zu sehen, ihm war auch, als hörte er noch einmal die Rinder hinter dem Wäldchen, aber er blieb still und glücklich auf der Luftmatratze liegen, dreißig Grad Wärme, Sonne, klarer Himmel, er räkelte sich.
Lächelte, als Carola sagte:
„Den Ettlinger. Verstehst du das?“