Rein­mar Cu­nis
Ogun für einen Weißen

 

In das hoh­le Pfei­fen der Trieb­wer­ke hin­ein räus­per­ten sich die Bord­laut­spre­cher.

„… lan­den wir in we­ni­gen Mi­nu­ten auf dem Flug­ha­fen von Mom­ba­sa. Bit­te le­gen Sie Ih­re Sitz­gur­te wie­der an und stel­len Sie auch das Rau­chen ein, so­bald die Zei­chen über Ih­nen auf­leuch­ten. Am Zielort herrscht zur Zeit kla­res Wet­ter mit Tem­pe­ra­tu­ren um 30 Grad …“

Cord Fen­ter ge­noß Wär­me und Son­ne im Vor­ge­fühl, streck­te sei­ne taub ge­wor­de­nen Bei­ne von sich und schloß die Au­gen, der große Ur­laub be­gann.

„Drei­ßig Grad!“ wie­der­hol­te er. „Son­ne – Wär­me – kla­rer Him­mel …“ sang er, rä­kel­te sich, noch im­mer ätz­te der scha­le Ge­schmack von Ma­la­ria­ta­blet­ten sei­nen Mund.

Die bei­den Kin­der preß­ten ih­re Na­sen ge­gen die Schei­ben, schri­en „Da! Die Küs­te!“ und „Sieh! Die In­sel! Die vie­len Häu­ser! Der Damm zum Fest­land!“

„Mom­ba­sa!“ sag­te Fen­ter fei­er­lich.

„Scha­de“, mein­te die acht­jäh­ri­ge Chris­ti­ne, „ich dach­te, da gibt’s einen ech­ten Ne­ger­kral.“

„Hoch­häu­ser. Au­tos. Ei­sen­bahn­schie­nen.“ Cord ju­ni­or war ent­täuscht; er war sie­ben und lieb­te Ele­fan­ten.

Das Flug­zeug nä­her­te sich rasch der satt­grü­nen Ebe­ne, wei­t­aus­la­den­den Pal­men und nied­ri­gen, grü­nen Dä­chern, und grün wa­ren auch das Meer und die ho­he Luft über dem Ho­ri­zont.

„Wart ab!“ sag­te sein Va­ter lä­chelnd, die Au­gen noch im­mer ge­schlos­sen. „Du wirst sie er­le­ben, dei­ne Lö­wen und Ele­fan­ten und die bunt­be­mal­ten Wil­den in den Krals.“

„In den Tou­rist-In­for­ma­tio­nen steht, man darf die Ein­ge­bo­re­nen nicht fo­to­gra­fie­ren“, sag­te Ca­ro­la Fen­ter schrill, sie schwitz­te vor Auf­re­gung, ih­re bunt­sche­cki­ge Blu­se spann­te sich feucht über die üp­pi­ge Fi­gur.

In die­sem Au­gen­blick sah Kwa-n-Sa­na die Ge­sich­ter, schat­ten­haft flach in den ris­si­gen Spu­ren des Lehms, sei­ne Li­der brann­ten, ein Hauch von Busch­kraut und ver­seng­ten Lö­wen­haa­ren düns­te­te ihm ent­ge­gen. Star­ren Blicks hock­te er auf dem Bo­den, die fal­ti­gen, el­fen­bein­ge­schmück­ten Lip­pen ge­öff­net, in der lin­ken Hand das lee­re Hörn, mit der rech­ten be­rühr­te er sein Stirn­band. Bar­fuß und stumm hock­te er auf der aus­ge­dehn­ten, ver­stepp­ten Ebe­ne, sein dür­rer Kör­per stach spit­zig durch den stau­bro­ten Ki­toi, er hock­te und rühr­te sich nicht und sah die Ge­sich­ter.

Röh­rend setz­te die Ur­lau­ber­ma­schi­ne auf der Lan­de­bahn auf, rum­pel­te der Hal­t­e­po­si­ti­on zu, von der De­cke quoll Mu­sik her­ab, Fen­ter sang mit.

„Mom­ba­sa!“ hieß sein Text; elf Mo­na­te hat­te er im Ver­si­che­rungs­bü­ro hin­ter ei­nem Schreib­tisch ge­hockt, elf Mo­na­te Zah­len ein­ge­tippt und Com­pu­ter ab­ge­fragt, Kaf­fee ge­trun­ken und Sport­be­rich­te ge­le­sen, und sonn­tags war er auf den Fuß­ball­platz ge­pil­gert. Das al­les hat­te er vor sie­ben Stun­den in dämm­ri­gen Re­gen­schau­ern hin­ter sich ge­las­sen, die SON­NE KE­NI­AS war­te­te auf ihn, er sang, sein mü­des Ge­sicht rö­te­te sich, zeig­te den pa­pier­nen Glanz von Pau­schal­rei­se­pro­spek­ten.

Sei­ne Frau Ca­ro­la dräng­te ihm be­reits Hand­kof­fer und Film­ka­me­ra auf, sie war ner­vös, voll zup­fen­der Un­ru­he und mür­be wie ein zer­schlis­se­nes Wisch­tuch, halb­tags nä­gel­kau­end im Bü­ro und da­nach hin­ter den Schul­ar­bei­ten der Kin­der, nä­gel­kau­end auch, und viel Re­gen, der ih­ren Är­ger noch ver­mehr­te.

Jetzt platz­te die Son­ne durch den ge­öff­ne­ten Aus­stieg, die Ur­lau­ber stelz­ten hin­aus.

„So vie­le Fah­nen!“ staun­te das Söhn­chen über den präch­ti­gen Schmuck des Flug­ha­fen­ge­bäu­des.

Die Toch­ter sag­te: „Sieh mal, so­gar einen ro­ten Tep­pich für uns!“

Ein Mann ne­ben Fen­ter lach­te. Tep­pich und Fah­nen sei­en für den Mi­nis­ter, nicht für die Ur­lau­ber, be­lehr­te er sie, der Ent­wick­lungs­hil­fe­mi­nis­ter aus Bonn sei zum of­fi­zi­el­len Be­such in Ke­nia und vor ei­ner hal­b­en Stun­de, von Nai­ro­bi kom­mend, in Mom­ba­sa ge­lan­det. Fen­ter mur­mel­te: „Ver­schenkt hier wie­der un­se­re Steu­er­gel­der.“

Die bun­ten Flag­gen hin­gen schlaff im glei­ßen­den Nach­mit­tag, schwül die Luft un­ter Dä­chern und Mar­ki­sen, in der Ab­fer­ti­gungs­hal­le tropf­te ei­ne Emp­fangs­durch­sa­ge un­ge­hört her­ab.

„Was …?“ frag­te Ca­ro­la.

„Waiki­ki-Ho­tel, Bus 3“, wie­der­hol­te Cord ju­ni­or laut.

Schwül war auch die Luft in dem neu­en, aus Deutsch­land im­por­tier­ten Fahr­zeug – und bis zum Ho­tel noch ei­ne Stun­de. Die Ebe­ne, die an den ge­tön­ten Fens­tern vor­bei­zog, zeig­te sich nun nicht mehr so satt­far­ben wie von oben, dünn und stau­big wa­ren das Gras und die nied­ri­gen Häu­ser und die Pal­men, und die Luft über dem Ho­ri­zont flirr­te. Die Stun­de dehn­te sich, dann, end­lich, die lang­ge­streck­ten Rei­hen der Ho­tel­zim­mer, der Emp­fangstrakt, das Aus­la­den, die Du­schen.

In der Nacht san­ken zwar die Tem­pe­ra­tu­ren um ei­ni­ge Grad, aber die Schwü­le blieb, die frem­de, tro­pi­sche Luft stülp­te sich wie ei­ne Glo­cke über die Neu­an­ge­kom­me­nen, fahl und fet­tig glänz­te der Mond.

Kwa-n-Sa­na hat­te sich er­ho­ben, die Aschen­res­te rings­um sorg­fäl­tig auf­ge­sam­melt und die Spu­ren sei­ner Ze­hen ver­wischt. Hier über der tro­ckenen Sa­van­ne war die Luft klar, der Mond klein und grell, die Nacht voll kat­zen­haf­ter Ge­schmei­dig­keit. Der Mann schritt be­hend und ge­räusch­los vor­an, dem fer­nen Dorf am Rand der Hoch­ebe­ne ent­ge­gen.

Als sich der Ho­ri­zont rö­te­te, sah er das Tal und den klei­nen Wald, auch die Hüt­ten, er blieb ste­hen und wand­te sich den Son­nen­strah­len zu und ver­neig­te sich.

DIE SON­NE KE­NI­AS, blin­zel­te Fen­ter in die­sem Au­gen­blick und re­ka­pi­tu­lier­te den Pro­spekt­text, TRAU­M­UR­LAUB AM IN­DI­SCHEN OZEAN. IDYL­LI­SCHE, RU­HI­GE GE­GEND, HO­TEL MIT FA­MI­LI­ÄREM CHA­RAK­TER, ABENDS AUCH UN­TER­HAL­TUNG, UN­TER­KUNFT FÜR 180 GÄS­TE, AL­LE ZIM­MER MIT WC UND DU­SCHE, BAL­KON, AUF WUNSCH MIT KLI­MA­AN­LA­GE. WAS­SER­SPORT­MÖG­LICH­KEI­TEN, TAU­CHEN, SCHNOR­CHELN, SE­GELN, SUR­FEN, HOCH­SEE­FI­SCHEN. AUS­SER­DEM FO­TO­SA­FA­RIS. ER­LE­BEN SIE LAND, LEU­TE UND DIE HERR­LI­CHE TIER­WELT.

Fen­ter sprang sum­mend aus dem Bett, REI­CHE VEGE­TA­TI­ON, MA­LE­RI­SCHER SAND­STRAND, er be­trach­te­te die lan­ge Ket­te der Ho­tel­zim­mer, die lee­re Ter­ras­se, auf der wei­ße, zwei­räd­ri­ge Ses­sel her­um­stan­den, ei­ne Bier­do­se roll­te am Rand der we­ni­gen Stu­fen, die zur Bucht hin­ab­führ­ten, SÜSS­WAS­SER­SCHWIMM­BAD, RUS­TI­KA­LER GRILL­ROOM, Fen­ter fühl­te sich un­aus­ge­schla­fen, hat­te kei­nen Ap­pe­tit, auch Ca­ro­la hat­te die gan­ze Nacht ge­wühlt, ihr lan­ges, blon­des Haar kleb­te auf den Kis­sen. Nur die Kin­der, schweiß­glän­zend, la­gen still.

SI­CHE­RE BUCHT, SPIEL­MÖG­LICH­KEI­TEN, WEI­TES, 50000 QM GROS­SES GE­LÄN­DE. Mit der Son­ne kam fri­sche Luft vom Meer her­über, im zwie­lich­ti­gen Mor­gen sah Fen­ter den Mond ver­blas­sen. Ihm war, als schau­kel­te er noch im­mer in zwölf­tau­send Me­tern Hö­he.

Hier, in der Wei­te der Sa­van­ne, un­ter dem wis­pern­den Him­mel, war Kwa-n-Sa­na auf­ge­wach­sen, zwi­schen den Geis­tern der Nacht und der Kraft des Tags. Wäh­rend er die Au­gen schloß und das Stirn­band mit der rech­ten Hand­flä­che be­rühr­te, rief er um Schutz für das Dorf und die zwölf Fa­mi­li­en, die hier mit ihm leb­ten.

Es wa­ren Ki­ku­ju, ein Volk von Bau­ern, die seit al­ters her öst­lich der Großen Kö­nig­rei­che ge­lebt hat­ten. Sie wa­ren nie mäch­tig ge­we­sen, doch durch har­te Ar­beit wohl­ha­bend ge­wor­den, ihr Land dies­seits des Vik­to­ria-Sees war gut und frucht­bar, die Nach­barn hat­ten ih­re Märk­te ge­sucht. Doch als auf den al­ten Han­dels­s­tra­ßen zwi­schen Hoch­land und Küs­te die Ei­sen­bahn ge­baut wur­de, ging es mit dem Frie­den der Ki­ku­ju zu En­de. Wei­ße Ko­lo­nis­ten ver­trie­ben sie von ih­ren Äckern und Wei­den, zer­stör­ten ih­ren Han­del und nah­men ih­nen die Selb­stän­dig­keit. Nun mach­te die Im­pe­ri­al East Af­ri­ca Com­pa­ny die Ge­set­ze, re­gier­te und rich­te­te, und die zä­hen, stil­len Ki­ku­ju zo­gen sich auf das tro­ckene, un­frucht­ba­re Sa­van­nen­land zu­rück und schwie­gen.

Kwa-n-Sa­na war in die­sem Schwei­gen groß ge­wor­den, kann­te die Not sei­nes Vol­kes und die un­still­ba­ren Wün­sche, aber auch den Rausch der afri­ka­ni­schen Be­frei­ung, das Mau-mau des Lö­wen und die wil­den Re­den der po­li­ti­schen Füh­rer.

In die­ser Nacht, in der er die Ge­sich­ter ge­se­hen hat­te, war ihm klar­ge­wor­den, daß das Schwei­gen zu En­de war. Der Große Rat wür­de zu ihm spre­chen.

Kwa-n-Sa­na war der ge­wähl­te Or­ko­yo­te des Dor­fes, der Zau­be­rer. Seit drei Ta­gen hat­te er sei­nen Kör­per auf die­se Be­geg­nung vor­be­rei­tet, hat­te nichts ge­ges­sen und lan­ge Wan­de­run­gen durch das Land der Ki­ku­ju ge­macht. Nun war der Rat der Ah­nen zu­sam­men­ge­tre­ten, Kwa-n-Sa­na ins Dorf zu­rück­ge­kehrt.

Die Häu­ser lie­gen noch in tie­fem Schlaf, vier­zehn Hüt­ten, im Nor­den das Ge­mein­de­haus, ein grö­ße­rer Lehm­bau mit mäch­ti­gen Pfäh­len, im Sü­den die Ge­trei­de­wan­ne, der Dor­fal­tar und das Haus des Zau­be­rers. Die lan­gen Schat­ten des frü­hen Mor­gens zeich­nen das Dorf re­li­ef­ar­tig nach, die Rund­dä­cher, den spit­zen Al­tar­stein, die Dorf­mau­er, da­hin­ter die Gär­ten und den Wald.

Zwei Häu­ser im Dorf ste­hen leer, Kwa-n-Sa­na schrei­tet auf eins da­von zu, die Au­gen ge­schlos­sen, die rech­te Hand­flä­che noch im­mer am Stirn­band.

In der en­gen, fins­te­ren Hüt­te bleibt er ste­hen und war­tet, die Ze­hen nach Os­ten ge­streckt, den Arm an­ge­win­kelt, plötz­lich bricht der ers­te Strahl der Son­ne durch die Spit­ze des Ein­gangs, im ro­ten Schein er­blickt der Or­ko­yo­te die Ver­samm­lung.

Du hast uns ge­ru­fen, sa­gen die Geis­ter.

Er ant­wor­tet: Wir sind in Not.

Sie sa­gen: Die Ki­ku­ju ver­las­sen ih­re Häu­ser. Die Dör­fer ster­ben.

Sie sa­gen: Zu lan­ge ha­ben die Bau­ern auf den Äckern ge­ar­bei­tet und kaum ge­ern­tet, ih­re Kraft ist ge­schwun­den.

Sie sa­gen: Der trü­ge­ri­sche Glanz der Städ­te hat sie ih­nen ge­raubt.

Sie hof­fen auf schnel­le Ar­beit in den Fa­bri­ken und auf mo­der­nen, eu­ro­päi­schen Plun­der, sa­gen sie. Un­se­re Füh­rer ho­len selbst das Elend ins Land, die In­dus­trie und den Tou­ris­mus.

Kwa-n-Sa­na hört ih­nen zu und nickt.

Die Geis­ter sa­gen: Die Ki­ku­ju ver­las­sen ih­re Dör­fer und ge­hen in den Slums zu­grun­de.

Sie sa­gen: Heu­te hat die East Af­ri­ca Com­pa­ny vie­le Na­men, aber noch im­mer zehrt sie un­se­re Kräf­te aus.

Wir müs­sen das Schwei­gen be­en­den, sa­gen die Geis­ter. Wir wol­len ein Zei­chen set­zen.

Kwa-n-Sa­na nickt und war­tet.

Ein Zei­chen, das die Frem­den ver­ste­hen, lau­tet der Rat.

Und wie­der blitzt der ro­te Strahl der Son­ne in die Hüt­te, und Kwa-n-Sa­na sieht den Speer her­ab­fal­len.

Die Fen­ter­fa­mi­lie früh­stück­te im ho­hen, afri­ka­nisch ge­stal­te­ten Grill­room des Ho­tels. To­tems schmück­ten die höl­zer­nen Wän­de, grell­ro­te Mas­ken, bil­li­ge Tou­ris­ten­wa­re, an der Re­cep­ti­on auf Be­stel­lung er­hält­lich.

„Wie im Völ­ker­kun­de­mu­se­um“, sag­te Ca­ro­la und schlürf­te da­bei den bri­ti­schen Tee, seich­te Mu­sik rie­sel­te aus der höl­zer­nen De­cke.

TÄ­TI­GEN SIE IH­RE EIN­KÄU­FE IN DEN VOR­MIT­TAGS­STUN­DEN, fiel Cord der Pro­spekt­hin­weis ein. Er saß da und starr­te auf Bröt­chen und Mar­me­la­de und gries­grau­en Por­ridge, sein Hals war tro­cken, hit­zig die Stirn, er moch­te nichts zu sich neh­men. Durch die hoch ver­glas­te Front des Raums brü­te­te die Son­ne her­ein, er blin­zel­te, die Luft war sti­ckig.

„Ich muß mal raus“, sag­te er und stand auf.

Ca­ro­la wies ihn ein: „Am En­de der Hal­le, drei Stu­fen links, da ist für HER­REN.“

„Nein“, sag­te er, „fri­sche Luft brau­che ich.“

Vom Ozean kam leich­ter Wind her­über, die Schwü­le der Nacht war nicht mehr, ob­wohl das Ther­mo­me­ter be­reits wie­der 31 Grad zeig­te. Ein paar Früh­auf­ste­her sa­ßen schon mit hei­mat­li­cher Bou­le­vard­zei­tung am Swim­ming­pool, aus den Zim­mer­fens­tern hin­ter ih­nen lüf­te­te die ers­te Nacht. Der Schlaftrakt des Ho­tels ver­sperr­te Cord Fen­ter zum Land hin die Sicht; wenn nicht die bräun­lich­dür­ren Pal­men auf der Ter­ras­se ge­we­sen wä­ren, hät­te sich die An­la­ge mit ei­ner Neu­bau­sied­lung am Ran­de eu­ro­päi­scher Groß­städ­te ver­wech­seln las­sen. Auch die öden Kin­der­spiel­plät­ze, ein­ge­rahmt von Ga­ra­gen, fehl­ten nicht, und die sorg­sam ge­säum­ten, kurz­ge­scho­re­nen Wie­sen vor den Häu­sern. Fen­ter at­me­te tief ein, schlen­der­te dann lang­sam und un­schlüs­sig am Swim­ming­pool ent­lang, ver­ließ schließ­lich über einen Feld­weg das Are­al des Ho­tels und wand­te sich dem Meer zu. Der Sand des lang­ge­streck­ten, wei­ßen Stran­des war noch kühl, er zog sich die Turn­schu­he aus und trug sie zwi­schen den Fin­gern, der kleb­rig­sal­zi­ge Bo­den kit­zel­te sei­ne Fuß­soh­len.

Kwa-n-Sa­na tritt aus der Hüt­te, klatscht in die Hän­de und war­tet. Da kom­men aus al­len Häu­sern die Män­ner, bil­den vor ihm einen Halb­kreis und bli­cken ihn er­war­tungs­voll an. Von der Sa­van­ne weht der Ruf des Lö­wen her­über.

Das Dorf steht und schweigt, selbst die Kin­der sind still.

„Der Speer fällt aus den Him­meln!“ sagt der Or­ko­yo­te.

Er­schre­cken. Die Frau­en wen­den sich ab, die Män­ner bli­cken furcht­sam zu Bo­den. Der Zau­be­rer hat den Speer ge­se­hen, das be­deu­tet nichts Gu­tes, sie hat­ten ei­ne tröst­li­che­re Mit­tei­lung er­hofft. Was nützt der Speer? Er bringt kein Was­ser auf den tro­ckenen Bo­den, läßt die Rin­der nicht kal­ben, der Speer wehrt nicht ein­mal Krank­hei­ten ab.

Er ver­langt Ent­beh­rung und Ver­fol­gung; kei­ner der Män­ner wünscht sich, der Arm des Spee­res zu wer­den. So ste­hen sie stumm und war­ten und schau­en dem dür­ren, hoch auf­ge­rich­te­ten Or­ko­yo­ten nicht ins Ge­sicht.

Doch Kwa-n-Sa­na wählt kei­nen von ih­nen aus; nach lan­gen Mi­nu­ten zä­hen War­tens se­hen die Män­ner ihn wie­der in der lee­ren Hüt­te ver­schwin­den, über­rascht, er­leich­tert ge­hen sie aus­ein­an­der, und erst auf den Fel­dern hört man ihr La­chen.

UN­TER­NEH­MEN SIE KEI­NE AUS­FLÜ­GE AUF EI­GE­NE FAUST, er­in­ner­te sich Fen­ter an die Rei­se­bro­schü­re, er grins­te, ich schau mir doch nur den Strand an, nicht wahr? Er wan­der­te am Rand des Mee­res ent­lang und fühl­te, wie sein Kopf frei und klar wur­de, weit wie der an­mu­tig wel­len­lo­se Ozean, der hell­grü­ne Schim­mer über dem Land, der men­schen­lee­re Sand. End­lo­se Ru­he, als ob sich seit Be­ste­hen der Er­de nichts ge­än­dert hät­te, Stil­le, als ob die Zeit ab­han­den ge­kom­men sei. Nichts rührt sich, dach­te Fen­ter und be­merk­te plötz­lich, daß auch er selbst starr war wie ei­ne Pup­pe. Er woll­te die Au­gen zu­sam­men­knei­fen, den Fuß vor­an­set­zen, doch wie an­ge­hal­ten war der Ort, an dem er stand.

Und dann schi­en sich doch et­was zu ver­än­dern: Die Welt schrumpf­te – oder wuchs er? Er dehn­te sich aus, aber ein an­de­rer, stoff­li­cher Teil von ihm blieb zu­rück: Er sah sich am Strand ste­hen, und gleich­zei­tig wuchs er weit über das Land.

Das Meer hat­te in der Nacht schma­le Pfüt­zen im Sand zu­rück­ge­las­sen, ei­ne dün­ne Spur oliv­grü­ner Ab­la­ge­run­gen mar­kier­te den höchs­ten Was­ser­stand, der star­re, zu­rück­ge­las­se­ne Fen­ter wur­zel­te un­mit­tel­bar an die­ser Li­nie. Und plötz­lich war ein Vo­gel vor sei­nen Fü­ßen, trip­pel­te in son­der­ba­ren Be­we­gun­gen um sich selbst und spreiz­te das Ge­fie­der, so daß die Flü­gel­spit­zen in die Pfüt­zen tipp­ten.

Na al­so! sag­te der schwe­ben­de Fen­ter er­leich­tert und nick­te dem stau­bro­ten Vo­gel zu, es ist doch noch ein We­sen au­ßer mir auf der Welt …!, aber selt­sa­mer­wei­se hör­te er sich sel­ber nicht. Er sah den Vo­gel tan­zen und doch kei­ne Be­we­gung, wie an­ein­an­der­ge­hack­te, schnell auf­ein­an­der­fol­gen­de Fo­tos wirk­te der Tanz des Tie­res, und von ei­nem Au­gen­blick zum an­de­ren war der Vo­gel wie­der ver­schwun­den, blaß dehn­te sich die Zeit­lo­sig­keit zwi­schen Fen­ter und dem Strand.

Dann hat­te die Bläs­se zu­ge­nom­men, das Meer, der Sand, die Sil­hou­et­te des Ho­tels wa­ren nicht mehr; kaum konn­te er noch die wei­ßen, rie­si­gen Fels­bro­cken un­ter sich er­ken­nen. Als ob die Son­ne dünn und mil­chig wird, so ver­si­cker­ten Licht und Him­mel, Fen­ter fühl­te sich zu ei­nem rie­si­gen, farb­lo­sen Netz aus­ein­an­der­ge­zo­gen, nichts als Fels­stei­ne un­ter und Was­ser­trop­fen über sich, er schweb­te in ei­nem Fet­zen Ewig­keit. Nach und nach konn­te er rings­um et­was mehr er­ken­nen, ein va­ges, re­li­ef­ar­ti­ges Fo­to Ost­afri­kas zeich­ne­te sich ab, und er rühr­te mit den Schul­tern an den Ki­li­man­dscha­ro und mit den Ze­hen an den Vik­to­ria­see, und als er ge­nau hin­schau­te, sah er in der kah­len, wei­ten Ebe­ne un­ter sich den stau­bro­ten Vo­gel tan­zen.

Doch schon wur­de es dunk­ler und dunk­ler, der Him­mel schloß sich als stro­hig­schwar­ze Kup­pel über ihm, er schrumpf­te wie­der und sack­te schwer zu Bo­den, das Netz, das er ge­we­sen war, ver­kno­te­te und ball­te sich zu­sam­men zu ei­nem un­be­weg­li­chen Stein, oh­ne Kopf, oh­ne Ar­me, Bei­ne, Au­gen, Fin­ger, und wie­der war nichts au­ßer ihm in der Welt.

Plötz­lich dann: Be­we­gung, Ge­räusche, Kopf­schmer­zen, Hun­ger, Fen­ter glaub­te, den Vo­gel hin­aus­flat­tern zu se­hen, der dicht ge­web­te Vor­hang schlug et­was zur Sei­te, und grel­les Son­nen­licht stach her­ein, je­mand lach­te drau­ßen, ein Ba­by kreisch­te, von der Wei­de her war das ver­trau­te Mu­hen der Ze­bus zu hö­ren.

„Or-d-Fen­te, was ist mit dir?“ frag­te Ca­ro­la, er rieb sich die Au­gen, sprang auf und fiel stöh­nend auf­sein La­ger zu­rück, sein Hirn schwapp­te wie leh­mi­ger Brei.

„Was soll sein?“ brumm­te er und hielt sich den Kopf, in sei­nen Oh­ren dröhn­ten nun all die Ge­räusche, die ihm zu­vor ab­han­den ge­kom­men wa­ren.

Sei­ne Frau sag­te ta­delnd: „Die an­de­ren sind längst auf dem Feld. Und heu­te früh hat ei­ne Ver­samm­lung statt­ge­fun­den, aber ich ha­be dich ein­fach nicht we­cken kön­nen, wie ein Stein hast du ge­schla­fen.“

Ei­ne Ver­samm­lung?

„Der Or­ko­yo­te hat et­was an­ge­kün­digt, ich konn­te es nicht ver­ste­hen, und die Män­ner woll­ten nicht dar­über re­den“, sag­te sie und ging wie­der hin­aus und ließ da­bei den Vor­hang zu­rück­ge­scho­ben.

Ei­ne Ver­samm­lung beim Or­ko­yo­ten? Fen­ters Hirn konn­te kei­nen kla­ren Ge­dan­ken fas­sen, der selt­sa­me. Alp­traum um­spann es noch mit kleb­ri­gen Fä­den.

Ca­ro­la kam zu­rück und er­in­ner­te ihn: „Du mußt die Pfäh­le im Gar­ten rich­ten. Bit­te tu es heu­te.“ Sie trug das bun­te, wa­den­lan­ge Hemd, das sie sich zum Ur­laub ge­kauft hat­te, um ih­ren Hals hing ei­ne Ket­te aus glit­zern­den Plat­ten, auf ih­rem Kopf …

„Was ist mit dei­nem Haar?“ sag­te er ver­wirrt.

Sie wies ihn zu­recht: „Was soll mit mei­nem Haar sein?“ sag­te sie ge­reizt. „Du weißt, daß ich gern Kopf­tü­cher tra­ge.“ Sie run­zel­te ih­re glän­zen­de, eben­holz­schwar­ze Stirn und fauch­te: „Geh end­lich in den Gar­ten, du Faul­tier.“

Er troll­te sich.

Drau­ßen vor der Hüt­te wur­de ihm woh­ler, die Welt war wirk­lich und ver­traut, un­ter sei­nen Fü­ßen heiz­te der leh­mi­ge, son­nen­ge­trock­ne­te Bo­den. Er stand un­schlüs­sig, ob er zu­nächst noch et­was es­sen oder gleich in die Gär­ten ge­hen soll­te, blick­te die lee­re Dorf­stra­ße ent­lang. Die Sied­lung war nicht groß, die Häu­ser wa­ren schmuck­los und rund wie über­all üb­lich, nur das Ge­mein­de­haus ruh­te breit auf kräf­ti­gen Baum­stäm­men. Vor ein paar Jah­ren hat­ten sie die Dorf­mau­er zur Sa­van­ne hin ge­baut, um wil­de Tie­re ab­zu­weh­ren, sonst war al­les wie im­mer, seit sei­ner Kind­heit hat­te sich hier nichts ver­än­dert. Den Bau­ern fehl­te das Geld, nicht ein­mal ein Ra­dio konn­te man sich leis­ten. Aber wo­zu auch, seufz­te Fen­ter, all die groß­ar­ti­gen Mel­dun­gen vom Fort­schritt im Land, die dar­in zu hö­ren wa­ren, tra­fen für sie nicht zu, nicht für die Bau­ern der Step­pen­ge­bie­te. Ob ein wei­ßer Gou­ver­neur oder ein schwar­zer Prä­si­dent in der Haupt­stadt – hier im Dorf war das bes­ten­falls von theo­re­ti­scher Be­deu­tung.

Ne­ben Fen­ters Haus stand Mbi­ses Hüt­te, seit zwei Jah­ren ver­las­sen, er war mit sei­ner Fa­mi­lie in die Stadt ge­zo­gen, aber man wuß­te, daß er dort noch schlech­ter leb­te als hier, mal hat­te er Ar­beit, mal nicht, die Le­bens­mit­tel wa­ren teu­er, sei­ne Toch­ter …

Kwa-n-Sa­na hat­te be­rich­tet, sie sei Pro­sti­tu­ier­te ge­wor­den. Fen­ter er­in­ner­te sich gut an das hüb­sche, run­de Mäd­chen, Na­di­na hieß sie und war in der Missi­on ge­tauft wor­den.

„Gut, daß du noch im Dorf bist“, sag­te ei­ne tie­fe Stim­me ne­ben ihm; es war der Or­ko­yo­te.

„Hab’ ver­schla­fen“, mur­mel­te Fen­ter ei­lig.

Der Mann im stau­bro­ten Ki­toi beug­te sich na­he an sein Ohr, flüs­ter­te: „Ich will dich spre­chen, heu­te abend, al­lein.“ und tanz­te da­von, Fen­ter schi­en es, als spreiz­te er sein Ge­fie­der.

Einen Au­gen­blick lang starr­te er ihm nach, die Wor­te des Zau­be­rers hat­ten ir­gend et­was mit dem nächt­li­chen Traum zu tun, aber Fen­ter brach­te es nicht fer­tig, sei­ne Er­in­ne­run­gen zu ord­nen, sein Kopf dröhn­te noch im­mer, und so ver­gaß er den Or­ko­yo­ten wie­der und be­schäf­tig­te sich wei­ter mit der schö­nen Na­di­na.

Er ar­bei­te­te den gan­zen Tag, lang­sam und lust­los, spür­te kei­nen Ap­pe­tit und wur­de auch nicht ge­sprä­chig, als die Frau­en in die Gär­ten ka­men, den gan­zen Tag über schi­en sein Hirn brei­ig und ein­ge­zwängt.

Als die Son­ne die Wip­fel des Wäld­chens er­reich­te, ging er ins Dorf zu­rück, von der Wei­de kam sein Sohn zu­sam­men mit den an­de­ren Hü­te­jun­gen, er hat­te einen So­lust­ab ge­schnitzt und zeig­te ihn stolz, und Fen­ter lä­chel­te. Der Jun­ge war ge­schickt und klug, brach­te aus der Missi­ons­schu­le viel Lob mit, Fen­ter bil­de­te sich ein, aus ihm könn­te et­was Be­son­de­res wer­den.

Und auch mei­ne Toch­ter, mur­mel­te er, sie re­de­te mit ih­ren acht Jah­ren die Spra­che der Frem­den schon fast so gut wie ihr hei­mi­sches Sua­he­li. Da wird ei­nem ar­men Bau­ern wie mir nichts an­de­res üb­rig­blei­ben, als ei­nes Ta­ges bei­de Kin­der zur Hoch­schu­le nach Nai­ro­bi zu schi­cken, dach­te er und seufz­te glück­lich. Sie wer­den stu­die­ren und fort­ge­hen, und dann wer­den sie auf ihr klei­nes Dorf und ih­re dum­men El­tern her­ab­se­hen; da schau her, Mbi­se, ich bin auch nur ein klei­ner Bau­er ge­we­sen, wie du.

Im Abend­licht färb­te sich das Dorf ro­sa, der hei­ße Tag ver­sank im Schat­ten der Häu­ser, Be­hag­lich­keit brei­te­te sich aus. Fen­ter streck­te sich vor dem Ein­gang sei­ner Hüt­te aus und schloß die Au­gen, wie er es im­mer tat, aber heu­te ent­spann­te es ihn nicht.

Der Or­ko­yo­te war­te­te auf ihn.

Die Hüt­te des Zau­be­rers war klei­ner als die an­de­ren Häu­ser, eng und atem­los, Licht fla­cker­te in ei­ner blau­en Lam­pe.

Kwa-n-Sa­na bat ihn, sich zu set­zen, hock­te sich selbst in den un­ru­hi­gen Schein der Flam­me und sag­te sehr selt­sa­me und un­ver­ständ­li­che Din­ge.

Fen­ter ver­stand nur so­viel, er sei der Arm ei­nes Spee­res, und ir­gend­wo ha­be der Or­ko­yo­te ihn als Aus­er­wähl­ten ge­se­hen. Auch daß es ein be­son­de­rer Speer sei, ver­mut­lich ein hei­li­ges Sym­bol, be­griff Fen­ter noch, doch er­in­ner­te er sich nicht, je­mals vor­her von die­sen Din­gen ge­hört zu ha­ben.

„Was wer­den wir mit dem Speer tun?“ frag­te er vor­sich­tig. Kwa-n-Sa­na ant­wor­te­te: „Ein Zei­chen set­zen.“

Fen­ter, nun völ­lig ver­wirrt, schwieg, hoff­te, der Zau­be­rer wür­de ihm die Zu­sam­men­hän­ge er­läu­tern. Doch der saß starr da, wie ent­rückt, die Flam­me in der blau­en Lam­pe ver­däm­mer­te.

Plötz­lich sprach Kwa-n-Sa­na, da­mals, vor fünf Ge­ne­ra­tio­nen, hät­ten wei­ße Ko­lo­nia­lis­ten das Hoch­land ge­stoh­len, die Ki­ku­ju sei­en in die dür­re, kaum frucht­ba­re Step­pe ver­drängt wor­den, das Bau­ern­volk, frü­her wohl­ha­bend, sei heu­te arm und aus­ge­zehrt. Aber trotz al­ler Schwie­rig­kei­ten sei die Dorf­ge­mein­schaft er­hal­ten ge­blie­ben, die Tra­di­ti­on; die Re­geln des Zu­sam­men­le­bens und den Rat der Ah­nen ha­be man be­folgt.

„Doch jetzt, wo Ke­nia un­ab­hän­gig ist und Han­del­s­partn­er­zwi­schen Mäch­ti­gen wer­den will, ster­ben Tra­di­ti­on und Dorf­ge­mein­schaft“, sag­te er, „wir zer­stö­ren uns selbst.“

Die Er­zäh­lun­gen vom Hoch­land hat­te Fen­ter pa­rat, wie Le­gen­den wur­den sie von El­tern an die Kin­der wei­ter­ge­ge­ben, er glaub­te sie nicht so recht, eher schie­nen sie ihm da­zu nütz­lich, die Ver­gan­gen­heit zu ver­gol­den.

„Das Hoch­land ist si­cher gut und frucht­bar“, sag­te er, „aber auch vol­ler Schäd­lin­ge. On­cho­zer­ko­se und Fi­la­ri­en­krank­heit pla­gen die Far­men, und selbst wenn der Bau­er ver­schont bleibt, ist die Ar­beit kaum zu be­wäl­ti­gen. Hier sind wir arm, aber si­che­rer, ich glau­be nicht, daß un­se­re Dorf­ge­mein­schaft stirbt.“

Er woll­te auf­ste­hen und ge­hen, die An­ge­le­gen­heit schi­en er­le­digt.

Doch der Or­ko­yo­te wies ihn jäh auf sei­nen Platz, zisch­te: „Un­se­re Krank­hei­ten hei­ßen In­dus­tria­li­sie­rung und Tou­ris­mus,“ und re­de­te schnell und mo­no­ton auf Fen­ter ein, so als ob er ei­ne Bro­schü­re über Ost­afri­kas Pro­ble­me ver­lä­se. „Wir ho­len frem­des Ka­pi­tal ins Land, aber das Geld dient nicht un­se­rem Auf­bau, son­dern dem Reich­tum der eu­ro­päi­schen und ame­ri­ka­ni­schen Kon­zer­ne. Wir ru­fen Tou­ris­ten mit viel De­vi­sen an un­se­re Strän­de, aber von ih­rem Geld müs­sen Ho­tels, Schwimm­bä­der, Flug­hä­fen und Kraft­wer­ke ge­baut wer­den, die ih­nen und nicht uns nüt­zen. Uns selbst bleibt so gut wie nichts, kaum ein Fünf­tel näm­lich, wir dür­fen nur die Hand­lan­ger sein, die Fa­brik­ar­bei­ter und Au­to­bus­fah­rer, die Kö­che, Kell­ner und Kof­fer­trä­ger. Die Krank­hei­ten hei­ßen In­dus­tria­li­sie­rung und Tou­ris­mus, und im­mer mehr von uns wer­den da­von be­fal­len.“

Fen­ter konn­te die­sen ver­schro­be­nen Ge­dan­ken­aus­gän­gen nicht recht fol­gen, Wirt­schafts­auf­schwung, Kon­junk­tur, De­vi­sen­ein­nah­men – das wa­ren doch al­les Be­grif­fe, die po­si­tiv wa­ren, nicht wahr?

Es fiel ihm nicht leicht, die rich­ti­gen Aus­drücke zu fin­den, schließ­lich kam ihm ein Text in den Sinn, der zu pas­sen schi­en.

KE­NI­AS PRO­DUK­TI­ONS­ZIF­FERN STEI­GEN, DER EX­PORT WIRD IM­MER BE­DEU­TEN­DER, DIE PRO­DUK­TI­VI­TÄT LIEGT AN DER SPIT­ZE AL­LER AFRI­KA­NI­SCHEN STAA­TEN.

Und die­ser: AUCH DAS PRO­KOPFEIN­KOM­MEN DER LAND­BE­VÖL­KE­RUNG STEIGT, UND IN DEN STÄD­TEN LE­BEN DIE SCHWAR­ZEN FREI UND REICH WIE EU­RO­PÄ­ER.

„Das ist nicht un­ser Le­ben!“ rief Kwa-n-Sa­na hef­tig. „Da­mals zwan­gen sie uns ih­re Herr­schaft, jetzt zwin­gen sie uns ih­re Wirt­schaft auf. Wie­der die­nen wir den Frem­den, le­cken ih­nen die Hän­de und müs­sen uns in ih­ren Fa­bri­ken und Ho­tels quä­len, und uns bleibt nichts als zer­stör­te Fa­mi­li­en und ver­las­se­ne Dör­fer.“

Fen­ter strich sich über sei­ne dün­nen, schwar­zen Lo­cken und schwieg, er war Bau­er, nicht Po­li­ti­ker, und der ein­zi­ge, völ­lig un­ver­ständ­li­che Satz, der ihm ein­fiel, lau­te­te: WAIKI­KI-HO­TEL, BUS 3.

Er moch­te ihn nicht sa­gen.

In der Hüt­te wur­de es kalt, das Licht, fast schon er­lo­schen, ließ gro­tes­ke Schat­ten über die Wän­de zit­tern, wie ein Netz, dach­te Fen­ter, wie ein schwar­zes Netz, das sich zu­sam­men­zieht …

Kwa-n-Sa­na sag­te: „Der Speer kommt uns zu Hil­fe. Und du bist es, der ihn füh­ren wird.“

GRILL­ROOM. ABENDES­SEN ZWI­SCHEN 18 UND 22 UHR. AN­GE­MES­SE­NE KLEI­DUNG ER­BE­TEN.

Fen­ter fühl­te sich plump, als runder, glat­ter Stein, oh­ne Kopf, Hals und Glied­ma­ßen.

„Was soll ich tun, Kwa-n-Sa­na?“ frag­te er.

Wie­der hielt der Or­ko­yo­te ei­ne um­ständ­li­che, sehr po­li­ti­sche Re­de: „Das Un­glück kommt von den Frem­den. Sie sa­gen Hil­fe und mei­nen Ge­schäft. Sie wol­len In­dus­trie und Wirt­schaft in un­se­rem Land för­dern, aber die Ge­win­ne dar­aus wer­den sie selbst ein­ste­cken. Un­se­re Re­gie­rung in Nai­ro­bi setzt eif­rig Un­ter­schrif­ten un­ter die­se Ver­trä­ge und lädt al­le Welt ein, noch mehr Ver­trä­ge ab­zu­schlie­ßen, und die Mi­nis­ter und In­dus­trie­ver­tre­ter über­trump­fen sich ge­gen­sei­tig mit ih­ren An­ge­bo­ten.“ Er hob die Stim­me. „Wir wol­len aber das frem­de Geld nicht, es verdirbt und zer­stört uns. Wir müs­sen den Frem­den sa­gen, daß wir es nicht wol­len.“

Fen­ter, zö­gernd: „Wie kön­nen wir es ih­nen sa­gen?“

Kwa-n-Sa­na er­hob sich, brei­te­te sei­ne Ar­me wie Schwin­gen aus, sei­ne klei­nen Vo­gelau­gen fun­kel­ten.

„Du wirst den wei­ßen Mi­nis­ter tö­ten, der ges­tern abend in Mom­ba­sa ge­lan­det ist.“

Die Flam­me der Lam­pe war nun ganz er­lo­schen, doch der Ki­toi des Zau­be­rers lo­der­te in der Dun­kel­heit.

Ein Blu­top­fer!

Fen­ter mur­mel­te bleich: „Ich kann nicht, n-Sa­na, das nicht.“

Und dann sag­te er völ­lig zu­sam­men­hang­los: „Ich möch­te gern noch einen Spa­zier­gang am Strand ma­chen.“

Kwa-n-Sa­na schrie: „Du wirst den Speer füh­ren, Or-d-Fen­te. Du bist aus­er­wählt.“ Und Fen­ter hock­te ver­stört in der Hüt­te des Zau­be­rers und be­griff nicht mehr, was mit ihm ge­sch­ah.

Von drau­ßen zirp­te nächt­li­ches Lied her­ein, zag­haft, lei­se, wie von Gras­har­fen, dar­un­ter groll­te das Mau-mau des Lö­wen als fer­ner, ver­hal­te­ner Don­ner. Kwa-n-Sa­na hat­te sich wie­der auf den Bo­den ge­kau­ert, saß ab­we­send und in sich ge­kehrt, als ob er nie mit Fen­ter ge­spro­chen hät­te, sein hell­ro­ter Ki­toi wirk­te jetzt schat­ten­haft grau.

Fen­ter floh aus der Hüt­te und rann­te durchs Dorf, und erst drau­ßen, an den Gär­ten, un­ter den spär­li­chen Pal­men des Wäld­chens, glaub­te er zu be­grei­fen, daß der Zau­be­rer ein bö­ses Spiel mit ihm ge­trie­ben hat­te.

Den frem­den Mi­nis­ter tö­ten? Den Mann, der Hil­fe und Un­ter­stüt­zung brach­te? Dem es dar­um ging, die schwa­chen Völ­ker zu stär­ken? Das konn­te das Zei­chen nicht sein, das der Rat der Ah­nen von dem Or­ko­yo­ten er­war­te­te.

Kwa-n-Sa­na war klug und stark, ge­wiß, er kann­te Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft und al­le ge­hei­men Kräf­te des Le­bens, konn­te Krank­hei­ten er­ken­nen und Miß­ern­ten ab­wen­den, es gab nicht vie­le Zau­be­rer, die sich mit ihm mes­sen konn­ten – aber er war kein po­li­ti­scher Füh­rer.

„Es ist un­ser Mi­nis­ter Ett­lin­ger“, sag­te Fen­ter laut, „un­ser Ent­wick­lungs­hil­fe­mi­nis­ter, er ver­schleu­dert hier un­se­re Steu­er­gel­der, des­halb brin­ge ich ihn doch nicht um!“

Aber ich, Or-d-Fen­te, bin aus­er­wählt, den Speer zu füh­ren, am Spruch der Geis­ter läßt sich nicht rüt­teln, we­he dem Ki­ku­ju, der sich ge­gen sie stellt!

Die Geis­ter ha­ben mir den bö­sen Traum ge­schickt, mich zu prü­fen, sie ha­ben ver­hin­dert, daß ich an der Ver­samm­lung teil­nahm, schon heu­te früh war ich da­zu be­stimmt, Arm des Spee­res zu sein.

Er­ge­ben trot­te­te er ins Dorf zu­rück, schlich an den Hüt­ten ent­lang, die meis­ten Fa­mi­li­en schlie­fen be­reits. Schließ­lich blieb er ste­hen, seufz­te, es gab kei­nen Aus­weg.

Das Haus, vor dem er stand, rag­te wie ab­ge­stor­ben in die schwü­le Nacht, Mbi­se hat­te hier ge­wohnt, ein stil­ler, flei­ßi­ger Bau­er, ver­hei­ra­tet mit der ehr­gei­zi­gen Sa­rah, ge­straft mit drei schnat­tern­den Töch­tern, Mbi­se war sein Freund ge­we­sen.

Auch er hat ge­tan, was er nicht gern tat, dach­te Fen­ter und lug­te in den Ein­gang, ab­ge­stan­de­ne Luft kroch ihm ent­ge­gen. Mbi­se war in die Stadt ge­zo­gen, weil al­le ihm ein­ge­re­det hat­ten, er müs­se reich wer­den.

„Mbi­se ist tot“, sag­te Kwa-n-Sa­na.

Er­schro­cken sprang Fen­ter zu­rück – warum saß der Or­ko­yo­te in dem lee­ren Haus?

„Mbi­se hat sich selbst ge­tö­tet.“

„Warum er­schreckst du mich, n-Sa­na?“ frag­te Fen­ter.

„Laß mich al­lein, bis ich die Kraft ge­fun­den ha­be, dir zu fol­gen.“

„Mbi­se hat sich um­ge­bracht, er wuß­te kei­nen Aus­weg mehr. Sa­rah ist ihm fort­ge­rannt, sei­ne Toch­ter Na­di­na ver­kauft ih­ren Leib an Frem­de, die bei­den an­de­ren Töch­ter hun­gern.“

Der Zau­be­rer sprach mit mo­no­to­ner Stim­me und blick­te Fen­ter nicht an.

„Mbi­se war dein Freund.“

Fen­ter schrie: „Ich ha­be ihm nicht hel­fen kön­nen! Ich ha­be ihn nicht hal­ten kön­nen, als er weg­zog! Was ist ei­ne Freund­schaft, wenn das Geld sie zer­stört?“

Kwa-n-Sa­na stand ne­ben ihm, flüs­ter­te ihm ins Ohr: „Das Geld kommt von den Frem­den!“ und ver­schwand in der Dun­kel­heit.

Ca­ro­las Stim­me schnitt durch die Nacht.

„Or-d-Fen­te, wo treibst du dich her­um?“

Sie schlug den Vor­hang zu­rück, Licht fiel auf die leh­mi­ge Stra­ße. Fen­ter blin­zel­te, wie auf­ge­reiht wirk­ten die Häu­ser links und rechts, uni­form und eckig, für einen Au­gen­blick glaub­te er, der Him­mel über dem Dorf sei aus Holz, und auch der Flur, auf dem er stand.

Als er in die Hüt­te trat, schlie­fen die Kin­der, sti­ckig war die Luft, der Bo­den tro­cken wie krü­meln­der Po­ly­es­ter­schaum …

Was war das für ein Wort, durch­fuhr es Fen­ter, ich weiß nicht, was Po­ly­es­ter­schaum ist, und doch ken­ne ich die­ses Wort! Er frag­te Ca­ro­la.

Sie lach­te. „Na­tür­lich weißt du, was das ist“, sag­te sie und nahm das Kopf­tuch von ih­rem schwar­zen Kraus­haar, „du bist ein Spin­ner, Or-d-Fen­te, oder weißt du es wirk­lich nicht?“ Sie be­gann, ih­re tief dunkle Haut mit ei­ner Öl­sal­be ein­zu­rei­ben. „Das sind die­se großen wei­ßen Kunst­stoff­plat­ten, die­ses Dämm-Ma­te­ri­al, denk doch mal nach, als wir die Kaf­fee­ma­schi­ne kauf­ten: Die war in Po­ly­es­ter ver­packt.“ Der Duft des Öls ver­brei­te­te sich wie Weih­rauch.

Er starr­te sie an und hat­te über­haupt nichts ver­stan­den. Wann hat­ten sie je­mals ei­ne Kaf­fee­ma­schi­ne ge­kauft, und was war das? Stell­te man jetzt auf den Plan­ta­gen Kaf­fee ma­schi­nell her?

Sein gan­zer Kör­per schmerz­te, stöh­nend preß­te er die Hän­de aufs Ge­sicht, trotz der brü­ten­den Wär­me im Haus war ihm kalt.

„Ist dir nicht gut?“ hör­te er Ca­ro­la.

Kaf­fee­ma­schi­ne. Po­ly­es­ter­schaum. Na­di­na. TÄ­TI­GEN SIE IH­RE EIN­KÄU­FE IN DEN VOR­MIT­TAGS­STUN­DEN.

„Weiß nicht, muß schla­fen“, sag­te er und fiel auf­sein La­ger, von ir­gend­wo­her klirr­te La­chen durchs Dorf.

Mi­nis­ter Ett­lin­ger. Ex­port. Pro­kopfein­kom­men, UN­TER­NEH­MEN SIE KEI­NE AUS­FLÜ­GE AUF EI­GE­NE FAUST.

Als Ca­ro­la sich nie­der­leg­te, schlief er be­reits. Mit­ten in der Nacht weck­te ihn der Or­ko­yo­te.

„Es ist Zeit. Komm.“

Fen­ter fährt auf, stol­pert hin­aus. „Nach Mom­ba­sa, jetzt?“ sag­te er ent­setzt.

Kwa-n-Sa­na ant­wor­tet nur: „Fol­ge mir.“

Sie ver­las­sen das Dorf, vor­bei an den Gär­ten, am Wäld­chen und den aus­ge­dehn­ten Wei­den, Fen­ter stapft zag­haft und schweig­sam hin­ter dem Zau­be­rer her, der Hoch­ebe­ne ent­ge­gen. Klar ist die Nacht, hoh­ler Wind be­wegt das Sa­van­nen­gras, n-Sa­nas stau­bro­ter Ki­toi ra­schelt wie Bran­dung. Er wan­dert schnell in kräf­ti­gen, weit aus­ho­len­den Schrit­ten, blickt sich nicht um, von sei­ner lin­ken Schul­ter pen­delt ein el­fen­bei­ner­nes Hörn her­ab. Fen­ter hat Mü­he mit­zu­kom­men, ob­wohl der Weg eben und schnur­ge­ra­de ist, mehr­fach fällt er in hol­pern­den Trab, sein Atem geht stoß­wei­se. Angst, aber auch Neu­gier er­füllt ihn: heu­te nacht – nach Mom­ba­sa – zu Fuß! Er ist noch nie in sei­nem Le­ben in der großen Ha­fen­stadt ge­we­sen, weiß nur, daß sie vie­le Ta­ges­rei­sen fern liegt, ein lär­men­des, men­schen­fres­sen­des Un­ge­heu­er jen­seits der Step­pe …

Jetzt tau­chen im Licht des Mon­des Fels­bro­cken auf, erst ver­ein­zelt, wie hin­ge­wür­felt, dann grö­ße­re Blö­cke, ei­ne skur­ri­le, dä­mo­ni­sche Land­schaft voll stei­ner­ner, stum­mer Rie­sen, Ge­sich­ter wie Mas­ken, wuch­ti­ge Kör­per, auf­ge­reiht ste­hen sie da, wie zum Großen Rat ver­sam­melt, der blas­se Mond­schein gibt ih­nen einen Hauch von Be­we­gung. Doch Fen­ter hat kei­ne Zeit, sie zu be­trach­ten, schon ver­schwin­det n-Sa­na zwi­schen den Stei­nen und wan­dert auf ein Fels­mas­siv zu, das hin­ter den Me­ga­lithen in den west­li­chen Nacht­him­mel ragt. Ein manns­brei­ter Spalt in der Wand führt hin­auf in ei­ne Schlucht, die sich gleich dar­auf zu ei­ner Lich­tung wei­tet, be­hend flat­tert der Zau­be­rer hin­auf, über­win­det her­ab­ge­stürz­te Stei­ne und me­ter­tie­fe Ris­se, „War­te!“ keucht Fen­ter, ver­liert ihn aus den Au­gen, rutscht ab, ver­sucht es wie­der.

Als er den Or­ko­yo­ten ein­holt, hockt der schon mit­ten auf dem ebe­nen, kir­chen­großen Platz im fahl­hel­len Licht des Him­mels, der Voll­mond neigt sich be­reits dem Wes­ten zu. Rings­um ra­gen Fels­wän­de schroff auf, kein Wind, kein Tier­laut ist zu hö­ren.

Kwa-n-Sa­na hat den Ele­fan­ten­zahn ne­ben sich ge­legt, ihm tro­ckene Kräu­ter ent­nom­men, die er nun zu ei­nem Kreis streut; be­fiehlt Fen­ter, sich auf den Bo­den zu hocken, und um­gibt ihn eben­falls mit ei­nem Kräu­ter­kreis.

„Ein Ogun-Zau­ber?“ durch­fährt es Fen­ter.

„Ogun!“ nickt Kwa-n-Sa­na. „Und jetzt schweig!“

Für wen die­se Me­di­zin? Bin ich wirk­lich krank? Will er mich von den quä­len­den Träu­men hei­len, den Wör­tern, die mein Hirn ver­wir­ren?

Star­ren Ge­sichts steigt der Or­ko­yo­te in sei­nen Kreis, hüllt sich in den Ki­toi, schließt die Au­gen und be­tet, ei­ne Stun­de ver­geht, ei­ne zwei­te, es wird Mor­gen.

All­mäh­lich löst sich in Fen­ter die kramp­fen­de Angst, sein Kopf wird frei und leicht, mit dem Duft der Kräu­ter stei­gen die Ge­dan­ken auf und schwe­ben in den frü­hen Mor­gen. Zu­nächst sieht er nur n-Sa­nas kau­ern­de Ge­stalt, die klei­nen, ste­chen­den Au­gen, in de­nen sich die Schlucht, die Fels­wän­de, der wei­te, stau­bro­te Him­mel spie­geln, dann dehnt sich der Blick über das Fels­mas­siv hin­aus, er sieht das kar­ge, grau­grü­ne Step­pen­land, Wäl­der, We­ge und Dör­fer, rie­si­ge Parks vol­ler Wild, Lö­wen, Ele­fan­ten­her­den, ge­pflas­ter­te Stra­ßen, die Küs­te, die Stadt auf der vor­ge­la­ger­ten In­sel, den Damm, der sie mit dem Fest­land ver­bin­det, das große, lich­ter­b­lin­ken­de Are­al, die Lan­de­bahn und das flag­gen­ge­schmück­te Flug­ha­fen­ge­bäu­de …

Kwa-n-Sa­na reißt ihn zu­rück, „Noch nicht!“ ruft er zor­nig, und Fen­ter springt auf, zit­ternd und to­des­kalt steht er in der en­gen Schlucht. Der Or­ko­yo­te tanzt in ma­gi­schen Be­we­gun­gen um ihn her­um, singt in ei­ner un­be­kann­ten Spra­che, in rhyth­mi­schen Ab­stän­den springt er in Fen­ters Kreis und be­rührt den stei­fen Kör­per mit sei­nen Hand­flä­chen, Fen­ter spürt, wie Kraft in ihn quillt. Plötz­lich greift ihm n-Sa­na ins Hemd, zieht ei­ne Zei­tung her­aus, ent­fal­tet sie und hält sie hoch über den Kopf, dort reißt er sie in schnel­le, schma­le Fet­zen. Das Pa­pier flat­tert zu Bo­den, ra­schelt fort, ver­stummt, rings­um wird es to­ten­still, selbst die Be­we­gun­gen des tan­zen­den Zau­be­rers sind laut­los und wie aus ei­ner an­dern Zeit.

Atem­los starrt Fen­ter den letz­ten Fet­zen Pa­pier an, den er noch im­mer über den Kopf hält, die perlend­schwar­zen Au­gen, die klau­en­ar­ti­gen Hän­de, den Ki­toi, der den Zau­be­rer wie Ge­fie­der um­gibt. Da bricht der ers­te Son­nen­strahl in die Schlucht.

„Jetzt!“ schreit der Or­ko­yo­te und streckt Fen­ter den Zei­tungs­fet­zen ent­ge­gen, dar­auf ein Fo­to: der lä­cheln­de, win­ken­de Ent­wick­lungs­hil­fe­mi­nis­ter in Mom­ba­sa.

Fen­ters rech­ter Arm fliegt nach vorn, sein speer­spit­zer Zei­ge­fin­ger durch­bohrt das Pa­pier, Blut brei­tet sich zu ih­ren Fü­ßen aus.

„Das Zei­chen!“ singt Kwa-n-Sa­na; Fen­ter, von über­schäu­men­dem Glücks­ge­fühl be­rauscht, reckt den blu­ti­gen Fin­ger dem Him­mel ent­ge­gen.

„Das Zei­chen!“ sin­gen sie, und mit ih­rem Ge­sang keh­ren die Ge­räusche zu­rück, der frü­he Atem des Tags. Er hört na­hes Rau­schen und Plät­schern, Klir­ren wie von Ke­ra­mik oder Por­zel­lan, Kin­der­la­chen, Ra­dio­mu­sik, ein rot­bun­ter Vor­hang flat­tert ins en­ge Ho­tel­zim­mer.

Ihm ist schwind­lig, der keh­li­ge Ge­sang des Or­ko­yo­ten füllt sei­nen lee­ren, glück­li­chen, tau­ben Kopf, vor sei­ne Au­gen zieht ein blu­tig­ro­ter Schlei­er, er fällt.

Fen­ter weiß nicht, wie lan­ge er so ge­le­gen hat, of­fen­bar hat ihn Kwa-n-Sa­na aus der Lich­tung ge­tra­gen, denn er er­wacht am Fuß ei­nes der mäch­ti­gen Me­ga­lithen, die jetzt in der Hit­ze des Ta­ges feuch­ten Schat­ten spen­den. N-Sa­na tupft Was­ser auf sei­ne Lip­pen, das sich in ei­ner Mul­de des Steins ge­sam­melt hat, lä­chelt, die schwar­zen Au­gen bli­cken mü­de und stumpf.

Er sagt: „Du wirst dei­ne Kräf­te bald zu­rück­keh­ren spü­ren. Es ist gut. Der Ogun war mäch­tig.“

Fen­ter sinkt zu­rück, die Au­gen fal­len ihm wie­der zu, das Was­ser auf sei­nen Lip­pen schmeckt sal­zig, frisch. Ir­gend­wann wäh­rend sei­nes lan­gen, kräf­ti­gen Schlafs meint er, Kwa-n-Sa­na ne­ben dem Fels­stein ste­hen zu se­hen, die was­ser­ge­füll­te Mul­de sieht aus wie ei­ne Pfüt­ze im feuch­ten Sand, ein stau­bro­ter Vo­gel stößt sei­nen schar­fen Schna­bel hin­ein, Fen­ter lä­chelt und schläft.

„Mein Gott, in was für ei­ner schreck­li­chen Ge­gend sind wir hier!“ sag­te Ca­ro­la. Sie lag ne­ben Fen­ter auf ei­ner grell­bun­ten Luft­ma­trat­ze, weit und weiß dehn­te sich um sie her­um der Strand. Weiß glänz­ten auch ih­re schul­ter­lan­gen Haa­re, auf ih­rer blas­sen Haut zeig­te sich star­ke Rö­tung. Sie fal­te­te die Bou­le­vard­zei­tung zu­sam­men und wand­te sich ih­rem Mann zu.

Fen­ter blin­zel­te.

„Bist du wach?“ frag­te sie.

Er schloß die Au­gen, lausch­te der Bran­dung und dem Stim­men­ge­wirr der Ba­de­gäs­te, Kin­der­krei­schen, ein Hund bell­te. Vor­sich­tig tas­te­te er sich über den kah­len Kopf, die Haut brann­te.

„Brauchst du noch mal die Cre­me?“ frag­te Ca­ro­la.

Er blin­zel­te wie­der.

Die blon­de Frau auf der Luft­ma­trat­ze war Ca­ro­la, kein Zwei­fel, sie la­gen am Strand des Waiki­kiho­tels, vor ih­nen dehn­te sich der ho­he, grü­ne In­di­sche Ozean.

„Cord! Hör doch mal zu!“ sag­te sie.

Jetzt sah er auch die Kin­der, sie spiel­ten im Sand, auch ih­re Rücken und Ar­me wa­ren rot­ge­brannt. Cord ju­ni­or blick­te her­über und rief: „Spiel wie­der mit, Pa­pi, bit­te, du kannst das so gut.“

„O ja!“ as­sis­tier­te Chris­ti­ne. „Spiel wie­der Me­di­zin­mann, ich hör so gern, wenn du so schau­rig singst.“

Ei­ne Sand­burg hat­ten sie ge­baut, nein, das war kei­ne Burg, ein Dorf stand dort mit run­den, spitz­ke­ge­li­gen Hüt­ten, ei­ner großen, pfahl­ge­stütz­ten an dem einen En­de des Or­tes, in der Mit­te, von Sand­ei­mern fach­ge­recht ge­formt, die Fa­mi­li­en­häu­ser, dann ein frei­er Platz mit zwei Stei­nen, ei­nem fla­chen, wan­nen­för­mi­gen und ei­nem, der spitz auf­rag­te, und am an­de­ren En­de des Dor­fes das Haus des Or­ko­yo­ten …

„Hast du schon ge­le­sen, was in Mom­ba­sa pas­siert ist?“ frag­te Ca­ro­la. Er starr­te das Dorf im Sand an, die Um­fas­sungs­mau­er …

„Wir wer­den noch ein paar Gär­ten bau­en!“ schlug Chris­ti­ne vor.

Ca­ro­la fal­te­te die Zei­tung aus­ein­an­der. „Ges­tern wur­de auf un­se­ren Mi­nis­ter Ett­lin­ger ein At­ten­tat ver­übt. Auf un­se­ren Mi­nis­ter!“

„Ett­lin­ger?“

„Mein Gott!“ sag­te Ca­ro­la noch ein­mal. „Wir sind hier wahr­haf­tig un­ter die Wil­den ge­ra­ten.“

„Auf den Mi­nis­ter Ett­lin­ger?“ sag­te Fen­ter.

„Wenn du in Ur­laub bist, ist dir wohl al­les ei­ner­lei. Du hörst kei­ne Nach­rich­ten, liest kei­ne Zei­tung!“ Sie warf ihm das Blatt aufs Ge­sicht.

„Das Zei­chen!“ mur­mel­te er.

„Er ist tot!“ schrie Ca­ro­la.

Fen­ter nahm die Zei­tung nicht auf. „Wer hat es ge­tan?“ mur­mel­te er un­in­ter­es­siert.

Sie fal­te­te das Blatt wie­der zu­sam­men, auf der ers­ten Sei­te der große Auf­ma­cher mit Fo­tos und Be­rich­ten.

„Ir­gend so ein Mau-mau-Ter­ro­rist, ver­mu­ten die Be­hör­den. Kei­ner hat ei­ne Er­klä­rung da­für, wie es über­haupt pas­sie­ren konn­te. Große Un­ter­su­chung wird an­ge­kün­digt, Spe­zi­al­trup­pe aus Bonn ist un­ter­wegs.“

Cord ju­ni­or sprang auf und ras­te in die Wel­len.

„Das Dorf!“ schrie Chris­ti­ne. „Du zer­tram­pelst ja al­les!“

Fen­ter mein­te, in der Hand sei­nes Soh­nes einen Ze­bust­ab zu se­hen, ihm war auch, als hör­te er noch ein­mal die Rin­der hin­ter dem Wäld­chen, aber er blieb still und glück­lich auf der Luft­ma­trat­ze lie­gen, drei­ßig Grad Wär­me, Son­ne, kla­rer Him­mel, er rä­kel­te sich.

Lä­chel­te, als Ca­ro­la sag­te:

„Den Ett­lin­ger. Ver­stehst du das?“