Gard­ner Do­zo­is
Begegnung mit Lilith
A KING­DOM BY THE SEA

 

Je­den Tag stand Ma­son da mit sei­nem Ham­mer und tö­te­te Kü­he. Es war ein großes Ge­bäu­de – ei­ne lang­ge­streck­te, ho­he Hal­le, an ei­nem En­de of­fen, so daß das Ta­ges­licht her­ein­ström­te, und das an­de­re En­de ver­schwand ir­gend­wo in den Tie­fen der Fa­brik. Die Wän­de wa­ren weiß und kon­tu­ren­los – aus ge­kalk­tem Be­ton –, und sie wur­den täg­lich zwei­mal ab­ge­wa­schen, ein­mal vor der Mit­tags­pau­se und ein­mal nach der Ar­beit. Auch der Fuß­bo­den war ab­wasch­bar. Er be­stand aus Stein­plat­ten, und es gab einen Was­ser­an­schluß, mit des­sen Hil­fe man den Bo­den über­flu­ten konn­te. Dann nahm man einen Be­sen mit har­ten Bors­ten, mit dem man das Was­ser um­her­fe­gen und die Fle­cken auf­wi­schen konn­te. In der Ar­mee nann­te man die­se Tä­tig­keit „einen GI ma­chen“. Ma­son war in der Ar­mee ge­we­sen. Er nann­te es „einen GI ma­chen“. Die drei oder vier an­de­ren Ve­te­ra­nen, die in sei­ner Schicht ar­bei­te­ten, nann­ten es eben­so, und für sie war es im­mer ein Jux, wenn sie den Col­le­ge­bürsch­chen, die als Aus­hil­fen in der Fa­brik be­schäf­tigt wa­ren, er­klär­ten, wie­so die Ar­beit, zu der sie sich hat­ten an­stel­len las­sen, so hieß. Die Col­le­ge­bu­bis wuß­ten nie, was „einen GI ma­chen“ war, bis man es ih­nen zeig­te, und sie be­grif­fen auch nie, was dar­an wit­zig sein soll­te oder wes­halb es so ge­nannt wur­de. Sie wa­ren für ge­wöhn­lich ziem­lich däm­lich.

Im Bo­den be­fand sich ein Ab­fluß, durch den das Was­ser ab­lau­fen konn­te, wenn man den GI ge­macht hat­te. Trotz al­lem aber ließ sich die Hal­le nie­mals völ­lig sau­ber schrub­ben. Am En­de des Ta­ges blieb im­mer ein we­nig Blut zu­rück, das den Bo­den und die Wän­de be­fleck­te. Al­len­falls konn­te man hof­fen, es in den Stein­plat­ten zu ver­rei­ben, so daß man es nicht mehr er­ken­nen konn­te. Nach ei­ni­ger Zeit wur­de das Weiß des­halb schmud­de­lig und stumpf­te schließ­lich zu ei­nem schmut­zi­gen Spül­was­ser­grau ab.

Dann wur­de die Hal­le wie­der ge­kalkt, und das Gan­ze be­gann von vorn.

Die­ser Kreis­lauf dau­er­te et­was län­ger als ein Jahr, und im Au­gen­blick wa­ren sie un­ge­fähr zur Hälf­te hin­durch. Die Män­ner, die hier ar­bei­te­ten, in­ter­es­sier­te es im Grun­de einen Dreck, ob die Wän­de weiß wa­ren oder nicht, aber es war ei­ne Be­triebs­vor­schrift. Die Vor­schrif­ten be­stan­den dar­auf, daß die Hal­le aus hy­gie­ni­schen Grün­den so sau­ber wie mög­lich ge­hal­ten wur­de, aber es diente auch da­zu, sie psy­cho­lo­gisch at­trak­ti­ver zu ma­chen, da­mit das Per­so­nal bes­ser funk­tio­nier­te. Die Ar­bei­ter hät­ten sich auch um die psy­cho­lo­gi­sche At­trak­ti­vi­tät ih­rer Um­ge­bung einen Dreck ge­küm­mert, selbst wenn sie ge­wußt hät­ten, was das war. Es war ein­fach nicht zu ver­mei­den, daß es an ei­nem Ar­beits­tag hier ein biß­chen schmut­zig wur­de.

Es war ein Schlacht­haus, auch wenn es in den Schrif­ten der Fir­ma im­mer als Fleisch­ver­pa­ckungs­fa­brik be­zeich­net wur­de.

Der Mann, der das ei­gent­li­che Tö­ten aus­führ­te, war Ma­son: der Brenn­punkt der Fir­ma, al­ler Fleisch­pa­cker und Last­wa­gen und Kon­ser­ven­ab­füllan­la­gen und Se­kre­tä­rin­nen und Ak­tio­näre. Er war ihr kleins­ter ge­mein­sa­mer Nen­ner. Bei ihm fing al­les an.

Er stand mit sei­nem Ham­mer am of­fe­nen En­de der Hal­le, ganz vorn am An­fang des Werks, und dort war­te­te er auf die Kü­he, die vom La­de­hof her­ein­ka­men. Er hat­te einen zehn­pfün­di­gen Vor­schlag­ham­mer, lang und schwer, mit ge­rif­fel­tem Gum­mi am Griff, da­mit er ihn bes­ser hal­ten konn­te. Da­mit schlug er den Kü­hen ge­gen den Schä­del. Sie trie­ben die Kü­he ein­zeln her­ein, über einen ab­schüs­si­gen Gang di­rekt zu Ma­son, und Ma­son ließ sei­nen Ham­mer nie­der­schwin­gen und schlug der Kuh mit un­ge­heu­rer Ge­walt zwi­schen die Au­gen, und der Ham­mer fuhr glatt durch den Schä­del­kno­chen mit­ten ins Hirn und tö­te­te die Kuh au­gen­blick­lich. Ein Schwall von war­mem, kleb­ri­gem Blut drang her­vor, und blau-ro­te Hirn­mas­se spritz­te auf, die Kuh knick­te in den Vor­der­bei­nen ein, als woll­te sie sich ver­nei­gen, und dann brach das Hin­ter­teil zu­sam­men, und mit ei­nem don­nern­den Kra­chen sack­te der gan­ze Kör­per zur Sei­te – und al­les war Sa­che ei­nes Au­gen­blicks. Die Kuh wur­de, ra­send vor Angst, in den Gang ge­drängt, der zu Ma­son führ­te, ih­re Flan­ken glänz­ten, und der Schaum stand in Flo­cken vor ih­rem Maul, und dann – so schnell, daß man es fast nicht sah – traf es sie wie ein Blitz­schlag, und sie war ein zu­cken­der Ka­da­ver auf dem Stein­bo­den, und das Blut quoll dick aus ih­rem zer­schmet­ter­ten Schä­del.

Nach der ers­ten Kuh des Ta­ges war Ma­son blut­be­spritzt, und sei­ne Ar­me wa­ren rot bis über die Ell­bo­gen. Es küm­mer­te ihn nicht – es ge­hör­te zu sei­nem Job, und er be­merk­te es kaum. Er dusch­te zwei­mal am Tag und zog sich vor und nach dem Mit­tages­sen um. Die Fir­ma rei­nig­te sei­ne wei­ßen Ar­beits­an­zü­ge und Kit­tel kos­ten­los. Er ar­bei­te­te rasch und ef­fi­zi­ent; er brauch­te nie­mals mehr als einen Schlag zum Tö­ten. Wenn Ma­son die Kuh ge­tö­tet hat­te, wur­de sie mit ei­nem Ha­ken hoch­ge­zo­gen, man schnitt ihr die Keh­le durch und ließ sie ein paar Mi­nu­ten lang aus­blu­ten. Dann kam ein an­de­rer Mann mit ei­nem lan­gen, schwe­ren Mes­ser und vier­teil­te sie. Da­nach wur­de der Ka­da­ver wei­ter zer­teilt, je­des Stück wur­de an einen Ha­ken ge­hängt und über ei­ne un­ter der De­cke da­hin­ras­seln­de För­der­an­la­ge zu den Ver­pa­ckungs­ab­tei­lun­gen trans­por­tiert, die wei­ter hin­ten in der Fa­brik la­gen.

Die Kü­he schie­nen stets zu wis­sen, was ih­nen be­vor­stand – sie be­gan­nen ner­vös zu brum­men und angst­voll die Au­gen zu rol­len, so­bald sie aus dem Gü­ter­wa­gen auf die Ram­pe ge­trie­ben wur­den. Wenn die ers­te Kuh ge­schlach­tet war, ver­wan­del­te sich ih­re Angst in Ent­set­zen. Der Ge­ruch des Blu­tes ver­setz­te sie in Ra­se­rei. Sie schlu­gen aus und brüll­ten und schnaub­ten und bock­ten, ruck­ar­tig und wie be­sin­nungs­los zuck­ten sie hin und her und ver­such­ten sich los­zu­rei­ßen. Sie ver­dreh­ten die Au­gen, bis man das Wei­ße sah, sie be­gan­nen zu schäu­men, und ih­re Flan­ken wur­den glän­zend vom Schweiß. An die­ser Stel­le be­schleu­nig­te Ma­son sein Ar­beit­stem­po und ver­such­te, sie al­le zu tö­ten, ehe sie ihr Fett ab­schwem­men und an Ge­wicht ver­lie­ren konn­ten. Nach ei­ner Wei­le be­gan­nen sie zu schrei­en, und dann muß­te man sie mit ro­her Ge­walt auf Ma­sons Ham­mer zu­trei­ben. Schließ­lich, wenn sie völ­lig er­schöpft wa­ren, ver­stumm­ten die letz­ten Kü­he; sie zit­ter­ten und stöhn­ten lei­se, bis Ma­son sie sich vor­neh­men konn­te, und dann star­ben sie leicht und oh­ne noch lan­ge zu zu­cken. Um sich zu un­ter­hal­ten, re­de­ten Ma­son und die an­de­ren Ar­bei­ter oft sar­kas­tisch mit den Kü­hen, sie mach­ten Wit­ze über sie, rie­fen sie bei ir­gend­wel­chen Ko­sen­a­men und sag­ten ih­nen – nach Art des Arz­tes, der in ei­ner Un­ter­hal­tungs­sen­dung im Fern­se­hen auf­trat –, daß al­les gut sei und daß es nur einen win­zi­gen Au­gen­blick lang weh tun wer­de. Sie sag­ten ih­nen, was sie doch für dum­me, däm­li­che Bies­ter sei­en – „So ist’s recht, mein Schatz. Komm her, du dickes, däm­li­ches Biest. Pa­pa hat ei­ne Über­ra­schung für dich.“ –, oder sie brüll­ten sie an, daß sie doch ver­dammt ge­nau ge­wußt hät­ten, wor­auf sie sich ein­lie­ßen, als sie sich frei­wil­lig mel­de­ten. Manch­mal schlos­sen sie Wet­ten dar­über ab, wie hart Ma­son ei­ne Kuh mit sei­nem großen Ham­mer schla­gen könn­te und wie hoch das Ge­hirn nach dem Schlag sprit­zen wür­de. Ein­mal hat­te Ma­son einen Dol­lar von Kaplan ge­won­nen, weil er ei­ne Kuh so hef­tig traf, daß sie schon von dem Schlag in die Knie ging. Sie wa­ren nicht ge­fühl­lo­ser als an­de­re Leu­te, aber ihr Job war im Grun­de lang­wei­lig und un­an­ge­nehm, und wie al­le Leu­te mit lang­wei­li­gen und un­an­ge­neh­men Jobs ver­such­ten sie so, sich ein we­nig Ab­wechs­lung und Di­stanz zu ver­schaf­fen. Für Ma­son war es nur ein Job, nicht bes­ser und nicht schlech­ter als je­der an­de­re. Es war lang­wei­lig, aber er hat­te noch nie einen Job ge­habt, der nicht lang­wei­lig war. Zu­min­dest wur­de es gut be­zahlt. Er ver­rich­te­te sei­ne Ar­beit mit dem glei­chen me­tho­di­schen Des­in­ter­es­se, das er für je­den an­de­ren Job auf­ge­bracht hat­te. Es war sein Job, es war das, was er tat.

Je­den Tag stand Ma­son da mit sei­nem Ham­mer und tö­te­te Kü­he.

 

Es reg­ne­te: ein ru­ßi­ger Stadt­re­gen, der einen eher schmut­zig als naß wer­den läßt. Ma­son steht im Re­gen an der Bus­hal­te­stel­le und war­tet auf den Bus, wie er es je­den Tag tut, wie er es in den ver­gan­ge­nen sechs Jah­ren je­den Tag ge­tan hat. Er hat den Kra­gen hoch­ge­schla­gen, um den Wind ab­zu­hal­ten, die Hän­de in den Ta­schen, kei­nen Hut, und sein Haar klebt feucht auf sei­ner Stirn. Er steht ein we­nig ge­beugt da, der Kopf hängt kaum wahr­nehm­bar her­ab – er ist mü­de, die Mus­keln in sei­nen Schul­tern sind kno­tig von der An­stren­gung, und sein Nacken brennt. Die über­mä­ßi­ge Er­schöp­fung sei­nes Kör­pers ver­blüfft ihn; mit leich­tem Un­be­ha­gen ver­la­gert er sein Ge­wicht von ei­nem Fuß auf den an­de­ren – es ist mör­de­risch, hier zu ste­hen, nach­dem man den gan­zen Tag auf den Bei­nen war, und er spürt es in den Schen­keln und in den Wa­den. Er hat wie­der sei­nen Re­gen­man­tel ver­ges­sen. Er ist ein großer Mann, kräf­tig in Brust und Schul­tern, mit lan­gen Ar­men, brei­ten, mus­ku­lö­sen Hand­ge­len­ken und schwe­ren, re­si­gnier­ten Ge­sichts­zü­gen. Er­zeigt die ers­ten An­sät­ze ei­nes zu­künf­ti­gen Spitz­bau­ches, und bald wird er Spreiz­fü­ße ha­ben. In sei­ner Per­so­nal­ak­te (ver­trau­lich) steht: nicht ag­gres­siv und von un­ter­durch­schnitt­li­chem Durch­set­zungs­ver­mö­gen, mit ge­rin­gem Ener­gie­po­ten­ti­al, anal ori­en­tiert (ar­beit­sam, sorg­fäl­tig, tüch­tig), höchst an­pas­sungs­fä­hig, nicht ent­schei­dungs­freu­dig, kann je­doch in un­te­ren Po­si­tio­nen Ver­ant­wor­tung tra­gen, ar­bei­tet am bes­ten im Team, kein Un­ru­he­stif­ter: ein gu­ter Ar­bei­ter. Er selbst be­zeich­net sich häu­fig als Trot­tel, al­ler­dings ge­wöhn­lich in scherz­haft ge­mil­der­ten Zu­sam­men­hän­gen (z.B.: „Him­mel, so was dürft ihr doch einen ar­men Trot­tel wie mich nicht fra­gen!“ oder: „Schei­ße, ich bin doch bloß ein däm­li­cher, schuf­ten­der Trot­tel.“) Er ist Mit­te Drei­ßig, auf der ab­stei­gen­den Sei­te. Er wur­de hier ge­bo­ren, in ei­ner Ein­wan­de­rer­ge­gend, als ein­zi­ges Pres­by­te­ria­ner­kind in ei­nem Meer von ka­tho­li­schen Aus­län­dern – er muß­te zwei Mei­len weit zur Sonn­tags­schu­le lau­fen. Er wuchs auf im In­dus­trie­vier­tel der Stadt, quäl­te sich durch High School und Ar­mee, zog dann von Job zu Job, von Stadt zu Stadt, als Tel­ler­wä­scher, Kell­ner, Bau­ar­bei­ter (Mu­sik­bo­xen, Hin­ter­zim­mer, Sä­ge­mehl, Son­ne, Was­ser aus Blechei­mern), ar­bei­te­te hier vier Mo­na­te, dort sechs, auch mal ein Jahr, und dann wie­der zu­rück auf die Stra­ße, un­ter­wegs, und nach acht Jah­ren war er wie­der in sei­ner Hei­mat­stadt und in sei­nem al­ten Job (den er vor der Ar­mee ge­habt hat­te), und der Kreis war ge­schlos­sen. Als er dies­mal die Rast­lo­sig­keit wie­der spürt, nach ei­nem Jahr, läuft er den gan­zen Weg bis zum Bus­bahn­hof (und da sitzt er dann, um drei Uhr mor­gens, es ist lau­sig kalt, und er ist al­lein in der rie­si­gen, lee­ren Hal­le, und erst dort er­kennt er, daß er nichts mehr hat, wo­hin er ge­hen könn­te, und nichts, was er dort tun könn­te. Er fährt nicht weg. Er bleibt: zwei Jah­re, drei, vier, und jetzt sechs – län­ger als er je zu­vor ir­gend­wo ge­blie­ben ist. Sechs Jah­re, die sich her­an­schlei­chen und vor­über sind, ehe er es ge­merkt hat, ganz un­ver­se­hens (Be­triebs­aus­flü­ge, Weih­nach­ten, Him­mel – schon wie­der die Steu­er?), die Zeit ver­schwimmt zu ei­nem öli­gen, grau­en Knäu­el und hin­ter­läßt nichts als al­te Ka­len­der. Er wird nie wie­der un­ter­wegs sein. Er bleibt end­gül­tig hier. Die Zu­kunft ist Ver­gan­gen­heit ge­wor­den, oh­ne die Ge­gen­wart je zu strei­fen. Er be­greift nicht, was mit ihm ge­sche­hen ist, aber all­mäh­lich be­kommt er Angst.

Er steigt in den Bus und fährt nach Hau­se.

Drin­nen im voll­ge­pfropf­ten, schweiß­sti­cki­gen Bus ge­steht er sich zum ers­ten Mal ein, daß er viel­leicht alt wird.

 

Ma­sons Woh­nung lag am Ran­de ei­nes dicht be­bau­ten Vier­tels in ei­ner Stra­ße von her­un­ter­ge­kom­me­nen sechs­stö­cki­gen Sand­stein­ge­bäu­den. Es wa­ren nicht di­rekt Slums, nicht wie die Ge­gend, in der die Far­bi­gen wohn­ten (Ma­son sag­te stur „Far­bi­ge“, auch wenn die Jungs in der Fa­brik von „Nig­gern“ spra­chen), und nicht wie der Be­zirk, wo die jun­gen Leu­te, die Beat­niks, haus­ten, aber ei­ne Ge­gend mit nied­ri­gen Mie­ten, ja. Ar­bei­ter wohn­ten hier, Leu­te mit ge­rin­gem Ein­kom­men. Die wei­ßen Ar­men ver­steck­ten sich hier seit 1920 und späh­ten hin­ter di­cken, ver­bli­che­nen Vor­hän­gen und ris­si­gen Ja­lou­si­en her­vor. Man­che von ih­nen wa­ren nie hier her­aus­ge­kom­men. Die Ein­wan­de­rer wa­ren von den Schif­fen her­un­ter in die­ser Ge­gend un­ter­ge­taucht, sie wa­ren im­mer noch hier, wa­ren im­mer noch Ein­wan­de­rer, noch nach drei­ßig Jah­ren, nur äl­ter und ver­bli­che­ner, wie ver­gilb­te Pho­to­gra­phien. Al­le die, de­nen es nicht ge­lun­gen war, be­trü­ge­ri­sche Po­li­ti­ker oder Gangs­ter oder un­ehr­li­che Rechts­an­wäl­te zu wer­den – al­le ver­ges­sen: graue, mensch­li­che Über­bleib­sel. Auf den Brief­käs­ten stan­den ab­wech­selnd Na­men wie Gold­stein, Ko­wal­c­zyk und Ric­ciar­di. Es war ei­ne dunkle, stil­le Ge­gend mit we­ni­gen großen Ge­schäf­ten, oh­ne Ki­nos und oh­ne rich­ti­ge Re­stau­rants. Es gab ein paar Bow­ling­bah­nen. Am nächs­ten drang die Zi­vi­li­sa­ti­on bis hier­her in Ge­stalt ei­nes ho­hen Be­ton­ge­bäu­des mit Apart­ments für kriegs­ver­sehr­te Ve­te­ra­nen, das ein oder zwei Blocks weit im Os­ten stand, so­wie in dem strom­li­ni­en­för­mi­gen, chrom­blit­zen­den, ne­on­schim­mern­den Ein­kaufs­zen­trum et­wa ei­ne hal­be Mei­le wei­ter im Wes­ten, am Ran­de ei­ner Haupt­ver­kehrs­ader. Im Nor­den leuch­te­ten die Lich­ter der Stadt, und Hoch­häu­ser wan­der­ten über den Ho­ri­zont nach Sü­den: H. G. Wells-Mar­sia­ner, rie­si­ge Flä­chen von wich­tig­tue­risch blit­zen­den Fens­tern.

Ma­son stieg aus. Am Rinn­stein war ei­ne Pfüt­ze, und er trat mit­ten hin­ein. Er spür­te, wie das Was­ser sei­ne So­cken durch­näß­te. Der Bus ließ ver­ächt­lich sei­ne Tü­ren hin­ter ihm zu­schnap­pen. Rum­pelnd fuhr er da­von, nicht oh­ne ihm den Aus­puff qualm ins Ge­sicht zu fur­zen. Ma­son mach­te sich plat­schend auf den Heim­weg, ein­gehüllt vom Re­gen­dunst, und die Feuch­tig­keit leg­te sich per­lend auf Stirn und Lip­pen. Sei­ne Schu­he quietsch­ten. Ein schwe­rer Koch­dunst lag in der nas­sen Luft, wür­zig und fremd­ar­tig. Ir­gend­wo klap­per­te je­mand mit Müll­ton­nen. Au­tos hup­ten ihn kla­gend an, als sie vor­über­rausch­ten.

Ma­son ach­te­te nicht auf sie, er fum­mel­te au­to­ma­tisch nach sei­nem Schlüs­sel, als er sich der Haus­tür nä­her­te. Er ver­such­te sich ei­ne Aus­re­de aus­zu­den­ken, um heu­te abend zu Hau­se zu blei­ben. Heu­te war Diens­tag, sein Bow­lin­ga­bend. Kaplan wür­de bald an­ru­fen, und er wür­de ihm et­was er­zäh­len müs­sen. Er hat­te ein­fach kei­ne Lust auf Bow­ling, und sie könn­ten ja um­dis­po­nie­ren und John­son an sei­ner Stel­le ein­set­zen. Er stieß den Schlüs­sel ge­gen das Schloß. Geh schon rein, ver­dammt. Es wä­re das ers­te Mal in sechs Jah­ren, daß er nicht zum Bow­ling gin­ge. Selbst im letz­ten Herbst, als er die Grip­pe hat­te – Him­mel, wie hat­te Em­ma dar­über ge­me­ckert. Als wä­re er von sei­nem To­ten­bett auf­ge­stan­den. Sie hat­te sich im­mer viel zu sehr um ihn ge­sorgt, im­mer noch, nach sechs Jah­ren. Aber zum Teu­fel, jetzt hat­te er eben kei­ne Lust, und das war al­les. Es wür­de nichts scha­den, es war so­wie­so nur ein Trai­nings­abend. Er konn­te es sich leis­ten, die­se ei­ne Wo­che aus­zu­set­zen. Him­mel­arsch, was war denn mit die­sem Schloß los? Ma­son bleck­te im Dun­keln die Zäh­ne. Wie vie­le Jah­re wirst du brau­chen, um zu ler­nen, wel­chen Schlüs­sel du für die Haus­tür neh­men mußt, du Arsch­loch? Mit dem Dau­men er­tas­te­te er den rich­ti­gen Schlüs­sel (den mit der tie­fen Ker­be), und kli­ckend öff­ne­te sich das Tür­schloß.

Klar, ir­gend et­was wür­de er Kaplan er­zäh­len müs­sen. Kaplan wür­de wis­sen wol­len, wes­halb er nicht kam, und er wür­de ver­su­chen, ihn zu über­re­den. (Die Trep­pe hin­auf, im­mer rund­her­um.) Er muß­te ihm ir­gend­ei­nen Blöd­sinn er­zäh­len. We­nigs­tens brauch­te er sich für Em­ma kei­ne Aus­re­de mehr aus­zu­den­ken – sie hät­te wis­sen wol­len, warum er nicht gin­ge und ob er krank wä­re, und sie hät­te sei­ne Stirn be­füh­len wol­len, um zu se­hen, ob er Fie­ber hat­te. Es war ei­ne Er­leich­te­rung, sie los zu sein. Sie war jetzt fast einen Mo­nat weg. Das ein­zi­ge Pro­blem war nun: Was wür­de er dem be­scheu­er­ten Kaplan er­zäh­len? (Al­tes Holz knarr­te un­ter sei­nen Schu­hen. Die Luft war sti­ckig. Ge­dämpf­te Stim­men dran­gen durch die Tü­ren, an de­nen er vor­über­kam, und blei­stift­dün­ne Licht­strah­len fie­len durch die Rit­zen. Staub­flöck­chen tanz­ten in den schma­len, be­leuch­te­ten Strei­fen.)

Über­haupt, zum Teu­fel mit Kaplan. Ihm ge­gen­über brauch­te er sich schließ­lich nicht zu recht­fer­ti­gen für das, was er tat. Es reich­te schließ­lich, wenn er ihm sag­te, daß er kei­ne Lust hat­te. Zum Teu­fel mit ihm. Zum Teu­fel mit der gan­zen Ban­de.

Die Woh­nung: ein großes Zim­mer, durch einen nied­ri­gen Tre­sen in Kü­che und Wohn­raum un­ter­teilt. Spül­be­cken, Kühl­schrank, Herd und ein klei­ner Tisch in der Kü­che, Ses­sel, Rauch­tisch und ein trag­ba­rer Fern­se­her im Wohn­zim­mer. Ein klei­nes Schlaf­zim­mer ne­ben­an und ein Bad. Schei­ße, ir­gend et­was wür­de er Kaplan wohl doch er­zäh­len müs­sen. Schließ­lich soll­ten die Jungs nicht an­fan­gen zu quat­schen. Und es war schon auf­fäl­lig, wenn er einen Bow­lin­ga­bend ver­säum­te. Ma­son zog sei­ne nas­sen Sa­chen aus und warf sie über den Ses­sel, da­mit Em­ma sie zum Trock­nen auf­hän­gen konn­te. Dann fiel ihm ein, daß Em­ma nicht mehr da war. Hat­te ihn schließ­lich ver­las­sen – und ver­mut­lich konn­te er es ihr nicht ein­mal vor­wer­fen. Es stimm­te wohl, daß er nichts taug­te. Ver­mu­te­te er. Vol­ler Un­be­ha­gen zuck­te Ma­son die Ach­seln. Jetzt, da sie Fre­d­ricks vor ihm be­för­dert hat­ten, wa­ren sei­ne Zu­kunfts­aus­sich­ten wahr­schein­lich nicht mehr all­zu ro­sig. Ihn küm­mer­te das nicht, aber Frau­en wa­ren da an­ders. Sie mach­ten sich um sol­che Din­ge Sor­gen, für sie war es wich­tig. Und hei­ra­ten woll­te er sie auch nicht. Da­zu war er zu un­s­tet. Aber Fa­mi­lie und was sonst noch da­zu ge­hör­te – das war wich­tig für ei­ne Frau. Gott, im Grun­de konn­te er ihr kei­ne Vor­wür­fe ma­chen, der däm­li­chen Fot­ze – sie ver­stand das eben nicht. Un­be­hol­fen leg­te er sei­ne Klei­der selbst zu­sam­men und ver­dreh­te da­bei die Ho­sen­naht. Man ver­mißt Leu­te um der klei­nen Din­ge wil­len. Nicht daß er sich viel dar­um scher­te, ob sei­ne Ho­sen rich­tig zu­sam­men­ge­fal­tet wa­ren oder nicht. Und Gott wuß­te, daß sie ihn wahr­schein­lich mehr ver­miß­te als er sie. Er war da un­ab­hän­gi­ger – klar, im Grun­de brauch­te er nie­man­den au­ßer sich selbst. Blö­de Fot­ze. Viel­leicht soll­te er Kaplan er­zäh­len, er hät­te ei­ne Frau hier oben, die er vö­geln wür­de. Kaplan war däm­lich ge­nug, um das zu glau­ben. Er blieb ste­hen, den Klei­der­bü­gel in der Hand, über­rascht von die­ser plötz­li­chen Hef­tig­keit. Kaplan war nicht däm­li­cher als al­le an­de­ren. Und wes­halb soll­te er nicht vö­geln? War das so un­vor­stell­bar, so über­ra­schend? Schei­ße, soll­te er sich denn hier zu­sam­men­rol­len und ver­flucht noch mal ster­ben, bloß weil sein Mäd­chen ihn ver­las­sen hat­te, selbst wenn es ein Lang­zeit­mäd­chen (drei Jah­re) ge­we­sen war? War es das, was Kaplan und die an­de­ren Arschlö­cher dach­ten? Na, dann ruf Kaplan doch an und sag ihm, es tut dir leid, aber du kannst heu­te nicht kom­men, und be­schreib ihm, was für ein knacki­ges Tier­chen du hier heu­te bum­sen willst. Soll der Wich­ser doch vor Neid sei­ne ei­ge­ne Le­ber fres­sen, weil er da un­ten in die­ser ver­damm­ten, dre­cki­gen Bow­ling­bahn fest­sitzt, mit all den ver­damm­ten, dre­cki­gen Leu­ten, wäh­rend du hier oben vö­gelst. Viel­leicht spricht es sich so­gar bis zu Em­ma her­um. Kaplan wird es glau­ben. Er ist däm­lich ge­nug.

Ma­son nahm ei­ne ge­fro­re­ne Piz­za aus dem Kühl­schrank und schob sie zum Abendes­sen in den Herd. Er aß sel­ten Fleisch; er war nicht ver­ses­sen dar­auf. Nie­mand in sei­ner Fa­mi­lie war das ge­we­sen. Sein Va­ter hat­te eben­falls in ei­ner Fleisch­ver­pa­ckungs­fa­brik ge­ar­bei­tet – in der­sel­ben so­gar. Er hat­te zu den Män­nern ge­hört, die die Kuh­ka­da­ver mit Mes­sern und Bei­len zer­le­gen. „In die Fa­brik“, sag­te er im­mer, wenn er sich nach der drit­ten Tas­se Kaf­fee vom Früh­stücks­tisch hoch­stemm­te, wäh­rend Ma­son bei der of­fe­nen Klap­pe des Gas­ofens stand, weil es dort wär­mer war, und die Pelz­müt­ze auf­ge­setzt be­kam, da­mit er zur Schu­le ge­hen konn­te. „Ich muß jetzt in die Fa­brik.“

Ma­son sprach auch im­mer nur von der Fleisch­ver­pa­ckungs­fa­brik.

(Hen­der­son hat­te „Schlacht­haus“ ge­sagt, aber Hen­der­son hat­te ge­kün­digt.)

Auf der Pa­ckung stand: fünf­zehn Mi­nu­ten bei 250 Grad im vor­ge­heiz­ten Back­ofen. Viel­leicht soll­te er Kaplan ja doch nicht sa­gen, daß er bum­sen woll­te. Sonst wür­den ihn mor­gen al­le aus­fra­gen, sie wür­den wis­sen wol­len, wer das Mäd­chen war, wie sie im Bett ge­we­sen war, wo er sie auf­ge­ga­belt hat­te, und dann wür­de er den Rest des Ta­ges da­mit zu­brin­gen müs­sen, ima­gi­näre De­tails der An­ge­le­gen­heit zu er­fin­den. Und wenn sie nun ir­gend­wie her­aus­be­kämen, daß er über­haupt kein Mäd­chen hier­ge­habt hat­te? Dann wür­den sie glau­ben, er sei ver­rückt, so ei­ne Ge­schich­te zu er­fin­den. Zu lü­gen. Viel­leicht soll­te er Kaplan ein­fach sa­gen, die Grip­pe hät­te ihn er­wi­scht. Oder ei­ne schlim­me Er­käl­tung. Er war wirk­lich mü­de heu­te abend. (Tod­mü­de.) Viel­leicht be­kam er tat­säch­lich ei­ne Grip­pe. Durch Über­ar­bei­tung oder weil er zu lan­ge im Re­gen ge­stan­den hat­te oder so was. Viel­leicht war das der Grund da­für, daß er so be­schis­sen mü­de war – Je­sus, er war er­schöpft! – und daß er kei­ne Lust hat­te, zum Bow­ling zu ge­hen. Klar, das war es. Und er brauch­te sich auch nicht zu ge­nie­ren, krank zu wer­den: Sei­ne Ak­te war pri­ma. Nur zwei Fehl­ta­ge in sechs Jah­ren. Je­der wird mal krank, so ist das eben. Sie wür­den das ver­ste­hen.

Wenn nicht, soll­ten sie ihn am Arsch le­cken.

Ma­son ließ die Piz­za ein we­nig ver­bren­nen. Als er sie mit ei­nem Ge­schirr­tuch her­aus­zog – wo­bei er sich die Hand ver­seng­te –, hat­te der Rand an­ge­fan­gen, schwarz zu wer­den, und die Krus­te und der Kä­se wa­ren leicht an­ge­kohlt. Aber nicht zu schlimm. Es war noch zu ret­ten. Mit ei­nem Roll­mes­ser schnitt er die Piz­za in Stücke. Wie ge­wöhn­lich trö­del­te er beim Es­sen her­um, so daß die letz­ten Stücke kalt ge­wor­den wa­ren, als er sie in den Mund schob. Sie schmeck­ten wie Papp­de­ckel mit un­ge­wärm­ter Spaghet­tis­au­ce. Er aß sie trotz­dem. Da­zu trank er ein Bier und hin­ter­her einen Kaf­fee. Als er da­mit fer­tig war, emp­fand er im­mer noch ein un­be­stimm­tes Hun­ger­ge­fühl, und so nahm er ei­ne Pa­ckung Fei­gen aus dem Schrank und aß auch da­von noch ein paar. Da­nach blieb er am Tisch sit­zen und rauch­te ei­ne Zi­ga­ret­te. Kein Laut war zu hö­ren – nichts reg­te sich. Sta­sis.

Das Te­le­phon klin­gel­te: Kaplan.

Ma­son sprang auf und nahm dann einen lan­gen, un­re­gel­mä­ßi­gen Zug an der Zi­ga­ret­te. Er zit­ter­te. Ver­blüfft starr­te er auf sei­ne Hand. Ner­ven. Him­mel. Er ar­bei­te­te zu­viel, mach­te sich zu vie­le Ge­dan­ken. Zum Teu­fel mit Kaplan und der gan­zen Ban­de. Sag ih­nen über­haupt nichts. Brauchst du doch nicht. Laß sie schmo­ren. Das Te­le­phon schrie noch ein­mal und noch ein­mal: drei­mal, vier­mal, sechs­mal. Nimm nicht ab, sag­te Ma­son zu sich selbst, und er quäl­te sich ge­spiel­te Ent­rüs­tung ab, um die plötz­li­che, un­er­klär­li­che Pa­nik, die Angst, das Grau­en zu über­de­cken. De­nen bist du kei­ne Re­chen­schaft schul­dig. Rring (Schrei), rring (Schrei), rring (Schrei). Die Haut über sei­nem Ma­gen krib­bel­te, und die fei­nen Här­chen in sei­nem Nacken und auf sei­nen Ar­men sträub­ten sich. Auf­hö­ren, ver­dammt, auf­hö­ren, auf­hö­ren. „Sei still!“ schrie er mit rau­her Stim­me, im­mer noch halb ste­hend.

Das Te­le­phon ver­stumm­te.

Die Stil­le war un­glaub­lich bös­ar­tig.

Ma­son zün­de­te sich ei­ne neue Zi­ga­ret­te an, ließ das Streich­holz fal­len, riß ein zwei­tes an und schaff­te es schließ­lich. Er kon­zen­trier­te sich auf das Rau­chen, auf den Ge­schmack des Qualms und das Ge­fühl da­von in sei­ner Lun­ge, und er paff­te in in­ten­si­vem Stak­ka­to (ich­glau­beich­kan­nich­glau­beich­kan­nich­glau­beich­kann-ich­glau­beich­kann). Ir­gend et­was war ganz und gar nicht in Ord­nung, aber er un­ter­drück­te die­sen Ge­dan­ken, dräng­te ihn ganz nach un­ten. Ei­ne fühl­ba­re Schwär­ze: Geh ihr aus dem Weg. Er war nur mü­de, sonst nichts. Er hat­te einen wirk­lich mie­sen, wirk­lich har­ten Tag ge­habt, und jetzt war er mü­de, und das mach­te ihn ner­vös. Die Ar­beit schi­en von Wo­che zu Wo­che im­mer schwe­rer zu wer­den. Viel­leicht wur­de er alt und ver­lor sein Steh­ver­mö­gen. Er ver­mu­te­te, daß dies frü­her oder spä­ter zwangs­läu­fig ge­sche­hen wür­de. Aber Schei­ße – er war erst achtund­drei­ßig. Er hät­te es nie ge­glaubt, nicht ein­mal dar­an ge­dacht, bis heu­te.

„Du wirst alt“, sag­te Ma­son laut. Die Wor­te hall­ten in dem kah­len Raum wi­der.

Er lach­te un­si­cher, ner­vös, in ge­spiel­ter Ver­ach­tung. Es schi­en, als ob die Wän­de das La­chen auf­saug­ten. Die Stil­le ver­schluck­te das Ge­räusch sei­nes Atems.

Ei­ne Zeit­lang lausch­te er der Stil­le. Dann nann­te er sich selbst ein blö­des Arsch­loch, weil er über sol­chen al­ber­nen Quatsch nach­dach­te, und be­schloß, es sei das bes­te, zu Bett zu ge­hen. Er stemm­te sich hoch. Nor­ma­ler­wei­se pfleg­te er ein paar Stun­den fern­zu­se­hen, ehe er schla­fen­ging, aber heu­te abend war er wirk­lich im Arsch – er­schöpft und ver­ängs­tigt. Ver­ängs­tigt? Wo­vor soll­te er denn Angst ha­ben? Das war doch al­ber­ner Quatsch. Ma­son stell­te das schmut­zi­ge Ge­schirr ins Spül­be­cken und ging ins Schlaf­zim­mer. Me­tho­disch lösch­te er hin­ter sich die Lich­ter. Die Dun­kel­heit folg­te ihm an die Schlaf­zim­mer­tür.

Ma­son zog sich aus, leg­te sei­ne Klei­der bei­sei­te und setz­te sich auf die Bett­kan­te. An die­ser Sei­te des Ge­bäu­des be­fand sich ei­ne schä­bi­ge Ab­stei­ge, und ih­re ro­te Ne­on­re­kla­me blink­te di­rekt in Ma­sons Schlaf­zim­mer­fens­ter. Da­ge­gen half kein noch so di­cker Vor­hang, aber heu­te abend war er zu mü­de, um sich da­von stö­ren zu las­sen. Es war ein schlim­mer Tag ge­we­sen. Er wür­de nicht dar­über nach­den­ken, über­haupt nicht. Er woll­te nur schla­fen. Mor­gen wür­de es an­ders sein. Mor­gen wür­de es bes­ser sein. Es muß­te. Er knips­te das Licht aus und ließ sich auf die Bett­de­cke sin­ken. Ne­on­schat­ten pul­sier­ten durch das Zim­mer und über­flu­te­ten es rhyth­misch mit stump­fem Rot.

Un­ru­hig be­gann er ein­zu­dö­sen; es war heiß im Zim­mer, und es war dun­kel.

 

Er schlief schon fast, als er ei­ne Frau in sei­nem Kopf wei­nen hör­te. Das Wei­nen kratz­te an der In­nen­sei­te sei­nes Schä­dels und drang im­mer wie­der, hier und dort, aus sei­nem Ge­hirn her­aus. Ei­gent­lich war es nicht das Ge­räusch des Wei­nens, im Grun­de war es über­haupt kein hör­ba­res Ge­räusch, son­dern eher ein Ge­fühl, die Es­senz des Wei­nens, ei­ner un­über­wind­li­chen Trau­rig­keit. Oh­ne auf­zu­wa­chen tas­te­te er nach die­sem flüch­ti­gen Ge­fühl und ver­sank da­bei tiefer und tiefer in sich selbst – wie ein Tau­cher, der sich des Nachts in einen sturm­ge­peitsch­ten Ozean ver­senk­te und tief hin­un­ter­schwamm, da­hin, wo es im­mer ru­hig ist, wo­hin kein Licht­strahl dringt, wo die tie­fen Strö­mun­gen da­hin­zie­hen. Er war nur halb bei Be­wußt­sein, in den Rand­ge­bie­ten des Trau­mes, wo al­les ra­tio­nal er­scheint und wo Wun­der zu Ge­mein­plät­zen wer­den. Es er­schi­en nur ver­nünf­tig, nur fair, daß er in sei­ner Ein­sam­keit ei­ne Frau in sei­nem Kopf fin­den soll­te. Er stell­te es nicht in Fra­ge, er fand es nicht ei­gen­ar­tig. Er nä­her­te sich ihr, ge­trie­ben und ge­führt nur durch den Drang, bei ihr zu sein, wie ei­ne wei­ße Fe­der, die tan­zend durch ei­ne rie­si­ge, fins­te­re Lee­re trieb, schwe­bend im Wind, ge­tra­gen von Strö­mun­gen, die sich durch un­ter­ir­di­sche Re­gio­nen win­den, von den Flu­ten, die durch die Nacht rol­len. Er fand sie, ein­gehüllt wie ei­ne Per­le im Bauch sei­nes Selbst: ein win­zi­ger, über­aus fei­ner Fremd­kör­per. Er war wie von Bern­stein um­schlos­sen, und so konn­te er nicht se­hen, aber den­noch wuß­te er, daß sie wun­der­voll war, so voll­kom­men und zart wie die Knos­pe ei­ner Blu­me, die sich in der Son­ne öff­net, oder wie die Hand ei­nes Säug­lings. Er trös­te­te sie, wie er Em­ma ge­trös­tet hat­te, wenn sie manch­mal nachts wei­nend auf­wach­te: Er griff durch die Dun­kel­heit nach der Trau­er, um­hüll­te sie warm, ver­dräng­te die Angst mit sei­ner Ge­gen­wart, ver­teil­te den Schmerz auf sie bei­de, um ihn zu ver­dün­nen. Sie schi­en zu er­schre­cken, als sie merk­te, daß sie nicht al­lein war im Her­zen des Nichts, aber dank­bar nahm sie ihn an, ver­band sich mit ihm, und sie ver­schmol­zen mit­ein­an­der, ei­ner durch­ström­te den an­de­ren, ein Zu­sam­men­fluß ge­hei­mer Was­ser an den dunklen Or­ten in der Mit­te der Welt, in der Nacht, wo die Schat­ten le­ben. Sie war die Sa­che selbst, nicht die Ver­pa­ckung, wie Em­ma. Sie war die äu­ßers­te An­mut – wie Sei­de be­weg­te sie sich um ihn her­um, wie war­mer Re­gen ström­te sie durch sein In­ne­res. Er ver­schmolz mit ihr für im­mer.

Und er lag da und starr­te an die De­cke.

Grau­es Licht drang durch das Fens­ter her­ein. Die Ho­tel­re­kla­me war ab­ge­schal­tet. Es war Mor­gen.

Er grins­te die De­cke an; es war ein har­tes, freud­lo­ses Grin­sen: Die Ge­sichts­haut zog sich zu­rück und ent­blö­ßte die Zäh­ne, sie straff­te sich wie um einen To­ten­schä­del.

Es war ein Traum ge­we­sen.

Er grins­te den Mor­gen an wie ein To­ten­kopf.

Hal­lo, Mor­gen. Hal­lo, du gott­ver­damm­ter Schwei­ne­hund.

Er stand auf. Sei­ne Glie­der schmerz­ten. Er fühl­te sich schwe­re­los vor Er­schöp­fung, in sei­nem Kopf summ­te es, und sei­ne Li­der wa­ren wie Blei. Ihm war, als hät­te er über­haupt nicht ge­schla­fen.

Er ging zur Ar­beit.

 

Es reg­net noch im­mer. Di­cke Wol­ken ver­ber­gen mit ih­ren auf­ge­dun­se­nen Spin­nen­lei­bern das Mor­gen­grau­en. Hier im Fa­brik­vier­tel, wo sich Stahl­wer­ke, Ko­ke­rei­en und Gerb­fa­bri­ken mei­len­weit er­stre­cken, wo sich der Schaum von Che­mi­ka­li­en durch die Gos­se wälzt, reg­net es fast das gan­ze Jahr über: Dreck­par­ti­kel in der Luft bil­den den Nu­kleus für die Feuch­tig­keit, den Fremd­kör­per, an dem sie sich kon­den­siert, und es ent­steht ein ein­tö­ni­ger Re­gen, der end­los nie­selnd her­un­ter­kommt – ei­ne pis­sen­de Gott­heit. Der Bus kriecht durch Dunst und Sprüh­re­gen wie ei­ne Schne­cke, und ein feuch­ter Licht­kranz um­gibt sei­ne Schein­wer­fer. Re­gen­trop­fen schie­ben sich zen­ti­me­ter­wei­se über die Schei­ben, schim­mernd und platt­ge­drückt vom Wind, und sie zie­hen ei­ne lan­ge, nas­se Spur hin­ter sich her. An der In­nen­sei­te ist das Glas be­schla­gen von Atem­luft und Kör­per­wär­me, so daß man die Um­ge­bung nur un­deut­lich er­ken­nen kann. Die Welt drau­ßen ist zu klo­bi­gen grau­en For­men ver­schmol­zen, die sich end­los hin­zie­hen, zu Di­no­sau­rier­schat­ten, zwi­schen de­nen hier und dort Lich­ter fun­keln, dif­fus in der Näs­se – es ist ei­ne be­weg­li­che Kol­la­ge in Holz­koh­le und wäß­ri­gem Ne­on. Die Män­ner im Bus se­hen es nicht – sie wir­ken jetzt schon mü­de. Es ist sie­ben Uhr früh. Sie sit­zen da und star­ren dumpf auf ih­re Schu­he oder auf die Rücken­leh­ne vor ih­nen. Ei­ni­ge le­sen Zei­tung. Ei­ner oder zwei re­den. Man­che schla­fen. Ein jun­ger Mann lacht – und bricht bei­na­he so­fort ab. Wenn die Fens­ter­schei­ben klar wä­ren, sä­he man an­stel­le der Re­gen­kol­la­ge trost­lo­se Rei­hen von her­un­ter­ge­kom­me­nen Ge­bäu­den, Tank­stel­len, die mit win­zi­gen Plas­tik­fähn­chen be­hängt sind, flut­licht­be­strahl­te Ge­braucht­wa­gen­plät­ze, Im­biß­bu­den, lee­re Schul­hö­fe mit to­ten Bäu­men, die aus dem Pflas­ter auf­ra­gen, drah­tum­zäun­te Spiel­plät­ze, die die Kin­der nie­mals be­nut­zen. Und nie­mand macht sich je die Mü­he, dies al­les an­zu­schau­en. Sie wis­sen al­le, wie es aus­sieht.

 

Nor­ma­ler­wei­se be­vor­zugt Ma­son den Sitz am Gang, aber heu­te mor­gen sitzt er, ir­gend­ei­nem ob­sku­ren In­stinkt fol­gend, am Fens­ter. Er ver­sucht zu er­grün­den, was ihn da­zu drängt, die ver­schwom­me­ne Land­schaft zu be­trach­ten, ver­sucht in Wor­te zu fas­sen, wor­an sie ihn er­in­nert und wie er sich fühlt. Er kann es nicht. Trau­rig – al­len­falls das kann er sa­gen. Wes­halb soll­te es ihn trau­rig ma­chen? Trau­rig. Aber da ist noch et­was an­de­res, et­was, das er zu fas­sen ver­sucht, das ihm aber stän­dig ent­glei­tet. Und sein Tas­ten ruft das Echo ei­ner wie­der­er­wa­chen­den Furcht her­vor. Es war ein Ge­fühl wie … es war so ähn­lich wie … Vol­ler Un­be­ha­gen drückt er die Hand­flä­che ge­gen die Schei­be und ver­sucht, ein we­nig von dem Dunst weg­zu­wi­schen, der das Glas trübt. (Auch da­bei fühlt er sich son­der­bar. Er­tappt um­her, greift ins Lee­re – es ist weg.) Dort, wo er reibt, ent­steht ein halb­wegs kla­rer Fleck auf der Fens­ter­schei­be, ein knapp um­grenz­tes schar­fes Bild in­mit­ten der schmie­ri­gen Ver­schwom­men­heit der Kol­la­ge. Ma­son starrt hin­aus auf die Welt, er späht durch das glä­ser­ne Loch. Wie­der ver­sucht er, et­was zu er­fas­sen, und wie­der miß­lingt es ihm. Ir­gend­wie er­scheint ihm al­les ver­kehrt. Va­ge und dun­kel steigt Är­ger in ihm auf. Ge­bäu­de krie­chen drau­ßen vor­über. Er schau­dert, be­rührt vom sep­ti­schen Hauch der Entro­pie. Viel­leicht ist es … wenn es – er kann es nicht. Wie­so ist es ver­kehrt? Was stimmt denn nicht? Es sieht doch al­les aus wie im­mer, oder nicht? Nichts hat sich ver­än­dert. Zu was könn­test du es denn ver­än­dern? Wie zum Teu­fel soll es denn sein? Kei­ne Wor­te.

Wie­der sam­meln sich Trop­fen auf der Schei­be und schwem­men die Welt da­von.

 

Auch bei der Ar­beit hör­te der Traum den gan­zen Tag nicht auf, Ma­son zu be­un­ru­hi­gen. Er merk­te, daß er ihn nie­mals für lan­ge bei­sei­te schie­ben konn­te – ir­gend­wie kehr­ten sei­ne Ge­dan­ken im­mer zu ihm zu­rück, un­auf­hör­lich, wie die Flie­gen, die sum­mend über den Blut­la­chen auf dem Stein­bo­den kreis­ten.

All­mäh­lich emp­fand Ma­son Är­ger und ein leich­tes Un­be­ha­gen. Es war nicht ge­sund, sich der­art in einen Scheiß-Traum zu ver­sen­ken. Es war krank­haft, und man muß­te krank im Kopf sein, um so da­mit her­um­zu­spie­len. Es war krank­haft – und bei dem Ge­dan­ken an die schlei­mi­ge Krank­haf­tig­keit, die in sol­chen Din­gen steck­te, emp­fand er Wut und auch ei­ne leich­te Übel­keit. Er hat­te die­sen Schleim nicht in sei­nem Kopf. Nein, der Traum hat­te ihn heim­ge­sucht, weil Em­ma nicht mehr da war. Es war schon hart für einen Mann, wie­der al­lein zu sein, nach­dem er so lan­ge mit ei­ner Frau zu­sam­men­ge­lebt hat­te. Er soll­te los­zie­hen und tat­säch­lich ir­gend­ein Weib auf­rei­ßen, statt bloß im­mer dar­über nach­zu­den­ken. Er hät­te es ges­tern abend tun sol­len, dann brauch­te er sich jetzt kei­ne Ge­dan­ken dar­über zu ma­chen, was er Kaplan er­zäh­len soll­te. Er soll­te sich die Spinn­we­ben aus dem Hirn fe­gen. Abend für Abend in der ver­damm­ten Woh­nung her­um­zu­sit­zen und nie et­was zu tun – kein Wun­der, daß er sich ko­misch fühl­te und ver­rück­te Träu­me hat­te.

Beim Mit­tages­sen – er saß an dem kunst­stof­f­über­zo­ge­nen Be­ton­tisch, ne­ben sich die mit Fin­ger­ab­drücken be­schmier­ten Fassa­den des Kaf­fee-Au­to­ma­ten, des Li­mo-Au­to­ma­ten, des Sand­wich-Au­to­ma­ten, des Eis­creme-Au­to­ma­ten (au­ßer Be­trieb) und des Scho­ko­la­den-Au­to­ma­ten – spiel­te er mit dem Ge­dan­ken, Rus­so von sei­nem Traum zu er­zäh­len, ganz leicht­hin, und viel­leicht wür­de man so­gar dar­über la­chen kön­nen. Aber er emp­fand die­se Idee als ver­blüf­fend un­an­ge­nehm. Es wi­der­streb­te ihm, je­man­dem von dem Traum zu er­zäh­len. Zu sei­nem Er­stau­nen merk­te er, daß der Ge­dan­ke ihn wü­tend mach­te. Rus­so war so­wie­so ein Schwei­ne­hund. Sie wa­ren al­le­samt Schwei­ne­hun­de. Er fauch­te Rus­so an, als der Ita­lie­ner ver­such­te, ihn in ein Ge­spräch über Au­tos hin­ein­zu­zie­hen, das er mit Kaplan führ­te. Rus­so sah ver­letzt aus.

Ma­son knurr­te ent­schul­di­gend et­was von ei­nem Ka­ter und stürz­te die Hälf­te sei­nes damp­fen­den Kaf­fees hin­un­ter, oh­ne et­was da­von zu spü­ren. Sein Thun­fisch-Sand­wich schmeck­te wie Sä­ge­mehl und rutsch­te wie Blei in den Ma­gen. Ein trost­lo­ses, un­er­klär­li­ches Ver­lust­ge­fühl war im Lau­fe des Vor­mit­tags in ihm ge­wach­sen, je mehr er sich mit sei­nem Traum be­schäf­tig­te. Es konn­te doch nicht sein, daß ein Traum ei­ne sol­che Wir­kung auf ihn hat­te; das war ver­rückt – es muß­te mehr da­hin­ter­ste­cken, mehr als nur ein Traum, und er war nicht ver­rückt. Al­so konn­te es sich nicht um einen blo­ßen Traum han­deln. Er ver­miß­te das Mäd­chen aus dem Traum. Wie konn­te er je­man­den ver­mis­sen, der nicht exis­tier­te? Das war ver­rückt. Aber er ver­miß­te es. Al­so war das Mäd­chen viel­leicht ir­gend­wie mehr als nur ein Traum ge­we­sen, denn sonst wür­de er es doch nicht so ver­mis­sen, oder? Das war auch ver­rückt. Er wand­te sein Ge­sicht ab und spiel­te geis­tes­ab­we­send mit Brot­kru­men auf der kunst­stoff­be­schich­te­ten Tisch­plat­te her­um. Ge­nug da­von: Es war schlei­mig, und es mach­te ihm Kopf­schmer­zen, wenn er dar­über nach­dach­te. Er woll­te nicht mehr dar­über nach­den­ken.

An die­sem Nach­mit­tag be­gann er zu lau­schen, wäh­rend er ar­bei­te­te. Er er­tapp­te sich meh­re­re Ma­le da­bei. Er lausch­te an­ge­strengt … nach nichts. Nein, das stimm­te nicht. Er­lausch­te nach ihr.

 

Im Bus, auf dem Heim­weg. Ma­son ist un­ru­hig, als wer­de er in ir­gend­ei­ne un­be­kann­te Ge­fahr ge­tra­gen, auf ein frem­des Schlacht­feld. Sei­ne Au­gen glit­zern matt in der Dun­kel­heit. Das grel­le Licht von den Schein­wer­fern ent­ge­gen­kom­men­der Au­tos über­flu­tet ihn in os­zil­lie­ren­den Wo­gen. Hal­te­schlau­fen schwin­gen wie Sen­sen hin und her. Die an­de­ren Fahr­gäs­te rings­um­her sit­zen schwei­gend da, sie be­we­gen sich nicht und ver­mei­den es sorg­fäl­tig, ih­ren Ne­ben­mann zu be­rüh­ren oder an­zu­sto­ßen. Je­der von ih­nen hat sei­nen ei­ge­nen Raum: halb­sicht­ba­re Klum­pen aus Fleisch und Schat­ten. Ih­re Köp­fe ni­cken sanft mit den Be­we­gun­gen des Bus­ses, wie bei ei­nem Mas­kott­chen am Ar­ma­tu­ren­brett.

Zu Hau­se aß Ma­son wie­der ei­ne tief­ge­kühl­te Piz­za, ob­wohl er sich ei­gent­lich ein Ome­lett hat­te ma­chen wol­len. Da­nach aß er noch ein­mal ein paar von den Fei­gen. Es war, als ver­su­che er halb­be­wußt, den ver­gan­ge­nen Abend zu re­pro­du­zie­ren, in­dem er mit aber­gläu­bi­scher Sorg­falt al­le De­tails die­ses Abends wie­der­hol­te, in der Hoff­nung, da­mit das glei­che Re­sul­tat her­vor­brin­gen zu kön­nen. So ver­zehr­te er sei­ne Piz­za, schüt­tel­te den Kopf über sei­ne Dumm­heit und fluch­te bit­ter vor sich hin. Aber er aß sie. Und wäh­rend er aß, lausch­te er auf das Krat­zen – er ver­fluch­te sich da­für, aber er lausch­te den­noch; er glaub­te nur zum Teil dar­an, daß so et­was wie das Krat­zen exis­tier­te oder je­mals exis­tiert hat­te, aber er lausch­te. Halb fürch­te­te er, es wür­de nicht wie­der­kom­men, und halb fürch­te­te er, es könn­te doch kom­men. Aber nichts ge­sch­ah.

Als das Krat­zen in sei­nem Kopf dann kam, wa­ren Stun­den ver­gan­gen. Er sah sich ge­ra­de einen al­ten Film im Nacht­pro­gramm an, und es war ihm fast ge­lun­gen, das Gan­ze zu ver­ges­sen. Er er­starr­te und fühl­te ei­ne Wo­ge des Grau­ens (und er fühl­te noch et­was an­de­res, das er nicht in Wor­te fas­sen konn­te), und selbst die­je­ni­ge Hälf­te sei­nes We­sens, die ge­hofft hat­te, daß es käme, schrie jetzt vor Ent­set­zen an­ge­sichts des Un­be­kann­ten, da das Un­mög­li­che tat­säch­lich ge­sche­hen war. Er kämpf­te das Grau­en nie­der und at­me­te keu­chend. So et­was konn­te nicht ge­sche­hen. Viel­leicht war er ver­rückt. Ei­ne ab­grund­tie­fe Angst fla­cker­te auf. Auf sei­ner Stirn, un­ter den Ach­seln und zwi­schen den Bei­nen brach ihm der Schweiß aus.

Und wie­der die­ses Krat­zen: Fun­keln­de Ge­füh­le scho­ben sich tas­tend in sei­nen Kopf, sie fan­den kei­nen Halt, glit­ten ab und ka­men zu­rück; es war wie das Scharf stel­len ei­ner Spie­gel­re­flex­ka­me­ra. Er lehn­te sich in sei­nem Ses­sel zu­rück. Die al­ten Sprung­fe­dern ächz­ten, und durch den Stoff sei­nes T-Shirts hin­durch spür­te er das ris­si­ge Le­der heiß und kleb­rig an sei­nem Rücken. Er drück­te die lee­re Bier­do­se zu­sam­men, zer­knüll­te sie und schob sie au­to­ma­tisch in den Sech­ser­pack ne­ben sei­nem Ses­sel. Dann nahm er ei­ne neue Büch­se her­aus und ließ sie in den Schoß sin­ken, oh­ne sie zu öff­nen. Das glei­ten­de Ge­fühl in sei­nem Kopf ver­ur­sach­te ihm Schwin­del und ei­ne leich­te Übel­keit. Un­ru­hig rutsch­te er hin und her und ver­such­te ei­ne Po­si­ti­on zu fin­den, bei der das Schwin­del­ge­fühl nach­las­sen wür­de. Das Pols­ter gab ein nas­ses, sau­gen­des Ge­räusch von sich, als er sich vor­beug­te. Äch­zend und stöh­nend be­gann die Druck­stel­le, die sein Rücken im Le­der hin­ter­las­sen hat­te, sich wie­der vor­zu­wöl­ben, bis er sein Ge­wicht er­neut da­ge­gen­sin­ken ließ. Durch die Er­schüt­te­rung die­ser Be­we­gung ge­riet der Aschen­be­cher, den er auf dem Knie ba­lan­ciert hat­te, ins Rut­schen und fiel mit der Ober­sei­te nach un­ten in ei­ner Ex­plo­si­on von Asche auf den Tep­pich.

Ma­son beug­te sich nach vorn, um ihn auf­zu­he­ben. Dann hielt er in­ne; der Fern­se­her hat­te plötz­lich wie­der sei­ne Auf­merk­sam­keit er­regt und ge­fan­gen­ge­nom­men. Blin­zelnd starr­te er auf die kör­ni­gen, fla­ckern­den Schwarz­weiß­bil­der, und wie­der spür­te er et­was, das er nicht zu be­schrei­ben wuß­te, so stark dies­mal, daß er das glei­ten­de Ge­fühl in sei­nem Kopf für den Au­gen­blick ver­gaß.

Es war ei­ner je­ner Fil­me, die man in den zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jah­ren ge­dreht hat­te, als al­les noch voll­kom­men in Ord­nung war. Der Held war gut­aus­se­hend, ge­wandt und ma­kel­los ge­klei­det. Er hat­te Mut, er hat­te Stil, er paß­te über­all­hin, er konn­te je­des Pro­blem lö­sen – er wank­te nie und trat sich nie­mals sel­ber auf den Schwanz. Er war die Qua­li­tät in Per­son. Die Hel­din paß­te zu ihm: Sie war kul­ti­viert, vor­nehm und ge­las­sen – ei­ne schlan­ke, ari­sto­kra­ti­sche Skulp­tur aus Eis und Mond­licht. Sie war un­sag­bar at­trak­tiv. Bei­de wa­ren Leu­te von For­mat, fei­ne Leu­te: die Sor­te, die das Sa­gen hat­te, die et­was be­deu­te­te. Sie wa­ren in den rich­ti­gen Fa­mi­li­en auf der rich­ti­gen Sei­te der Stadt ge­bo­ren, sie wa­ren auf die rich­ti­gen Schu­len ge­gan­gen und hat­ten die rich­ti­gen Leu­te ge­kannt – sie hat­ten die rich­ti­gen Jobs ge­kriegt. Un­an­greif­ba­re Über­le­gen­heit lag in der Art, wie sie sich be­weg­ten, wie sie gin­gen, wie sie die Fü­ße setz­ten und die Köp­fe dreh­ten. Al­les wirk­te kühl, ge­plant und wohl­aus­ge­gli­chen, wie bei ei­nem Tän­zer. Sie wuß­ten, daß sie die Bes­ten wa­ren. Sie wuß­ten es, oh­ne dar­über nach­zu­den­ken und oh­ne auch nur zu wis­sen, daß sie es wuß­ten. Es war et­was, das man in die Wie­ge ge­legt be­kam. Es war et­was, das man nicht nach­ah­men oder vor­täu­schen konn­te: Ir­gend et­was wür­de einen im­mer ent­lar­ven, und die an­de­ren an der Spit­ze wür­den einen durch­schau­en, sie wür­den se­hen, was man in Wirk­lich­keit war, und dann ei­ne Li­nie zie­hen, die einen aus­schloß (oh­ne je­mals tat­säch­lich et­was zu sa­gen, und das wür­de es nur noch schlim­mer ma­chen), und man wür­de da­ste­hen mit her­aus­hän­gen­dem Schwanz, scham­rot und schwit­zend – zu grob, zu tei­gig und zu un­ge­ho­belt –, und sei­nen Hut ner­vös in sei­nen klo­bi­gen, un­be­hol­fe­nen Hän­den dre­hen. Aber dem Mann und der Frau im Fern­se­hen wür­de so et­was nie pas­sie­ren.

Ma­son merk­te, daß er in blin­der Wut beb­te; er zit­ter­te, als woll­te er sich in Stücke rei­ßen, aus­ein­an­der­bre­chen, oh­ne zu wis­sen, warum. Sei­ne Wut flö­ßte ihm Stau­nen und Schre­cken ein, sei­ne Ein­ge­wei­de zo­gen sich zu­sam­men, sei­ne großen, schwie­li­gen Fäus­te öff­ne­ten und schlos­sen sich an­ge­sichts der Un­ge­rech­tig­keit, der Mons­tro­si­tät, des Schleims, der Mil­lio­nen ver­piß­ter Le­ben, und er wälz­te sei­nen Zorn in sich her­um, ver­rühr­te ihn wie ei­ne trü­be Flüs­sig­keit, schlug ihn zu Schaum.

Sie muß­ten nie für et­was be­zah­len. Sie schwitz­ten nie, und sie schis­sen nie. Sie ro­chen nie schlecht und wur­den nie­mals schmut­zig. Sie hat­ten nie­mals Dreck un­ter den Fin­ger­nä­geln, nie­mals Bla­sen an den Hän­den und nie­mals blut­ver­schmier­te Un­ter­ar­me. Der Mann hat­te nie Fünf-Uhr-Stop­peln im Ge­sicht, die Frau trug nie Lo­cken­wick­ler wie Em­my, ihr Atem roch nicht sau­er, und sie be­fahl ih­rem Ge­lieb­ten nie­mals, den Ab­fall­ei­mer hin­aus­zu­tra­gen. Sie furz­ten nicht, und sie rülps­ten nicht. Sie trie­ben kei­nen Sex – sie mach­ten Lie­be, und das war nichts als tran­szen­den­ta­le Won­ne: oh­ne die Wür­de­lo­sig­keit von zu­cken­den Lei­bern und un­ge­schickt in­ein­an­der ver­schlun­ge­nen Glie­dern, oh­ne müh­sa­mes Fum­meln, un­zu­sam­men­hän­gen­de Wor­te und hei­se­re, tie­ri­sche Lau­te, und da­nach at­me­te er ru­hig, und ihr Haar war wohl­ge­ord­net, es gab kei­ner­lei Kör­per­flüs­sig­kei­ten, und das Bett­zeug war nicht be­fleckt oder zer­knüllt. Und die Welt, in der sie sich ihr Le­ben lang be­weg­ten, war ein Spie­gel­bild ih­rer ei­ge­nen Voll­kom­men­heit: Sie war schön, sau­ber und or­dent­lich. Vil­len. Rie­si­ge Ra­sen­flä­chen. Baum­ge­säum­te Stra­ßen mit sau­ber ge­stri­che­nen Häu­sern. Und ihr Stil brach­te ih­nen auch noch Glück. Die Göt­ter lä­chel­ten für sie, und ein wohl­wol­len­des Schick­sal gab ih­nen nur die bes­ten Kar­ten in die Hand. Sie glit­ten durch das Le­ben, oh­ne die Fü­ße be­we­gen zu müs­sen, lä­chelnd, un­an­ge­tas­tet und präch­tig: wie ei­ne ge­schmück­te Bark bei der Flot­ten­pa­ra­de – im Schlepp­tau an­de­rer. Sie spreng­ten die Bank bei je­dem Spiel in der Stadt. Al­les ver­lief ge­nau nach ih­ren Wün­schen. Der Zu­fall wur­de zu ei­nem Ver­ren­kungs­künst­ler, da­mit im­mer al­les zu ih­ren Guns­ten en­de­te.

Weil sie Klas­se hat­ten. Weil sie oben wa­ren.

Ma­son rich­te­te sich keu­chend auf. Er hat­te den Aschen­be­cher auf dem Bo­den lie­gen­ge­las­sen. Wie be­täubt stell­te er die Bier­do­se da­ne­ben. Sei­ne Hand zit­ter­te. Er fühl­te sich, als hät­te man ihm einen Tritt in den Ma­gen ver­setzt. Sie hat­ten Qua­li­tät. Er hat­te nichts. Mit ei­nem Mal sah er al­les ganz deut­lich: al­les das, wo­vor er sein Le­ben lang da­von­ge­lau­fen war. Er war ein Stück Schei­ße. Es war nicht zu leug­nen. Er leb­te in ei­nem Scheiß­haus, er ar­bei­te­te in ei­nem Scheiß­haus. Sei­ne gan­ze Welt war ein gi­gan­ti­sches Scheiß­haus: ei­ne di­cke, schwar­ze, ur­zeit­lich blub­bern­de Flüs­sig­keit, der schwe­re, dump­fe Ge­ruch der Ver­we­sung. Er war um­ge­ben von Schei­ße, er wälz­te sich dar­in. Er war Schei­ße. Schon jetzt, er­kann­te er, war es völ­lig oh­ne Be­deu­tung, daß er je ge­lebt hat­te. Du bist nichts, sag­te er zu sich, du bist Schei­ße. Du warst noch nie et­was an­de­res als Schei­ße. Du wirst nie et­was an­de­res sein als Schei­ße. Dein gan­zes Le­ben war nichts als Schei­ße.

Nein.

Blind schüt­tel­te er den Kopf.

Nein.

Es gab nur ei­ne ein­zi­ge au­ßer­ge­wöhn­li­che Sa­che in sei­nem Le­ben, und dar­an klam­mer­te er sich mit der Ver­zweif­lung ei­nes Er­trin­ken­den.

Das Glei­ten, das Krat­zen in sei­nem Kopf, das eben jetzt noch hart­nä­cki­ger, bei­na­he über­mäch­tig wur­de, da er sei­ne Auf­merk­sam­keit wie­der dar­auf ver­la­ger­te. Das war doch son­der­bar, oder nicht? Das war un­ge­wöhn­lich. Und es war zu ihm ge­kom­men, oder nicht? Es gab Mil­lio­nen und aber Mil­lio­nen von Leu­ten auf der Welt, aber es hat­te ihn aus­ge­wählt – es war zu ihm ge­kom­men. Und es war Wirk­lich­keit. Es war kein Traum. Er war schließ­lich nicht ver­rückt, und wenn es nur ein Traum wä­re, dann müß­te er ver­rückt sein. Al­so war es Wirk­lich­keit, und das Mäd­chen war Wirk­lich­keit. Er hat­te je­man­den in sei­nem Kopf. Und wenn das Wirk­lich­keit war, dann war es et­was, das noch nie zu­vor ir­gend je­man­dem auf der Welt wi­der­fah­ren war … et­was, wo­von er noch nie ge­hört hat­te, au­ßer in den blö­den Science-Fic­ti­on-Fil­men im Fern­se­hen. Es war et­was, das selbst dort noch nie vor­ge­kom­men war, und es un­ter­schied ihn von je­dem an­de­ren Men­schen auf der Welt. Es war sein ei­ge­nes, ganz per­sön­li­ches Wun­der.

Zit­ternd ließ er sich in den Ses­sel zu­rück­sin­ken. Das Le­der knarr­te. Dies war sein Wun­der, sag­te er sich selbst, es war gut, es wür­de ihm kei­nen Scha­den zu­fü­gen. Die fun­keln­den Ge­füh­le selbst wa­ren gut; sie er­in­ner­ten ihn ir­gend­wie an sei­ne Kind­heit, an stil­le Gär­ten, an Staub­flöck­chen, die in der Son­ne tanz­ten, an das Meer. Er fühl­te sich (und die Er­in­ne­rung wall­te un­glaub­lich le­ben­dig in ihm auf und ebb­te wie­der ab) wie da­mals, als Sal­ly Ro­gers ihm wäh­rend des Nach­mit­tags­un­ter­richts in der sieb­ten Klas­se hin­ter dem Hü­gel zum ers­ten­mal er­laubt hat­te, ih­re flei­schi­gen, duf­ten­den Schen­kel aus­ein­an­der­zu­sprei­zen: schwe­re­los, vol­ler Angst, zit­ternd vor Span­nung, er­füllt von irr­wit­zi­ger Un­ge­duld. Er schluck­te, zö­ger­te, faß­te Mut. Der Fern­se­her plap­per­te un­be­ach­tet im Hin­ter­grund. Er schloß die Au­gen und ließ sich fal­len.

Ein Schwall von Far­ben ver­schlang ihn.

Sie war­te­te dort auf ihn, und dort wur­de hier, als das Be­wußt­sein sei­ner phy­si­schen Um­ge­bung ver­sank, als sein Kör­per auf­hör­te zu exis­tie­ren und nur der flüch­ti­ge Nach­glanz von Bil­dern und freund­li­che, in ab­strak­ten Mus­tern wir­beln­de Pas­tell­far­ben die be­ru­hi­gen­de Schwär­ze durch­bra­chen.

Sie war hier – gleich­zei­tig hier und sehr weit weg. Ge­nau wie er er­füll­te sie das Hier und nahm doch zu­gleich nicht den ge­rings­ten Raum in An­spruch – und bei­de For­mu­lie­run­gen wa­ren glei­cher­ma­ßen ab­surd. Sie war ge­gen­wär­tig und nichts als das: Es gab kei­ne Bil­der, kei­ne Ge­stalt, nichts zu se­hen oder zu hö­ren, nichts zu be­rüh­ren oder zu rie­chen. Dies al­les war in der Welt der Zeit zu­rück­ge­blie­ben. Den­noch strahl­te sie in ge­wis­ser Wei­se ei­ne end­gül­ti­ge, all­um­fas­sen­de Weib­lich­keit aus, ei­ne ar­che­ty­pi­sche Es­senz, ei­ne queck­silb­ri­ge Mi­schung aus for­dern­dem Feu­er und ei­ner ur­al­ten, in der Art ver­wur­zel­ten Ziel­stre­big­keit, so un­er­schüt­ter­lich und ge­dul­dig wie Eis – und er wuß­te, es war das Mäd­chen (die Frau? der En­gel?) aus sei­nem ers­ten „Traum“ und nie­mand sonst.

Hier gab es kei­ne Wor­te, aber sie wa­ren auch nicht mehr not­wen­dig. Er ver­stand sie durch Em­pa­thie, durch die kla­re Wahr­neh­mung des Ge­fühls, die jen­seits al­ler Spra­che liegt. Angst durch­zog ihr We­sen wie ei­ne hei­ße ei­ser­ne Fei­le, Angst und das Ge­fühl, un­auf­hör­lich und ver­lo­ren durch ei­ne gren­zen­lo­se, lee­re Trost­lo­sig­keit zu tau­meln, um­ge­ben von Käl­te und hal­len­dem, brül­len­dem Dun­kel. Sie er­schi­en heu­te abend nä­her und den­noch un­vor­stell­bar weit ent­fernt. Er fühl­te, daß sie sich im­mer noch lang­sam auf ihn zu­be­weg­te, noch als sie sich hier tra­fen und in­ein­an­der auf­gin­gen, er fühl­te, daß ihr Kör­per auf dem Weg, den ihr Geist eb­ne­te, zu ihm her­an­ge­jagt kam.

Er war ihr Ziel: Dies war die Theo­rie, die sein Geist so­gleich form­te und au­gen­blick­lich und dank­bar ak­zep­tier­te. Von An­fang an hat­te er sie in sei­nen Ge­dan­ken als En­gel ge­se­hen, und jetzt sah er sie als ver­lo­re­nen En­gel, der seit Ewig­kei­ten al­lein durch die Nacht irr­te, plötz­lich be­rührt von sei­ner Ge­gen­wart, von ihm an­ge­zo­gen wie Ei­sen­spä­ne von ei­nem Ma­gne­ten, aus dem Exil in das Reich des Lichts und des Le­bens ge­ho­ben.

Er trös­te­te sie. Er wür­de auf sie war­ten, er wür­de ihr Leucht­feu­er sein – er wür­de sie nicht al­lein im Dun­kel las­sen, er wür­de sie lie­ben und ans Licht zie­hen. Sie be­ru­hig­te sich bei die­ser Vor­stel­lung, und sie be­weg­ten sich zu­sam­men, durch­dran­gen ein­an­der, wur­den eins.

Er ver­sank tiefer in der Nacht.

Er schweb­te in sich selbst: Ei­ne Mö­bi­us­schlei­fe.

 

Am nächs­ten Mor­gen er­wach­te er im Ses­sel. Auf dem Bild­schirm summ­te das Test­bild. Sei­ne Un­ter­ho­se kleb­te von Sper­ma.

 

Die Ge­wohn­heit treibt ihn zur Ar­beit. Au­to­ma­tisch steht er auf, duscht und zieht sich fri­sche Sa­chen an. Er früh­stückt nicht; er hat kei­nen Hun­ger, und un­be­tei­ligt fragt er sich, ob er je wie­der Hun­ger ha­ben wird. Sei­ne Fü­ße tra­gen ihn zur Bus­hal­te­stel­le, und dort war­tet er, oh­ne dar­über nach­zu­den­ken, ob er die Tür ver­schlos­sen hat oder nicht. Er war­tet, oh­ne an et­was zu den­ken. Die Son­ne scheint. Vö­gel zwit­schern in den Be­ton­dach­rin­nen des Apart­ment­hau­ses. Ma­son pfeift eben­falls vor sich hin, oh­ne es zu mer­ken. Er be­steigt den Bus, der Fah­rer stem­pelt sei­ne Kar­te ab, und sanft­mü­tig läßt er sich von der her­ein­drän­gen­den Men­ge nach hin­ten zu ei­nem un­be­que­men Sitz über dem Rad­kas­ten schie­ben. Dort sitzt er mit an­ge­win­kel­ten Kni­en auf dem win­zi­gen Sitz und späht mit un­ge­wöhn­li­cher Neu­gier um­her. Die an­de­ren Fahr­gäs­te ver­mit­teln ihm das ers­te schlech­te Ge­fühl des Ta­ges. Sie sit­zen or­dent­lich auf­ge­reiht da, oh­ne zu re­den, oh­ne sich zu be­we­gen, oh­ne auch nur aus dem Fens­ter zu schau­en. Sie se­hen aus wie Klei­der­pup­pen aus dem Kauf­haus, un­ter­wegs zu ei­nem neu­en Schau­fens­ter. Sie sind über­haupt nicht da.

 

Ma­son be­schloß, sie Li­lith zu nen­nen – zu­min­dest vor­läu­fig, bis zu je­nem Ta­ge, da er von ih­ren ei­ge­nen Lip­pen ih­ren wirk­li­chen Na­men er­fah­ren wür­de. Der Na­me schweb­te aus sei­nem Un­ter­be­wußt­sein, aus den Ab­la­ge­run­gen der ver­ges­se­nen Jah­re in der Sonn­tags­schu­le. Daß er sie so nann­te, lag we­ni­ger an den As­so­zia­tio­nen ur­zeit­li­cher Lie­be, die der Na­me er­weck­te (ob­gleich sie auf ei­ner tiefe­ren Ebe­ne mit­schwan­gen), son­dern weil er sich als un­ru­hi­ges Kind wäh­rend der lan­gen Nach­mit­tage von ver­wäs­ser­ter Theo­lo­gie Li­lith im­mer als ein hüb­sches, mit­füh­len­des We­sen vor­ge­stellt hat­te, als die Sor­te Frau, die ihm hin­ter dem Rücken des fröm­meln­den, wich­tig­tue­ri­schen Leh­rers ver­schwö­re­risch zu­zwin­kern wür­de: ein Mäd­chen mit ei­nem An­flug von un­er­laub­tem Hu­mor und Stil, ganz an­ders als die trü­ben, lehm­ge­sich­ti­gen Da­men auf den Bi­bel-Il­lus­tra­tio­nen. Al­so wur­de sie zu Li­lith. Er frag­te sich, ob er ihr den Na­men wür­de er­klä­ren kön­nen, wenn sie ein­an­der be­geg­ne­ten, und ob er sie da­mit zum La­chen brin­gen wür­de. Mit sol­chen und an­de­ren De­tails be­schäf­tig­te er sich den gan­zen Tag über und wälz­te sie in sei­nen Ge­dan­ken. Er war nicht ver­rückt, der Traum war Wirk­lich­keit, Li­lith war Wirk­lich­keit, sie war sein – im­mer die glei­chen Ge­dan­ken, die be­stän­dig um­ein­an­der kreis­ten. Er war glück­lich mit die­ser Be­schäf­ti­gung, sie füll­te ihn voll­stän­dig aus, und er war sich der äu­ße­ren Rea­li­tät, in der er sich be­weg­te, nur teil­wei­se be­wußt. An den üb­li­chen Spind­ge­sprä­chen über Sport und In­do­chi­na und Frau­en be­tei­lig­te er sich nur mit ein­sil­bi­gem Grun­zen, Fra­gen be­ant­wor­te­te er le­dig­lich mit Ni­cken oder Ach­sel­zu­cken, und den täg­li­chen Spieß­ru­ten­lauf des „Hal­lo“, „Wie­der­se­hen“, „Wie läuft’s denn so“ und an­de­rer ri­tu­el­ler Äu­ße­run­gen igno­rier­te er völ­lig. In der Mit­tags­pau­se aß er sehr we­nig und ließ Rus­so den Rest sei­nes Sand­wichs auf­es­sen, oh­ne da­bei in die tra­di­tio­nel­len Aus­ru­fe des Er­stau­nens über den un­er­sätt­li­chen Ap­pe­tit des Ita­kers aus­zu­bre­chen – was in Rus­so wie­der­um ein sol­ches Un­be­ha­gen her­vor­rief, daß er das Sand­wich schließ­lich über­haupt nicht her­un­ter­brach­te. Kaplan kam her­ein und er­zähl­te Rus­so und Ma­son mit ge­dämpf­ter und zu­gleich ent­zück­ter Stim­me, daß der al­te Ha­mil­ton sich von der Hu­re, mit der er sich bei Sa­luz­zio her­um­ge­trie­ben hat­te, end­lich einen Trip­per ge­holt hat­te. Rus­so platz­te fast vor La­chen, wie man es von ihm er­war­te­te, schrie mit schril­ler Stim­me: „Oh­ne Scheiß?“, schlug auf den Tisch und grins­te mit jo­via­lem Ab­scheu bei den Ge­dan­ken an das al­te Schwein Ha­mil­ton mit sei­nem Trip­per. Ma­son grunz­te.

Kaplan und Rus­so wech­sel­ten über Ma­sons Kopf hin­weg einen Blick, und in ih­ren Au­gen keim­te ei­ne un­be­grün­de­te, in­stink­ti­ve Angst auf: je­nes Un­be­ha­gen, wel­ches die Kol­ben in ei­nem Mo­tor emp­fin­den mö­gen, wenn ei­ner der Zy­lin­der plötz­lich Fehl­zün­dun­gen hat. Ma­son igno­rier­te sie; sie exis­tier­ten nicht; sie hat­ten nie exis­tiert. Er saß an dem Be­ton­tisch und rauch­te un­auf­hör­lich mit geis­tes­ab­we­sen­der Wild­heit; er rauch­te je­de Zi­ga­ret­te kaum halb auf, be­vor er sich da­mit ei­ne neue an­zün­de­te und den Stum­mel zi­schend in dem Kaf­fee ver­senk­te, der un­be­rührt vor ihm stand. Der Plas­tik­be­cher war an­ge­füllt mit schwim­men­den, an­ein­an­der­ge­dräng­ten Zi­ga­ret­ten­stum­meln, die sich mit Kaf­fee voll­ge­so­gen hat­ten, fett und schlam­mig. Kaplan und Rus­so mur­mel­ten ei­ne Ent­schul­di­gung und zo­gen da­von, um sich einen an­de­ren Tisch zu su­chen; bei Ma­son fühl­ten sie sich heu­te be­drückt und un­be­deu­tend.

Ma­son be­merk­te nicht, daß sie fort wa­ren. Er saß da und rauch­te, bis die Si­re­ne er­tön­te, und dann stand er auf und ging ru­hig zu­rück an die Ar­beit. Er ar­bei­te­te me­cha­nisch, er hob den Ham­mer und ließ ihn nie­der­sau­sen, sei­ne Hän­de wuß­ten, was sie zu tun hat­ten, und sie ta­ten es, oh­ne daß es ei­ne Wil­lens­an­stren­gung er­for­der­te; die mäch­ti­gen Mus­keln in sei­nen Ar­men und Schul­tern spann­ten sich, sei­ne Bei­ne wa­ren ge­spreizt, und er glänz­te von Schweiß – ein Au­to­mat, ein Uhr­werk-Go­lem. Sein Ge­sicht wirk­te zu­sam­men­ge­zo­gen und ver­son­nen, als lit­te er an Ver­stop­fung. Das Blut sah er nicht; in sei­nem Hirn tanz­ten die Ge­dan­ken an Li­lith.

Zwei­mal fühl­te er an die­sem Tag, wie sie sei­nen Geist streif­te; die Be­rüh­rung war über­aus zart, wie von Alt­wei­ber­som­mer­fä­den, aber die Ab­len­kung hier war zu groß, und er konn­te sich nicht stark ge­nug kon­zen­trie­ren. Als er sich nach der Ar­beit wusch, spür­te er die Be­rüh­rung wie­der: zö­gernd, zart und for­schend, als tas­te­te sich je­mand mit Fe­der­fin­gern durch sei­nen Geist.

Ma­son beb­te, und sei­ne Au­gen wa­ren gla­sig. Er stand da, den Kopf zur Sei­te ge­neigt, und wuß­te nichts mehr von dem hei­ßen Was­ser, das ihm über Rücken und Hüf­ten ström­te, von den nas­sen Flie­sen un­ter sei­nen Fü­ßen, von den trie­fen­den Blechwän­den. Die Sei­fe, die auf sei­nen Ar­men und auf sei­ner Brust trock­ne­te, der Ge­ruch von Hit­ze und nas­sem Fleisch, das schar­fe Zi­schen der Was­ser­dü­sen und das Gur­geln der Ab­flüs­se, das Klat­schen von Le­der­gur­ten und das Schlei­fen von Hand­tü­chern, das wir­re Durch­ein­an­der von nas­sen Fuß­spu­ren der Män­ner zwi­schen Du­sche und Spin­draum, die Sti­ckig­keit von Dampf und Schweiß und der Schwall kal­ter Luft, als je­mand die Au­ßen­tür öff­ne­te, die Rei­hen der Me­tall­spin­de hin­ter den Du­schen, be­klebt mit Play­boy-Aus­klapp-Pho­tos, Por­no­gra­phie aus Ti­jua­na und Fa­mi­li­en­pho­tos, die ab­ge­blät­ter­ten Holz­bän­ke und die Käs­ten mit Fuß­pu­der, die grün­wei­ßen Wän­de des Um­klei­de­raums, die mit be­trieb­li­chen Mit­tei­lun­gen und ko­mi­schen Auf­kle­bern über­sät wa­ren – al­le Ein­zel­hei­ten die­ses Au­gen­blicks, sei­ner Rea­li­tät, sei­nes Le­bens, ver­blaß­ten, sie wur­den zu ei­nem Ge­spenst, sie wa­ren der Schat­ten ei­nes Schat­tens, ver­schwan­den völ­lig, exis­tier­ten nicht. Es gab nur hier, und sie/er war Li­lith. Sie und ih­rer bei­der Be­rüh­rung, un­end­lich viel nä­her noch als in­ein­an­der ver­schlun­ge­ne Fin­ger. Dann zerr­te die Welt ihn da­von.

Er öff­ne­te die Au­gen. Die Rea­li­tät kehr­te zu­rück, in ei­nem plap­pern­den, übel­keits­er­re­gen­den Schwall. Er küm­mer­te sich nicht dar­um; er war be­nom­men von dem strah­len­den Ver­spre­chen der kom­men­den Nacht. Die Welt ver­fes­tig­te sich. Er trat zu­rück un­ter den Was­ser­strahl der Du­sche und spül­te die Sei­fe von sei­nem Kör­per. Er hat­te ei­ne un­ge­heu­re Erek­ti­on. Un­be­hol­fen ver­such­te er sie mit ei­nem Hand­tuch zu ver­ber­gen.

 

Ma­son fährt mit dem Ta­xi nach Hau­se. Zum ers­ten­mal.

 

In die­ser Nacht er­lebt er sei­ne Trans­for­ma­ti­on, er wird aus sich selbst her­aus­ge­ris­sen, sein In­ne­res kehrt sich nach au­ßen. Das Lust­ge­fühl ist so stark, daß es, wie ein Schmerz, in der Er­in­ne­rung ver­schwimmt und rück­bli­ckend nur noch als schwe­rer Schock er­scheint: ein Ge­fühl in Ge­stalt ei­ner Wo­ge von lo­dern­dem, grell­weißem Licht. Es ist ei­ne Lust völ­lig jen­seits sei­ner Vor­stel­lungs­kraft – sei­ne ex­trems­ten Phan­tasi­en fin­den nicht nur Er­fül­lung, son­dern Ver­stär­kung. Und trotz al­ler In­ten­si­tät des Ge­fühls ist es doch zu­gleich sanft, es ist ein Wis­sen, ein rest­lo­ses Tei­len von Emo­ti­on, ei­ne tran­szen­den­ta­le Em­pa­thie. Und da­nach ist nichts als Frie­den – ei­ne Stil­le, die grö­ßer ist als der Tod und den­noch nicht ein­sam. Ich lie­be dich, sagt er zu ihr, und es ist das ers­te Mal, daß er es bei je­man­dem glaubt. Er be­greift, daß Wor­te kei­ne Be­deu­tung ha­ben, aber er weiß, sie wird es ver­ste­hen: Ich lie­be dich.

 

Als er am nächs­ten Mor­gen auf­wach­te, wuß­te er, daß dies der Tag sein wür­de.

Heu­te wür­de sie kom­men. Die Ge­wiß­heit durch­puls­te ihn, er at­me­te sie wie Luft, und sie poch­te in sei­nem Blut. Das Wis­sen dar­um drang durch je­de Po­re in sei­nen Kör­per und traf da­bei auf das­sel­be Wis­sen, das dort her­vor­si­cker­te. Es war et­was, das er in sei­nen Kör­per­zel­len spür­te, ei­ne bio­lo­gi­sche Zu­ver­sicht. Heu­te wür­den sie Zu­sam­men­sein.

Er schau­te an die De­cke. Sie war po­cken­nar­big von Was­ser­fle­cken. Ein tiefer Riß zog sich zick­zack­för­mig durch den ab­blät­tern­den Putz. Es war wun­der­schön. Er be­trach­te­te es ei­ne hal­be Stun­de lang, oh­ne sich zu be­we­gen und oh­ne zu mer­ken, wie die Zeit ver­ging, oh­ne über­haupt zu wis­sen, daß er ei­ne „De­cke“ be­trach­te­te. Dann füg­te sich in sei­nem Kopf et­was trä­ge zu­sam­men, und er er­kann­te die De­cke. Sie stör­te ihn nicht, wie sie es noch am Mitt­woch­mor­gen ge­tan hat­te. Es war ein vor­über­ge­hen­der Zu­stand. Sie be­saß nicht mehr wah­re Be­deu­tung als die Wand ei­nes Schmet­ter­lings­ko­kons nach der Me­ta­mor­pho­se.

Ma­son roll­te sich auf die Sei­te und stand auf. Er­schöp­fung und Al­ter wa­ren ver­schwun­den. Er war er­füllt von fun­keln­der, knis­tern­der Vi­ta­li­tät; je­des Or­gan, je­de Zel­le schi­en mit ei­nem Höchst­maß an Leis­tung zu ar­bei­ten. Er war so ge­sund, daß „ge­sund“ kein an­ge­mes­se­ner Aus­druck mehr war. Dies war ein neu­er, ein hö­he­rer Zu­stand.

Ma­son ak­zep­tier­te ihn ru­hig und oh­ne Fra­ge. Sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren ent­spannt und be­däch­tig, bei­na­he wie in ei­ner Zeit­lu­pen­auf­nah­me, als schwäm­me er in Si­rup. Er wuß­te, wo­hin er ging und daß sie ein­an­der heu­te fin­den wür­den – es war vor­her­be­stimmt. Er hat­te kei­ne Ei­le. Die Un­aus­weich­lich­keit färb­te auch sei­ne Ge­dan­ken. Es war nicht mehr er­for­der­lich, viel zu den­ken, denn es war al­les ar­ran­giert. Sein Kopf war fast leer, nur die tie­fen Strö­mun­gen zo­gen noch ih­re Bahn. Ih­re Nä­he blen­de­te ihn. Er ging um­her und träum­te von ihr, von der Ver­gan­gen­heit und von der Zeit, die vor ihm lag.

Er ließ sich zum Fens­ter trei­ben und be­wun­der­te mü­ßig die Re­gen­bo­gen­re­fle­xe, die das Son­nen­licht am Ran­de der Schei­be her­vor­rief. Die Stra­ßen un­ten wa­ren leer, es war so still wie in ei­ner Ka­the­dra­le. Nicht ein­mal ein Vo­gel brach das hei­li­ge Schwei­gen. Pa­pier­fet­zen tanz­ten wie Der­wi­sche über die Stra­ße. Die Son­ne er­hob sich eben über den Back­stein­ho­ri­zont, ei­ne auf­ge­dun­se­ne ro­te Ku­gel, ver­schlei­ert noch vom Dunst der na­hen Er­de.

Er starr­te in die Son­ne.

Als er sich an­zog, wur­de er sich sei­ner Um­ge­bung wie­der be­wußt. Ver­schwom­men er­kann­te er, daß er sei­ne Gür­tel­schnal­le schloß, sei­ne Fü­ße in die Schu­he schob und die Schnür­sen­kel ver­kno­te­te. Ein un­re­gel­mä­ßi­ges Mus­ter aus Licht und Schat­ten an der Kü­chen­wand fes­sel­te sei­ne Auf­merk­sam­keit.

Er stand vor dem Schlacht­haus. Blin­zelnd starr­te er auf die durch­bro­che­nen Eis­en­to­re des Ge­bäu­des. Ir­gend­wann muß­te er den Bus ge­nom­men ha­ben und zur Ar­beit ge­fah­ren sein. Er er­in­ner­te sich nicht. Es küm­mer­te ihn nicht.

Einen Kor­ri­dor ent­lang. Das fer­ne Dröh­nen ei­ner Ma­schi­ne.

Er war im Auf­zug. Men­schen. Ab­wärts.

Die Stech­uhr.

Ei­ne Tür. Der Um­klei­de­raum, tief un­ten in der Fa­brik. Ma­son zö­ger­te. Soll­te er heu­te zur Ar­beit ge­hen? Jetzt, da Li­lith so nah war? Es war gleich­gül­tig – wenn Li­lith käme, wür­de sie ihn fin­den, ganz gleich, wo er war. Bis da­hin war es leich­ter, sich nicht ge­gen die ge­üb­ten Re­ak­tio­nen sei­nes Kör­pers zu weh­ren; es war viel leich­ter, ih­nen ein­fach zu fol­gen, sich von ih­nen tra­gen las­sen, wo­hin sie woll­ten, zu tun, was sie ver­lang­ten.

Er knöpf­te sei­nen Ar­beits­an­zug zu. Er er­in­ner­te sich nicht, die Tür oder den Spind ge­öff­net zu ha­ben. Er be­fahl sich acht­zu­ge­ben.

Ei­ne Mon­ta­ge aus über­rasch­ten Ge­sich­tern, hüp­fend wie Luft­bal­lons. Ma­son dräng­te sich vor­bei, oh­ne sie an­zu­se­hen. Ih­re Lip­pen be­weg­ten sich, aber er hör­te nicht, was sie sag­ten.

Nicht zu­rück­schau­en. Sie kön­nen dich in ei­ne Salz­säu­le ver­wan­deln, all die­se hoh­len Men­schen.

Der Ham­mer lag so­li­de und schwer in sei­ner Hand. Sein ver­trau­tes Ge­wicht half Ma­son, einen kla­ren Kopf zu be­kom­men und sich in der Welt zu ver­an­kern. Ma­son schritt rasch vor­an. Ein über­le­ben­des Frag­ment sei­ner frü­he­ren Per­sön­lich­keit war dar­auf er­picht, an die Ar­beit zu kom­men und den an­de­ren Män­nern sei­ne wie­der­er­lang­te Kraft und Ener­gie zu de­mons­trie­ren. Er fühl­te die­se Re­gung wie durch einen glä­ser­nen Ozean, wie den Phan­tom­schmerz in ei­nem am­pu­tier­ten Glied. Er er­trug sie ge­las­sen; nach dem heu­ti­gen Ta­ge wür­de so et­was nicht mehr wich­tig sein.

Ma­son ging ans hin­te­re En­de der lang­ge­streck­ten wei­ßen Hal­le. Li­lith schi­en jetzt sehr na­he zu sein, und ih­re Nä­he rief ein un­er­träg­li­ches Sum­men in sei­nem Kopf her­vor. Er stol­per­te wei­ter, mit ruck­haf­ten Be­we­gun­gen, als müs­se er ge­gen einen wel­len­för­mi­gen Druck an­kämp­fen. Sie wür­de je­den Au­gen­blick ein­tref­fen. Er konn­te sich nicht vor­stel­len, wie sie kom­men wür­de und wo­her. Er konn­te sich nicht vor­stel­len, was mit ihm, mit ih­nen ge­sche­hen wür­de. Er ver­such­te sich ein Bild von ih­rer An­kunft zu ma­chen, aber sein Geist konn­te nur auf Dis­ney, Science Fic­ti­on und Re­li­gi­on zu­rück­grei­fen, und so sah er nur ei­ne äthe­ri­sche, wun­der­schö­ne Frau aus bun­tem Glas, die un­ter dröh­nen­der Or­gel­mu­sik in ei­ner gol­de­nen Licht­säu­le vom Him­mel her­nie­der­stieg. Das Licht um­gab sie und strahl­te aus ihr her­aus und flirr­te in un­be­kann­ten Far­ben, als es durch ih­ren kla­ren Kör­per drang. Er war nicht ganz si­cher, ob sie nicht auch Flü­gel ha­ben müß­te.

Har­tes Ta­ges­licht am of­fe­nen En­de der Hal­le. Das ner­vö­se Brum­men der Rin­der. Ein Ge­ruch von Mist und Schweiß, dar­un­ter ein Hauch von al­tem Blut. Die an­de­ren Män­ner, die ihn neu­gie­rig be­ob­ach­te­ten. Sie hat­ten Mas­ken statt Ge­sich­ter und Au­gen wie Vi­pern. Vi­pe­rau­gen ver­folg­ten ihn durch die Hal­le. Hu­fe scharr­ten drau­ßen im Kies.

Mit schwe­ren Li­dern, zit­ternd, nahm er sei­nen Platz ein.

Sie trie­ben die ers­te Kuh des Ta­ges her­ein, di­rekt auf Ma­son zu. Er hob den Ham­mer.

Die Kuh nä­her­te sich ru­hig. Ge­las­sen ging sie vor den Trei­bern her, mit er­ho­be­nem Kopf. Sie starr­te Ma­son ein­dring­lich an. Ih­re Au­gen wa­ren groß und tief – hei­ter, schön und vol­ler Ver­trau­en.

Li­lith, sag­te er zu ihr, und dann traf der Ham­mer sie kra­chend zwi­schen die Au­gen.