Gardner
Dozois
Begegnung mit Lilith
A KINGDOM BY THE SEA
Jeden Tag stand Mason da mit seinem Hammer und tötete Kühe. Es war ein großes Gebäude – eine langgestreckte, hohe Halle, an einem Ende offen, so daß das Tageslicht hereinströmte, und das andere Ende verschwand irgendwo in den Tiefen der Fabrik. Die Wände waren weiß und konturenlos – aus gekalktem Beton –, und sie wurden täglich zweimal abgewaschen, einmal vor der Mittagspause und einmal nach der Arbeit. Auch der Fußboden war abwaschbar. Er bestand aus Steinplatten, und es gab einen Wasseranschluß, mit dessen Hilfe man den Boden überfluten konnte. Dann nahm man einen Besen mit harten Borsten, mit dem man das Wasser umherfegen und die Flecken aufwischen konnte. In der Armee nannte man diese Tätigkeit „einen GI machen“. Mason war in der Armee gewesen. Er nannte es „einen GI machen“. Die drei oder vier anderen Veteranen, die in seiner Schicht arbeiteten, nannten es ebenso, und für sie war es immer ein Jux, wenn sie den Collegebürschchen, die als Aushilfen in der Fabrik beschäftigt waren, erklärten, wieso die Arbeit, zu der sie sich hatten anstellen lassen, so hieß. Die Collegebubis wußten nie, was „einen GI machen“ war, bis man es ihnen zeigte, und sie begriffen auch nie, was daran witzig sein sollte oder weshalb es so genannt wurde. Sie waren für gewöhnlich ziemlich dämlich.
Im Boden befand sich ein Abfluß, durch den das Wasser ablaufen konnte, wenn man den GI gemacht hatte. Trotz allem aber ließ sich die Halle niemals völlig sauber schrubben. Am Ende des Tages blieb immer ein wenig Blut zurück, das den Boden und die Wände befleckte. Allenfalls konnte man hoffen, es in den Steinplatten zu verreiben, so daß man es nicht mehr erkennen konnte. Nach einiger Zeit wurde das Weiß deshalb schmuddelig und stumpfte schließlich zu einem schmutzigen Spülwassergrau ab.
Dann wurde die Halle wieder gekalkt, und das Ganze begann von vorn.
Dieser Kreislauf dauerte etwas länger als ein Jahr, und im Augenblick waren sie ungefähr zur Hälfte hindurch. Die Männer, die hier arbeiteten, interessierte es im Grunde einen Dreck, ob die Wände weiß waren oder nicht, aber es war eine Betriebsvorschrift. Die Vorschriften bestanden darauf, daß die Halle aus hygienischen Gründen so sauber wie möglich gehalten wurde, aber es diente auch dazu, sie psychologisch attraktiver zu machen, damit das Personal besser funktionierte. Die Arbeiter hätten sich auch um die psychologische Attraktivität ihrer Umgebung einen Dreck gekümmert, selbst wenn sie gewußt hätten, was das war. Es war einfach nicht zu vermeiden, daß es an einem Arbeitstag hier ein bißchen schmutzig wurde.
Es war ein Schlachthaus, auch wenn es in den Schriften der Firma immer als Fleischverpackungsfabrik bezeichnet wurde.
Der Mann, der das eigentliche Töten ausführte, war Mason: der Brennpunkt der Firma, aller Fleischpacker und Lastwagen und Konservenabfüllanlagen und Sekretärinnen und Aktionäre. Er war ihr kleinster gemeinsamer Nenner. Bei ihm fing alles an.
Er stand mit seinem Hammer am offenen Ende der Halle, ganz vorn am Anfang des Werks, und dort wartete er auf die Kühe, die vom Ladehof hereinkamen. Er hatte einen zehnpfündigen Vorschlaghammer, lang und schwer, mit geriffeltem Gummi am Griff, damit er ihn besser halten konnte. Damit schlug er den Kühen gegen den Schädel. Sie trieben die Kühe einzeln herein, über einen abschüssigen Gang direkt zu Mason, und Mason ließ seinen Hammer niederschwingen und schlug der Kuh mit ungeheurer Gewalt zwischen die Augen, und der Hammer fuhr glatt durch den Schädelknochen mitten ins Hirn und tötete die Kuh augenblicklich. Ein Schwall von warmem, klebrigem Blut drang hervor, und blau-rote Hirnmasse spritzte auf, die Kuh knickte in den Vorderbeinen ein, als wollte sie sich verneigen, und dann brach das Hinterteil zusammen, und mit einem donnernden Krachen sackte der ganze Körper zur Seite – und alles war Sache eines Augenblicks. Die Kuh wurde, rasend vor Angst, in den Gang gedrängt, der zu Mason führte, ihre Flanken glänzten, und der Schaum stand in Flocken vor ihrem Maul, und dann – so schnell, daß man es fast nicht sah – traf es sie wie ein Blitzschlag, und sie war ein zuckender Kadaver auf dem Steinboden, und das Blut quoll dick aus ihrem zerschmetterten Schädel.
Nach der ersten Kuh des Tages war Mason blutbespritzt, und seine Arme waren rot bis über die Ellbogen. Es kümmerte ihn nicht – es gehörte zu seinem Job, und er bemerkte es kaum. Er duschte zweimal am Tag und zog sich vor und nach dem Mittagessen um. Die Firma reinigte seine weißen Arbeitsanzüge und Kittel kostenlos. Er arbeitete rasch und effizient; er brauchte niemals mehr als einen Schlag zum Töten. Wenn Mason die Kuh getötet hatte, wurde sie mit einem Haken hochgezogen, man schnitt ihr die Kehle durch und ließ sie ein paar Minuten lang ausbluten. Dann kam ein anderer Mann mit einem langen, schweren Messer und vierteilte sie. Danach wurde der Kadaver weiter zerteilt, jedes Stück wurde an einen Haken gehängt und über eine unter der Decke dahinrasselnde Förderanlage zu den Verpackungsabteilungen transportiert, die weiter hinten in der Fabrik lagen.
Die Kühe schienen stets zu wissen, was ihnen bevorstand – sie begannen nervös zu brummen und angstvoll die Augen zu rollen, sobald sie aus dem Güterwagen auf die Rampe getrieben wurden. Wenn die erste Kuh geschlachtet war, verwandelte sich ihre Angst in Entsetzen. Der Geruch des Blutes versetzte sie in Raserei. Sie schlugen aus und brüllten und schnaubten und bockten, ruckartig und wie besinnungslos zuckten sie hin und her und versuchten sich loszureißen. Sie verdrehten die Augen, bis man das Weiße sah, sie begannen zu schäumen, und ihre Flanken wurden glänzend vom Schweiß. An dieser Stelle beschleunigte Mason sein Arbeitstempo und versuchte, sie alle zu töten, ehe sie ihr Fett abschwemmen und an Gewicht verlieren konnten. Nach einer Weile begannen sie zu schreien, und dann mußte man sie mit roher Gewalt auf Masons Hammer zutreiben. Schließlich, wenn sie völlig erschöpft waren, verstummten die letzten Kühe; sie zitterten und stöhnten leise, bis Mason sie sich vornehmen konnte, und dann starben sie leicht und ohne noch lange zu zucken. Um sich zu unterhalten, redeten Mason und die anderen Arbeiter oft sarkastisch mit den Kühen, sie machten Witze über sie, riefen sie bei irgendwelchen Kosenamen und sagten ihnen – nach Art des Arztes, der in einer Unterhaltungssendung im Fernsehen auftrat –, daß alles gut sei und daß es nur einen winzigen Augenblick lang weh tun werde. Sie sagten ihnen, was sie doch für dumme, dämliche Biester seien – „So ist’s recht, mein Schatz. Komm her, du dickes, dämliches Biest. Papa hat eine Überraschung für dich.“ –, oder sie brüllten sie an, daß sie doch verdammt genau gewußt hätten, worauf sie sich einließen, als sie sich freiwillig meldeten. Manchmal schlossen sie Wetten darüber ab, wie hart Mason eine Kuh mit seinem großen Hammer schlagen könnte und wie hoch das Gehirn nach dem Schlag spritzen würde. Einmal hatte Mason einen Dollar von Kaplan gewonnen, weil er eine Kuh so heftig traf, daß sie schon von dem Schlag in die Knie ging. Sie waren nicht gefühlloser als andere Leute, aber ihr Job war im Grunde langweilig und unangenehm, und wie alle Leute mit langweiligen und unangenehmen Jobs versuchten sie so, sich ein wenig Abwechslung und Distanz zu verschaffen. Für Mason war es nur ein Job, nicht besser und nicht schlechter als jeder andere. Es war langweilig, aber er hatte noch nie einen Job gehabt, der nicht langweilig war. Zumindest wurde es gut bezahlt. Er verrichtete seine Arbeit mit dem gleichen methodischen Desinteresse, das er für jeden anderen Job aufgebracht hatte. Es war sein Job, es war das, was er tat.
Jeden Tag stand Mason da mit seinem Hammer und tötete Kühe.
Es regnete: ein rußiger Stadtregen, der einen eher schmutzig als naß werden läßt. Mason steht im Regen an der Bushaltestelle und wartet auf den Bus, wie er es jeden Tag tut, wie er es in den vergangenen sechs Jahren jeden Tag getan hat. Er hat den Kragen hochgeschlagen, um den Wind abzuhalten, die Hände in den Taschen, keinen Hut, und sein Haar klebt feucht auf seiner Stirn. Er steht ein wenig gebeugt da, der Kopf hängt kaum wahrnehmbar herab – er ist müde, die Muskeln in seinen Schultern sind knotig von der Anstrengung, und sein Nacken brennt. Die übermäßige Erschöpfung seines Körpers verblüfft ihn; mit leichtem Unbehagen verlagert er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen – es ist mörderisch, hier zu stehen, nachdem man den ganzen Tag auf den Beinen war, und er spürt es in den Schenkeln und in den Waden. Er hat wieder seinen Regenmantel vergessen. Er ist ein großer Mann, kräftig in Brust und Schultern, mit langen Armen, breiten, muskulösen Handgelenken und schweren, resignierten Gesichtszügen. Erzeigt die ersten Ansätze eines zukünftigen Spitzbauches, und bald wird er Spreizfüße haben. In seiner Personalakte (vertraulich) steht: nicht aggressiv und von unterdurchschnittlichem Durchsetzungsvermögen, mit geringem Energiepotential, anal orientiert (arbeitsam, sorgfältig, tüchtig), höchst anpassungsfähig, nicht entscheidungsfreudig, kann jedoch in unteren Positionen Verantwortung tragen, arbeitet am besten im Team, kein Unruhestifter: ein guter Arbeiter. Er selbst bezeichnet sich häufig als Trottel, allerdings gewöhnlich in scherzhaft gemilderten Zusammenhängen (z.B.: „Himmel, so was dürft ihr doch einen armen Trottel wie mich nicht fragen!“ oder: „Scheiße, ich bin doch bloß ein dämlicher, schuftender Trottel.“) Er ist Mitte Dreißig, auf der absteigenden Seite. Er wurde hier geboren, in einer Einwanderergegend, als einziges Presbyterianerkind in einem Meer von katholischen Ausländern – er mußte zwei Meilen weit zur Sonntagsschule laufen. Er wuchs auf im Industrieviertel der Stadt, quälte sich durch High School und Armee, zog dann von Job zu Job, von Stadt zu Stadt, als Tellerwäscher, Kellner, Bauarbeiter (Musikboxen, Hinterzimmer, Sägemehl, Sonne, Wasser aus Blecheimern), arbeitete hier vier Monate, dort sechs, auch mal ein Jahr, und dann wieder zurück auf die Straße, unterwegs, und nach acht Jahren war er wieder in seiner Heimatstadt und in seinem alten Job (den er vor der Armee gehabt hatte), und der Kreis war geschlossen. Als er diesmal die Rastlosigkeit wieder spürt, nach einem Jahr, läuft er den ganzen Weg bis zum Busbahnhof (und da sitzt er dann, um drei Uhr morgens, es ist lausig kalt, und er ist allein in der riesigen, leeren Halle, und erst dort erkennt er, daß er nichts mehr hat, wohin er gehen könnte, und nichts, was er dort tun könnte. Er fährt nicht weg. Er bleibt: zwei Jahre, drei, vier, und jetzt sechs – länger als er je zuvor irgendwo geblieben ist. Sechs Jahre, die sich heranschleichen und vorüber sind, ehe er es gemerkt hat, ganz unversehens (Betriebsausflüge, Weihnachten, Himmel – schon wieder die Steuer?), die Zeit verschwimmt zu einem öligen, grauen Knäuel und hinterläßt nichts als alte Kalender. Er wird nie wieder unterwegs sein. Er bleibt endgültig hier. Die Zukunft ist Vergangenheit geworden, ohne die Gegenwart je zu streifen. Er begreift nicht, was mit ihm geschehen ist, aber allmählich bekommt er Angst.
Er steigt in den Bus und fährt nach Hause.
Drinnen im vollgepfropften, schweißstickigen Bus gesteht er sich zum ersten Mal ein, daß er vielleicht alt wird.
Masons Wohnung lag am Rande eines dicht bebauten Viertels in einer Straße von heruntergekommenen sechsstöckigen Sandsteingebäuden. Es waren nicht direkt Slums, nicht wie die Gegend, in der die Farbigen wohnten (Mason sagte stur „Farbige“, auch wenn die Jungs in der Fabrik von „Niggern“ sprachen), und nicht wie der Bezirk, wo die jungen Leute, die Beatniks, hausten, aber eine Gegend mit niedrigen Mieten, ja. Arbeiter wohnten hier, Leute mit geringem Einkommen. Die weißen Armen versteckten sich hier seit 1920 und spähten hinter dicken, verblichenen Vorhängen und rissigen Jalousien hervor. Manche von ihnen waren nie hier herausgekommen. Die Einwanderer waren von den Schiffen herunter in dieser Gegend untergetaucht, sie waren immer noch hier, waren immer noch Einwanderer, noch nach dreißig Jahren, nur älter und verblichener, wie vergilbte Photographien. Alle die, denen es nicht gelungen war, betrügerische Politiker oder Gangster oder unehrliche Rechtsanwälte zu werden – alle vergessen: graue, menschliche Überbleibsel. Auf den Briefkästen standen abwechselnd Namen wie Goldstein, Kowalczyk und Ricciardi. Es war eine dunkle, stille Gegend mit wenigen großen Geschäften, ohne Kinos und ohne richtige Restaurants. Es gab ein paar Bowlingbahnen. Am nächsten drang die Zivilisation bis hierher in Gestalt eines hohen Betongebäudes mit Apartments für kriegsversehrte Veteranen, das ein oder zwei Blocks weit im Osten stand, sowie in dem stromlinienförmigen, chromblitzenden, neonschimmernden Einkaufszentrum etwa eine halbe Meile weiter im Westen, am Rande einer Hauptverkehrsader. Im Norden leuchteten die Lichter der Stadt, und Hochhäuser wanderten über den Horizont nach Süden: H. G. Wells-Marsianer, riesige Flächen von wichtigtuerisch blitzenden Fenstern.
Mason stieg aus. Am Rinnstein war eine Pfütze, und er trat mitten hinein. Er spürte, wie das Wasser seine Socken durchnäßte. Der Bus ließ verächtlich seine Türen hinter ihm zuschnappen. Rumpelnd fuhr er davon, nicht ohne ihm den Auspuff qualm ins Gesicht zu furzen. Mason machte sich platschend auf den Heimweg, eingehüllt vom Regendunst, und die Feuchtigkeit legte sich perlend auf Stirn und Lippen. Seine Schuhe quietschten. Ein schwerer Kochdunst lag in der nassen Luft, würzig und fremdartig. Irgendwo klapperte jemand mit Mülltonnen. Autos hupten ihn klagend an, als sie vorüberrauschten.
Mason achtete nicht auf sie, er fummelte automatisch nach seinem Schlüssel, als er sich der Haustür näherte. Er versuchte sich eine Ausrede auszudenken, um heute abend zu Hause zu bleiben. Heute war Dienstag, sein Bowlingabend. Kaplan würde bald anrufen, und er würde ihm etwas erzählen müssen. Er hatte einfach keine Lust auf Bowling, und sie könnten ja umdisponieren und Johnson an seiner Stelle einsetzen. Er stieß den Schlüssel gegen das Schloß. Geh schon rein, verdammt. Es wäre das erste Mal in sechs Jahren, daß er nicht zum Bowling ginge. Selbst im letzten Herbst, als er die Grippe hatte – Himmel, wie hatte Emma darüber gemeckert. Als wäre er von seinem Totenbett aufgestanden. Sie hatte sich immer viel zu sehr um ihn gesorgt, immer noch, nach sechs Jahren. Aber zum Teufel, jetzt hatte er eben keine Lust, und das war alles. Es würde nichts schaden, es war sowieso nur ein Trainingsabend. Er konnte es sich leisten, diese eine Woche auszusetzen. Himmelarsch, was war denn mit diesem Schloß los? Mason bleckte im Dunkeln die Zähne. Wie viele Jahre wirst du brauchen, um zu lernen, welchen Schlüssel du für die Haustür nehmen mußt, du Arschloch? Mit dem Daumen ertastete er den richtigen Schlüssel (den mit der tiefen Kerbe), und klickend öffnete sich das Türschloß.
Klar, irgend etwas würde er Kaplan erzählen müssen. Kaplan würde wissen wollen, weshalb er nicht kam, und er würde versuchen, ihn zu überreden. (Die Treppe hinauf, immer rundherum.) Er mußte ihm irgendeinen Blödsinn erzählen. Wenigstens brauchte er sich für Emma keine Ausrede mehr auszudenken – sie hätte wissen wollen, warum er nicht ginge und ob er krank wäre, und sie hätte seine Stirn befühlen wollen, um zu sehen, ob er Fieber hatte. Es war eine Erleichterung, sie los zu sein. Sie war jetzt fast einen Monat weg. Das einzige Problem war nun: Was würde er dem bescheuerten Kaplan erzählen? (Altes Holz knarrte unter seinen Schuhen. Die Luft war stickig. Gedämpfte Stimmen drangen durch die Türen, an denen er vorüberkam, und bleistiftdünne Lichtstrahlen fielen durch die Ritzen. Staubflöckchen tanzten in den schmalen, beleuchteten Streifen.)
Überhaupt, zum Teufel mit Kaplan. Ihm gegenüber brauchte er sich schließlich nicht zu rechtfertigen für das, was er tat. Es reichte schließlich, wenn er ihm sagte, daß er keine Lust hatte. Zum Teufel mit ihm. Zum Teufel mit der ganzen Bande.
Die Wohnung: ein großes Zimmer, durch einen niedrigen Tresen in Küche und Wohnraum unterteilt. Spülbecken, Kühlschrank, Herd und ein kleiner Tisch in der Küche, Sessel, Rauchtisch und ein tragbarer Fernseher im Wohnzimmer. Ein kleines Schlafzimmer nebenan und ein Bad. Scheiße, irgend etwas würde er Kaplan wohl doch erzählen müssen. Schließlich sollten die Jungs nicht anfangen zu quatschen. Und es war schon auffällig, wenn er einen Bowlingabend versäumte. Mason zog seine nassen Sachen aus und warf sie über den Sessel, damit Emma sie zum Trocknen aufhängen konnte. Dann fiel ihm ein, daß Emma nicht mehr da war. Hatte ihn schließlich verlassen – und vermutlich konnte er es ihr nicht einmal vorwerfen. Es stimmte wohl, daß er nichts taugte. Vermutete er. Voller Unbehagen zuckte Mason die Achseln. Jetzt, da sie Fredricks vor ihm befördert hatten, waren seine Zukunftsaussichten wahrscheinlich nicht mehr allzu rosig. Ihn kümmerte das nicht, aber Frauen waren da anders. Sie machten sich um solche Dinge Sorgen, für sie war es wichtig. Und heiraten wollte er sie auch nicht. Dazu war er zu unstet. Aber Familie und was sonst noch dazu gehörte – das war wichtig für eine Frau. Gott, im Grunde konnte er ihr keine Vorwürfe machen, der dämlichen Fotze – sie verstand das eben nicht. Unbeholfen legte er seine Kleider selbst zusammen und verdrehte dabei die Hosennaht. Man vermißt Leute um der kleinen Dinge willen. Nicht daß er sich viel darum scherte, ob seine Hosen richtig zusammengefaltet waren oder nicht. Und Gott wußte, daß sie ihn wahrscheinlich mehr vermißte als er sie. Er war da unabhängiger – klar, im Grunde brauchte er niemanden außer sich selbst. Blöde Fotze. Vielleicht sollte er Kaplan erzählen, er hätte eine Frau hier oben, die er vögeln würde. Kaplan war dämlich genug, um das zu glauben. Er blieb stehen, den Kleiderbügel in der Hand, überrascht von dieser plötzlichen Heftigkeit. Kaplan war nicht dämlicher als alle anderen. Und weshalb sollte er nicht vögeln? War das so unvorstellbar, so überraschend? Scheiße, sollte er sich denn hier zusammenrollen und verflucht noch mal sterben, bloß weil sein Mädchen ihn verlassen hatte, selbst wenn es ein Langzeitmädchen (drei Jahre) gewesen war? War es das, was Kaplan und die anderen Arschlöcher dachten? Na, dann ruf Kaplan doch an und sag ihm, es tut dir leid, aber du kannst heute nicht kommen, und beschreib ihm, was für ein knackiges Tierchen du hier heute bumsen willst. Soll der Wichser doch vor Neid seine eigene Leber fressen, weil er da unten in dieser verdammten, dreckigen Bowlingbahn festsitzt, mit all den verdammten, dreckigen Leuten, während du hier oben vögelst. Vielleicht spricht es sich sogar bis zu Emma herum. Kaplan wird es glauben. Er ist dämlich genug.
Mason nahm eine gefrorene Pizza aus dem Kühlschrank und schob sie zum Abendessen in den Herd. Er aß selten Fleisch; er war nicht versessen darauf. Niemand in seiner Familie war das gewesen. Sein Vater hatte ebenfalls in einer Fleischverpackungsfabrik gearbeitet – in derselben sogar. Er hatte zu den Männern gehört, die die Kuhkadaver mit Messern und Beilen zerlegen. „In die Fabrik“, sagte er immer, wenn er sich nach der dritten Tasse Kaffee vom Frühstückstisch hochstemmte, während Mason bei der offenen Klappe des Gasofens stand, weil es dort wärmer war, und die Pelzmütze aufgesetzt bekam, damit er zur Schule gehen konnte. „Ich muß jetzt in die Fabrik.“
Mason sprach auch immer nur von der Fleischverpackungsfabrik.
(Henderson hatte „Schlachthaus“ gesagt, aber Henderson hatte gekündigt.)
Auf der Packung stand: fünfzehn Minuten bei 250 Grad im vorgeheizten Backofen. Vielleicht sollte er Kaplan ja doch nicht sagen, daß er bumsen wollte. Sonst würden ihn morgen alle ausfragen, sie würden wissen wollen, wer das Mädchen war, wie sie im Bett gewesen war, wo er sie aufgegabelt hatte, und dann würde er den Rest des Tages damit zubringen müssen, imaginäre Details der Angelegenheit zu erfinden. Und wenn sie nun irgendwie herausbekämen, daß er überhaupt kein Mädchen hiergehabt hatte? Dann würden sie glauben, er sei verrückt, so eine Geschichte zu erfinden. Zu lügen. Vielleicht sollte er Kaplan einfach sagen, die Grippe hätte ihn erwischt. Oder eine schlimme Erkältung. Er war wirklich müde heute abend. (Todmüde.) Vielleicht bekam er tatsächlich eine Grippe. Durch Überarbeitung oder weil er zu lange im Regen gestanden hatte oder so was. Vielleicht war das der Grund dafür, daß er so beschissen müde war – Jesus, er war erschöpft! – und daß er keine Lust hatte, zum Bowling zu gehen. Klar, das war es. Und er brauchte sich auch nicht zu genieren, krank zu werden: Seine Akte war prima. Nur zwei Fehltage in sechs Jahren. Jeder wird mal krank, so ist das eben. Sie würden das verstehen.
Wenn nicht, sollten sie ihn am Arsch lecken.
Mason ließ die Pizza ein wenig verbrennen. Als er sie mit einem Geschirrtuch herauszog – wobei er sich die Hand versengte –, hatte der Rand angefangen, schwarz zu werden, und die Kruste und der Käse waren leicht angekohlt. Aber nicht zu schlimm. Es war noch zu retten. Mit einem Rollmesser schnitt er die Pizza in Stücke. Wie gewöhnlich trödelte er beim Essen herum, so daß die letzten Stücke kalt geworden waren, als er sie in den Mund schob. Sie schmeckten wie Pappdeckel mit ungewärmter Spaghettisauce. Er aß sie trotzdem. Dazu trank er ein Bier und hinterher einen Kaffee. Als er damit fertig war, empfand er immer noch ein unbestimmtes Hungergefühl, und so nahm er eine Packung Feigen aus dem Schrank und aß auch davon noch ein paar. Danach blieb er am Tisch sitzen und rauchte eine Zigarette. Kein Laut war zu hören – nichts regte sich. Stasis.
Das Telephon klingelte: Kaplan.
Mason sprang auf und nahm dann einen langen, unregelmäßigen Zug an der Zigarette. Er zitterte. Verblüfft starrte er auf seine Hand. Nerven. Himmel. Er arbeitete zuviel, machte sich zu viele Gedanken. Zum Teufel mit Kaplan und der ganzen Bande. Sag ihnen überhaupt nichts. Brauchst du doch nicht. Laß sie schmoren. Das Telephon schrie noch einmal und noch einmal: dreimal, viermal, sechsmal. Nimm nicht ab, sagte Mason zu sich selbst, und er quälte sich gespielte Entrüstung ab, um die plötzliche, unerklärliche Panik, die Angst, das Grauen zu überdecken. Denen bist du keine Rechenschaft schuldig. Rring (Schrei), rring (Schrei), rring (Schrei). Die Haut über seinem Magen kribbelte, und die feinen Härchen in seinem Nacken und auf seinen Armen sträubten sich. Aufhören, verdammt, aufhören, aufhören. „Sei still!“ schrie er mit rauher Stimme, immer noch halb stehend.
Das Telephon verstummte.
Die Stille war unglaublich bösartig.
Mason zündete sich eine neue Zigarette an, ließ das Streichholz fallen, riß ein zweites an und schaffte es schließlich. Er konzentrierte sich auf das Rauchen, auf den Geschmack des Qualms und das Gefühl davon in seiner Lunge, und er paffte in intensivem Stakkato (ichglaubeichkannichglaubeichkannichglaubeichkann-ichglaubeichkann). Irgend etwas war ganz und gar nicht in Ordnung, aber er unterdrückte diesen Gedanken, drängte ihn ganz nach unten. Eine fühlbare Schwärze: Geh ihr aus dem Weg. Er war nur müde, sonst nichts. Er hatte einen wirklich miesen, wirklich harten Tag gehabt, und jetzt war er müde, und das machte ihn nervös. Die Arbeit schien von Woche zu Woche immer schwerer zu werden. Vielleicht wurde er alt und verlor sein Stehvermögen. Er vermutete, daß dies früher oder später zwangsläufig geschehen würde. Aber Scheiße – er war erst achtunddreißig. Er hätte es nie geglaubt, nicht einmal daran gedacht, bis heute.
„Du wirst alt“, sagte Mason laut. Die Worte hallten in dem kahlen Raum wider.
Er lachte unsicher, nervös, in gespielter Verachtung. Es schien, als ob die Wände das Lachen aufsaugten. Die Stille verschluckte das Geräusch seines Atems.
Eine Zeitlang lauschte er der Stille. Dann nannte er sich selbst ein blödes Arschloch, weil er über solchen albernen Quatsch nachdachte, und beschloß, es sei das beste, zu Bett zu gehen. Er stemmte sich hoch. Normalerweise pflegte er ein paar Stunden fernzusehen, ehe er schlafenging, aber heute abend war er wirklich im Arsch – erschöpft und verängstigt. Verängstigt? Wovor sollte er denn Angst haben? Das war doch alberner Quatsch. Mason stellte das schmutzige Geschirr ins Spülbecken und ging ins Schlafzimmer. Methodisch löschte er hinter sich die Lichter. Die Dunkelheit folgte ihm an die Schlafzimmertür.
Mason zog sich aus, legte seine Kleider beiseite und setzte sich auf die Bettkante. An dieser Seite des Gebäudes befand sich eine schäbige Absteige, und ihre rote Neonreklame blinkte direkt in Masons Schlafzimmerfenster. Dagegen half kein noch so dicker Vorhang, aber heute abend war er zu müde, um sich davon stören zu lassen. Es war ein schlimmer Tag gewesen. Er würde nicht darüber nachdenken, überhaupt nicht. Er wollte nur schlafen. Morgen würde es anders sein. Morgen würde es besser sein. Es mußte. Er knipste das Licht aus und ließ sich auf die Bettdecke sinken. Neonschatten pulsierten durch das Zimmer und überfluteten es rhythmisch mit stumpfem Rot.
Unruhig begann er einzudösen; es war heiß im Zimmer, und es war dunkel.
Er schlief schon fast, als er eine Frau in seinem Kopf weinen hörte. Das Weinen kratzte an der Innenseite seines Schädels und drang immer wieder, hier und dort, aus seinem Gehirn heraus. Eigentlich war es nicht das Geräusch des Weinens, im Grunde war es überhaupt kein hörbares Geräusch, sondern eher ein Gefühl, die Essenz des Weinens, einer unüberwindlichen Traurigkeit. Ohne aufzuwachen tastete er nach diesem flüchtigen Gefühl und versank dabei tiefer und tiefer in sich selbst – wie ein Taucher, der sich des Nachts in einen sturmgepeitschten Ozean versenkte und tief hinunterschwamm, dahin, wo es immer ruhig ist, wohin kein Lichtstrahl dringt, wo die tiefen Strömungen dahinziehen. Er war nur halb bei Bewußtsein, in den Randgebieten des Traumes, wo alles rational erscheint und wo Wunder zu Gemeinplätzen werden. Es erschien nur vernünftig, nur fair, daß er in seiner Einsamkeit eine Frau in seinem Kopf finden sollte. Er stellte es nicht in Frage, er fand es nicht eigenartig. Er näherte sich ihr, getrieben und geführt nur durch den Drang, bei ihr zu sein, wie eine weiße Feder, die tanzend durch eine riesige, finstere Leere trieb, schwebend im Wind, getragen von Strömungen, die sich durch unterirdische Regionen winden, von den Fluten, die durch die Nacht rollen. Er fand sie, eingehüllt wie eine Perle im Bauch seines Selbst: ein winziger, überaus feiner Fremdkörper. Er war wie von Bernstein umschlossen, und so konnte er nicht sehen, aber dennoch wußte er, daß sie wundervoll war, so vollkommen und zart wie die Knospe einer Blume, die sich in der Sonne öffnet, oder wie die Hand eines Säuglings. Er tröstete sie, wie er Emma getröstet hatte, wenn sie manchmal nachts weinend aufwachte: Er griff durch die Dunkelheit nach der Trauer, umhüllte sie warm, verdrängte die Angst mit seiner Gegenwart, verteilte den Schmerz auf sie beide, um ihn zu verdünnen. Sie schien zu erschrecken, als sie merkte, daß sie nicht allein war im Herzen des Nichts, aber dankbar nahm sie ihn an, verband sich mit ihm, und sie verschmolzen miteinander, einer durchströmte den anderen, ein Zusammenfluß geheimer Wasser an den dunklen Orten in der Mitte der Welt, in der Nacht, wo die Schatten leben. Sie war die Sache selbst, nicht die Verpackung, wie Emma. Sie war die äußerste Anmut – wie Seide bewegte sie sich um ihn herum, wie warmer Regen strömte sie durch sein Inneres. Er verschmolz mit ihr für immer.
Und er lag da und starrte an die Decke.
Graues Licht drang durch das Fenster herein. Die Hotelreklame war abgeschaltet. Es war Morgen.
Er grinste die Decke an; es war ein hartes, freudloses Grinsen: Die Gesichtshaut zog sich zurück und entblößte die Zähne, sie straffte sich wie um einen Totenschädel.
Es war ein Traum gewesen.
Er grinste den Morgen an wie ein Totenkopf.
Hallo, Morgen. Hallo, du gottverdammter Schweinehund.
Er stand auf. Seine Glieder schmerzten. Er fühlte sich schwerelos vor Erschöpfung, in seinem Kopf summte es, und seine Lider waren wie Blei. Ihm war, als hätte er überhaupt nicht geschlafen.
Er ging zur Arbeit.
Es regnet noch immer. Dicke Wolken verbergen mit ihren aufgedunsenen Spinnenleibern das Morgengrauen. Hier im Fabrikviertel, wo sich Stahlwerke, Kokereien und Gerbfabriken meilenweit erstrecken, wo sich der Schaum von Chemikalien durch die Gosse wälzt, regnet es fast das ganze Jahr über: Dreckpartikel in der Luft bilden den Nukleus für die Feuchtigkeit, den Fremdkörper, an dem sie sich kondensiert, und es entsteht ein eintöniger Regen, der endlos nieselnd herunterkommt – eine pissende Gottheit. Der Bus kriecht durch Dunst und Sprühregen wie eine Schnecke, und ein feuchter Lichtkranz umgibt seine Scheinwerfer. Regentropfen schieben sich zentimeterweise über die Scheiben, schimmernd und plattgedrückt vom Wind, und sie ziehen eine lange, nasse Spur hinter sich her. An der Innenseite ist das Glas beschlagen von Atemluft und Körperwärme, so daß man die Umgebung nur undeutlich erkennen kann. Die Welt draußen ist zu klobigen grauen Formen verschmolzen, die sich endlos hinziehen, zu Dinosaurierschatten, zwischen denen hier und dort Lichter funkeln, diffus in der Nässe – es ist eine bewegliche Kollage in Holzkohle und wäßrigem Neon. Die Männer im Bus sehen es nicht – sie wirken jetzt schon müde. Es ist sieben Uhr früh. Sie sitzen da und starren dumpf auf ihre Schuhe oder auf die Rückenlehne vor ihnen. Einige lesen Zeitung. Einer oder zwei reden. Manche schlafen. Ein junger Mann lacht – und bricht beinahe sofort ab. Wenn die Fensterscheiben klar wären, sähe man anstelle der Regenkollage trostlose Reihen von heruntergekommenen Gebäuden, Tankstellen, die mit winzigen Plastikfähnchen behängt sind, flutlichtbestrahlte Gebrauchtwagenplätze, Imbißbuden, leere Schulhöfe mit toten Bäumen, die aus dem Pflaster aufragen, drahtumzäunte Spielplätze, die die Kinder niemals benutzen. Und niemand macht sich je die Mühe, dies alles anzuschauen. Sie wissen alle, wie es aussieht.
Normalerweise bevorzugt Mason den Sitz am Gang, aber heute morgen sitzt er, irgendeinem obskuren Instinkt folgend, am Fenster. Er versucht zu ergründen, was ihn dazu drängt, die verschwommene Landschaft zu betrachten, versucht in Worte zu fassen, woran sie ihn erinnert und wie er sich fühlt. Er kann es nicht. Traurig – allenfalls das kann er sagen. Weshalb sollte es ihn traurig machen? Traurig. Aber da ist noch etwas anderes, etwas, das er zu fassen versucht, das ihm aber ständig entgleitet. Und sein Tasten ruft das Echo einer wiedererwachenden Furcht hervor. Es war ein Gefühl wie … es war so ähnlich wie … Voller Unbehagen drückt er die Handfläche gegen die Scheibe und versucht, ein wenig von dem Dunst wegzuwischen, der das Glas trübt. (Auch dabei fühlt er sich sonderbar. Ertappt umher, greift ins Leere – es ist weg.) Dort, wo er reibt, entsteht ein halbwegs klarer Fleck auf der Fensterscheibe, ein knapp umgrenztes scharfes Bild inmitten der schmierigen Verschwommenheit der Kollage. Mason starrt hinaus auf die Welt, er späht durch das gläserne Loch. Wieder versucht er, etwas zu erfassen, und wieder mißlingt es ihm. Irgendwie erscheint ihm alles verkehrt. Vage und dunkel steigt Ärger in ihm auf. Gebäude kriechen draußen vorüber. Er schaudert, berührt vom septischen Hauch der Entropie. Vielleicht ist es … wenn es – er kann es nicht. Wieso ist es verkehrt? Was stimmt denn nicht? Es sieht doch alles aus wie immer, oder nicht? Nichts hat sich verändert. Zu was könntest du es denn verändern? Wie zum Teufel soll es denn sein? Keine Worte.
Wieder sammeln sich Tropfen auf der Scheibe und schwemmen die Welt davon.
Auch bei der Arbeit hörte der Traum den ganzen Tag nicht auf, Mason zu beunruhigen. Er merkte, daß er ihn niemals für lange beiseite schieben konnte – irgendwie kehrten seine Gedanken immer zu ihm zurück, unaufhörlich, wie die Fliegen, die summend über den Blutlachen auf dem Steinboden kreisten.
Allmählich empfand Mason Ärger und ein leichtes Unbehagen. Es war nicht gesund, sich derart in einen Scheiß-Traum zu versenken. Es war krankhaft, und man mußte krank im Kopf sein, um so damit herumzuspielen. Es war krankhaft – und bei dem Gedanken an die schleimige Krankhaftigkeit, die in solchen Dingen steckte, empfand er Wut und auch eine leichte Übelkeit. Er hatte diesen Schleim nicht in seinem Kopf. Nein, der Traum hatte ihn heimgesucht, weil Emma nicht mehr da war. Es war schon hart für einen Mann, wieder allein zu sein, nachdem er so lange mit einer Frau zusammengelebt hatte. Er sollte losziehen und tatsächlich irgendein Weib aufreißen, statt bloß immer darüber nachzudenken. Er hätte es gestern abend tun sollen, dann brauchte er sich jetzt keine Gedanken darüber zu machen, was er Kaplan erzählen sollte. Er sollte sich die Spinnweben aus dem Hirn fegen. Abend für Abend in der verdammten Wohnung herumzusitzen und nie etwas zu tun – kein Wunder, daß er sich komisch fühlte und verrückte Träume hatte.
Beim Mittagessen – er saß an dem kunststoffüberzogenen Betontisch, neben sich die mit Fingerabdrücken beschmierten Fassaden des Kaffee-Automaten, des Limo-Automaten, des Sandwich-Automaten, des Eiscreme-Automaten (außer Betrieb) und des Schokoladen-Automaten – spielte er mit dem Gedanken, Russo von seinem Traum zu erzählen, ganz leichthin, und vielleicht würde man sogar darüber lachen können. Aber er empfand diese Idee als verblüffend unangenehm. Es widerstrebte ihm, jemandem von dem Traum zu erzählen. Zu seinem Erstaunen merkte er, daß der Gedanke ihn wütend machte. Russo war sowieso ein Schweinehund. Sie waren allesamt Schweinehunde. Er fauchte Russo an, als der Italiener versuchte, ihn in ein Gespräch über Autos hineinzuziehen, das er mit Kaplan führte. Russo sah verletzt aus.
Mason knurrte entschuldigend etwas von einem Kater und stürzte die Hälfte seines dampfenden Kaffees hinunter, ohne etwas davon zu spüren. Sein Thunfisch-Sandwich schmeckte wie Sägemehl und rutschte wie Blei in den Magen. Ein trostloses, unerklärliches Verlustgefühl war im Laufe des Vormittags in ihm gewachsen, je mehr er sich mit seinem Traum beschäftigte. Es konnte doch nicht sein, daß ein Traum eine solche Wirkung auf ihn hatte; das war verrückt – es mußte mehr dahinterstecken, mehr als nur ein Traum, und er war nicht verrückt. Also konnte es sich nicht um einen bloßen Traum handeln. Er vermißte das Mädchen aus dem Traum. Wie konnte er jemanden vermissen, der nicht existierte? Das war verrückt. Aber er vermißte es. Also war das Mädchen vielleicht irgendwie mehr als nur ein Traum gewesen, denn sonst würde er es doch nicht so vermissen, oder? Das war auch verrückt. Er wandte sein Gesicht ab und spielte geistesabwesend mit Brotkrumen auf der kunststoffbeschichteten Tischplatte herum. Genug davon: Es war schleimig, und es machte ihm Kopfschmerzen, wenn er darüber nachdachte. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken.
An diesem Nachmittag begann er zu lauschen, während er arbeitete. Er ertappte sich mehrere Male dabei. Er lauschte angestrengt … nach nichts. Nein, das stimmte nicht. Erlauschte nach ihr.
Im Bus, auf dem Heimweg. Mason ist unruhig, als werde er in irgendeine unbekannte Gefahr getragen, auf ein fremdes Schlachtfeld. Seine Augen glitzern matt in der Dunkelheit. Das grelle Licht von den Scheinwerfern entgegenkommender Autos überflutet ihn in oszillierenden Wogen. Halteschlaufen schwingen wie Sensen hin und her. Die anderen Fahrgäste ringsumher sitzen schweigend da, sie bewegen sich nicht und vermeiden es sorgfältig, ihren Nebenmann zu berühren oder anzustoßen. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Raum: halbsichtbare Klumpen aus Fleisch und Schatten. Ihre Köpfe nicken sanft mit den Bewegungen des Busses, wie bei einem Maskottchen am Armaturenbrett.
Zu Hause aß Mason wieder eine tiefgekühlte Pizza, obwohl er sich eigentlich ein Omelett hatte machen wollen. Danach aß er noch einmal ein paar von den Feigen. Es war, als versuche er halbbewußt, den vergangenen Abend zu reproduzieren, indem er mit abergläubischer Sorgfalt alle Details dieses Abends wiederholte, in der Hoffnung, damit das gleiche Resultat hervorbringen zu können. So verzehrte er seine Pizza, schüttelte den Kopf über seine Dummheit und fluchte bitter vor sich hin. Aber er aß sie. Und während er aß, lauschte er auf das Kratzen – er verfluchte sich dafür, aber er lauschte dennoch; er glaubte nur zum Teil daran, daß so etwas wie das Kratzen existierte oder jemals existiert hatte, aber er lauschte. Halb fürchtete er, es würde nicht wiederkommen, und halb fürchtete er, es könnte doch kommen. Aber nichts geschah.
Als das Kratzen in seinem Kopf dann kam, waren Stunden vergangen. Er sah sich gerade einen alten Film im Nachtprogramm an, und es war ihm fast gelungen, das Ganze zu vergessen. Er erstarrte und fühlte eine Woge des Grauens (und er fühlte noch etwas anderes, das er nicht in Worte fassen konnte), und selbst diejenige Hälfte seines Wesens, die gehofft hatte, daß es käme, schrie jetzt vor Entsetzen angesichts des Unbekannten, da das Unmögliche tatsächlich geschehen war. Er kämpfte das Grauen nieder und atmete keuchend. So etwas konnte nicht geschehen. Vielleicht war er verrückt. Eine abgrundtiefe Angst flackerte auf. Auf seiner Stirn, unter den Achseln und zwischen den Beinen brach ihm der Schweiß aus.
Und wieder dieses Kratzen: Funkelnde Gefühle schoben sich tastend in seinen Kopf, sie fanden keinen Halt, glitten ab und kamen zurück; es war wie das Scharf stellen einer Spiegelreflexkamera. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die alten Sprungfedern ächzten, und durch den Stoff seines T-Shirts hindurch spürte er das rissige Leder heiß und klebrig an seinem Rücken. Er drückte die leere Bierdose zusammen, zerknüllte sie und schob sie automatisch in den Sechserpack neben seinem Sessel. Dann nahm er eine neue Büchse heraus und ließ sie in den Schoß sinken, ohne sie zu öffnen. Das gleitende Gefühl in seinem Kopf verursachte ihm Schwindel und eine leichte Übelkeit. Unruhig rutschte er hin und her und versuchte eine Position zu finden, bei der das Schwindelgefühl nachlassen würde. Das Polster gab ein nasses, saugendes Geräusch von sich, als er sich vorbeugte. Ächzend und stöhnend begann die Druckstelle, die sein Rücken im Leder hinterlassen hatte, sich wieder vorzuwölben, bis er sein Gewicht erneut dagegensinken ließ. Durch die Erschütterung dieser Bewegung geriet der Aschenbecher, den er auf dem Knie balanciert hatte, ins Rutschen und fiel mit der Oberseite nach unten in einer Explosion von Asche auf den Teppich.
Mason beugte sich nach vorn, um ihn aufzuheben. Dann hielt er inne; der Fernseher hatte plötzlich wieder seine Aufmerksamkeit erregt und gefangengenommen. Blinzelnd starrte er auf die körnigen, flackernden Schwarzweißbilder, und wieder spürte er etwas, das er nicht zu beschreiben wußte, so stark diesmal, daß er das gleitende Gefühl in seinem Kopf für den Augenblick vergaß.
Es war einer jener Filme, die man in den zwanziger und dreißiger Jahren gedreht hatte, als alles noch vollkommen in Ordnung war. Der Held war gutaussehend, gewandt und makellos gekleidet. Er hatte Mut, er hatte Stil, er paßte überallhin, er konnte jedes Problem lösen – er wankte nie und trat sich niemals selber auf den Schwanz. Er war die Qualität in Person. Die Heldin paßte zu ihm: Sie war kultiviert, vornehm und gelassen – eine schlanke, aristokratische Skulptur aus Eis und Mondlicht. Sie war unsagbar attraktiv. Beide waren Leute von Format, feine Leute: die Sorte, die das Sagen hatte, die etwas bedeutete. Sie waren in den richtigen Familien auf der richtigen Seite der Stadt geboren, sie waren auf die richtigen Schulen gegangen und hatten die richtigen Leute gekannt – sie hatten die richtigen Jobs gekriegt. Unangreifbare Überlegenheit lag in der Art, wie sie sich bewegten, wie sie gingen, wie sie die Füße setzten und die Köpfe drehten. Alles wirkte kühl, geplant und wohlausgeglichen, wie bei einem Tänzer. Sie wußten, daß sie die Besten waren. Sie wußten es, ohne darüber nachzudenken und ohne auch nur zu wissen, daß sie es wußten. Es war etwas, das man in die Wiege gelegt bekam. Es war etwas, das man nicht nachahmen oder vortäuschen konnte: Irgend etwas würde einen immer entlarven, und die anderen an der Spitze würden einen durchschauen, sie würden sehen, was man in Wirklichkeit war, und dann eine Linie ziehen, die einen ausschloß (ohne jemals tatsächlich etwas zu sagen, und das würde es nur noch schlimmer machen), und man würde dastehen mit heraushängendem Schwanz, schamrot und schwitzend – zu grob, zu teigig und zu ungehobelt –, und seinen Hut nervös in seinen klobigen, unbeholfenen Händen drehen. Aber dem Mann und der Frau im Fernsehen würde so etwas nie passieren.
Mason merkte, daß er in blinder Wut bebte; er zitterte, als wollte er sich in Stücke reißen, auseinanderbrechen, ohne zu wissen, warum. Seine Wut flößte ihm Staunen und Schrecken ein, seine Eingeweide zogen sich zusammen, seine großen, schwieligen Fäuste öffneten und schlossen sich angesichts der Ungerechtigkeit, der Monstrosität, des Schleims, der Millionen verpißter Leben, und er wälzte seinen Zorn in sich herum, verrührte ihn wie eine trübe Flüssigkeit, schlug ihn zu Schaum.
Sie mußten nie für etwas bezahlen. Sie schwitzten nie, und sie schissen nie. Sie rochen nie schlecht und wurden niemals schmutzig. Sie hatten niemals Dreck unter den Fingernägeln, niemals Blasen an den Händen und niemals blutverschmierte Unterarme. Der Mann hatte nie Fünf-Uhr-Stoppeln im Gesicht, die Frau trug nie Lockenwickler wie Emmy, ihr Atem roch nicht sauer, und sie befahl ihrem Geliebten niemals, den Abfalleimer hinauszutragen. Sie furzten nicht, und sie rülpsten nicht. Sie trieben keinen Sex – sie machten Liebe, und das war nichts als transzendentale Wonne: ohne die Würdelosigkeit von zuckenden Leibern und ungeschickt ineinander verschlungenen Gliedern, ohne mühsames Fummeln, unzusammenhängende Worte und heisere, tierische Laute, und danach atmete er ruhig, und ihr Haar war wohlgeordnet, es gab keinerlei Körperflüssigkeiten, und das Bettzeug war nicht befleckt oder zerknüllt. Und die Welt, in der sie sich ihr Leben lang bewegten, war ein Spiegelbild ihrer eigenen Vollkommenheit: Sie war schön, sauber und ordentlich. Villen. Riesige Rasenflächen. Baumgesäumte Straßen mit sauber gestrichenen Häusern. Und ihr Stil brachte ihnen auch noch Glück. Die Götter lächelten für sie, und ein wohlwollendes Schicksal gab ihnen nur die besten Karten in die Hand. Sie glitten durch das Leben, ohne die Füße bewegen zu müssen, lächelnd, unangetastet und prächtig: wie eine geschmückte Bark bei der Flottenparade – im Schlepptau anderer. Sie sprengten die Bank bei jedem Spiel in der Stadt. Alles verlief genau nach ihren Wünschen. Der Zufall wurde zu einem Verrenkungskünstler, damit immer alles zu ihren Gunsten endete.
Weil sie Klasse hatten. Weil sie oben waren.
Mason richtete sich keuchend auf. Er hatte den Aschenbecher auf dem Boden liegengelassen. Wie betäubt stellte er die Bierdose daneben. Seine Hand zitterte. Er fühlte sich, als hätte man ihm einen Tritt in den Magen versetzt. Sie hatten Qualität. Er hatte nichts. Mit einem Mal sah er alles ganz deutlich: alles das, wovor er sein Leben lang davongelaufen war. Er war ein Stück Scheiße. Es war nicht zu leugnen. Er lebte in einem Scheißhaus, er arbeitete in einem Scheißhaus. Seine ganze Welt war ein gigantisches Scheißhaus: eine dicke, schwarze, urzeitlich blubbernde Flüssigkeit, der schwere, dumpfe Geruch der Verwesung. Er war umgeben von Scheiße, er wälzte sich darin. Er war Scheiße. Schon jetzt, erkannte er, war es völlig ohne Bedeutung, daß er je gelebt hatte. Du bist nichts, sagte er zu sich, du bist Scheiße. Du warst noch nie etwas anderes als Scheiße. Du wirst nie etwas anderes sein als Scheiße. Dein ganzes Leben war nichts als Scheiße.
Nein.
Blind schüttelte er den Kopf.
Nein.
Es gab nur eine einzige außergewöhnliche Sache in seinem Leben, und daran klammerte er sich mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden.
Das Gleiten, das Kratzen in seinem Kopf, das eben jetzt noch hartnäckiger, beinahe übermächtig wurde, da er seine Aufmerksamkeit wieder darauf verlagerte. Das war doch sonderbar, oder nicht? Das war ungewöhnlich. Und es war zu ihm gekommen, oder nicht? Es gab Millionen und aber Millionen von Leuten auf der Welt, aber es hatte ihn ausgewählt – es war zu ihm gekommen. Und es war Wirklichkeit. Es war kein Traum. Er war schließlich nicht verrückt, und wenn es nur ein Traum wäre, dann müßte er verrückt sein. Also war es Wirklichkeit, und das Mädchen war Wirklichkeit. Er hatte jemanden in seinem Kopf. Und wenn das Wirklichkeit war, dann war es etwas, das noch nie zuvor irgend jemandem auf der Welt widerfahren war … etwas, wovon er noch nie gehört hatte, außer in den blöden Science-Fiction-Filmen im Fernsehen. Es war etwas, das selbst dort noch nie vorgekommen war, und es unterschied ihn von jedem anderen Menschen auf der Welt. Es war sein eigenes, ganz persönliches Wunder.
Zitternd ließ er sich in den Sessel zurücksinken. Das Leder knarrte. Dies war sein Wunder, sagte er sich selbst, es war gut, es würde ihm keinen Schaden zufügen. Die funkelnden Gefühle selbst waren gut; sie erinnerten ihn irgendwie an seine Kindheit, an stille Gärten, an Staubflöckchen, die in der Sonne tanzten, an das Meer. Er fühlte sich (und die Erinnerung wallte unglaublich lebendig in ihm auf und ebbte wieder ab) wie damals, als Sally Rogers ihm während des Nachmittagsunterrichts in der siebten Klasse hinter dem Hügel zum erstenmal erlaubt hatte, ihre fleischigen, duftenden Schenkel auseinanderzuspreizen: schwerelos, voller Angst, zitternd vor Spannung, erfüllt von irrwitziger Ungeduld. Er schluckte, zögerte, faßte Mut. Der Fernseher plapperte unbeachtet im Hintergrund. Er schloß die Augen und ließ sich fallen.
Ein Schwall von Farben verschlang ihn.
Sie wartete dort auf ihn, und dort wurde hier, als das Bewußtsein seiner physischen Umgebung versank, als sein Körper aufhörte zu existieren und nur der flüchtige Nachglanz von Bildern und freundliche, in abstrakten Mustern wirbelnde Pastellfarben die beruhigende Schwärze durchbrachen.
Sie war hier – gleichzeitig hier und sehr weit weg. Genau wie er erfüllte sie das Hier und nahm doch zugleich nicht den geringsten Raum in Anspruch – und beide Formulierungen waren gleichermaßen absurd. Sie war gegenwärtig und nichts als das: Es gab keine Bilder, keine Gestalt, nichts zu sehen oder zu hören, nichts zu berühren oder zu riechen. Dies alles war in der Welt der Zeit zurückgeblieben. Dennoch strahlte sie in gewisser Weise eine endgültige, allumfassende Weiblichkeit aus, eine archetypische Essenz, eine quecksilbrige Mischung aus forderndem Feuer und einer uralten, in der Art verwurzelten Zielstrebigkeit, so unerschütterlich und geduldig wie Eis – und er wußte, es war das Mädchen (die Frau? der Engel?) aus seinem ersten „Traum“ und niemand sonst.
Hier gab es keine Worte, aber sie waren auch nicht mehr notwendig. Er verstand sie durch Empathie, durch die klare Wahrnehmung des Gefühls, die jenseits aller Sprache liegt. Angst durchzog ihr Wesen wie eine heiße eiserne Feile, Angst und das Gefühl, unaufhörlich und verloren durch eine grenzenlose, leere Trostlosigkeit zu taumeln, umgeben von Kälte und hallendem, brüllendem Dunkel. Sie erschien heute abend näher und dennoch unvorstellbar weit entfernt. Er fühlte, daß sie sich immer noch langsam auf ihn zubewegte, noch als sie sich hier trafen und ineinander aufgingen, er fühlte, daß ihr Körper auf dem Weg, den ihr Geist ebnete, zu ihm herangejagt kam.
Er war ihr Ziel: Dies war die Theorie, die sein Geist sogleich formte und augenblicklich und dankbar akzeptierte. Von Anfang an hatte er sie in seinen Gedanken als Engel gesehen, und jetzt sah er sie als verlorenen Engel, der seit Ewigkeiten allein durch die Nacht irrte, plötzlich berührt von seiner Gegenwart, von ihm angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten, aus dem Exil in das Reich des Lichts und des Lebens gehoben.
Er tröstete sie. Er würde auf sie warten, er würde ihr Leuchtfeuer sein – er würde sie nicht allein im Dunkel lassen, er würde sie lieben und ans Licht ziehen. Sie beruhigte sich bei dieser Vorstellung, und sie bewegten sich zusammen, durchdrangen einander, wurden eins.
Er versank tiefer in der Nacht.
Er schwebte in sich selbst: Eine Möbiusschleife.
Am nächsten Morgen erwachte er im Sessel. Auf dem Bildschirm summte das Testbild. Seine Unterhose klebte von Sperma.
Die Gewohnheit treibt ihn zur Arbeit. Automatisch steht er auf, duscht und zieht sich frische Sachen an. Er frühstückt nicht; er hat keinen Hunger, und unbeteiligt fragt er sich, ob er je wieder Hunger haben wird. Seine Füße tragen ihn zur Bushaltestelle, und dort wartet er, ohne darüber nachzudenken, ob er die Tür verschlossen hat oder nicht. Er wartet, ohne an etwas zu denken. Die Sonne scheint. Vögel zwitschern in den Betondachrinnen des Apartmenthauses. Mason pfeift ebenfalls vor sich hin, ohne es zu merken. Er besteigt den Bus, der Fahrer stempelt seine Karte ab, und sanftmütig läßt er sich von der hereindrängenden Menge nach hinten zu einem unbequemen Sitz über dem Radkasten schieben. Dort sitzt er mit angewinkelten Knien auf dem winzigen Sitz und späht mit ungewöhnlicher Neugier umher. Die anderen Fahrgäste vermitteln ihm das erste schlechte Gefühl des Tages. Sie sitzen ordentlich aufgereiht da, ohne zu reden, ohne sich zu bewegen, ohne auch nur aus dem Fenster zu schauen. Sie sehen aus wie Kleiderpuppen aus dem Kaufhaus, unterwegs zu einem neuen Schaufenster. Sie sind überhaupt nicht da.
Mason beschloß, sie Lilith zu nennen – zumindest vorläufig, bis zu jenem Tage, da er von ihren eigenen Lippen ihren wirklichen Namen erfahren würde. Der Name schwebte aus seinem Unterbewußtsein, aus den Ablagerungen der vergessenen Jahre in der Sonntagsschule. Daß er sie so nannte, lag weniger an den Assoziationen urzeitlicher Liebe, die der Name erweckte (obgleich sie auf einer tieferen Ebene mitschwangen), sondern weil er sich als unruhiges Kind während der langen Nachmittage von verwässerter Theologie Lilith immer als ein hübsches, mitfühlendes Wesen vorgestellt hatte, als die Sorte Frau, die ihm hinter dem Rücken des frömmelnden, wichtigtuerischen Lehrers verschwörerisch zuzwinkern würde: ein Mädchen mit einem Anflug von unerlaubtem Humor und Stil, ganz anders als die trüben, lehmgesichtigen Damen auf den Bibel-Illustrationen. Also wurde sie zu Lilith. Er fragte sich, ob er ihr den Namen würde erklären können, wenn sie einander begegneten, und ob er sie damit zum Lachen bringen würde. Mit solchen und anderen Details beschäftigte er sich den ganzen Tag über und wälzte sie in seinen Gedanken. Er war nicht verrückt, der Traum war Wirklichkeit, Lilith war Wirklichkeit, sie war sein – immer die gleichen Gedanken, die beständig umeinander kreisten. Er war glücklich mit dieser Beschäftigung, sie füllte ihn vollständig aus, und er war sich der äußeren Realität, in der er sich bewegte, nur teilweise bewußt. An den üblichen Spindgesprächen über Sport und Indochina und Frauen beteiligte er sich nur mit einsilbigem Grunzen, Fragen beantwortete er lediglich mit Nicken oder Achselzucken, und den täglichen Spießrutenlauf des „Hallo“, „Wiedersehen“, „Wie läuft’s denn so“ und anderer ritueller Äußerungen ignorierte er völlig. In der Mittagspause aß er sehr wenig und ließ Russo den Rest seines Sandwichs aufessen, ohne dabei in die traditionellen Ausrufe des Erstaunens über den unersättlichen Appetit des Itakers auszubrechen – was in Russo wiederum ein solches Unbehagen hervorrief, daß er das Sandwich schließlich überhaupt nicht herunterbrachte. Kaplan kam herein und erzählte Russo und Mason mit gedämpfter und zugleich entzückter Stimme, daß der alte Hamilton sich von der Hure, mit der er sich bei Saluzzio herumgetrieben hatte, endlich einen Tripper geholt hatte. Russo platzte fast vor Lachen, wie man es von ihm erwartete, schrie mit schriller Stimme: „Ohne Scheiß?“, schlug auf den Tisch und grinste mit jovialem Abscheu bei den Gedanken an das alte Schwein Hamilton mit seinem Tripper. Mason grunzte.
Kaplan und Russo wechselten über Masons Kopf hinweg einen Blick, und in ihren Augen keimte eine unbegründete, instinktive Angst auf: jenes Unbehagen, welches die Kolben in einem Motor empfinden mögen, wenn einer der Zylinder plötzlich Fehlzündungen hat. Mason ignorierte sie; sie existierten nicht; sie hatten nie existiert. Er saß an dem Betontisch und rauchte unaufhörlich mit geistesabwesender Wildheit; er rauchte jede Zigarette kaum halb auf, bevor er sich damit eine neue anzündete und den Stummel zischend in dem Kaffee versenkte, der unberührt vor ihm stand. Der Plastikbecher war angefüllt mit schwimmenden, aneinandergedrängten Zigarettenstummeln, die sich mit Kaffee vollgesogen hatten, fett und schlammig. Kaplan und Russo murmelten eine Entschuldigung und zogen davon, um sich einen anderen Tisch zu suchen; bei Mason fühlten sie sich heute bedrückt und unbedeutend.
Mason bemerkte nicht, daß sie fort waren. Er saß da und rauchte, bis die Sirene ertönte, und dann stand er auf und ging ruhig zurück an die Arbeit. Er arbeitete mechanisch, er hob den Hammer und ließ ihn niedersausen, seine Hände wußten, was sie zu tun hatten, und sie taten es, ohne daß es eine Willensanstrengung erforderte; die mächtigen Muskeln in seinen Armen und Schultern spannten sich, seine Beine waren gespreizt, und er glänzte von Schweiß – ein Automat, ein Uhrwerk-Golem. Sein Gesicht wirkte zusammengezogen und versonnen, als litte er an Verstopfung. Das Blut sah er nicht; in seinem Hirn tanzten die Gedanken an Lilith.
Zweimal fühlte er an diesem Tag, wie sie seinen Geist streifte; die Berührung war überaus zart, wie von Altweibersommerfäden, aber die Ablenkung hier war zu groß, und er konnte sich nicht stark genug konzentrieren. Als er sich nach der Arbeit wusch, spürte er die Berührung wieder: zögernd, zart und forschend, als tastete sich jemand mit Federfingern durch seinen Geist.
Mason bebte, und seine Augen waren glasig. Er stand da, den Kopf zur Seite geneigt, und wußte nichts mehr von dem heißen Wasser, das ihm über Rücken und Hüften strömte, von den nassen Fliesen unter seinen Füßen, von den triefenden Blechwänden. Die Seife, die auf seinen Armen und auf seiner Brust trocknete, der Geruch von Hitze und nassem Fleisch, das scharfe Zischen der Wasserdüsen und das Gurgeln der Abflüsse, das Klatschen von Ledergurten und das Schleifen von Handtüchern, das wirre Durcheinander von nassen Fußspuren der Männer zwischen Dusche und Spindraum, die Stickigkeit von Dampf und Schweiß und der Schwall kalter Luft, als jemand die Außentür öffnete, die Reihen der Metallspinde hinter den Duschen, beklebt mit Playboy-Ausklapp-Photos, Pornographie aus Tijuana und Familienphotos, die abgeblätterten Holzbänke und die Kästen mit Fußpuder, die grünweißen Wände des Umkleideraums, die mit betrieblichen Mitteilungen und komischen Aufklebern übersät waren – alle Einzelheiten dieses Augenblicks, seiner Realität, seines Lebens, verblaßten, sie wurden zu einem Gespenst, sie waren der Schatten eines Schattens, verschwanden völlig, existierten nicht. Es gab nur hier, und sie/er war Lilith. Sie und ihrer beider Berührung, unendlich viel näher noch als ineinander verschlungene Finger. Dann zerrte die Welt ihn davon.
Er öffnete die Augen. Die Realität kehrte zurück, in einem plappernden, übelkeitserregenden Schwall. Er kümmerte sich nicht darum; er war benommen von dem strahlenden Versprechen der kommenden Nacht. Die Welt verfestigte sich. Er trat zurück unter den Wasserstrahl der Dusche und spülte die Seife von seinem Körper. Er hatte eine ungeheure Erektion. Unbeholfen versuchte er sie mit einem Handtuch zu verbergen.
Mason fährt mit dem Taxi nach Hause. Zum erstenmal.
In dieser Nacht erlebt er seine Transformation, er wird aus sich selbst herausgerissen, sein Inneres kehrt sich nach außen. Das Lustgefühl ist so stark, daß es, wie ein Schmerz, in der Erinnerung verschwimmt und rückblickend nur noch als schwerer Schock erscheint: ein Gefühl in Gestalt einer Woge von loderndem, grellweißem Licht. Es ist eine Lust völlig jenseits seiner Vorstellungskraft – seine extremsten Phantasien finden nicht nur Erfüllung, sondern Verstärkung. Und trotz aller Intensität des Gefühls ist es doch zugleich sanft, es ist ein Wissen, ein restloses Teilen von Emotion, eine transzendentale Empathie. Und danach ist nichts als Frieden – eine Stille, die größer ist als der Tod und dennoch nicht einsam. Ich liebe dich, sagt er zu ihr, und es ist das erste Mal, daß er es bei jemandem glaubt. Er begreift, daß Worte keine Bedeutung haben, aber er weiß, sie wird es verstehen: Ich liebe dich.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, wußte er, daß dies der Tag sein würde.
Heute würde sie kommen. Die Gewißheit durchpulste ihn, er atmete sie wie Luft, und sie pochte in seinem Blut. Das Wissen darum drang durch jede Pore in seinen Körper und traf dabei auf dasselbe Wissen, das dort hervorsickerte. Es war etwas, das er in seinen Körperzellen spürte, eine biologische Zuversicht. Heute würden sie Zusammensein.
Er schaute an die Decke. Sie war pockennarbig von Wasserflecken. Ein tiefer Riß zog sich zickzackförmig durch den abblätternden Putz. Es war wunderschön. Er betrachtete es eine halbe Stunde lang, ohne sich zu bewegen und ohne zu merken, wie die Zeit verging, ohne überhaupt zu wissen, daß er eine „Decke“ betrachtete. Dann fügte sich in seinem Kopf etwas träge zusammen, und er erkannte die Decke. Sie störte ihn nicht, wie sie es noch am Mittwochmorgen getan hatte. Es war ein vorübergehender Zustand. Sie besaß nicht mehr wahre Bedeutung als die Wand eines Schmetterlingskokons nach der Metamorphose.
Mason rollte sich auf die Seite und stand auf. Erschöpfung und Alter waren verschwunden. Er war erfüllt von funkelnder, knisternder Vitalität; jedes Organ, jede Zelle schien mit einem Höchstmaß an Leistung zu arbeiten. Er war so gesund, daß „gesund“ kein angemessener Ausdruck mehr war. Dies war ein neuer, ein höherer Zustand.
Mason akzeptierte ihn ruhig und ohne Frage. Seine Bewegungen waren entspannt und bedächtig, beinahe wie in einer Zeitlupenaufnahme, als schwämme er in Sirup. Er wußte, wohin er ging und daß sie einander heute finden würden – es war vorherbestimmt. Er hatte keine Eile. Die Unausweichlichkeit färbte auch seine Gedanken. Es war nicht mehr erforderlich, viel zu denken, denn es war alles arrangiert. Sein Kopf war fast leer, nur die tiefen Strömungen zogen noch ihre Bahn. Ihre Nähe blendete ihn. Er ging umher und träumte von ihr, von der Vergangenheit und von der Zeit, die vor ihm lag.
Er ließ sich zum Fenster treiben und bewunderte müßig die Regenbogenreflexe, die das Sonnenlicht am Rande der Scheibe hervorrief. Die Straßen unten waren leer, es war so still wie in einer Kathedrale. Nicht einmal ein Vogel brach das heilige Schweigen. Papierfetzen tanzten wie Derwische über die Straße. Die Sonne erhob sich eben über den Backsteinhorizont, eine aufgedunsene rote Kugel, verschleiert noch vom Dunst der nahen Erde.
Er starrte in die Sonne.
Als er sich anzog, wurde er sich seiner Umgebung wieder bewußt. Verschwommen erkannte er, daß er seine Gürtelschnalle schloß, seine Füße in die Schuhe schob und die Schnürsenkel verknotete. Ein unregelmäßiges Muster aus Licht und Schatten an der Küchenwand fesselte seine Aufmerksamkeit.
Er stand vor dem Schlachthaus. Blinzelnd starrte er auf die durchbrochenen Eisentore des Gebäudes. Irgendwann mußte er den Bus genommen haben und zur Arbeit gefahren sein. Er erinnerte sich nicht. Es kümmerte ihn nicht.
Einen Korridor entlang. Das ferne Dröhnen einer Maschine.
Er war im Aufzug. Menschen. Abwärts.
Die Stechuhr.
Eine Tür. Der Umkleideraum, tief unten in der Fabrik. Mason zögerte. Sollte er heute zur Arbeit gehen? Jetzt, da Lilith so nah war? Es war gleichgültig – wenn Lilith käme, würde sie ihn finden, ganz gleich, wo er war. Bis dahin war es leichter, sich nicht gegen die geübten Reaktionen seines Körpers zu wehren; es war viel leichter, ihnen einfach zu folgen, sich von ihnen tragen lassen, wohin sie wollten, zu tun, was sie verlangten.
Er knöpfte seinen Arbeitsanzug zu. Er erinnerte sich nicht, die Tür oder den Spind geöffnet zu haben. Er befahl sich achtzugeben.
Eine Montage aus überraschten Gesichtern, hüpfend wie Luftballons. Mason drängte sich vorbei, ohne sie anzusehen. Ihre Lippen bewegten sich, aber er hörte nicht, was sie sagten.
Nicht zurückschauen. Sie können dich in eine Salzsäule verwandeln, all diese hohlen Menschen.
Der Hammer lag solide und schwer in seiner Hand. Sein vertrautes Gewicht half Mason, einen klaren Kopf zu bekommen und sich in der Welt zu verankern. Mason schritt rasch voran. Ein überlebendes Fragment seiner früheren Persönlichkeit war darauf erpicht, an die Arbeit zu kommen und den anderen Männern seine wiedererlangte Kraft und Energie zu demonstrieren. Er fühlte diese Regung wie durch einen gläsernen Ozean, wie den Phantomschmerz in einem amputierten Glied. Er ertrug sie gelassen; nach dem heutigen Tage würde so etwas nicht mehr wichtig sein.
Mason ging ans hintere Ende der langgestreckten weißen Halle. Lilith schien jetzt sehr nahe zu sein, und ihre Nähe rief ein unerträgliches Summen in seinem Kopf hervor. Er stolperte weiter, mit ruckhaften Bewegungen, als müsse er gegen einen wellenförmigen Druck ankämpfen. Sie würde jeden Augenblick eintreffen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie kommen würde und woher. Er konnte sich nicht vorstellen, was mit ihm, mit ihnen geschehen würde. Er versuchte sich ein Bild von ihrer Ankunft zu machen, aber sein Geist konnte nur auf Disney, Science Fiction und Religion zurückgreifen, und so sah er nur eine ätherische, wunderschöne Frau aus buntem Glas, die unter dröhnender Orgelmusik in einer goldenen Lichtsäule vom Himmel herniederstieg. Das Licht umgab sie und strahlte aus ihr heraus und flirrte in unbekannten Farben, als es durch ihren klaren Körper drang. Er war nicht ganz sicher, ob sie nicht auch Flügel haben müßte.
Hartes Tageslicht am offenen Ende der Halle. Das nervöse Brummen der Rinder. Ein Geruch von Mist und Schweiß, darunter ein Hauch von altem Blut. Die anderen Männer, die ihn neugierig beobachteten. Sie hatten Masken statt Gesichter und Augen wie Vipern. Viperaugen verfolgten ihn durch die Halle. Hufe scharrten draußen im Kies.
Mit schweren Lidern, zitternd, nahm er seinen Platz ein.
Sie trieben die erste Kuh des Tages herein, direkt auf Mason zu. Er hob den Hammer.
Die Kuh näherte sich ruhig. Gelassen ging sie vor den Treibern her, mit erhobenem Kopf. Sie starrte Mason eindringlich an. Ihre Augen waren groß und tief – heiter, schön und voller Vertrauen.
Lilith, sagte er zu ihr, und dann traf der Hammer sie krachend zwischen die Augen.