Gerd
Maximovič
Broadnars
Geschöpf
Frau Adelaide Ademar hatte die Polizei gerufen. Sie war am Telefon so aufgeregt gewesen, daß sie ihre Botschaft zuerst nur hatte stammeln können. Der Beamte, Braun, der diese Nacht Dienst hatte, war kaum imstande, ihren Namen zu verstehen. Er bat sie mehrmals, verständlich zu sprechen, aber es schien, als ob die Panik, die die Frau befallen hatte, alle Schleusen ihrer Psyche geöffnet und ihren Verstand weggeschwemmt hätte.
Endlich war es Braun, der das Tonband eingeschaltet hatte, gelungen, die Frau genügend zu beruhigen, um in Erfahrung zu bringen, daß sie in der Franziusstraße wohnte und anrief, weil sie – gegen zwei Uhr dreißig an diesem Morgen – mehrere furchtbare Schreie vom Nachbargrundstück gehört hatte. Sie behauptete weiter, dumpfe Geräusche vernommen zu haben, als würde schwer auf einen menschlichen Körper eingeschlagen.
Braun hatte das Tonband wieder ausgeschaltet. Dann, als er sich entschlossen hatte, einem Funkstreifenwagen Bescheid zu geben, war ihm eingefallen, daß dies nicht die erste seltsame Nachricht war, die Nachbarschaft der Franziusstraße betreffend. Er überlegte, ob er Sperrle, den Kommissar, wecken lassen sollte. Er fühlte sich jetzt selbst ein wenig in Panik, da er nicht genau wußte, wie er sich verhalten sollte. Dann beschloß er, die Erhebungen der Besatzung des Funkstreifenwagens abzuwarten.
Es hatte in dieser Nacht von Donnerstag auf Freitag unaufhörlich geregnet. Die Parkallee war schwarz und glitschig. Durch die kahlen Bäume konnte man die Ampeln bei ihrer öden Routine sehen, die wenigstens etwas Licht in das Parkviertel brachte. Der Streifenwagen A 12 war, von der Universität kommend, indem er einige Nachtschwärmer, die aus der Waldbühne kamen, passierte, nachdem er gewendet hatte, in die Franziusstraße eingebogen.
Die Häuser, die alle drei, vier Etagen nach oben gingen, lagen dunkel. Die Büsche vor den Häusern waren schwarze, durch den nahen Winter reduzierte Schatten. Die Laterne des Hauses mit der Nummer 113 brannte, als der Streifenwagen langsam die Straße hinabfuhr. In der Tür stand ein Schatten. Der Polizeiwagen fuhr langsam vor und bremste.
Die beiden Beamten, Kahl und Strobel, waren ausgestiegen. Es war die Frau von Nummer 113, die angerufen hatte. Sie stand zitternd unter der Tür. Ihre Augen waren geweitet, als hätte sie das Verbrechen höchstpersönlich gesehen. Sie hatte sich einen Bademantel umgeschlagen, und während sie, da sich die beiden Beamten noch näherten, schon auf das Nachbargrundstück, 112, zeigte, schien es, als würden ihre Hände wie schwarze, blau geäderte Vögel flattern.
Frau Ademar wiederholte, was die beiden Beamten bereits über Funk gehört hatten. Neu war, daß sich seltsame Dinge im Keller des Nachbarhauses schon seit Jahren zugetragen haben sollten. Da hätte es merkwürdige Lieferwagen gegeben, die technische Apparate brachten. Da wären Handwerker angefahren, die den Keller ausgemauert hätten. Die Stromrechnung, wie die Stadtwerke bestätigen könnten, wäre ins Unermeßliche gestiegen.
Die Frau Ademar hatte den beiden Beamten, während sie – jetzt einigermaßen beruhigt – unter der Tür stehenblieb, den Kellereingang des Hauses 112, in dem ein Dr. Broadnar alleine wohnte, gewiesen. Tatsächlich fand Strobel, der zuerst die Betonrampe hinuntergegangen war, daß die Türe nur angelehnt war. Es war eine Holztür mit schweren, eisernen Beschlägen, über die jetzt der Regen in dünnen Rinnsalen hinablief.
Der Keller, in den die beiden Beamten, die Taschenlampen in ihren Händen, eintraten, roch kalt und muffig. Und doch waren sie froh, daß sie dem steten Regen einen Augenblick entronnen waren. Sie waren in eine Waschküche eingetreten, in der man eine große, aus Beton bestehende Badewanne sehen konnte, in der unordentlich verstreut Kartoffeln lagen. Über den Boden des Kellers rollten sich Schläuche. Aus einem Hahn über einem Becken tropfte gleichmäßig Wasser.
Kahl bückte sich nieder, dem Strahl seiner Taschenlampe folgend.
„Was ist denn?“ fragte Strobel.
„Siehst du nicht?“ hatte Kahl geantwortet, und tatsächlich, jetzt konnte es auch Strobel sehen. Auf dem Betonboden waren frische, dunkle, noch ein wenig rote Flecke zu erkennen. Ohne daß sie sprachen, dachten sie das gleiche. Jetzt hatten sie ihre Dienstwaffen entsichert und gingen vorsichtig zur gegenüberliegenden Tür. Auch diese war unverschlossen.
Noch vor der Tür, während seine Taschenlampe blitzte, blieb Strobel, der ein wenig bleich geworden war (er hätte den Grund selbst nicht nennen können) stehen. Jetzt hörte es auch Kahl. Es war ein entferntes Summen. Es klang, als würde in der Ferne, nicht im nächsten Raum, auch nicht im übernächsten, vielleicht drei Räume weiter, durch die dicken Betonwände hindurch, auf denen das Haus ruhen mußte, ein – ja, was? – ein Elektroaggregat von ungewöhnlicher Stärke summen.
Der Raum, den sie betraten, versetzte sie in Erstaunen. Hatten sie mit einem Vorratsraum, mit einem Hobbyraum, mit einer ausgebauten Kelleretage gerechnet – so fanden sie ein Lager, aber eines, auf dessen stabilen, aus Stahl bestehenden, industriell gefertigten Regalen größtenteils offen, zum Teil in Kartons verpackt, nicht die erwarteten Kartoffeln, Einmachgläser, Weinflaschen oder Gartengeräte ruhten, sondern im Taschenlampenlicht glitzernde Dinge, wie man sie in Laboratorien oder in Forschungseinrichtungen benutzte: gläserne Kolben, elektrische Meßgeräte, Unmengen von ärztlichen Bestecken, Binden und Bandagen, Gläser voller Blutplasma, Seren und Impfstoffe, wie sie so ohne weiteres niemals in private Hände hätten gelangen dürfen, selbst dann nicht, wenn man den Engpaß in den staatlichen Krankenhäusern (von dem Strobel wußte) bedachte.
Die Blutspur verlief quer durch den Raum, vorbei an einer zerbrochenen Brille, auf deren Scherben einzelne Tropfen gefallen waren, und wie es schien, hatte sie sich verdoppelt. Doch eigentlich ist dies nicht genau das Bild, das sich den Beamten präsentierte. Hatte sich die ursprüngliche Blutspur an einer Stelle zu einem dicken Fleck verbreitet und lief sie dann zitternd zu einer halb geschlossenen, stählernen Tür weiter, so war, bei der zerbrochenen Brille beginnend, eine zweite dicke Blutspur hinzugetreten, von der es schien, als ob sie von Füßen verwischt worden wäre.
Man wird den beiden Beamten bescheinigen müssen, daß sie für den normalen Streifendienst in Bremen abgerichtet waren. Sie waren junge Absolventen erst einer mittleren Bremer Schule, dann der Polizeischule, die sie beide mit Auszeichnung bestanden hatten. Sie waren mit den notwendigsten rechtlichen Vorschriften vertraut gemacht worden, waren aber noch weit entfernt davon, in den höheren Polizeidienst oder gar in den kriminaltechnischen Dienst aufzusteigen. Gleichwohl wußten sie aber, wie sie sich in einem Fall, der sich entwickelte wie dieser, verhalten mußten.
Dennoch hatte Kahl und Strobel, als sie vor der halb eingeklinkten, schweren Metalltüre, die mehr wie der Verschluß eines Tresores wirkte, standen, eine beträchtliche Unruhe, um nicht zu sagen Angst, ergriffen. Denn es war nicht nur die Kälte des Stahls, die gleichsam auf sie herabfloß, und es war nicht nur der monotone Regen, den man im Hintergrund klopfen hörte, es war auch nicht nur das Blut, das sie unzweifelhaft identifiziert hatten, es waren nicht einmal die befremdlichen Umstände, in denen sie sich befanden – sondern auch das Brummen aus dem angrenzenden Räume hatte, wie ihnen schien, zugenommen.
Strobel hatte – mit vorgehaltener Waffe – die Metalltür aufgestoßen. Die ungeheure Panzerung schwang langsam nach innen. Sie lief völlig lautlos. Und im gleichen Maße, wie sich ihnen der dahinter liegende Raum öffnete, war der helle Lichtschein aus dem Raum über sie beide gefallen, so daß sie im ersten Moment geblendet die Augen schließen mußten. Als sie sie wieder öffneten, wären sie vor dem Anblick, der sich ihnen bot, beinahe zurückgetorkelt. Man betrachtet ja alle Dinge auch zugleich mit einer bestimmten Erwartungshaltung, und es ist, als hätte jemand von außen in den Kopf eingegriffen, erfüllt sich diese nicht. So ging es Kahl und Strobel.
Sie standen am Eingang eines riesigen Labors. Das Labor war so groß, wie man es unter einem so verhältnismäßig schmalen Haus wie dem der Franziusstraße 112 niemals erwarten durfte. Aber mehr noch als seine Ausdehnung war sein Inhalt verblüffend. Schon auf den ersten Blick konnten die beiden Polizisten an den Wänden riesige Brutkammern sehen, in die von der Decke Schläuche, die aus Nährtanks liefen, hingen. Die Kammern, in denen grün erleuchtete Nebel spielten, waren durchsichtig und zum Teil offen.
Auf ihrem Boden hingen menschliche Gestalten unterschiedlicher Größe, in seltsamer Proportion und Verzerrung. Da wuchsen Zwerge und Gnomen, absonderliche Gestalten mit zwei Köpfen, Kreaturen, die aus Mensch und Tier zugleich bestehen mußten und von denen niemand geträumt haben würde, daß sie lebensfähig wären. Es war fast, als ob man das in den gläsernen Tanks beginnende Leben sich regen sehen konnte. Es war, als hätte hier eine Mischung aus Reptil und Mensch gezüngelt, und als öffne dort ein Wolfsmann seinen Rachen.
Decke und Wände, wo Flüssigkeiten in ihren grünen Behältern schäumten, schienen in Bewegung. Man hatte den Eindruck, als setze sich in ihnen ein ungeheurer Regen fort, der von draußen hereingefallen war und dem man nur einige Nährstoffe beigegeben hatte. Es versteht sich, daß das Brummen, das die beiden Polizisten schon in der Garagenabfahrt vernommen hatten, aus diesem Räume stammte. Es drang hervor hinter einer riesigen metallenen Tafel, an der unzählige farbige Lichter, Zeiger und Schalter angebracht waren; von den Zeigern schwankten einige unter ihren gläsernen Fenstern, während in lichterfüllten Glasröhrchen Flüssigkeiten schäumend auf und nieder stiegen.
In der Mitte des Labors war ein riesiger leerer Kasten mit aufgeklapptem gläsernem Deckel zu erkennen. Der Kasten ruhte auf vier Beinen, und aus seiner Kopfseite liefen unzählige Drähte, die im Boden unter einer Metallplatte verschwanden. Neben dem Kasten lag ein kleiner Mann in einem braunen, nadelgestreiften, verschlissenen Anzug auf dem Boden. Auf seinem grauen Haupthaar war Blut geronnen. Seine Augen, die zu der Türe starrten, waren gebrochen. Über ihn beugte sich ein Mann, der fast zwei Meter messen mußte. Der große Mann schien an dem kleinen Mann zu zerren. Mitunter drangen aus seiner Kehle unartikulierte Laute. Dann hatte er die beiden Polizisten gesehen.
Sperrle war ein Polizist, der seinen Beruf liebte. Er war, als er sich zu seinem Beruf entschlossen hatte, von der Überlegung ausgegangen, daß es reizvoll sein konnte, in die Beweggründe, in die Tiefen – wie er heutzutage sagen würde –, in die Abgründe der Menschen, in das also, was sie antrieb, hinabzusteigen. Es versteht sich, und darüber war er sich im klaren, daß sich in diesem Bemühen, andere Menschen und ihre Motive in den kriminellen Grenzfällen, worin die Dinge kulminierten, zu verstehen, eine eigene Unsicherheit verbergen mußte, eine Ungewißheit über sich selber, die er abzudecken suchte, indem er sich kriminaltechnisch in andere Seelen kniete.
Das soll aber nicht bedeuten, daß er jeden Tag und jede Stunde, daß er jeden Fall, den er bearbeiten mußte, liebte. Ganz im Gegenteil. Die Situationen, aus denen sich für ihn – in der emotionalen Tiefe – etwas herausholen ließ, waren selten. Und er hatte vor sich selbst schon feststellen müssen, wie er abstumpfte, wie er die Dinge, die er hatte beobachten wollen, nicht mehr sehen konnte, wie – wie er manchmal dachte – sein Bewußtsein verblaßte, wie er sich normalisierte, wie er den Menschen und Dingen nicht mehr das ansah, was wirklich in ihnen steckte.
Das war so ein Morgen. Drei Uhr dreißig, als ihn ein Anruf aus dem Kommissariat weckte. Er rollte auf die Seite und gähnte. Seine Frau lag daneben. Halb wach, hörte er sie murmeln, daß sie sich noch einmal von ihm scheiden ließe, wenn er sich nicht einen anderen Beruf mit geregelten Zeiten suchte. Er ließ sie brummen. Griff nach dem Hörer. „Sperrle.“
„Herr Kommissar“, hörte er Brauns aufgeregte Stimme. „Bitte kommen Sie sofort in die Zentrale. Es ist etwas Unerhörtes geschehen.“
„So“, sagte Sperrle, „was denn?“
„Einsatzwagen A12“, sagte Braun mit vor Aufregung vibrierender Stimme, „ist in der Franziusstraße 112 tätig geworden.“
„Ja, gut“, sagte Sperrle, „was nichts Ungewöhnliches sein dürfte.“
„Gewiß“, war Braun fortgefahren, „die beiden Beamten, Strubel und Kahl …“
„Ah ja …“ murmelte Sperrle, noch immer schlaftrunken, der seine guten Leute kannte.
„… wurden getötet.“
Jetzt war es Sperrle, als hätte jemand sein Gehirn am Hinterkopf zusammengezogen. In den hinteren Partien. Als würde jemand brutal, gemein seine Gedanken raffen. Als würde jemand seinen Kopf hinterhältig und gemein verschließen, damit er nicht mehr denken konnte. Breit drückte er den Anflug von Wahnsinn beiseite.
„Was ist denn geschehen?“ fragte Sperrle mit fast malmender Stimme.
Der Beamte am anderen Ende der Leitung schluckte.
„Sie wurden“, sagte er, „in das Haus Franziusstraße 112 gerufen, aus dem eine Nachbarin Schreie und Geräusche hörte. Sie sind, wie wir von der Nachbarin erfuhren, in den Keller des Hauses vorgedrungen, aus dem sie Minuten später mehrere Schüsse hörte.“
„Und was wurde mittlerweile veranlaßt?“
„Wir haben alle verfügbaren Streifenwagen in die Franziusstraße geschickt. Wir entdeckten dort, wie ich schon sagte, daß Kahl und Strobel getötet wurden.“
„Sind Ihnen darüber bereits Einzelheiten bekanntgeworden?“ fragte Sperrle, der jetzt hellwach war.
„Ja, seltsam“, sagte Braun stotternd, „sie wurden, wie soll ich sagen, zerrissen. Sie wurden in Stücke gerissen, Herr Kommissar.“
„Ach, reden Sie keinen Unsinn“, sagte Sperrle. „Wurden denn dort Hunde gehalten?“
„Nein, nein, nach dem, was mir bisher zugänglich wurde, hat sich im Keller des Hauses ein riesiges Wesen aufgehalten, das den Kugeln der beiden standhielt …“
„Was ist denn jetzt los dort?“ fragte Sperrle.
„Das Haus ist von unseren Beamten abgesichert. Wir warten auf Instruktionen. Wir wissen nicht genau, wie wir vorgehen sollen.“
„Ist man bereits in das Haus eingedrungen?“ fragte Sperrle.
„Nein“, hatte Braun erwidert, „von der ersten Sondierung abgesehen.“
„Die Beamten haben sich wieder zurückgezogen?“
„Ja. Der Fall liegt seltsam.“
„Und dieses … dieses riesige Wesen?“
„Muß sich“, und wieder mußte Braun stottern, „wenn es keinen geheimen Ausgang geben sollte, noch im Kellerraum verbergen.“
„Ich werde“, sagte Sperrle nach einer Weile, „in zehn Minuten dort sein.“
„Danke, Chef“, sagte Braun, fast erleichtert.
Es war seltsam. Es regnete noch immer. Die Nacht war kalt und glitschig. Auf dem Pflaster spiegelten sich die Lichter der Streifenwagen, die in der Franziusstraße vorgefahren waren. Ein Feuerwehrwagen stand an der Seite. Ein Dutzend Männer, schlaftrunken und müde, postierte sich daneben. In der Nachbarschaft war es wach geworden. Aus einigen der Häuser plärrten Kinder. Eine Stimme – mitteilend, man habe ja schon immer gewußt, daß der Dr. Broadnar spinne – schimpfte durch das geöffnete Fenster.
Vor dem Grundstück 112 waren Scheinwerfer aufgeblendet, fast so, als ob dort ein Film gedreht werden sollte. Jetzt begann es sich auf dem Grundstück zu regen. Eine Art Salamander, grün, mit großen leuchtenden Augen, mit menschlichen Händen, war an der Fassade, aus dem Keller kommend, hochgekrochen. Unter dem Gebüsch konnte man eine Art Plazenta sehen – sie hatte etwas wie einen Mund zu einem Gurgeln geöffnet. Zwei, drei verkrüppelte Zwerge mit grünen, messerscharfen Reptilienzacken auf den Rücken huschten durch den Garten.
Ein sich blähender weißer Leib, fast nur Körper, oben mit einem riesigen Maul, darin messerscharfe Reihen von Haifischzähnen, mit Fingern wie Klauen und rasiermesserscharfen Nägeln, dehnte sich aus der Ausfahrt. Rollte nach oben. Blitzte, raste und rotierte. Kam mit tückischen roten, leuchtenden Augen näher. Die Männer, die noch eben fast nachlässig, ein wenig schwammig, unwissend, ein wenig auch, als würden sie nur aus Säcken bestehen, auf der Straße gestanden hatten, spritzten auseinander.
Das sägende Monstrum prallte auf die Straße, im Rücken einen Teil des Gartentores, den es beiseite geschleudert hatte. Ein hoher, singender Ton drang aus seiner Kehle. Man sah seine messerscharfen Fingernägel blitzen. Das Ding bewegte sich mit ungeheurem Tempo. Hatte sich einen der Männer aus der Menge gegriffen. Griff hinein in ihn, durch ihn, kam mit den Händen, als wären sie durch ein Nichts gefahren, heraus an seinem Rücken. Blut spritzte.
Von den Fenstern oben und drüben brüllten schlaftrunkene Gestalten.
Ein Polizist, den Angst und Wahnsinn über den Kühler seines Wagens gewirbelt hatten, sah, wie das Ding, nachdem es noch zwei weitere Männer durchgriffen hatte, auf ihn zukam. Der Polizist hob die Maschinenpistole und gab Feuer. Die Waffe in seiner Hand schwankte. Der Rückstoß warf ihn gegen die Scheibe seines Wagens, auf dessen Motorhaube er jetzt lag, so als ob er sich das Genick gebrochen habe.
Vor ihm stürzten zwei, drei Polizisten oder Feuerwehrmänner nieder. Sie fielen, als wäre ein Draht, der sie aufrecht hielt, aus ihnen gezogen.
Aber der Polizist hatte auch das Monstrum getroffen. Er traf es mitten in seinen sich blähenden, weißen Körper. Fleisch flog in Fetzen. Die Augen platzten. Es schien, als ob das Ding bloß mit Blut angefüllt gewesen wäre. Es regnete auf das Pflaster Blut in Strömen. Fast schwarz rann es aus dem Etwas.
Als Kommissar Sperrle endlich am Tatort eintraf, erwartete ihn bereits eine beachtliche Strecke. Es schien, als er aus seinem Wagen ausstieg, als ob das Jagdfieber seine Männer und die Sonderkommandos, die herbeigeeilt waren, ergriffen hätte. Selbst jetzt noch, da bereits eine Viertelstunde seit der Schießerei vergangen war, torkelten die Männer mit den Maschinenpistolen und den Flinten und den Nachtsichtgeräten wie trunken durcheinander. Es war Sperrle, als würden sie ihre Zungen zu den Mündern wie lechzende Bluthunde heraushängen, und tatsächlich sah er, wie einige die blutunterlaufenen Augen, in denen das Weiße glänzte, rollten.
Auf dem Gehsteig vor dem Hause 112 lagen die zerschossenen, zerklumpten Figuren, von denen Sperrle sogleich dachte, daß man die Blutwut seiner Männer angesichts dessen verstehen konnte. Fast jede der Kreaturen war bis zur Unkenntlichkeit zerschossen. Zerplatzt waren die Gnomen. Zersiebt waren die Lurche. Die menschenähnlichen Kreaturen lagen bleich im Regen, der unaufhörlich und monoton auf sie tropfte. In einer Ecke, vor dem Gartentor, lag etwas wie eine riesige weiße Plane – es war das Monstrum, das man, nachdem es zerschossen worden war, in die Ecke geschleift hatte.
Das Licht aus den großen Scheinwerfern lag bleich und grell über der Szene. Die Polizeikameras surrten. Man konnte in der Luft noch den Pulverdampf und den Bleigeruch unter dem fallenden Regen spüren. Einige der Männer, denen Sperrle die Hand schüttelte, hatten bleiche, steinerne Gesichter, und es war, als würde man sie nach der Hatz kaum ansprechen können. Sperrle suchte umständlich nach Worten, obwohl er sogleich gesehen hatte, daß das Haus noch nicht gestürmt war. Von unten, aus dem Keller, war noch immer der tiefe, brummende Ton zu hören.
Um vier Uhr dreißig war die Aktion beendet. Die Scheinwerfer waren erloschen. Im Licht des Morgens, der langsam über die Dächer heraufkroch, konnte man die abziehenden Schwaden des Lähmgases sehen. Die riesige Gestalt des Mörders der beiden Polizisten hatte man auf einer Bahre in einen vergitterten Krankenwagen, der sie ins Polizeikrankenhaus transportieren würde, geschoben. Die wütenden Schreie, das Geschimpfe, die Wut der Anwohner, die ihre Steuergelder beklagten, von denen sie nichts hätten, keinen Schutz, keine Ruhe, verstummten. Das Brummen aus dem Keller war, indem man den Strom abgedreht hatte, erstorben. In den Nährtanks waren die restlichen, die von der Kreatur nicht hochgepeitschten Geschöpfe, in sich zusammengesunken, gestorben. Das Labor war versiegelt. Ein Dutzend Polizisten, die vor dem Gebäude Wache hielten, rauchten lustlos ihre Zigaretten, während die Reporter der Lokalpresse sie bestürmten.
Sie hatten sich in der Einschätzung des Lähmgases, vielleicht aber auch mit der Konstitution der Kreatur, die man auf der Pritsche im Polizeiwagen festgebunden hatte, verrechnet. Sperrle, sich Notizen machend und wie abwesend dem Geschwätz der begleitenden Beamten, die noch immer wie mit zugeschnürten Kehlen sprachen und sich Luft machten mit dummen Scherzen, lauschend, ließ plötzlich, als ihn ein kalter Hauch, ein kaltes Gefühl, ein Luftzug, als ob jemand die Frontscheibe des Wagens für Momente geöffnet hätte, den Schreibblock sinken.
Es gab nur eine Richtung, in die er blicken konnte. Die Kreatur hatte die Augen geöffnet. Er sah in ihre gelben, aufglimmenden Augen. Das viereckige Kinn schien zu rucken. Die Wangenknochen krachten. Der Mund war eine aufklaffende, brüllende Höhle. Das Vieh war vom einen zum anderen Augenblick zurück ins Leben gesprungen. Es zerrte an seinen Stricken. Die Lederriemen, in die es gefesselt war, platzten.
Der Boden vibrierte, als es seine Füße auf den Metallkasten stellte. Es waren riesige Hände, die nach Sperrle langten. Notizblock und Schreiber fielen zu Boden. Sperrle, mit herausquellenden Augen, hing an dem inneren Gitter. Glas regnete zu Boden. Das Monstrum hatte nach Sperrle gegriffen. Währenddessen waren vielleicht zwei, drei Sekunden vergangen. Die Beamten, die im vorderen Abteil saßen, waren, weiß in den Gesichtern, herumgefahren.
Würde man die Szene filmisch festgehalten haben, so wäre der Eindruck entstanden, daß das Ungeheuer mitten in der Luft verhalten hatte – gewissermaßen auf halbem Wege zwischen dem Körper Sperrles und denen der übrigen Beamten, gleichsam mit ihnen allen ein Dreieck bildend, in dem es sich entscheiden mußte. Was wußten sie, wie schnell ein solches Ungeheuer lernen konnte? Was wußten sie, welche Programme in seinem Gehirn jetzt abgefahren wurden? Wie konnten sie ahnen, wie es die Vorfälle im Keller, als man es eingeschläfert hatte, verarbeitet haben würde?
Wie auch immer seine Reaktion rettete Sperrle das Leben. Das Ding hatte sich aus diesem Zwischenraum in der Luft gleichsam herausgenommen. Schlug einen Haken. Drehte in der Luft seinen Körper. War ein brüllendes Etwas, das gegen die hintere Tür platzte. Die Bahre, auf der man es in den Wagen getragen hatte, befand sich nun in seinen Händen. Als würde ein Gong geschlagen, hämmerte es mit der Bahre gegen die Tür. Noch bevor der erste Schuß krachte, war es, durch die zersplitternde Tür, inmitten eines Stahl- und Glasregens draußen, stürzte dröhnend auf die Straße, kam ein wenig schief, ein wenig verzerrt, ein wenig quer auf die Beine. Taumelte gegen ein aufdröhnendes Fahrzeug, dessen Fahrer das Steuer herumgerissen hatte. Torkelte gegen einen Alleebaum, riß dessen Zweige herunter. Stürzte eine Böschung hinunter. Und war, während die ersten Schüsse über es hinwegpeitschten, den Augen der Beamten entschwunden.
Es war mit Sperrle fast wie mit einem Verbrecher, den es zum Tatort zurückzieht. Damit wir uns nicht mißverstehen. Es ist klar, daß man die beiden Seiten – diesseits und jenseits des Gesetzes – mitunter austauschen könnte. Was ist Recht, was ist Unrecht in einer Welt der Gewalt und der Stärke? Handelt jemand richtig, wenn er, nur weil er normal ist, andere umstößt? Und was hätte er davon, würde er nicht so handeln? Es ist hier nicht der Ort zu moralisieren.
Gleichwohl ist es nicht verkehrt, Sperrle als jemanden zu sehen, den es magisch ins Labor des Dr. Broadnar zurückzog. Zum einen hatten sich die Schwaden des Lähmgases verzogen und waren auch aus den Holztäfelungen, aus den Armaturen, aus den Zementschichtungen verflogen. Zum andern aber hoffte Sperrle, irgendeinen Hinweis zu finden, der ihm klärte, was hinter den Vorgängen steckte. Was Sperrle als Täter betraf, der zum Tatort zurückkehrt, so war er sich im klaren über die Austauschbarkeit der Rollen im Leben.
Das Labor an diesem frühen Morgen lag kalt und verlassen. Die Polizisten, die Sperrle durchgelassen hatten, hatten die Hände unter den Achselhöhlen vergraben. Sperrle hatte den letzten Beamten an der Eingangstür zum Labor abgeschüttelt, da er allein sein wollte. Ein Notaggregat, den Strom ins Labor liefernd, brannte. Man hatte die Figuren, denen alle Züge von Dr. Broadnar anhafteten, aus den Nährtanks abgezogen. Dennoch schien es Sperrle, als würden aus allen Ecken und Winkeln des Labors Greise und Gnomen, Zwerge und verwurzelte Menschen wachsen.
Ein Pult hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Deckel war abgeschlossen. Das Pult erweckte nicht den Anschein, als ob die Spurensicherung sich seiner angenommen hätte. Das lag aber auch daran, wie Sperrle nun dachte, daß der Fall ja klar war und man auf die Sicherungsgruppe Bonn, die im Laufe des Tages eintreffen würde, warten wollte, von der das wissenschaftliche Rätsel aufgelöst werden sollte. Aber, meinte er in Gedanken, es gehörte zu seinen Kompetenzen als Kriminaler, auch solchen Spuren nachzugehen.
Da er lange Zeit in der Einbruchsabteilung gearbeitet hatte, war das Pult wenig später geöffnet. Vor Sperrle lag ein Notizbuch, lagen Papiere. Es waren Arbeitsanweisungen, Berechnungen, Formeln, Pläne und Projekte, die Broadnar verfaßt hatte, da er alleine arbeitete, und sein Gedächtnis war nicht das beste – kein Wunder, wenn man den Umfang und den Schwierigkeitsgrad seiner Arbeiten bedachte, murmelte Sperrle in Gedanken.
Er hatte die Papiere überflogen und fand natürlich, da er wußte, wonach er suchte, einen Text auf, der seinen Eindruck von den Ereignissen komplettierte. Da schrieb Broadnar am Abend des vorigen Tages unter anderem:
„Ich fühle mich schuldig. Ich, der ich so lange an der Schaffung eines besseren Menschen gearbeitet habe – und Gott möge mir verzeihen, wenn alle diese Geschöpfe meine Züge tragen, aber wer sonst als die Wissenschaftler wären auserwählt, die Menschheit zu führen? –, muß mir mein Versagen eingestehen. Es versteht sich, daß sich die Wissenschaft über Fehlschläge aufwärts entwickelt. Der Wissenschaftler, der alle Antworten auf seine Fragen vor dem Beginn der Experimente schon wüßte, ist noch nicht vom Himmel gefallen.
Doch das Problem, das mich bedrückt, liegt in der Materie, in der ich arbeite, wenn ich mir selbst diese frivole Ausdrucksweise gestatte. Ich arbeite mit Menschen. Ich arbeite am Menschen. Es sind Menschen, gleich welcher Form und Gestaltung, die ich bilde. Es ist in meine Hand von vornherein eine ungeheure Verantwortung gegeben. Fehler, die ich mache, lassen sich kaum korrigieren. Und es ist ein Verbrechen, strenggenommen, überhaupt einen Fehler zu begehen.
Gleichwohl habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen, um auf meinem Wege vorwärts, weiter, geradeauszuschreiten. Es nützt ja nichts, zu zweifeln und zu zaudern. Es hat keinen Sinn, sich beirren zu lassen. Es ist meine Aufgabe und Berufung, meinen Auftrag fortzuführen. Gott sei mir gnädig bei all den Fehlern, die ich mache. Ich frage mich, ob es einen Priester geben würde, rund um die Erde, dem ich dieses anvertrauen könnte.
Was ist das für ein Fehler, den ich nur auf diesen Seiten niederlegen werde? Er betrifft Alpha, meine prächtige Kreatur, das gelungenste Geschöpf von allen. Er ist nicht zu vergleichen mit den Gnomen, mit den Zwergen, mit den Kreaturen, die mangels Nahrung, mangels Licht, mangels Sauerstoff, mangels Stromschlag mir mißrieten. Alpha ist prächtig, aber er ist nicht die Vollendung. Was fehlt ihm? Äußerlich ist er gut gewachsen. Ein prächtiger Bursche! Eine großartige Schöpfung!
Aber wie ist er, nachdem ich ihn auf die erste Exkursion alleine schickte, nachdem ich ihn zuvor im Lieferwagen, versteckt in der Pritsche, mitgenommen hatte, mir nach Hause gekommen? Zerschlagen und zerschunden! Ein Spottbild! Ein Zerrbild! Ein Zwei-Meter-Mann, über den sich die Kinder kaputtgelacht haben. Und warum das? Weil er sich nicht wehrte! Weil er sich nicht wehren konnte! Mein prächtiger Alpha! Meine großartige Schöpfung! Ein Spielball der Kinder! Ein Gespött der Alten!
Es ist, ich bekenne es offen, mein Fehler. Meine falsche Programmierung, meine falsche Konditionierung. Ich war mir, offen gesagt, selbst nicht im klaren, welche Schablonen draußen benötigt werden. Wir, die wir die Welt draußen von klein auf gewöhnt sind und nicht mehr daran denken, wie wir selbst vor Jahren draußen angefangen haben, übersehen, was uns befähigt, mit denen dort draußen umzugehen. Obwohl ich im Prinzip daran dachte, daß ich Alpha bestimmte Abwehrmittel geistiger Art einimpfen müßte, habe ich ihn doch – praktisch wehrlos – den Wölfen ausgeliefert.
Gut. Man macht Fehler, um sie zu korrigieren. Er liegt jetzt in seinem Tank und schlummert. Lassen wir ihn schlafen. Er schläft, um den Wahnsinn, der ihm begegnet, aufzuarbeiten. Seine ramponierten Flanken sind zusammengewachsen. Ich habe eine neue Schablone ausgearbeitet und werde sie beim nächsten Ausflug testen. Was jetzt dahintersteht, ist der Wille, sich durchzusetzen. Man könnte fast sagen, daß er nun heiß ist. Und was könnte ihm, bei seiner Körpergröße, bei seinen Kräften, jetzt noch passieren?
Notabene: Habe eine einzige Sperre, die mich selbst schützt, in ihm verankert. Ich bin, nach seiner Lesart, nach wie vor sein Gottvater. Mich wird er nicht antasten dürfen. Bin gespannt, wie er sich draußen entwickelt.“
In der Nacht waren zahlreiche Meldungen im Polizeirevier eingelaufen, von denen zuerst nicht klar war, daß sie zu ein und demselben Vorgang gehörten. Sperrle, der sich über der sechsten Tasse Kaffee wach hielt, ließ sich die Vorgänge, zusammenhängend und geordnet, kommen. Im Ostertorviertel war es zu einer Schlägerei gekommen. Man hatte zuerst angenommen, daß es sich um Kernkraftgegner handelte, die sich mit Befürwortern angelegt hatten. Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen. Ein Auto lag auf der Seite. Ein Modegeschäft brannte.
Aus einer Kneipe im Schnoor wurde berichtet, ein seltsamer riesiger Mann sei gegen ein Uhr morgens in das Lokal eingedrungen. Er habe einen sehr wirren Eindruck gemacht und habe die Garderobe eingerissen. Zwei, drei Gäste, die protestierten, habe er über die Theke geworfen. Es wurde berichtet, daß er vor einem Tisch mit zwei Mädchen verharrte. Bei ihrem Anblick schien er nachdenklich geworden zu sein. Als die Polizeisirene draußen aufklang, war er geflüchtet.
Tatsächlich hatte die Spezialeinheit, ohne zu wissen, um welch bedeutenden Fall es sich handelte, noch in dieser Nacht – sie war unbeschäftigt – Jagd gemacht auf Alpha. In den Wallanlagen, die er in Richtung Schwachhausen überquerte, war es zu einem Zusammenstoß gekommen. Einen der Polizisten, der ihn mit den Autoscheinwerfern geblendet hatte, hatte er zerrissen. Er selbst hatte auch einige Kugeln eingefangen, war aber letztlich unversehrt entkommen.
Über das Ende Alphas wurde in der Presse ausführlich berichtet. Wie bekannt ist, wurde Alpha in einer großen Treibjagd, nachdem man ihn im Hafen ausfindig gemacht hatte, auf die Kaimauer gegenüber der Insel getrieben. Man weiß nicht, was in ihm vorging, als die Polizeikette ihn vor sich hertrieb. Aber es dämmerte wohl in seinem zerrissenen Schädel, daß die Übermacht zu groß war. Anstatt sich zu ergeben, folgte er dem letzten Programm in seinem Schädel und sprang ins Wasser. Es ist eine erstaunliche Willensleistung, wie er es schaffte zu ertrinken, ohne daß sich sein Überlebenstrieb aktivierte.
Problematisch an seinem Tod war für die Sicherungsgruppe Bonn – sie verfügt über wissenschaftliche Spezialisten – die Art, wie er umkam. Random, ihr Führer, fluchte, daß dies die einzige Art sei, auf die er nicht sterben durfte.
„Aber warum?“ fragte ihn Sperrle, den, nachdem er die Dinge in ihrer Entwicklung verfolgt hatte, etwas wie Mitleid mit dem großen Manne überkommen hatte.
„Weil dadurch sein Gehirn volläuft“, antwortete Random.
„Volläuft?“ echote Sperrle und wischte sich die Augen, die in der Kälte zu tränen begonnen hatten.
„Volläuft“, bekräftigte Random. „Sie müssen verstehen, daß wir derart wertvolle Gehirne analysieren. Wir schütteln die Gedächtnispulver aus ihnen und ziehen mitunter wertvolle Schlüsse. Diese Möglichkeit reduziert sich, wenn das Gehirn verwässert.“
„Aha“, sagte Sperrle.
So konnte Sperrle – er war im Zuge der Ermittlungen zum Oberkommissar aufgestiegen – über den letzten, ihm noch unklaren Gesichtspunkt, warum Alpha seinen Herrn und Meister getötet hatte, nur spekulieren. Wenn man ihn fragte, war seine Lieblingsthese, daß Broadnar sein Geschöpf nach und nach in die Freiheit schickte. Erst, pflegte er zu sagen, ließ er ihn naiv und unschuldig, fast wie ein Kind, hinausgehen. Aber warum das? So wurde es ihm gewöhnlich an dieser Stelle entgegengehalten.
Damit, meinte dann Sperrle, ihm die Welt nicht von vornherein verstellt war. Er sollte naiv und unschuldig in die Welt gehen, um sicher zu sein, daß er alle Möglichkeiten, die sie böte, ausgeschöpft hätte. Um später, ihrer Schlechtigkeit gewahr geworden, in seiner Linie nicht zu schwanken. Welcher Linie, pflegte der eine oder andere Kollege oder Besucher hier zu fragen. Das ist unklar, sagte dann Sperrle. Das hängt ab von Broadnars Charakter, aber auch von der Entwicklung Alphas.
Nun gut, war dann die Rede, aber dies würde den Mord an Broadnar – oder, ja, ja, meinetwegen – den Totschlag noch längst nicht erklären. Nein, sagte hierauf gewöhnlich Sperrle, das ließe sich auch nicht so einfach erklären. Vielleicht würde man infolge der Verwässerung des Gehirns von Alpha die Ursache niemals finden. Wie auch immer. Ganz sicher wisse man jedenfalls, daß Broadnar Alpha in der zweiten Runde zu einem Kampfgeschöpf aufbaute, das sich – kämpfend – bewährte. Ja, war die entrüstete Antwort, aber um welchen Preis! Und was ist das für eine Art, sich zu behaupten! Die übliche, pflegte Sperrle dann zu erwidern, nur nicht so höflich, nur nicht so geschliffen, eben von einem kraftvollen Neuling, dem die feinen Gemeinheiten nicht geläufig sind, der darum die groben Tricks anwendet.
Es gab, nebenbei bemerkt, keinen Besucher, der diese Bemerkung nicht zurückgewiesen hätte. Ich kann mir auch nicht denken, daß es einen Leser geben würde, der sich hierzu bejahend äußern möchte. Aber man möge sich vor Augen halten, dies sind nur Spekulationen von Oberkommissar Sperrle, der sich redlich mühte, einen äußerst komplizierten Fall zu lösen. Was aber, war die weitere Frage, die sich nun einzustellen pflegte, glauben Sie, Herr Oberkommissar, persönlich, war der Grund für den Mord Alphas – oder, ja, ja – des Totschlags von Alpha an Dr. Broadnar?
Nachdem Sperrle mit den Schultern gezuckt hatte, nachdem er seine Daumen breit gespreizt, einen Schluck Kaffee aus der Tasse geschlürft, ein wenig wie ein Affe geblickt, an seiner Brille gerückt, sich endlich nochmals in seinem Sessel gespreizt hatte, pflegte er endlich doch zu sagen: Sehen Sie, irgendwann, bilde ich mir ein, mußte Alpha doch seinen Ziehvater überwinden. Es versteht sich doch ohne weiteres, daß er nicht ewig in Abhängigkeit bleiben konnte. Was uns so erstaunlich und befremdlich erscheint, ist doch bloß die Geschwindigkeit des Prozesses. Aber klar ist, daß Broadnar ihn nicht zweimal narren durfte, auch nicht in bester Absicht.
Ich vermute, daß Alpha, als er zum zweitenmal hinaus ins Leben geschickt wurde und zum zweitenmal nicht zurechtkam – um es milde auszudrücken –, sich auch von seinem Ratgeber, seinem Programmierer, von Broadnar also, emanzipierte. Man weiß nicht, was die beiden in der Waschküche miteinander beredeten, als Alpha von seinem Amoklauf zurückgekehrt war. Die Folgen des Gesprächs aber sind nicht zu bestreiten. Das Blut von Dr. Broadnar spricht seine eigene Sprache. Die zerbrochene Brille ist deutlich.
Was Alpha, pflegte Sperrle die Unterhaltung abzuschließen, nicht klar war und weswegen er und Broadnar letztlich untergehen mußten, war die Tatsache, daß er Broadnar als Gottvater, als Wesen, das seine Entwicklung beendet hatte, akzeptierte. Er hatte nicht verstanden oder konnte noch nicht verstehen, daß auch Broadnar noch voranging. Die Ergebnisse, die Broadnar ihm präsentierte, waren für ihn unverrücklich. Darum – sein Gott war gescheitert – hat er ihn getötet.