Gerd Ma­xi­mo­vič
Broadnars Geschöpf

 

Frau Ade­lai­de Ade­mar hat­te die Po­li­zei ge­ru­fen. Sie war am Te­le­fon so auf­ge­regt ge­we­sen, daß sie ih­re Bot­schaft zu­erst nur hat­te stam­meln kön­nen. Der Be­am­te, Braun, der die­se Nacht Dienst hat­te, war kaum im­stan­de, ih­ren Na­men zu ver­ste­hen. Er bat sie mehr­mals, ver­ständ­lich zu spre­chen, aber es schi­en, als ob die Pa­nik, die die Frau be­fal­len hat­te, al­le Schleu­sen ih­rer Psy­che ge­öff­net und ih­ren Ver­stand weg­ge­schwemmt hät­te.

End­lich war es Braun, der das Ton­band ein­ge­schal­tet hat­te, ge­lun­gen, die Frau ge­nü­gend zu be­ru­hi­gen, um in Er­fah­rung zu brin­gen, daß sie in der Fran­zi­us­s­tra­ße wohn­te und an­rief, weil sie – ge­gen zwei Uhr drei­ßig an die­sem Mor­gen – meh­re­re furcht­ba­re Schreie vom Nach­bar­grund­stück ge­hört hat­te. Sie be­haup­te­te wei­ter, dump­fe Ge­räusche ver­nom­men zu ha­ben, als wür­de schwer auf einen mensch­li­chen Kör­per ein­ge­schla­gen.

Braun hat­te das Ton­band wie­der aus­ge­schal­tet. Dann, als er sich ent­schlos­sen hat­te, ei­nem Funk­strei­fen­wa­gen Be­scheid zu ge­ben, war ihm ein­ge­fal­len, daß dies nicht die ers­te selt­sa­me Nach­richt war, die Nach­bar­schaft der Fran­zi­us­s­tra­ße be­tref­fend. Er über­leg­te, ob er Sperr­le, den Kom­missar, we­cken las­sen soll­te. Er fühl­te sich jetzt selbst ein we­nig in Pa­nik, da er nicht ge­nau wuß­te, wie er sich ver­hal­ten soll­te. Dann be­schloß er, die Er­he­bun­gen der Be­sat­zung des Funk­strei­fen­wa­gens ab­zu­war­ten.

 

Es hat­te in die­ser Nacht von Don­ners­tag auf Frei­tag un­auf­hör­lich ge­reg­net. Die Par­kal­lee war schwarz und glit­schig. Durch die kah­len Bäu­me konn­te man die Am­peln bei ih­rer öden Rou­ti­ne se­hen, die we­nigs­tens et­was Licht in das Park­vier­tel brach­te. Der Strei­fen­wa­gen A 12 war, von der Uni­ver­si­tät kom­mend, in­dem er ei­ni­ge Nacht­schwär­mer, die aus der Wald­büh­ne ka­men, pas­sier­te, nach­dem er ge­wen­det hat­te, in die Fran­zi­us­s­tra­ße ein­ge­bo­gen.

Die Häu­ser, die al­le drei, vier Eta­gen nach oben gin­gen, la­gen dun­kel. Die Bü­sche vor den Häu­sern wa­ren schwar­ze, durch den na­hen Win­ter re­du­zier­te Schat­ten. Die La­ter­ne des Hau­ses mit der Num­mer 113 brann­te, als der Strei­fen­wa­gen lang­sam die Stra­ße hin­ab­fuhr. In der Tür stand ein Schat­ten. Der Po­li­zei­wa­gen fuhr lang­sam vor und brems­te.

Die bei­den Be­am­ten, Kahl und Stro­bel, wa­ren aus­ge­stie­gen. Es war die Frau von Num­mer 113, die an­ge­ru­fen hat­te. Sie stand zit­ternd un­ter der Tür. Ih­re Au­gen wa­ren ge­wei­tet, als hät­te sie das Ver­bre­chen höchst­per­sön­lich ge­se­hen. Sie hat­te sich einen Ba­de­man­tel um­ge­schla­gen, und wäh­rend sie, da sich die bei­den Be­am­ten noch nä­her­ten, schon auf das Nach­bar­grund­stück, 112, zeig­te, schi­en es, als wür­den ih­re Hän­de wie schwar­ze, blau ge­äder­te Vö­gel flat­tern.

Frau Ade­mar wie­der­hol­te, was die bei­den Be­am­ten be­reits über Funk ge­hört hat­ten. Neu war, daß sich selt­sa­me Din­ge im Kel­ler des Nach­bar­hau­ses schon seit Jah­ren zu­ge­tra­gen ha­ben soll­ten. Da hät­te es merk­wür­di­ge Lie­fer­wa­gen ge­ge­ben, die tech­ni­sche Ap­pa­ra­te brach­ten. Da wä­ren Hand­wer­ker an­ge­fah­ren, die den Kel­ler aus­ge­mau­ert hät­ten. Die Strom­rech­nung, wie die Stadt­wer­ke be­stä­ti­gen könn­ten, wä­re ins Un­er­meß­li­che ge­stie­gen.

 

Die Frau Ade­mar hat­te den bei­den Be­am­ten, wäh­rend sie – jetzt ei­ni­ger­ma­ßen be­ru­higt – un­ter der Tür ste­hen­blieb, den Kel­lerein­gang des Hau­ses 112, in dem ein Dr. Broad­nar al­lei­ne wohn­te, ge­wie­sen. Tat­säch­lich fand Stro­bel, der zu­erst die Be­ton­ram­pe hin­un­ter­ge­gan­gen war, daß die Tü­re nur an­ge­lehnt war. Es war ei­ne Holz­tür mit schwe­ren, ei­ser­nen Be­schlä­gen, über die jetzt der Re­gen in dün­nen Rinn­sa­len hin­a­b­lief.

Der Kel­ler, in den die bei­den Be­am­ten, die Ta­schen­lam­pen in ih­ren Hän­den, ein­tra­ten, roch kalt und muf­fig. Und doch wa­ren sie froh, daß sie dem ste­ten Re­gen einen Au­gen­blick ent­ron­nen wa­ren. Sie wa­ren in ei­ne Wasch­kü­che ein­ge­tre­ten, in der man ei­ne große, aus Be­ton be­ste­hen­de Ba­de­wan­ne se­hen konn­te, in der un­or­dent­lich ver­streut Kar­tof­feln la­gen. Über den Bo­den des Kel­lers roll­ten sich Schläu­che. Aus ei­nem Hahn über ei­nem Be­cken tropf­te gleich­mä­ßig Was­ser.

Kahl bück­te sich nie­der, dem Strahl sei­ner Ta­schen­lam­pe fol­gend.

„Was ist denn?“ frag­te Stro­bel.

„Siehst du nicht?“ hat­te Kahl geant­wor­tet, und tat­säch­lich, jetzt konn­te es auch Stro­bel se­hen. Auf dem Be­ton­bo­den wa­ren fri­sche, dunkle, noch ein we­nig ro­te Fle­cke zu er­ken­nen. Oh­ne daß sie spra­chen, dach­ten sie das glei­che. Jetzt hat­ten sie ih­re Dienst­waf­fen ent­si­chert und gin­gen vor­sich­tig zur ge­gen­über­lie­gen­den Tür. Auch die­se war un­ver­schlos­sen.

Noch vor der Tür, wäh­rend sei­ne Ta­schen­lam­pe blitz­te, blieb Stro­bel, der ein we­nig bleich ge­wor­den war (er hät­te den Grund selbst nicht nen­nen kön­nen) ste­hen. Jetzt hör­te es auch Kahl. Es war ein ent­fern­tes Sum­men. Es klang, als wür­de in der Fer­ne, nicht im nächs­ten Raum, auch nicht im über­nächs­ten, viel­leicht drei Räu­me wei­ter, durch die di­cken Be­ton­wän­de hin­durch, auf de­nen das Haus ru­hen muß­te, ein – ja, was? – ein Elek­tro­ag­gre­gat von un­ge­wöhn­li­cher Stär­ke sum­men.

Der Raum, den sie be­tra­ten, ver­setz­te sie in Er­stau­nen. Hat­ten sie mit ei­nem Vor­rats­raum, mit ei­nem Hob­by­raum, mit ei­ner aus­ge­bau­ten Kel­le­re­ta­ge ge­rech­net – so fan­den sie ein La­ger, aber ei­nes, auf des­sen sta­bi­len, aus Stahl be­ste­hen­den, in­dus­tri­ell ge­fer­tig­ten Re­ga­len größ­ten­teils of­fen, zum Teil in Kar­tons ver­packt, nicht die er­war­te­ten Kar­tof­feln, Ein­mach­glä­ser, Wein­fla­schen oder Gar­ten­ge­rä­te ruh­ten, son­dern im Ta­schen­lam­pen­licht glit­zern­de Din­ge, wie man sie in La­bo­ra­to­ri­en oder in For­schungs­ein­rich­tun­gen be­nutz­te: glä­ser­ne Kol­ben, elek­tri­sche Meß­ge­rä­te, Un­men­gen von ärzt­li­chen Be­ste­cken, Bin­den und Ban­da­gen, Glä­ser vol­ler Blut­plas­ma, Se­ren und Impf­stof­fe, wie sie so oh­ne wei­te­res nie­mals in pri­va­te Hän­de hät­ten ge­lan­gen dür­fen, selbst dann nicht, wenn man den Eng­paß in den staat­li­chen Kran­ken­häu­sern (von dem Stro­bel wuß­te) be­dach­te.

Die Blut­spur ver­lief quer durch den Raum, vor­bei an ei­ner zer­bro­che­nen Bril­le, auf de­ren Scher­ben ein­zel­ne Trop­fen ge­fal­len wa­ren, und wie es schi­en, hat­te sie sich ver­dop­pelt. Doch ei­gent­lich ist dies nicht ge­nau das Bild, das sich den Be­am­ten prä­sen­tier­te. Hat­te sich die ur­sprüng­li­che Blut­spur an ei­ner Stel­le zu ei­nem di­cken Fleck ver­brei­tet und lief sie dann zit­ternd zu ei­ner halb ge­schlos­se­nen, stäh­ler­nen Tür wei­ter, so war, bei der zer­bro­che­nen Bril­le be­gin­nend, ei­ne zwei­te di­cke Blut­spur hin­zu­ge­tre­ten, von der es schi­en, als ob sie von Fü­ßen ver­wischt wor­den wä­re.

Man wird den bei­den Be­am­ten be­schei­ni­gen müs­sen, daß sie für den nor­ma­len Strei­fen­dienst in Bre­men ab­ge­rich­tet wa­ren. Sie wa­ren jun­ge Ab­sol­ven­ten erst ei­ner mitt­le­ren Bre­mer Schu­le, dann der Po­li­zei­schu­le, die sie bei­de mit Aus­zeich­nung be­stan­den hat­ten. Sie wa­ren mit den not­wen­digs­ten recht­li­chen Vor­schrif­ten ver­traut ge­macht wor­den, wa­ren aber noch weit ent­fernt da­von, in den hö­he­ren Po­li­zei­dienst oder gar in den kri­mi­nal­tech­ni­schen Dienst auf­zu­stei­gen. Gleich­wohl wuß­ten sie aber, wie sie sich in ei­nem Fall, der sich ent­wi­ckel­te wie die­ser, ver­hal­ten muß­ten.

Den­noch hat­te Kahl und Stro­bel, als sie vor der halb ein­ge­klink­ten, schwe­ren Me­tall­tü­re, die mehr wie der Ver­schluß ei­nes Tre­so­res wirk­te, stan­den, ei­ne be­trächt­li­che Un­ru­he, um nicht zu sa­gen Angst, er­grif­fen. Denn es war nicht nur die Käl­te des Stahls, die gleich­sam auf sie her­ab­floß, und es war nicht nur der mo­no­to­ne Re­gen, den man im Hin­ter­grund klop­fen hör­te, es war auch nicht nur das Blut, das sie un­zwei­fel­haft iden­ti­fi­ziert hat­ten, es wa­ren nicht ein­mal die be­fremd­li­chen Um­stän­de, in de­nen sie sich be­fan­den – son­dern auch das Brum­men aus dem an­gren­zen­den Räu­me hat­te, wie ih­nen schi­en, zu­ge­nom­men.

Stro­bel hat­te – mit vor­ge­hal­te­ner Waf­fe – die Me­tall­tür auf­ge­sto­ßen. Die un­ge­heu­re Pan­ze­rung schwang lang­sam nach in­nen. Sie lief völ­lig laut­los. Und im glei­chen Ma­ße, wie sich ih­nen der da­hin­ter lie­gen­de Raum öff­ne­te, war der hel­le Licht­schein aus dem Raum über sie bei­de ge­fal­len, so daß sie im ers­ten Mo­ment ge­blen­det die Au­gen schlie­ßen muß­ten. Als sie sie wie­der öff­ne­ten, wä­ren sie vor dem An­blick, der sich ih­nen bot, bei­na­he zu­rück­ge­tor­kelt. Man be­trach­tet ja al­le Din­ge auch zu­gleich mit ei­ner be­stimm­ten Er­war­tungs­hal­tung, und es ist, als hät­te je­mand von au­ßen in den Kopf ein­ge­grif­fen, er­füllt sich die­se nicht. So ging es Kahl und Stro­bel.

 

Sie stan­den am Ein­gang ei­nes rie­si­gen La­bors. Das La­bor war so groß, wie man es un­ter ei­nem so ver­hält­nis­mä­ßig schma­len Haus wie dem der Fran­zi­us­s­tra­ße 112 nie­mals er­war­ten durf­te. Aber mehr noch als sei­ne Aus­deh­nung war sein In­halt ver­blüf­fend. Schon auf den ers­ten Blick konn­ten die bei­den Po­li­zis­ten an den Wän­den rie­si­ge Brut­kam­mern se­hen, in die von der De­cke Schläu­che, die aus Nähr­tanks lie­fen, hin­gen. Die Kam­mern, in de­nen grün er­leuch­te­te Ne­bel spiel­ten, wa­ren durch­sich­tig und zum Teil of­fen.

Auf ih­rem Bo­den hin­gen mensch­li­che Ge­stal­ten un­ter­schied­li­cher Grö­ße, in selt­sa­mer Pro­por­ti­on und Ver­zer­rung. Da wuch­sen Zwer­ge und Gno­men, ab­son­der­li­che Ge­stal­ten mit zwei Köp­fen, Krea­tu­ren, die aus Mensch und Tier zu­gleich be­ste­hen muß­ten und von de­nen nie­mand ge­träumt ha­ben wür­de, daß sie le­bens­fä­hig wä­ren. Es war fast, als ob man das in den glä­ser­nen Tanks be­gin­nen­de Le­ben sich re­gen se­hen konn­te. Es war, als hät­te hier ei­ne Mi­schung aus Rep­til und Mensch ge­zün­gelt, und als öff­ne dort ein Wolfs­mann sei­nen Ra­chen.

De­cke und Wän­de, wo Flüs­sig­kei­ten in ih­ren grü­nen Be­häl­tern schäum­ten, schie­nen in Be­we­gung. Man hat­te den Ein­druck, als set­ze sich in ih­nen ein un­ge­heu­rer Re­gen fort, der von drau­ßen her­ein­ge­fal­len war und dem man nur ei­ni­ge Nähr­stof­fe bei­ge­ge­ben hat­te. Es ver­steht sich, daß das Brum­men, das die bei­den Po­li­zis­ten schon in der Ga­ra­gen­ab­fahrt ver­nom­men hat­ten, aus die­sem Räu­me stamm­te. Es drang her­vor hin­ter ei­ner rie­si­gen me­tal­le­nen Ta­fel, an der un­zäh­li­ge far­bi­ge Lich­ter, Zei­ger und Schal­ter an­ge­bracht wa­ren; von den Zei­gern schwank­ten ei­ni­ge un­ter ih­ren glä­ser­nen Fens­tern, wäh­rend in licht­er­füll­ten Glas­röhr­chen Flüs­sig­kei­ten schäu­mend auf und nie­der stie­gen.

In der Mit­te des La­bors war ein rie­si­ger lee­rer Kas­ten mit auf­ge­klapp­tem glä­ser­nem De­ckel zu er­ken­nen. Der Kas­ten ruh­te auf vier Bei­nen, und aus sei­ner Kopf­sei­te lie­fen un­zäh­li­ge Dräh­te, die im Bo­den un­ter ei­ner Me­tall­plat­te ver­schwan­den. Ne­ben dem Kas­ten lag ein klei­ner Mann in ei­nem brau­nen, na­del­ge­streif­ten, ver­schlis­se­nen An­zug auf dem Bo­den. Auf sei­nem grau­en Haupt­haar war Blut ge­ron­nen. Sei­ne Au­gen, die zu der Tü­re starr­ten, wa­ren ge­bro­chen. Über ihn beug­te sich ein Mann, der fast zwei Me­ter mes­sen muß­te. Der große Mann schi­en an dem klei­nen Mann zu zer­ren. Mit­un­ter dran­gen aus sei­ner Keh­le un­ar­ti­ku­lier­te Lau­te. Dann hat­te er die bei­den Po­li­zis­ten ge­se­hen.

 

Sperr­le war ein Po­li­zist, der sei­nen Be­ruf lieb­te. Er war, als er sich zu sei­nem Be­ruf ent­schlos­sen hat­te, von der Über­le­gung aus­ge­gan­gen, daß es reiz­voll sein konn­te, in die Be­weg­grün­de, in die Tie­fen – wie er heut­zu­ta­ge sa­gen wür­de –, in die Ab­grün­de der Men­schen, in das al­so, was sie an­trieb, hin­ab­zu­stei­gen. Es ver­steht sich, und dar­über war er sich im kla­ren, daß sich in die­sem Be­mü­hen, an­de­re Men­schen und ih­re Mo­ti­ve in den kri­mi­nel­len Grenz­fäl­len, worin die Din­ge kul­mi­nier­ten, zu ver­ste­hen, ei­ne ei­ge­ne Un­si­cher­heit ver­ber­gen muß­te, ei­ne Un­ge­wiß­heit über sich sel­ber, die er ab­zu­de­cken such­te, in­dem er sich kri­mi­nal­tech­nisch in an­de­re See­len knie­te.

Das soll aber nicht be­deu­ten, daß er je­den Tag und je­de Stun­de, daß er je­den Fall, den er be­ar­bei­ten muß­te, lieb­te. Ganz im Ge­gen­teil. Die Si­tua­tio­nen, aus de­nen sich für ihn – in der emo­tio­na­len Tie­fe – et­was her­aus­ho­len ließ, wa­ren sel­ten. Und er hat­te vor sich selbst schon fest­stel­len müs­sen, wie er ab­stumpf­te, wie er die Din­ge, die er hat­te be­ob­ach­ten wol­len, nicht mehr se­hen konn­te, wie – wie er manch­mal dach­te – sein Be­wußt­sein ver­blaß­te, wie er sich nor­ma­li­sier­te, wie er den Men­schen und Din­gen nicht mehr das an­sah, was wirk­lich in ih­nen steck­te.

Das war so ein Mor­gen. Drei Uhr drei­ßig, als ihn ein An­ruf aus dem Kom­missa­ri­at weck­te. Er roll­te auf die Sei­te und gähn­te. Sei­ne Frau lag da­ne­ben. Halb wach, hör­te er sie mur­meln, daß sie sich noch ein­mal von ihm schei­den lie­ße, wenn er sich nicht einen an­de­ren Be­ruf mit ge­re­gel­ten Zei­ten such­te. Er ließ sie brum­men. Griff nach dem Hö­rer. „Sperr­le.“

„Herr Kom­missar“, hör­te er Brauns auf­ge­reg­te Stim­me. „Bit­te kom­men Sie so­fort in die Zen­tra­le. Es ist et­was Un­er­hör­tes ge­sche­hen.“

„So“, sag­te Sperr­le, „was denn?“

„Ein­satz­wa­gen A12“, sag­te Braun mit vor Auf­re­gung vi­brie­ren­der Stim­me, „ist in der Fran­zi­us­s­tra­ße 112 tä­tig ge­wor­den.“

„Ja, gut“, sag­te Sperr­le, „was nichts Un­ge­wöhn­li­ches sein dürf­te.“

„Ge­wiß“, war Braun fort­ge­fah­ren, „die bei­den Be­am­ten, Stru­bel und Kahl …“

„Ah ja …“ mur­mel­te Sperr­le, noch im­mer schlaf­trun­ken, der sei­ne gu­ten Leu­te kann­te.

„… wur­den ge­tö­tet.“

Jetzt war es Sperr­le, als hät­te je­mand sein Ge­hirn am Hin­ter­kopf zu­sam­men­ge­zo­gen. In den hin­te­ren Par­ti­en. Als wür­de je­mand bru­tal, ge­mein sei­ne Ge­dan­ken raf­fen. Als wür­de je­mand sei­nen Kopf hin­ter­häl­tig und ge­mein ver­schlie­ßen, da­mit er nicht mehr den­ken konn­te. Breit drück­te er den An­flug von Wahn­sinn bei­sei­te.

„Was ist denn ge­sche­hen?“ frag­te Sperr­le mit fast mal­men­der Stim­me.

Der Be­am­te am an­de­ren En­de der Lei­tung schluck­te.

„Sie wur­den“, sag­te er, „in das Haus Fran­zi­us­s­tra­ße 112 ge­ru­fen, aus dem ei­ne Nach­ba­rin Schreie und Ge­räusche hör­te. Sie sind, wie wir von der Nach­ba­rin er­fuh­ren, in den Kel­ler des Hau­ses vor­ge­drun­gen, aus dem sie Mi­nu­ten spä­ter meh­re­re Schüs­se hör­te.“

„Und was wur­de mitt­ler­wei­le ver­an­laßt?“

„Wir ha­ben al­le ver­füg­ba­ren Strei­fen­wa­gen in die Fran­zi­us­s­tra­ße ge­schickt. Wir ent­deck­ten dort, wie ich schon sag­te, daß Kahl und Stro­bel ge­tö­tet wur­den.“

„Sind Ih­nen dar­über be­reits Ein­zel­hei­ten be­kannt­ge­wor­den?“ frag­te Sperr­le, der jetzt hell­wach war.

„Ja, selt­sam“, sag­te Braun stot­ternd, „sie wur­den, wie soll ich sa­gen, zer­ris­sen. Sie wur­den in Stücke ge­ris­sen, Herr Kom­missar.“

„Ach, re­den Sie kei­nen Un­sinn“, sag­te Sperr­le. „Wur­den denn dort Hun­de ge­hal­ten?“

„Nein, nein, nach dem, was mir bis­her zu­gäng­lich wur­de, hat sich im Kel­ler des Hau­ses ein rie­si­ges We­sen auf­ge­hal­ten, das den Ku­geln der bei­den stand­hielt …“

„Was ist denn jetzt los dort?“ frag­te Sperr­le.

„Das Haus ist von un­se­ren Be­am­ten ab­ge­si­chert. Wir war­ten auf In­struk­tio­nen. Wir wis­sen nicht ge­nau, wie wir vor­ge­hen sol­len.“

„Ist man be­reits in das Haus ein­ge­drun­gen?“ frag­te Sperr­le.

„Nein“, hat­te Braun er­wi­dert, „von der ers­ten Son­die­rung ab­ge­se­hen.“

„Die Be­am­ten ha­ben sich wie­der zu­rück­ge­zo­gen?“

„Ja. Der Fall liegt selt­sam.“

„Und die­ses … die­ses rie­si­ge We­sen?“

„Muß sich“, und wie­der muß­te Braun stot­tern, „wenn es kei­nen ge­hei­men Aus­gang ge­ben soll­te, noch im Kel­ler­raum ver­ber­gen.“

„Ich wer­de“, sag­te Sperr­le nach ei­ner Wei­le, „in zehn Mi­nu­ten dort sein.“

„Dan­ke, Chef“, sag­te Braun, fast er­leich­tert.

Es war selt­sam. Es reg­ne­te noch im­mer. Die Nacht war kalt und glit­schig. Auf dem Pflas­ter spie­gel­ten sich die Lich­ter der Strei­fen­wa­gen, die in der Fran­zi­us­s­tra­ße vor­ge­fah­ren wa­ren. Ein Feu­er­wehr­wa­gen stand an der Sei­te. Ein Dut­zend Män­ner, schlaf­trun­ken und mü­de, pos­tier­te sich da­ne­ben. In der Nach­bar­schaft war es wach ge­wor­den. Aus ei­ni­gen der Häu­ser plärr­ten Kin­der. Ei­ne Stim­me – mit­tei­lend, man ha­be ja schon im­mer ge­wußt, daß der Dr. Broad­nar spin­ne – schimpf­te durch das ge­öff­ne­te Fens­ter.

Vor dem Grund­stück 112 wa­ren Schein­wer­fer auf­ge­blen­det, fast so, als ob dort ein Film ge­dreht wer­den soll­te. Jetzt be­gann es sich auf dem Grund­stück zu re­gen. Ei­ne Art Sa­la­man­der, grün, mit großen leuch­ten­den Au­gen, mit mensch­li­chen Hän­den, war an der Fassa­de, aus dem Kel­ler kom­mend, hoch­ge­kro­chen. Un­ter dem Ge­büsch konn­te man ei­ne Art Pla­zen­ta se­hen – sie hat­te et­was wie einen Mund zu ei­nem Gur­geln ge­öff­net. Zwei, drei ver­krüp­pel­te Zwer­ge mit grü­nen, mes­ser­schar­fen Rep­ti­li­en­za­cken auf den Rücken husch­ten durch den Gar­ten.

Ein sich blä­hen­der wei­ßer Leib, fast nur Kör­per, oben mit ei­nem rie­si­gen Maul, dar­in mes­ser­schar­fe Rei­hen von Hai­fisch­zäh­nen, mit Fin­gern wie Klau­en und ra­sier­mes­ser­schar­fen Nä­geln, dehn­te sich aus der Aus­fahrt. Roll­te nach oben. Blitz­te, ras­te und ro­tier­te. Kam mit tücki­schen ro­ten, leuch­ten­den Au­gen nä­her. Die Män­ner, die noch eben fast nach­läs­sig, ein we­nig schwam­mig, un­wis­send, ein we­nig auch, als wür­den sie nur aus Sä­cken be­ste­hen, auf der Stra­ße ge­stan­den hat­ten, spritz­ten aus­ein­an­der.

Das sä­gen­de Mon­s­trum prall­te auf die Stra­ße, im Rücken einen Teil des Gar­ten­to­res, den es bei­sei­te ge­schleu­dert hat­te. Ein ho­her, sin­gen­der Ton drang aus sei­ner Keh­le. Man sah sei­ne mes­ser­schar­fen Fin­ger­nä­gel blit­zen. Das Ding be­weg­te sich mit un­ge­heu­rem Tem­po. Hat­te sich einen der Män­ner aus der Men­ge ge­grif­fen. Griff hin­ein in ihn, durch ihn, kam mit den Hän­den, als wä­ren sie durch ein Nichts ge­fah­ren, her­aus an sei­nem Rücken. Blut spritz­te.

Von den Fens­tern oben und drü­ben brüll­ten schlaf­trun­ke­ne Ge­stal­ten.

Ein Po­li­zist, den Angst und Wahn­sinn über den Küh­ler sei­nes Wa­gens ge­wir­belt hat­ten, sah, wie das Ding, nach­dem es noch zwei wei­te­re Män­ner durch­grif­fen hat­te, auf ihn zu­kam. Der Po­li­zist hob die Ma­schi­nen­pis­to­le und gab Feu­er. Die Waf­fe in sei­ner Hand schwank­te. Der Rück­stoß warf ihn ge­gen die Schei­be sei­nes Wa­gens, auf des­sen Mo­tor­hau­be er jetzt lag, so als ob er sich das Ge­nick ge­bro­chen ha­be.

Vor ihm stürz­ten zwei, drei Po­li­zis­ten oder Feu­er­wehr­män­ner nie­der. Sie fie­len, als wä­re ein Draht, der sie auf­recht hielt, aus ih­nen ge­zo­gen.

Aber der Po­li­zist hat­te auch das Mon­s­trum ge­trof­fen. Er traf es mit­ten in sei­nen sich blä­hen­den, wei­ßen Kör­per. Fleisch flog in Fet­zen. Die Au­gen platz­ten. Es schi­en, als ob das Ding bloß mit Blut an­ge­füllt ge­we­sen wä­re. Es reg­ne­te auf das Pflas­ter Blut in Strö­men. Fast schwarz rann es aus dem Et­was.

 

Als Kom­missar Sperr­le end­lich am Tat­ort ein­traf, er­war­te­te ihn be­reits ei­ne be­acht­li­che Stre­cke. Es schi­en, als er aus sei­nem Wa­gen aus­stieg, als ob das Jagd­fie­ber sei­ne Män­ner und die Son­der­kom­man­dos, die her­bei­ge­eilt wa­ren, er­grif­fen hät­te. Selbst jetzt noch, da be­reits ei­ne Vier­tel­stun­de seit der Schie­ße­rei ver­gan­gen war, tor­kel­ten die Män­ner mit den Ma­schi­nen­pis­to­len und den Flin­ten und den Nacht­sicht­ge­rä­ten wie trun­ken durch­ein­an­der. Es war Sperr­le, als wür­den sie ih­re Zun­gen zu den Mün­dern wie lech­zen­de Blut­hun­de her­aus­hän­gen, und tat­säch­lich sah er, wie ei­ni­ge die blut­un­ter­lau­fe­nen Au­gen, in de­nen das Wei­ße glänz­te, roll­ten.

Auf dem Geh­steig vor dem Hau­se 112 la­gen die zer­schos­se­nen, zer­klump­ten Fi­gu­ren, von de­nen Sperr­le so­gleich dach­te, daß man die Blut­wut sei­ner Män­ner an­ge­sichts des­sen ver­ste­hen konn­te. Fast je­de der Krea­tu­ren war bis zur Un­kennt­lich­keit zer­schos­sen. Zer­platzt wa­ren die Gno­men. Zer­siebt wa­ren die Lur­che. Die men­schen­ähn­li­chen Krea­tu­ren la­gen bleich im Re­gen, der un­auf­hör­lich und mo­no­ton auf sie tropf­te. In ei­ner Ecke, vor dem Gar­ten­tor, lag et­was wie ei­ne rie­si­ge wei­ße Pla­ne – es war das Mon­s­trum, das man, nach­dem es zer­schos­sen wor­den war, in die Ecke ge­schleift hat­te.

Das Licht aus den großen Schein­wer­fern lag bleich und grell über der Sze­ne. Die Po­li­zei­ka­me­ras surr­ten. Man konn­te in der Luft noch den Pul­ver­dampf und den Blei­ge­ruch un­ter dem fal­len­den Re­gen spü­ren. Ei­ni­ge der Män­ner, de­nen Sperr­le die Hand schüt­tel­te, hat­ten blei­che, stei­ner­ne Ge­sich­ter, und es war, als wür­de man sie nach der Hatz kaum an­spre­chen kön­nen. Sperr­le such­te um­ständ­lich nach Wor­ten, ob­wohl er so­gleich ge­se­hen hat­te, daß das Haus noch nicht ge­stürmt war. Von un­ten, aus dem Kel­ler, war noch im­mer der tie­fe, brum­men­de Ton zu hö­ren.

 

Um vier Uhr drei­ßig war die Ak­ti­on be­en­det. Die Schein­wer­fer wa­ren er­lo­schen. Im Licht des Mor­gens, der lang­sam über die Dä­cher her­auf­kroch, konn­te man die ab­zie­hen­den Schwa­den des Lähm­ga­ses se­hen. Die rie­si­ge Ge­stalt des Mör­ders der bei­den Po­li­zis­ten hat­te man auf ei­ner Bah­re in einen ver­git­ter­ten Kran­ken­wa­gen, der sie ins Po­li­zei­kran­ken­haus trans­por­tie­ren wür­de, ge­scho­ben. Die wü­ten­den Schreie, das Ge­schimp­fe, die Wut der An­woh­ner, die ih­re Steu­er­gel­der be­klag­ten, von de­nen sie nichts hät­ten, kei­nen Schutz, kei­ne Ru­he, ver­stumm­ten. Das Brum­men aus dem Kel­ler war, in­dem man den Strom ab­ge­dreht hat­te, er­stor­ben. In den Nähr­tanks wa­ren die rest­li­chen, die von der Krea­tur nicht hoch­ge­peitsch­ten Ge­schöp­fe, in sich zu­sam­men­ge­sun­ken, ge­stor­ben. Das La­bor war ver­sie­gelt. Ein Dut­zend Po­li­zis­ten, die vor dem Ge­bäu­de Wa­che hiel­ten, rauch­ten lust­los ih­re Zi­ga­ret­ten, wäh­rend die Re­por­ter der Lo­kal­pres­se sie be­stürm­ten.

 

Sie hat­ten sich in der Ein­schät­zung des Lähm­ga­ses, viel­leicht aber auch mit der Kon­sti­tu­ti­on der Krea­tur, die man auf der Prit­sche im Po­li­zei­wa­gen fest­ge­bun­den hat­te, ver­rech­net. Sperr­le, sich No­ti­zen ma­chend und wie ab­we­send dem Ge­schwätz der be­glei­ten­den Be­am­ten, die noch im­mer wie mit zu­ge­schnür­ten Keh­len spra­chen und sich Luft mach­ten mit dum­men Scher­zen, lau­schend, ließ plötz­lich, als ihn ein kal­ter Hauch, ein kal­tes Ge­fühl, ein Luft­zug, als ob je­mand die Front­schei­be des Wa­gens für Mo­men­te ge­öff­net hät­te, den Schreib­block sin­ken.

Es gab nur ei­ne Rich­tung, in die er bli­cken konn­te. Die Krea­tur hat­te die Au­gen ge­öff­net. Er sah in ih­re gel­ben, auf­glim­men­den Au­gen. Das vier­e­cki­ge Kinn schi­en zu ru­cken. Die Wan­gen­kno­chen krach­ten. Der Mund war ei­ne auf­klaf­fen­de, brül­len­de Höh­le. Das Vieh war vom einen zum an­de­ren Au­gen­blick zu­rück ins Le­ben ge­sprun­gen. Es zerr­te an sei­nen Stri­cken. Die Le­der­rie­men, in die es ge­fes­selt war, platz­ten.

Der Bo­den vi­brier­te, als es sei­ne Fü­ße auf den Me­tall­kas­ten stell­te. Es wa­ren rie­si­ge Hän­de, die nach Sperr­le lang­ten. No­tiz­block und Schrei­ber fie­len zu Bo­den. Sperr­le, mit her­aus­quel­len­den Au­gen, hing an dem in­ne­ren Git­ter. Glas reg­ne­te zu Bo­den. Das Mon­s­trum hat­te nach Sperr­le ge­grif­fen. Wäh­rend­des­sen wa­ren viel­leicht zwei, drei Se­kun­den ver­gan­gen. Die Be­am­ten, die im vor­de­ren Ab­teil sa­ßen, wa­ren, weiß in den Ge­sich­tern, her­um­ge­fah­ren.

Wür­de man die Sze­ne fil­misch fest­ge­hal­ten ha­ben, so wä­re der Ein­druck ent­stan­den, daß das Un­ge­heu­er mit­ten in der Luft ver­hal­ten hat­te – ge­wis­ser­ma­ßen auf hal­b­em We­ge zwi­schen dem Kör­per Sperr­les und de­nen der üb­ri­gen Be­am­ten, gleich­sam mit ih­nen al­len ein Drei­eck bil­dend, in dem es sich ent­schei­den muß­te. Was wuß­ten sie, wie schnell ein sol­ches Un­ge­heu­er ler­nen konn­te? Was wuß­ten sie, wel­che Pro­gram­me in sei­nem Ge­hirn jetzt ab­ge­fah­ren wur­den? Wie konn­ten sie ah­nen, wie es die Vor­fäl­le im Kel­ler, als man es ein­ge­schlä­fert hat­te, ver­ar­bei­tet ha­ben wür­de?

Wie auch im­mer sei­ne Re­ak­ti­on ret­te­te Sperr­le das Le­ben. Das Ding hat­te sich aus die­sem Zwi­schen­raum in der Luft gleich­sam her­aus­ge­nom­men. Schlug einen Ha­ken. Dreh­te in der Luft sei­nen Kör­per. War ein brül­len­des Et­was, das ge­gen die hin­te­re Tür platz­te. Die Bah­re, auf der man es in den Wa­gen ge­tra­gen hat­te, be­fand sich nun in sei­nen Hän­den. Als wür­de ein Gong ge­schla­gen, häm­mer­te es mit der Bah­re ge­gen die Tür. Noch be­vor der ers­te Schuß krach­te, war es, durch die zer­split­tern­de Tür, in­mit­ten ei­nes Stahl- und Glas­re­gens drau­ßen, stürz­te dröh­nend auf die Stra­ße, kam ein we­nig schief, ein we­nig ver­zerrt, ein we­nig quer auf die Bei­ne. Tau­mel­te ge­gen ein auf­dröh­nen­des Fahr­zeug, des­sen Fah­rer das Steu­er her­um­ge­ris­sen hat­te. Tor­kel­te ge­gen einen Al­lee­baum, riß des­sen Zwei­ge her­un­ter. Stürz­te ei­ne Bö­schung hin­un­ter. Und war, wäh­rend die ers­ten Schüs­se über es hin­weg­peitsch­ten, den Au­gen der Be­am­ten ent­schwun­den.

 

Es war mit Sperr­le fast wie mit ei­nem Ver­bre­cher, den es zum Tat­ort zu­rück­zieht. Da­mit wir uns nicht miß­ver­ste­hen. Es ist klar, daß man die bei­den Sei­ten – dies­seits und jen­seits des Ge­set­zes – mit­un­ter aus­tau­schen könn­te. Was ist Recht, was ist Un­recht in ei­ner Welt der Ge­walt und der Stär­ke? Han­delt je­mand rich­tig, wenn er, nur weil er nor­mal ist, an­de­re um­stößt? Und was hät­te er da­von, wür­de er nicht so han­deln? Es ist hier nicht der Ort zu mo­ra­li­sie­ren.

Gleich­wohl ist es nicht ver­kehrt, Sperr­le als je­man­den zu se­hen, den es ma­gisch ins La­bor des Dr. Broad­nar zu­rück­zog. Zum einen hat­ten sich die Schwa­den des Lähm­ga­ses ver­zo­gen und wa­ren auch aus den Holz­tä­fe­lun­gen, aus den Ar­ma­tu­ren, aus den Ze­ment­schich­tun­gen ver­flo­gen. Zum an­dern aber hoff­te Sperr­le, ir­gend­ei­nen Hin­weis zu fin­den, der ihm klär­te, was hin­ter den Vor­gän­gen steck­te. Was Sperr­le als Tä­ter be­traf, der zum Tat­ort zu­rück­kehrt, so war er sich im kla­ren über die Aus­tausch­bar­keit der Rol­len im Le­ben.

Das La­bor an die­sem frü­hen Mor­gen lag kalt und ver­las­sen. Die Po­li­zis­ten, die Sperr­le durch­ge­las­sen hat­ten, hat­ten die Hän­de un­ter den Ach­sel­höh­len ver­gra­ben. Sperr­le hat­te den letz­ten Be­am­ten an der Ein­gangs­tür zum La­bor ab­ge­schüt­telt, da er al­lein sein woll­te. Ein No­t­ag­gre­gat, den Strom ins La­bor lie­fernd, brann­te. Man hat­te die Fi­gu­ren, de­nen al­le Zü­ge von Dr. Broad­nar an­haf­te­ten, aus den Nähr­tanks ab­ge­zo­gen. Den­noch schi­en es Sperr­le, als wür­den aus al­len Ecken und Win­keln des La­bors Grei­se und Gno­men, Zwer­ge und ver­wur­zel­te Men­schen wach­sen.

Ein Pult hat­te sei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich ge­zo­gen. Der De­ckel war ab­ge­schlos­sen. Das Pult er­weck­te nicht den An­schein, als ob die Spu­ren­si­che­rung sich sei­ner an­ge­nom­men hät­te. Das lag aber auch dar­an, wie Sperr­le nun dach­te, daß der Fall ja klar war und man auf die Si­che­rungs­grup­pe Bonn, die im Lau­fe des Ta­ges ein­tref­fen wür­de, war­ten woll­te, von der das wis­sen­schaft­li­che Rät­sel auf­ge­löst wer­den soll­te. Aber, mein­te er in Ge­dan­ken, es ge­hör­te zu sei­nen Kom­pe­ten­zen als Kri­mi­na­ler, auch sol­chen Spu­ren nach­zu­ge­hen.

Da er lan­ge Zeit in der Ein­bruchs­ab­tei­lung ge­ar­bei­tet hat­te, war das Pult we­nig spä­ter ge­öff­net. Vor Sperr­le lag ein No­tiz­buch, la­gen Pa­pie­re. Es wa­ren Ar­beits­an­wei­sun­gen, Be­rech­nun­gen, For­meln, Plä­ne und Pro­jek­te, die Broad­nar ver­faßt hat­te, da er al­lei­ne ar­bei­te­te, und sein Ge­dächt­nis war nicht das bes­te – kein Wun­der, wenn man den Um­fang und den Schwie­rig­keits­grad sei­ner Ar­bei­ten be­dach­te, mur­mel­te Sperr­le in Ge­dan­ken.

Er hat­te die Pa­pie­re über­flo­gen und fand na­tür­lich, da er wuß­te, wo­nach er such­te, einen Text auf, der sei­nen Ein­druck von den Er­eig­nis­sen kom­plet­tier­te. Da schrieb Broad­nar am Abend des vo­ri­gen Ta­ges un­ter an­de­rem:

„Ich füh­le mich schul­dig. Ich, der ich so lan­ge an der Schaf­fung ei­nes bes­se­ren Men­schen ge­ar­bei­tet ha­be – und Gott mö­ge mir ver­zei­hen, wenn al­le die­se Ge­schöp­fe mei­ne Zü­ge tra­gen, aber wer sonst als die Wis­sen­schaft­ler wä­ren aus­er­wählt, die Mensch­heit zu füh­ren? –, muß mir mein Ver­sa­gen ein­ge­ste­hen. Es ver­steht sich, daß sich die Wis­sen­schaft über Fehl­schlä­ge auf­wärts ent­wi­ckelt. Der Wis­sen­schaft­ler, der al­le Ant­wor­ten auf sei­ne Fra­gen vor dem Be­ginn der Ex­pe­ri­men­te schon wüß­te, ist noch nicht vom Him­mel ge­fal­len.

Doch das Pro­blem, das mich be­drückt, liegt in der Ma­te­rie, in der ich ar­bei­te, wenn ich mir selbst die­se fri­vo­le Aus­drucks­wei­se ge­stat­te. Ich ar­bei­te mit Men­schen. Ich ar­bei­te am Men­schen. Es sind Men­schen, gleich wel­cher Form und Ge­stal­tung, die ich bil­de. Es ist in mei­ne Hand von vorn­her­ein ei­ne un­ge­heu­re Ver­ant­wor­tung ge­ge­ben. Feh­ler, die ich ma­che, las­sen sich kaum kor­ri­gie­ren. Und es ist ein Ver­bre­chen, streng­ge­nom­men, über­haupt einen Feh­ler zu be­ge­hen.

Gleich­wohl ha­be ich mei­nen gan­zen Mut zu­sam­men­ge­nom­men, um auf mei­nem We­ge vor­wärts, wei­ter, ge­ra­de­aus­zu­schrei­ten. Es nützt ja nichts, zu zwei­feln und zu zau­dern. Es hat kei­nen Sinn, sich be­ir­ren zu las­sen. Es ist mei­ne Auf­ga­be und Be­ru­fung, mei­nen Auf­trag fort­zu­füh­ren. Gott sei mir gnä­dig bei all den Feh­lern, die ich ma­che. Ich fra­ge mich, ob es einen Pries­ter ge­ben wür­de, rund um die Er­de, dem ich die­ses an­ver­trau­en könn­te.

Was ist das für ein Feh­ler, den ich nur auf die­sen Sei­ten nie­der­le­gen wer­de? Er be­trifft Al­pha, mei­ne präch­ti­ge Krea­tur, das ge­lun­gens­te Ge­schöpf von al­len. Er ist nicht zu ver­glei­chen mit den Gno­men, mit den Zwer­gen, mit den Krea­tu­ren, die man­gels Nah­rung, man­gels Licht, man­gels Sau­er­stoff, man­gels Strom­schlag mir miß­rie­ten. Al­pha ist präch­tig, aber er ist nicht die Vollen­dung. Was fehlt ihm? Äu­ßer­lich ist er gut ge­wach­sen. Ein präch­ti­ger Bur­sche! Ei­ne groß­ar­ti­ge Schöp­fung!

Aber wie ist er, nach­dem ich ihn auf die ers­te Ex­kur­si­on al­lei­ne schick­te, nach­dem ich ihn zu­vor im Lie­fer­wa­gen, ver­steckt in der Prit­sche, mit­ge­nom­men hat­te, mir nach Hau­se ge­kom­men? Zer­schla­gen und zer­schun­den! Ein Spott­bild! Ein Zerr­bild! Ein Zwei-Me­ter-Mann, über den sich die Kin­der ka­putt­ge­lacht ha­ben. Und warum das? Weil er sich nicht wehr­te! Weil er sich nicht weh­ren konn­te! Mein präch­ti­ger Al­pha! Mei­ne groß­ar­ti­ge Schöp­fung! Ein Spiel­ball der Kin­der! Ein Ge­spött der Al­ten!

Es ist, ich be­ken­ne es of­fen, mein Feh­ler. Mei­ne falsche Pro­gram­mie­rung, mei­ne falsche Kon­di­tio­nie­rung. Ich war mir, of­fen ge­sagt, selbst nicht im kla­ren, wel­che Scha­blo­nen drau­ßen be­nö­tigt wer­den. Wir, die wir die Welt drau­ßen von klein auf ge­wöhnt sind und nicht mehr dar­an den­ken, wie wir selbst vor Jah­ren drau­ßen an­ge­fan­gen ha­ben, über­se­hen, was uns be­fä­higt, mit de­nen dort drau­ßen um­zu­ge­hen. Ob­wohl ich im Prin­zip dar­an dach­te, daß ich Al­pha be­stimm­te Ab­wehr­mit­tel geis­ti­ger Art ein­imp­fen müß­te, ha­be ich ihn doch – prak­tisch wehr­los – den Wöl­fen aus­ge­lie­fert.

Gut. Man macht Feh­ler, um sie zu kor­ri­gie­ren. Er liegt jetzt in sei­nem Tank und schlum­mert. Las­sen wir ihn schla­fen. Er schläft, um den Wahn­sinn, der ihm be­geg­net, auf­zu­ar­bei­ten. Sei­ne ram­po­nier­ten Flan­ken sind zu­sam­men­ge­wach­sen. Ich ha­be ei­ne neue Scha­blo­ne aus­ge­ar­bei­tet und wer­de sie beim nächs­ten Aus­flug tes­ten. Was jetzt da­hin­ter­steht, ist der Wil­le, sich durch­zu­set­zen. Man könn­te fast sa­gen, daß er nun heiß ist. Und was könn­te ihm, bei sei­ner Kör­per­grö­ße, bei sei­nen Kräf­ten, jetzt noch pas­sie­ren?

No­ta­be­ne: Ha­be ei­ne ein­zi­ge Sper­re, die mich selbst schützt, in ihm ver­an­kert. Ich bin, nach sei­ner Les­art, nach wie vor sein Gott­va­ter. Mich wird er nicht an­tas­ten dür­fen. Bin ge­spannt, wie er sich drau­ßen ent­wi­ckelt.“

 

In der Nacht wa­ren zahl­rei­che Mel­dun­gen im Po­li­zei­re­vier ein­ge­lau­fen, von de­nen zu­erst nicht klar war, daß sie zu ein und dem­sel­ben Vor­gang ge­hör­ten. Sperr­le, der sich über der sechs­ten Tas­se Kaf­fee wach hielt, ließ sich die Vor­gän­ge, zu­sam­men­hän­gend und ge­ord­net, kom­men. Im Os­ter­tor­vier­tel war es zu ei­ner Schlä­ge­rei ge­kom­men. Man hat­te zu­erst an­ge­nom­men, daß es sich um Kern­kraft­geg­ner han­del­te, die sich mit Be­für­wor­tern an­ge­legt hat­ten. Fens­ter­schei­ben wa­ren zu Bruch ge­gan­gen. Ein Au­to lag auf der Sei­te. Ein Mo­de­ge­schäft brann­te.

Aus ei­ner Knei­pe im Schnoor wur­de be­rich­tet, ein selt­sa­mer rie­si­ger Mann sei ge­gen ein Uhr mor­gens in das Lo­kal ein­ge­drun­gen. Er ha­be einen sehr wir­ren Ein­druck ge­macht und ha­be die Gar­de­ro­be ein­ge­ris­sen. Zwei, drei Gäs­te, die pro­tes­tier­ten, ha­be er über die The­ke ge­wor­fen. Es wur­de be­rich­tet, daß er vor ei­nem Tisch mit zwei Mäd­chen ver­harr­te. Bei ih­rem An­blick schi­en er nach­denk­lich ge­wor­den zu sein. Als die Po­li­zei­si­re­ne drau­ßen auf­klang, war er ge­flüch­tet.

Tat­säch­lich hat­te die Spe­zi­al­ein­heit, oh­ne zu wis­sen, um welch be­deu­ten­den Fall es sich han­del­te, noch in die­ser Nacht – sie war un­be­schäf­tigt – Jagd ge­macht auf Al­pha. In den Wallan­la­gen, die er in Rich­tung Schwach­hau­sen über­quer­te, war es zu ei­nem Zu­sam­men­stoß ge­kom­men. Einen der Po­li­zis­ten, der ihn mit den Au­to­schein­wer­fern ge­blen­det hat­te, hat­te er zer­ris­sen. Er selbst hat­te auch ei­ni­ge Ku­geln ein­ge­fan­gen, war aber letzt­lich un­ver­sehrt ent­kom­men.

 

Über das En­de Al­phas wur­de in der Pres­se aus­führ­lich be­rich­tet. Wie be­kannt ist, wur­de Al­pha in ei­ner großen Treib­jagd, nach­dem man ihn im Ha­fen aus­fin­dig ge­macht hat­te, auf die Kai­mau­er ge­gen­über der In­sel ge­trie­ben. Man weiß nicht, was in ihm vor­ging, als die Po­li­zei­ket­te ihn vor sich her­trieb. Aber es däm­mer­te wohl in sei­nem zer­ris­se­nen Schä­del, daß die Über­macht zu groß war. An­statt sich zu er­ge­ben, folg­te er dem letz­ten Pro­gramm in sei­nem Schä­del und sprang ins Was­ser. Es ist ei­ne er­staun­li­che Wil­lens­leis­tung, wie er es schaff­te zu er­trin­ken, oh­ne daß sich sein Über­le­ben­strieb ak­ti­vier­te.

Pro­ble­ma­tisch an sei­nem Tod war für die Si­che­rungs­grup­pe Bonn – sie ver­fügt über wis­sen­schaft­li­che Spe­zia­lis­ten – die Art, wie er um­kam. Ran­dom, ihr Füh­rer, fluch­te, daß dies die ein­zi­ge Art sei, auf die er nicht ster­ben durf­te.

„Aber warum?“ frag­te ihn Sperr­le, den, nach­dem er die Din­ge in ih­rer Ent­wick­lung ver­folgt hat­te, et­was wie Mit­leid mit dem großen Man­ne über­kom­men hat­te.

„Weil da­durch sein Ge­hirn vol­läuft“, ant­wor­te­te Ran­dom.

„Vol­läuft?“ echo­te Sperr­le und wisch­te sich die Au­gen, die in der Käl­te zu trä­nen be­gon­nen hat­ten.

„Vol­läuft“, be­kräf­tig­te Ran­dom. „Sie müs­sen ver­ste­hen, daß wir der­art wert­vol­le Ge­hir­ne ana­ly­sie­ren. Wir schüt­teln die Ge­dächt­nispul­ver aus ih­nen und zie­hen mit­un­ter wert­vol­le Schlüs­se. Die­se Mög­lich­keit re­du­ziert sich, wenn das Ge­hirn ver­wäs­sert.“

„Aha“, sag­te Sperr­le.

So konn­te Sperr­le – er war im Zu­ge der Er­mitt­lun­gen zum Ober­kom­missar auf­ge­stie­gen – über den letz­ten, ihm noch un­kla­ren Ge­sichts­punkt, warum Al­pha sei­nen Herrn und Meis­ter ge­tö­tet hat­te, nur spe­ku­lie­ren. Wenn man ihn frag­te, war sei­ne Lieb­lings­the­se, daß Broad­nar sein Ge­schöpf nach und nach in die Frei­heit schick­te. Erst, pfleg­te er zu sa­gen, ließ er ihn naiv und un­schul­dig, fast wie ein Kind, hin­aus­ge­hen. Aber warum das? So wur­de es ihm ge­wöhn­lich an die­ser Stel­le ent­ge­gen­ge­hal­ten.

Da­mit, mein­te dann Sperr­le, ihm die Welt nicht von vorn­her­ein ver­stellt war. Er soll­te naiv und un­schul­dig in die Welt ge­hen, um si­cher zu sein, daß er al­le Mög­lich­kei­ten, die sie bö­te, aus­ge­schöpft hät­te. Um spä­ter, ih­rer Schlech­tig­keit ge­wahr ge­wor­den, in sei­ner Li­nie nicht zu schwan­ken. Wel­cher Li­nie, pfleg­te der ei­ne oder an­de­re Kol­le­ge oder Be­su­cher hier zu fra­gen. Das ist un­klar, sag­te dann Sperr­le. Das hängt ab von Broad­nars Cha­rak­ter, aber auch von der Ent­wick­lung Al­phas.

Nun gut, war dann die Re­de, aber dies wür­de den Mord an Broad­nar – oder, ja, ja, mei­net­we­gen – den Tot­schlag noch längst nicht er­klä­ren. Nein, sag­te hier­auf ge­wöhn­lich Sperr­le, das lie­ße sich auch nicht so ein­fach er­klä­ren. Viel­leicht wür­de man in­fol­ge der Ver­wäs­se­rung des Ge­hirns von Al­pha die Ur­sa­che nie­mals fin­den. Wie auch im­mer. Ganz si­cher wis­se man je­den­falls, daß Broad­nar Al­pha in der zwei­ten Run­de zu ei­nem Kampf­ge­schöpf auf­bau­te, das sich – kämp­fend – be­währ­te. Ja, war die ent­rüs­te­te Ant­wort, aber um wel­chen Preis! Und was ist das für ei­ne Art, sich zu be­haup­ten! Die üb­li­che, pfleg­te Sperr­le dann zu er­wi­dern, nur nicht so höf­lich, nur nicht so ge­schlif­fen, eben von ei­nem kraft­vol­len Neu­ling, dem die fei­nen Ge­mein­hei­ten nicht ge­läu­fig sind, der dar­um die gro­ben Tricks an­wen­det.

Es gab, ne­ben­bei be­merkt, kei­nen Be­su­cher, der die­se Be­mer­kung nicht zu­rück­ge­wie­sen hät­te. Ich kann mir auch nicht den­ken, daß es einen Le­ser ge­ben wür­de, der sich hier­zu be­ja­hend äu­ßern möch­te. Aber man mö­ge sich vor Au­gen hal­ten, dies sind nur Spe­ku­la­tio­nen von Ober­kom­missar Sperr­le, der sich red­lich müh­te, einen äu­ßerst kom­pli­zier­ten Fall zu lö­sen. Was aber, war die wei­te­re Fra­ge, die sich nun ein­zu­stel­len pfleg­te, glau­ben Sie, Herr Ober­kom­missar, per­sön­lich, war der Grund für den Mord Al­phas – oder, ja, ja – des Tot­schlags von Al­pha an Dr. Broad­nar?

Nach­dem Sperr­le mit den Schul­tern ge­zuckt hat­te, nach­dem er sei­ne Dau­men breit ge­spreizt, einen Schluck Kaf­fee aus der Tas­se ge­schlürft, ein we­nig wie ein Af­fe ge­blickt, an sei­ner Bril­le ge­rückt, sich end­lich noch­mals in sei­nem Ses­sel ge­spreizt hat­te, pfleg­te er end­lich doch zu sa­gen: Se­hen Sie, ir­gend­wann, bil­de ich mir ein, muß­te Al­pha doch sei­nen Zieh­va­ter über­win­den. Es ver­steht sich doch oh­ne wei­te­res, daß er nicht ewig in Ab­hän­gig­keit blei­ben konn­te. Was uns so er­staun­lich und be­fremd­lich er­scheint, ist doch bloß die Ge­schwin­dig­keit des Pro­zes­ses. Aber klar ist, daß Broad­nar ihn nicht zwei­mal nar­ren durf­te, auch nicht in bes­ter Ab­sicht.

Ich ver­mu­te, daß Al­pha, als er zum zwei­ten­mal hin­aus ins Le­ben ge­schickt wur­de und zum zwei­ten­mal nicht zu­recht­kam – um es mil­de aus­zu­drücken –, sich auch von sei­nem Rat­ge­ber, sei­nem Pro­gram­mie­rer, von Broad­nar al­so, eman­zi­pier­te. Man weiß nicht, was die bei­den in der Wasch­kü­che mit­ein­an­der be­re­de­ten, als Al­pha von sei­nem Amok­lauf zu­rück­ge­kehrt war. Die Fol­gen des Ge­sprächs aber sind nicht zu be­strei­ten. Das Blut von Dr. Broad­nar spricht sei­ne ei­ge­ne Spra­che. Die zer­bro­che­ne Bril­le ist deut­lich.

Was Al­pha, pfleg­te Sperr­le die Un­ter­hal­tung ab­zu­schlie­ßen, nicht klar war und wes­we­gen er und Broad­nar letzt­lich un­ter­ge­hen muß­ten, war die Tat­sa­che, daß er Broad­nar als Gott­va­ter, als We­sen, das sei­ne Ent­wick­lung be­en­det hat­te, ak­zep­tier­te. Er hat­te nicht ver­stan­den oder konn­te noch nicht ver­ste­hen, daß auch Broad­nar noch vor­an­ging. Die Er­geb­nis­se, die Broad­nar ihm prä­sen­tier­te, wa­ren für ihn un­ver­rück­lich. Dar­um – sein Gott war ge­schei­tert – hat er ihn ge­tö­tet.