XII

 

Es klopft, das wird Carl sein, zurück aus Toronto. Ich laufe die Treppe runter und mache die Tür auf. Da stehen Carl und Jorge.

Wie jetzt?

Das war so ein Spruch von Nicole, als sie klein war. Weil es vielleicht nicht immer so geordnet zugeht in einem Haushalt mit zwei sturen Erwachsenen und zwei trotzigen Kleinkindern. Da werden Pläne schon mal geändert. Da will man erst in den Estrela Park und dann zur Oma oder ins Kino oder doch vielleicht lieber erst ins Kino und dann in den Park und zur Oma oder umgekehrt und landet dann in Cascais am Strand und isst Eis. Und da stand die Nicole dann manchmal hilflos im Flur und wusste nicht ein und aus und sagte: Wie jetzt?

Und so geht es mir in diesem Moment.

Wie jetzt?

Ich halte es zunächst für eine Vision. Aber nein, da stehen sie beide vor der Tür. Die beiden Autos parken vor dem Haus. Carls Van parkt in der Einfahrt. Und ein Leihwagen – das muss der von Jorge sein – am Straßenrand vorm Haus.

Tja. Meine Vergangenheit und meine Zukunft gemeinsam vor der Haustür. Oha. Nichts in meinem Leben hat mich auf so einen Moment vorbereitet. Ich habe keine Verhaltensregeln für so einen Fall gelernt. Ich muss da jetzt einfach improvisieren. Und wieso sind sie eigentlich beide zusammen hier vor der Tür?

„Ihr kennt euch?“, frage ich, noch immer fassungslos.

„Nein“, sagen beide, praktisch gleichzeitig.

„Aber du könntest uns vielleicht vorstellen?“, sagt Jorge.

„Jorge, das ist Carl Lawrence“, sage ich und zeige auf Carl. „Und Carl, das ist Jorge Monteiro“. Und zeige auf Jorge.

Nähere Erklärungen gebe ich nicht ab. Vielleicht komme ich ja so damit durch. Die beiden nicken sich zu, wissen auch nicht, was sie sagen sollen.

„Also, ich muss dann ...“, sagt Carl und geht zu seinem Van. Er steigt ein, lässt die Scheibe runter und sagt: „Heute Abend um acht auf der Farm?“

Ich nicke. Carl fährt. Jorge sieht ihm hinterher.

Das ist also mein Mann. Mein Noch-Mann. Schon so gut wie Ex-Mann. Mein Scheidungspartner. Der Vater meiner Kinder. Nicht nur meiner. Und der Gedanke katapultiert mich wieder ins Hier und Jetzt.

„Wie kommst du denn hierher?“, frage ich.

„Erst Taxi, dann Flugzeug, dann Leihwagen“, sagt Jorge.

 

Senhor Monteiro in spontaner Mission. Wer hätte das von Jorge gedacht. Da zeigt die Familie Monteiro ganz ungeahnte Seiten. Erst macht Schwiegermama so eine Spontan-Reise. Und dann der Sohn. Eins so unwahrscheinlich wie das andere.

Ja, wenn es sowas wie indirekte Bonusmeilen gebe, dann hätte ich diesen Winter gut was eingesammelt, selber bin ich ja nur einmal geflogen, das heißt, im Grunde waren es dreimal. Lissabon – Vancouver, und dann Vancouver – Lissabon hin- und zurück. Aber dazu kommen ja noch die ganzen Flüge, die ich ausgelöst habe, von Clara über Schwiegermutter bis Jorge, da kommt ganz schön Flugmeilen zusammen, wenn man alle zusammenzählt, die wegen mir durch die Gegend geflogen sind.

Komisch, da ist sofort dieses vertraute Gefühl Jorge gegenüber.

In Jorges Gegenwart spüre ich mein ganzes Leben. Mein Gott, der kennt ja noch die ganz frühe Jasmin, die Jasmin mit einigen Kilos weniger und langen Haaren und Pferdeschwanz, die Jasmin ohne Falten, die Romanistik-Studentin-Jasmin, die an der Hamburger Uni erst mit Sätzen wie queria uma bica e um bolo und später mit Texten von Miguel Torga kämpft. Und schon fällt mir unser erstes Date ein. Ein unverfängliches Nachmittagsdate – bei Café Lindner in Eppendorf. Eine vorsichtige Annäherung. Bei Nusskuchen und Zitronentorte. Ob es das Café noch gibt? Das wird es wohl noch geben, der alte Kellner dagegen wird nicht mehr da sein, der muss ja längst tot sein, der war ja damals schon ziemlich alt, aber das Café wird es wohl noch geben, das sollte ich mal googlen ...

„Ich möchte ja zu gerne wissen, was du jetzt denkst“, sagt Jorge.

„Ich denke gerade, ich sollte googlen, ob es Café Lindner noch gibt“, sage ich.

„Ach Jasmin“, sagt Jorge und lacht. „Kann ich reinkommen, oder sollen wir hier einfach noch eine Weile stehenbleiben und warten, dass ein Bär vorbeikommt? Hier gibt´s doch Bären, oder?“

„Erst im Frühjahr wieder, jetzt sind sie noch im Winterschlaf“, sage ich, halte die Tür weit auf und wir gehen die Treppe hoch.

Ich koche einen Tee, Earl Grey, tue aber keinen Honig rein, weil Jorge keinen Honig mag, und dann sitzen wir und trinken Tee und wissen nicht, was wir sagen sollen. Jorge auf der Couch, ich auf dem Sessel. Zwischen uns der Tee und der Tisch. Wir haben uns über drei Monate nicht gesehen. Aber es ist, als wäre es gestern gewesen. Stimmt überhaupt nicht – wir haben uns zwischendurch gesehen, bei meinem Vanille-Kipferl-Trip. Aber das zählt irgendwie nicht so richtig. Zu kurz. Zu merkwürdig. Zu alles.

„Bist du noch mit der Catarina zusammen?“, frage ich.

„Und du, bist du jetzt mit diesem Carl zusammen?“, fragt Jorge.

„Es ist mitten im Semester, musst du nicht unterrichten?“, frage ich.

„Ich habe mich krank schreiben lassen“, sagt Jorge.

Hallo, das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, er hat sich praktisch noch nie krankschreiben lassen. Er hat ein großes Chaos auf seinem Schreibtisch und in seinem Arbeitszimmer, aber er ist korrekt, er liebt seine Arbeit, er geht gerne an die Uni, er unterrichtet gerne. Auch wenn es ihn manchmal nervt, da immer wieder von vorne anzufangen, immer wieder neu das Verständnis zu wecken für Torga und Pessoa. Jorge ist ein großer Fernando Pessoa Fan. Und jedes Mal, wenn er es schafft, wieder jemanden von Pessoa zu überzeugen, dann ist das für ihn einfach etwas Wertvolles.

„Wieso bist du eigentlich hier?“, frage ich.

Jorge steht auf, geht zu seiner Tasche und nimmt eine Mappe raus. Dann kommt er zurück, setzt sich wieder auf die Couch und legt ein paar Papiere auf den Tisch.

„Du wolltest doch die Scheidung“, sagt Jorge. „Hier sind die Papiere.“

„Aber ...“, sage ich.

„Wenn es zu Ende ist, sollte man es auch beenden“, sagt Jorge. „Ich habe viele Fehler gemacht, du willst die Scheidung. Ich verstehe das, also stimme ich zu und wir können beide mit unserem Leben weitermachen. Noch mal neu anfangen.“

Ich nehme die Papiere und lese sie durch. Jorge sichert mir eine Unterstützung zu, ich werde nicht arbeiten müssen, er wird mir einfach für immer und ewig Unterhalt zahlen. Die Hälfte seines Einkommens.

„Das ist ziemlich großzügig“, sage ich

„Wieso großzügig“, sagt Jorge. „Das war der Deal, ich arbeite, du bleibst zu Hause und kümmerst dich um die Kinder. Ist doch klar, dass das weiter gilt“.

„Aber die Kinder sind aus dem Haus“, sage ich.

„Aber du hast doch wegen uns auf deine Karriere verzichtet“, sagt Jorge. „Was willst du denn jetzt noch anfangen zu arbeiten? Was könntest du denn überhaupt machen?“

In der Tat – das ist eine gute Frage. Die ich mir ja jetzt auch seit Wochen stelle. Ohne eine Antwort darauf zu finden. Trotz Dauerlektüre von Cool Careers for Dummies. Das ist so ein Mist.

„In deinem Alter nimmt dich doch keiner mehr“, sagt Jorge. Das ist nicht mal gemein gemeint, das ist einfach die Wahrheit.

Das heißt, nicht ganz. Da gibt es den Job im Museum, das Angebot von Carl. Ich kann die historische Farm aufbauen. Ich freue mich auf den Job im Museum, den Aufbau, die Farm, das Café. Ich möchte gerne irgendetwas Nützliches machen. Etwas Sinnvolles. Ich merke, ich möchte gerne arbeiten. Obwohl ich ja jetzt nicht mehr muss, wenn ich Jorges Angebot annehme. Ist schon klasse von ihm das anzubieten. Und das auf eine so selbstverständliche Art. Echt großzügig. Mir fällt ein, dass Großzügigkeit ja eine der Haupteigenschaften ist, die ich von einem Partner erwarte. Das wurde mir damals in Campbell River zum ersten Mal so richtig klar, bei dieser Jeff-April-Präser-Geschichte.

„Jasmin?“, sagt Jorge. „Wo bist du jetzt mit deinen Gedanken?“

Na, das erkläre ich jetzt nicht, das ist zu kompliziert.

„Es ist trotzdem großzügig“, sage ich. „Danke. Ehrlich, danke.“

„Weißt du“, sagt Jorge. „Mein Vater war ein furchtbarer Knauser, der hat jeden Escudo aufgeschrieben, den er ausgegeben hat. Für den Haushalt, für meine Mutter, für mich.“

Jorge steht auf und sieht aus dem Fenster. Auf den Fluss – heute schnell-fließend hellgrün, fast transparent. Auf Rugged Mountain und die jetzt nur noch wenig schneebedeckten Gipfel. Auf die Straße, wo jetzt schon wieder der Typ mit dem Kaffeebecher und dem Hund langgeht. Dieses Mal die Straße runter.

„Nach seinem Tod habe ich Mutter geholfen, die Sachen zu sortieren, die Papiere durchzusehen, alles zu ordnen. Und weißt du, was ich gefunden habe? Ein Heft mit allen meinen Ausgaben. Also den Ausgaben von meinem Vater für mich. Da standen Sachen wie: Jorge 5. Mai 10 Escudos Schnürsenkel. Und da habe ich mir geschworen, dass ich nie so werden will.“

Ich nicke.

„Und ich bin doch immer großzügig gewesen“, sagt Jorge. „Oder, Jasmin? Oder?“

„Absolut“, sage ich. „Das bist du wirklich immer gewesen.“

Da fällt mir ganz spontan ganz viel ein. Jorges Art zu geben ist wunderbar. Jorge ist immer großzügig gewesen, was haben wir für gute Zeiten dadurch gehabt. Solche Großzügigkeit macht sich auch im Bett gut, übrigens, da fällt mir plötzlich so einiges ein, und ich hoffe, dass ich hier jetzt nicht rot werde. Jeez Louise. Nicht dran denken, Jasmin. Hier liegen die Scheidungspapiere, die Geschichte ist vorbei und alles, was fehlt, ist deine Unterschrift.

„Kommst du eigentlich zur Hochzeit deines Sohnes?“, fragt Jorge.

„Das ist unser Sohn“, sage ich, „Im Gegensatz zu anderen Kindern, die da draußen rumlaufen, ist Tiago unser gemeinsamer Sohn“.

„Wow“, sagt Jorge. „Das hat gesessen. Voll getroffen.“

„Dabei habe ich nicht mal gezielt“, sage ich.

Ganz so wie damals bei Miguels Geburtstag im Ferienhaus in Deixa-o-Resto, wo wir alle mit dem Luftgewehr des Gärtners geschossen haben, und die einzige, die wirklich die Hundert auf der Zielscheibe getroffen hat, war ich. Reiner Zufall.

„Da ist etwas, was ich schon gerne wüsste“, sagt Jorge und räuspert sich ein paar Mal. „Warum hast du mich eigentlich verlassen? Ich meine, warum gerade zu dem Zeitpunkt, plötzlich aus heiterem Himmel im November, da war doch gar kein Anlass. Ich war ja nicht mal untreu, also nicht zu diesem Zeitpunkt, jedenfalls.“

„Aber ich dachte, du wärest“, sagte ich. „Ich hatte dich doch mit der Joana im Retiro gesehen.“

„Scheiße, Jasmin“, sagt Jorge. „Du hast mir also wirklich zugetraut, dass ich mit einer knapp Zwanzigjährigen was anfange, Scheiße. Mit einem Mädchen, dass meine Tochter sein könnte. Meine Tochter ist, in diesem Fall. Was hältst du eigentlich von mir? Also ehrlich, Jasmin, wirklich.“

„Jorge, ich ... was sollte ich denn sonst denken?“, frage ich.

Aber ein bisschen hat er recht, hätte ja auch eine Studentin sein können. Eine Praktikantin, eine Assistentin. Eine Freundin von Nicole oder Tiago. Hätte was weiß-ich-wer sein können. Vielleicht habe ich in der Tat überreagiert.

„Du hättest mich fragen können“, sagt Jorge. „Ein bisschen mehr Vertrauen, ein bisschen weniger Misstrauen.“

„Vertrauen? Dir vertrauen? Nach all dem, was du in diesen ganzen Jahren getan hast, soll ich dir vertrauen?“, sage ich.

Ja, streiten können wir, das haben wir lange geübt. Wir hatten dreißig Jahre lang Zeit zu lernen, wie man aus einer Mücke eine Elefanten macht. Da sind wir so richtig gut drin.

„Weißt du was, ist ganz gut, dass wir uns scheiden lassen“, sagt Jorge. „So hat das doch überhaupt keinen Zweck mehr.“

Er schiebt die Papiere noch ein Stückchen näher zu mir und nimmt seinen Füller aus der Jackentasche. Er nimmt die Kappe ab und hält mir den Füller hin. Ich nehme den Füller in die Hand. Jorge und sein Füller. Jorge und seine Füller, sein chaotisches Arbeitszimmer, seine Großzügigkeit, sein ... Da fällt mein Blick auf die Uhr im Regal, meine Güte, es ist acht Uhr, ich muss los, Carl erwartet mich, ich komme schon jetzt zu spät.

„Ich unterschreibe nachher“, sage ich zu Jorge und gebe ihm seinen Füller zurück. „Ich muss los.“

„Und was ist mit mir?“, fragt Jorge.

„Man soll sich von unangekündigten Besuchern nicht den Abend durcheinander bringen lassen“, sage ich. „Habe ich von deiner Mutter gelernt. Hat sie neulich gesagt.“

Jorge sagt nichts.

„Du kannst unten im Basement schlafen“, sage ich. „Mach es dir bequem. Warte nicht auf mich.“

Sinceramente, Jasmin, isto ....“, fängt Jorge den Satz an, was soviel heißt wie: Ehrlich Jasmin, das ist ..., aber er beendet den Satz nicht.

 

Ich fahre aus dem Dorf, das ist der Anfang von The Road. Am Dorfende das schöne Schild mit dem Spruch: Der Letzte macht das Licht aus. Hoffen wir, dass es nie dazu kommt. Wäre doch schön, wenn das Dorf bestehen bliebe, wenn hier weiter die Lichter anblieben, wenn hier weiter Leute wohnen würden.

Leute wie Kathleen, die nach vielen Turbulenzen im Leben hier einen gemütlichen Diner führen und mit dem einfachen Leben zufrieden sind. Leute wie Jeff und April, die hier nach einer Enttäuschung oder einem Schicksalsschlag Abstand von der Welt finden, während ihre Seelen heilen. Leute, die einfach ein bisschen anders sind als der ganz normale Mitbewohner in der Stadt und die hier so sein dürfen, wie sie sind. Leute, die nicht so recht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen und die sich hier am Ende der Welt eine Auszeit nehmen dürfen, so wie ich.

Hier in diesem Dorf achtet keiner auf seine Kleidung, nicht mal bei Musikveranstaltungen im Motel. Das ist ein uneitles Dorf, sozusagen, da geht man in Jeans und Sweatshirt auf die Straße und bei Regen kommt noch eine Regenjacke drüber und das ist es. Hier achtet man wirklich nicht auf sein Aussehen. Das hat was sehr Befreiendes. Ich habe mich seit Monaten nicht geschminkt. Gerade mal, dass ich mein Gesicht noch eincreme und die Haare kämme.

Hier am Anfang von The Road ist noch kein Schotter, da ist eine Vorstufe von Teer, also noch nicht richtig geteert, aber doch fest, und gibt bestimmt auch einen technischen Namen dafür, aber ich kenne ihn nicht.

Ich fahre an dem Schild vorbei, das die Einfahrt zum Leiner River Trail anzeigt. Hier bin ich damals mit Clara und Peppermint spazierengegangen und habe Carl kennengelernt, am Peppermint-weg-Tag. Noch ein Stückchen weiter und da ist auch schon die Abzweigung zu Johns Farm. Wo ja Carl jetzt wohnt.

Ich fahre so langsam, dass das Auto stehenbleibt.

Jetzt muss ich mich entscheiden.

Geradeaus vor mir liegt The Road, hier geht es in die Welt, nach Gold River und nach Campbell River, in den Strathcona Park und nach Vancouver. Nach Port Hardy und nach Port McNeill, nach – ja, sogar nach Lissabon, wenn man so will, man muss nur die richtige Richtung einschlagen, die richtigen Abbiegungen nehmen und beharrlich seinen Weg weiter verfolgen und die Richtung beibehalten.

Wenn ich nach rechts abbiege, komme ich zu Carl. Zu einem tollen Mann, der wunderbar kochen kann, und der mir einen Job angeboten hat. Wenn ich rechts abbiege, werde ich mein Leben, oder doch zumindest die nächsten Jahre in Kanada verbringen, auf Vancouver Island. Ich werde Jasmin Monteiro, die Frau von der historischen Farm mit Museums-Café, sein.

Ich stelle den Motor ab (weil ich ja schon Umweltbewusstsein habe, nicht wahr, und meine carbon footprints nicht unnötig erhöhen will) und bleibe einfach in der Dämmerung sitzen.

Es gibt übrigens noch einen dritten Weg.

Ich kann umdrehen. Ich kann zurück ins Dorf fahren, denn dort im blauen Flusshaus ist mein Mann. Ich könnte ihn fragen, ob er nicht zu mir zurückkommt. Ob ich zu ihm zurückkommen kann. Ob wir gegenseitig zurückkommen wollen, also wieder zusammen sein. Es noch mal miteinander versuchen.

Da ist so viel schöne gemeinsame Vergangenheit.

Wenn ich mit Carl zusammen wäre, wenn ich hier leben würde, wenn ich Frau Monteiro vom Museum wäre, dann wäre meine ganze Vergangenheit, die Uni in Hamburg, das Leben in Lissabon, die Kinder als Babys, nur noch Erinnerung. Wenn ich aber mit Jorge zusammen wäre, und wenn wir weiter zusammen leben und lieben und streiten würden – dann wäre es mehr als Erinnerung, dann hätten wir die gemeinsame Vergangenheit, die dadurch, dass der andere es ja auch erlebt hat, viel mehr ist als eine Erinnerung.

Lichter kommen mir entgegen. Dann hält ein Auto an, jemand steigt aus und klopft an meine Scheibe. Ich öffne, es ist ein Mann:

„Alles in Ordnung?“, fragt er.

„Alles in Ordnung“, sage ich.

Keine weitere Erklärung. Das ist ja nicht zu erklären, nicht in ein paar Worten und es geht ihn ja auch nichts an. Bei einer Reifenpanne kann man den Reifen wechseln, bei einem Motorschaden kann man einen Mechaniker holen. Bei Benzin alle kann man einen Kanister mit Benzin heranschaffen. Aber das hier muss ich selber regeln.

„Ganz sicher?“, fragt der Mann. „Ganz sicher“, sage ich und lasse den Motor an. Ich fahre los und biege in den Weg zu Johns Farm ein, ich muss Carl ja schon noch sagen, was los ist. Carl wartet auf mich, ich will ihn nicht hängen lassen. Und ich hoffe, er kann mich verstehen.

 

Carl versteht mich.

Er bedauert meine Entscheidung. Es hätte ja auch ein schönes Leben werden können, wir wären bestimmt ein gutes Team gewesen. Und wenn es ein Parallel-Universum gäbe, dann wäre hier mein Platz. An Carls Seite. Aber da wir ja mal gerade nur das Leben in einem Universum schaffen, und auch das nur so la-la, jetzt mal ganz ehrlich, werde ich in meine alte Welt zurückkehren.

Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich verstehen, warum Jorge mich so oft betrogen hat. Oder anders: warum er mir untreu war. Oder sagen wir: warum er mit anderen Frauen geschlafen hat. Warum er für einen Moment die Welt mit anderen Frauen getestet hat, in ein anderes Leben geschlüpft ist, ein paralleles Leben gelebt hat.

Ich kann jetzt verstehen, wieso so ein Parallel-Universum so eine Versuchung sein kann. Ich kann jetzt verstehen, dass es schön wäre, wenn da ganz andere Dinge möglich wären. Ich sehe, dass die Welt voller Möglichkeiten ist. Und wie schwierig es ist, sich zu entscheiden, weil ja jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas anderes ist. (Das sind so Sachen, die jeder eigentlich sowieso weiß, aber die man nur in manchen Momenten so richtig begreift.)

Mein Winter am Ende der Welt ist vorbei. Meine Seele ist geheilt. Der Rest wird sich finden.

 

Als ich nach Hause komme, ist es schon sehr spät. Das ist Carls Schuld, er hat mich überredet, doch noch zum Essen zu bleiben (schade um das ganze schöne Essen, mit dem er sich so viel Mühe gegeben hat, und außerdem bin ich ihm einen Abschiedsabend schuldig, findet Carl und da hat er recht, finde ich). Im Haus ist noch Licht, Jorge ist anscheinend noch wach.

Ich gehe ins Haus, höre den Fernseher laufen. Jorge ist im Basement, im Fernsehraum und sieht Hellboy zwei und bekommt gar nicht mit, dass ich in das Zimmer komme. Weil der Ton so laut ist, weil bei Hellboy zwei gerade eine von diesen Spektakelszenen läuft.

Das gibt mir die Gelegenheit, noch mal unbemerkt in aller Ruhe den Mann anzusehen, der meine Vergangenheit war und hoffentlich auch meine Zukunft ist. Er hängt auf dem Sofa, die Füße auf dem rot gestrichenen Tisch, der eher aussieht wie ein Gartentisch als ein Wohnzimmertisch und wahrscheinlich Annas Tisch für draußen ist, wenn sie im Sommer hier ist. Auf dem Tisch liegen Casablanca, Es geschah in einer Nacht und Overboard – Ein Goldfisch fällt ins Wasser. Auf, über und unter Jorge mein neuer Quilt in den Farben von The Road.

Plötzlich sieht Jorge hoch. Er drückt auf Pause und nun stehen Hellboy und Liz, der Inspektor und Fischkopf eingefroren auf dem Bildschirm.

Stille breitet sich aus, weil der Kampflärm vom Film fehlt.

„Interessante Mischung von Filmen“, sagt Jorge.

„Ich muss dir was beichten“, sage ich.

Und als der Satz raus ist, denke ich, was für ein bekloppter Anfang für das, was ich eigentlich will und sagen will. Aber auf der anderen Seite will ich jetzt reinen Tisch machen.

„Brauchst du nicht, wir sind getrennt“, sagt Jorge. „Du kannst mit Carl schlafen, soviel du willst.“

(Ich würde doch zu gerne jetzt mal in seinen Kopf sehen und sehen, was er zu diesem Thema wirklich denkt.)

„Es geht nicht um Carl“, sage ich. „Es geht um Wolfgang.“

„Und wer ist Wolfgang?“, sagt Jorge und sieht nicht mich an, sondern auf den Bildschirm, wo die vier weiter eingefroren im Bild hängen. Hellboy, Fischmann, Liz und der Inspektor.

„Der Deutschlehrer von Tiago damals, an der deutschen Schule“, sage ich.

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragt Jorge.

„Weil ich damals total in Wolfgang verliebt war, und weil wir eine Affäre hatten“, sage ich. „Zwei Monate lang.“

„Aha“, sagt Jorge. „Und warum erzählst du mir das jetzt?“

„Weil ich reinen Tisch machen will“, sage ich. „Um noch mal neu anzufangen.“

„Und mit wem?“, fragt Jorge.

„Mit dir“, sage ich. „Mit dir.“

Jorge dreht sich wieder zu mir und kommt dabei an den Knopf auf der Fernbedienung und der Film läuft weiter. Ein Höllenlärm setzt ein und die Prügelei auf dem Bildschirm geht jetzt noch mal so richtig los. Ich setze mich zu Jorge aufs Sofa. Jorge sieht mich an. Dann legt er den Arm um mich. Ich rücke näher, spüre seinen Körper. Die Wärme. Das ist alles so vertraut. Und so schön.

„Was ist eigentlich mit Catarina“, frage ich Jorge. „Seid ihr noch zusammen oder nicht?“

„Nicht mehr zusammen“, sagt Jorge. „Ich wollte erst das mit dir hier regeln.“

Wir rollen uns beide in meine Patchworkdecke ein und sehen aneinander angekuschelt das Ende von Hellboy zwei. Schön, bunt, laut. Wunderbar. Ich fühle Jorges Körper, und ich fühle mich aufgehoben und beschützt. Ich lehne mich an und genieße den Film. Aber es ist nicht der Film, es ist im Grunde völlig egal, was wir hier sehen. Es geht um das Zusammensein. Um das gemeinsam etwas Sehen und dann drüber reden. Um das gemeinsam etwas Erleben und noch lange erinnern. Immer mal wieder, bei allen möglichen und unmöglichen Anlässen. Es geht um das in den Armen des anderen Aufgehobensein.

Wie hieß es so schön in einem irischen Song auf dem spontanen Holzfäller-Musikabend im Motel, in diesem Song, dessen Namen ich nicht kenne, aber dessen eine Zeile mir jetzt plötzlich einfällt: Me and you let´s start anew. Ja, das werden wir tun.

Als der Abspann läuft, schaltet Jorge den Fernseher aus.

„Ich habe meine Affären wenigstens immer gebeichtet“, sagt Jorge.

„Mache ich in Zukunft auch“, sage ich.

„Was?“, sagt Jorge und sieht doch in der Tat völlig fassungslos aus. „Sinceramente, Jasmin, isto ... „

„Das war ein Witz“, sage ich. Obwohl ich doch eigentlich von Jeff und April wissen sollte, dass manche Witze bei manchen Gelegenheiten nicht so wirklich gut kommen.

 

Clara an Jasmin: Betrifft Ende von Schneeweißchen und Rosenrot oder was ist ein Happy End. Was ist eigentlich los? Sehe dich nie mehr auf skype – wo treibst du dich denn die ganze Zeit rum? Und was das Ende von Schneeweißchen und Rosenrot betrifft, was fragst du da, ich habe dir das Märchen doch vorgelesen, damals, über skype, schon vergessen? Das Ende ist doch bekannt. Schneeweißchen bekommt den Bären, Rosenrot den Bruder. Du hast natürlich mal wieder gehofft, dass Schneeweißchen den Bären für sich alleine bekommt UND dass Rosenrot den Bären für sich alleine bekommt. Du denkst ja auch immer noch, dass Rick und Ilsa sich kriegen sollten, ohne dass Viktor Laszlo unglücklich wird. Aber eins geht nur, Menina Jasmina. Zumindest in diesem Leben. Love, beijinhos e um grande abraço – lass mal wieder von dir hören, deine alte Freundin Clara