IV

 

Angeblich soll man ja keine guten Vorsätze fürs neue Jahr fassen. Weil es nämlich sowieso schiefgeht. Das haben über Tausende von Jahren Millionen von Leuten bewiesen (einschließlich Anna und Clara und mir).

Ich bin jedenfalls erstmal einfach froh, dass das alte Jahr vorbei ist. Ganz besonders die letzte Woche. Diese Woche zwischen Weihnachten und Sylvester, wo das alte Jahr eigentlich schon um ist und das neue noch nicht angefangen hat. Obwohl – das Ende ist dann ja gar nicht so schlecht gewesen. Jedenfalls besser als erwartet. Sogar sehr viel besser als erwartet. Plötzlich ist am Tag vor Silvester die Sonne rausgekommen und die Straße vor dem Haus war zum ersten Mal seit Tagen trocken. Rugged Moutain war mit allen seinen grau-weißen Zacken sichtbar. Halbschneebedeckte Gipfel vor hellblauem Himmel.

April ist mit Peppermint vorbeigekommen und hat mich zu einem Spaziergang abgeholt und wir sind den Leiner River Trail entlang gelaufen und April hat mir aus ihrem Leben erzählt. Aufgewachsen in Lachine, einem Vorort von Montreal. An der Uni Mann aus Alaska kennengelernt und mit ihm nach Juneau gezogen und dort geheiratet. Normales Leben, so weit. Der Mann Ingenieur bei einer Firma, die irgendwas mit Wasserversorgung zu tun hat. April als Lehrerin an der Schule für die Kleinen. Die Planung für die eigenen Kleinen Jahr für Jahr nach hinten geschoben. Die Woche voller Arbeit. Und am Wochenende Einkauf in der Mendenhall Mall und Kino oder Konzerte.

April hat mich gefragt, ob ich Juneau kenne. Aber ich kenne Juneau nicht, ich war noch nie in Alaska, ja noch nie in den USA, noch nicht mal in New York, und da würde ich wirklich gerne mal hin. New York – wie das schon klingt! Ja, da würde ich gerne mal hin.

April sagt, Juneau ist wirklich eine nette Stadt, sogar die Franklin Street in Downtown, trotz der ganzen Touristen von den Kreuzfahrtschiffen, die in den Sommermonaten von Bord der Kreuzfahrtschiffe strömen und die Straßen überlaufen. Ich habe April von meiner Kindheit in Hamburg-Langenhorn erzählt. Hamburg liegt auch nördlich. Nördlicher als viele denken, übrigens. Ich habe April gefragt, was sie wohl meint, was nördlicher ist, Montreal oder Hamburg?

Montreal, sagte April.

Tja, sagte ich, Hamburg.

Nicht zu fassen, sagte April. Das hätte sie nicht gedacht.

Ich auch nicht, aber Anna und ich haben das mal gegoogelt, wegen einer Übersetzung oder irgendwas und da kam es raus: Montreal liegt auf dem Breitengrad von Mailand. Und Hamburg auf dem Breitengrad von, von … na nördlicher jedenfalls, und auf jeden Fall nördlicher als Mailand.

Aprils Mann hat sie wegen seiner Sekretärin verlassen. Auch ein Klassiker. Also habe ich ihr von Jorge erzählt und April hat mich zu Silvester eingeladen. Und dann haben wir mit Jeff und Carl draußen auf Johns Farm gefeiert.

 

Es war super. Carl hat von seiner Tante in Halifax eine Truhe mit alter Kleidung bekommen, die sie wiederum von ihrer Tante hat und die eigentlich ins Museum gehört, die Truhe mit der Kleidung, nicht die Tante, und die haben wir aufgemacht, also die Truhe, und uns so angezogen, dass wir zur Farm passten. Oder die Farm zu uns.

Jeff und Carl haben weiße Hemden angezogen und darüber Westen. Eine grau-gemusterte für Carl, eine schlichte grüne für Jeff. April hat ein langes weites Kleid aus einem weiß-braun-gewebtem Stoff getragen, und ich habe ein dunkelblaues Kleid bekommen, auch lang und weit. Mit weißen Blusen drunter. Mit großem Kragen. Wir haben kurz die Hauben aufgesetzt. Und dann gleich wieder abgesetzt. Denn erstens sah es blöde aus und zweitens sind wir ja beide nicht mehr unter der Haube, nicht wahr.

Carl hatte gekocht, fantastisch übrigens. Der Mann versteht was vom Kochen und seine Gewürzkenntnisse gehen weit über die Pfeffermühle hinaus. Und richtiges Geschirr hat er jetzt auch. Im Laufe des Abends haben wir kalifornischen, chilenischen und kanadischen Rotwein verglichen, bis wir eigentlich nichts mehr auseinanderhalten konnten und die drei haben dazu Geschichten von The Road erzählt.

Die Geschichte von dem Möbellaster, der ins Rutschen gekommen ist und die ganzen Möbel sind den Berg runter geflogen und deswegen liegt bis heute ein Sofa irgendwo unten im Tal, gleich hinter Steep Hill. Die Geschichte von dem Laster mit den Trauben, die die italienischen Gastarbeiter gemeinsam gekauft hatten, um sich ihren eigenen Wein zu machen wie zu Hause in Italien, und der umgekippt ist, und damit waren die Trauben hin. Die Geschichte von dem Mann aus Toronto, der zum ersten Mal über The Road gefahren ist und einen Herzinfarkt bekommen hat und ins Tal gestürzt ist.

April hat erzählt, wie sie mal mit Christine und Steve in Steves Truck im Winter über den Pass gefahren sind, und plötzlich waren da Hirsche auf der Straße, vier riesige Hirsche, und Steve hat gebremst, und es war glatt, und sie sind von The Road abgekommen und der Truck ist zur Seite gerutscht und an der Kante hängengeblieben. Und da hat er dann auf der Klippe gehangen und gewippt und sie haben versucht, ganz ruhig zu sitzen und das Gewicht nach hinten zu verlagern, ohne sich zu bewegen. Steve hat gesagt, fünfundzwanzig Jahre auf The Road, und das ist ihm noch nie passiert, und Christine hat gebetet und April wurde heiß und kalt und sie war schon dabei, mit ihrem Leben abzuschließen. Und da hat sie ein Trupp Waldarbeiter entdeckt und die Waldarbeiter haben hinten am Truck gedrückt und ihn mit einem Ruck wieder an Land gezogen, hochgeflippt, sozusagen, und ihn damit wieder auf The Road gebracht. Und sie haben es alle überlebt. Sogar der Truck.

Jeff erzählt, er hatte mal ein Loch in seinem Auspuff von seinem Jeep, aber im Ort ist ja niemand, der sowas reparieren kann, also ist er in die Stadt gefahren, nach Campbell River, um den Jeep dort in die Werkstatt zu bringen, aber als er ankam, war das Geräusch weg und der Auspuff zu. War der Schlamm von The Road, der hatte sich auf das Loch gesetzt und die Hitze vom Auspuff hatte es sozusagen zugebacken. Und hält bis heute, sagt Jeff, hält bis heute, beste Auspuff-Reparatur aller Zeiten und schenkt uns noch mal vom chilenischen Rotwein nach.

Carl sagt, er hatte mal eine Reifenpanne, ganz oben auf dem Pass, gleich hinterm Bull Lake, und er konnte doch in der Tat den Kreuzschlüssel nicht finden. Und der ganze Van war voller Sachen, weil er in der Stadt gründlich eingekauft hatte, so wie man es hier eben macht. Und er musste alles rausnehmen und auf die Straße stellen. Und ihm war reichlich mulmig zumute. Hackfleisch, Honig, Milch – das sind ja alles Sachen, die Bären gerne fressen, und Bären können über weite Entfernungen riechen, kilometerweit. Und sein ganzer Kram stand da auf The Road. Das ganze Werkzeug und die Tüten mit den ganzen Lebensmitteln und die Gartengeräte für die Farm. Nur der Kreuzschlüssel – der war nicht dabei. Also hat er alles wieder eingepackt. Und musste auf The Road übernachten. Und es war super kalt, eine eisige Nacht, Temperaturen um null, aber zum Glück war er nicht alleine, es war nämlich eine Freundin dabei, und da konnten sie sich gegenseitig wärmen.

Und ich merke, tja, so eine Reifenpanne mit Carl, nachts, auf dem Pass, weiß gar nicht, ob ich das unter Unglück oder Glück abbuchen würde. Womöglich unter Glück.

Ich konnte nichts dazu beitragen. Keine Story von The Road. Nicht eine einzige. Ich bin nämlich mit dem Wasserflugzeug angereist, weil ich einfach so schnell und so weit wie möglich von Jorge weg wollte, irgendwohin, wo ich alleine sein und im Bett liegen und heulen konnte. Und dann bin ich hier nie mehr aus dem Ort rausgefahren, obwohl ich Annas Van habe. Ich kaufe die paar Sachen, die ich brauche, einfach hier im Laden im Dorf. Ich frühstücke montags meine Pfannkuchen in der Kirche, esse am Donnerstag die Pizza vom Pub, und gehe ab und zu bei Kathleen im Cookshack essen. Und meine Haare wasche ich immer noch mit Annas Pfefferminz-Shampoo.

Du bist noch nie über The Road gefahren?, fragte April.

Nein, noch nie, habe ich geantwortet.

Ist gar nicht mehr so ein Akt heute, sagte Jeff. Früher, ja früher, da fuhr man Kolonne. Da war The Road noch wirklich ein Abenteuer. Dagegen ist es ja heute ein Kinderspiel. The Road ist sogar geteert an manchen Stellen. Und breit geworden. Und es sind weniger Kurven. Und die Löcher sind auch weg. Na ja, nicht weg, aber kein Vergleich zu früher. Ich habe die anderen gefragt: Und was ist das Schlimmste an The Road?

Und ich dachte, sie sagen jetzt, die fünfundsechzig Kilometer, die sich ja ganz schön in die Länge ziehen können, oder der Schotter oder die Abhänge gleich neben der Straße. Aber nein.

Die Unvorhersehbarkeit, sagte Jeff, das macht The Road aus. Das ist es, was The Road immer noch so aufregend macht. Fünf oder zehn Tage oder wie lange auch immer ist es gut. Und dann plötzlich über Nacht gibt es Regen und Schnee und Eis und The Road ist glatt und du kommst nicht mehr über den Pass. Und alle stimmen zu.

Und plötzlich war es Mitternacht und wir haben, wie es sich gehört, mit Sekt angestoßen.

Wir haben uns auf der Veranda vor der Farm aufgestellt und uns vorgestellt, wie das damals wohl so war, da draußen so einsam und weitab vom Schuss zu wohnen und einen langen Winter durchzustehen. Jeden Tag Holz zu hacken und den Ofen zu heizen. Morgens Haferbrei zu essen und abends eine Suppe zu kochen aus den mageren Zutaten, die man noch hatte und je länger der Winter, desto magerer die Zutaten. Nicht weg zu können. Nirgendwohin. Über Monate. Aufeinander angewiesen zu sein. Aber so richtig. Die Frauen haben gestickt und aus alter Kleidung große Quilts für die Betten genäht. Die Männer haben Messer geschliffen, Wagenräder gebaut und Werkzeug repariert. Die Romantikerin in mir stellt sich das sehr schön und gemütlich vor. Die Romanistin in mir wäre hier mal wieder völlig nutzlos gewesen.

Dann hat April mir Peppermint in den Arm gedrückt, Peppermint immer noch mit Weihnachtsmütze, schon weil es draußen so kalt war, und hat mit Jeffs Kamera ein Foto von uns gemacht, und Carl hat gesagt, es ist eine Schande, dass ich bisher so wenig von Vancouver Island gesehen habe, und hat mich eingeladen, mit ihm nach Courtney zu fahren, denn Courtney ist seine Lieblingsstadt. Und Comox ist auch nicht schlecht. Und sie haben da eine gute Buchhandlung, the Blue Heron, wunderschöne Bücher, tolles Sortiment. Der Mann kann nicht nur kochen, er liest auch noch. Und ich habe versucht nicht dran zu denken, aber ich konnte nicht umhin, der Gedanke, da mit Carl über The Road zu fahren und eine Reifenpanne zu haben und dann mit Carl eine Nacht da alleine in der Wildnis ... Tja. Der hatte was.

Und April hat gesagt, wenn ich nicht weiß, wie ich die Tage füllen soll, dann soll ich doch zum Quilting-Marathon kommen, am nächsten Wochenende in der Schule, eine Art Sew-In, sie sind sieben Frauen und jede bringt was zum Essen mit, so was wie ein Potluck in Sequenzen, und sie verlassen das Gebäude praktisch nur zum Schlafen.

 

Jeff hat das Foto natürlich sofort am nächsten Tag auf Facebook gestellt und uns alle markiert: Jeffrey Thompson, Jasmin Monteiro und Carl Claaßen auf Johns Farm.

Und nun sitze ich hier über den Kommentaren. Clara und Alan wünschen mir ein gutes Jahr aus LA, Nicole und Tiago aus Lissabon und Anna und Miguel aus Porto. Soweit so gut.

Paul schreibt: Ins letzte Jahrhundert ausgewandert?

Die Prinzessin schreibt: krasse Klamotten

Jorges Mutter schreibt: Zu den Zeiten, als man diese Kleidung trug, verließen Frauen nicht so einfach ihre Ehemänner.

Und Jorge schreibt: Jasmin, ich möchte, dass du weißt, das du hier immer noch ein vernünftiges Zuhause hast.

Ich schließe Facebook und hoffe inständig, dass das neue Jahr besser wird. Aber vielleicht, und damit es in eine Richtung läuft, in die ich es auch laufen haben will, vielleicht sollte ich da doch lieber ein paar Vorsätze fassen und so zumindest die Richtung festlegen. Auch wenn das mit den Vorsätzen so eine Sache ist. Aber vielleicht kann ich so meinem Leben wenigstens eine grobe Richtung geben.

Vorsatz eins, denn das steht wirklich ganz oben: einen Beruf finden. Eine Tätigkeit, die mich ernährt. Etwas, was mir zumindest einigermaßen Spaß macht (wenn es denn irgend geht) und außerdem meinen Kühlschrank füllt und meine Miete zahlt (das ist das Muss). Und möglichst auch noch die Kinokarten und die Trips in den Buchladen und die Bicas in den Cafés (eben diese kleinen Extras, die das Leben erst so richtig schön machen) ...

Für was könnte ich geeignet sein? Mir fällt nichts ein. Mir fällt doch wirklich und wahrhaftig nichts ein. Mich beschleicht die Vermutung: Ich bin für nichts geeignet. Ich kann nichts, das irgendjemand so sehr braucht, dass er dafür Geld bezahlen würde.

Ich versuche es mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln. Ich lege Listen mit Berufen an. Ich mache ausufernde Mindmaps, für die ich Annas Zeichenpapier und Buntstifte missbrauche. Ich nehme eins von Jans Angelbleien, hänge es an eine Angelschnur und pendle. Ich google im Internet, wie man pendelt und versuche es dann nochmal. Ich lese in Cool Career for Dummies, das hier bei Anna im Bücheregal steht. Ich pendle über den Cool Careers Yellow Pages. Aber ich komme zu keinem Ergebnis. Ich denke, ich mache es jetzt mal ganz praktisch. Ich gucke mir an, womit die anderen um mich herum ihr Geld verdienen und vielleicht ist ja dann was für mich dabei.

Anna lebt von Übersetzen und Dolmetschen. Das könnte ich natürlich auch versuchen, aber ich weiß auch, es ist nicht einfach, da in meinem Alter völlig neu reinzukommen. Und ich weiß von Anna auch, dass man ein Spezialgebiet braucht, eigentlich, und das habe ich natürlich nicht. Und ich weiß auch, dass es für Anna nicht immer einfach ist, genügend Aufträge zu finden.

Paul macht auch Übersetzungen, aber er unterrichtet außerdem noch Deutsch und Englisch und Französisch und er arbeitet nebenher als Statist bei Filmaufnahmen und als Stadtführer für Vancouver, um über die Runden zu kommen.

Alan produziert Filme für Erwachsene und Clara schreibt Kitschromane. Jorges Mutter hat die Rente von ihrem verstorbenen Mann und diese Rente ist erstaunlich hoch, weil der Mann Beamter war. Carl wurstelt auf seiner historischen Farm rum und man weiß nicht so genau, wovon er eigentlich lebt. Jeff stellt Webseiten auf und bekommt das gut bezahlt. April ist Lehrerin hier im Dorf. Jorge ist Professor für Romanistik. Miguel Moreira hat Geld geerbt. Und Architekt ist er noch obendrauf. Er muss nicht arbeiten und hat einen Beruf, den er liebt. Das ist natürlich die schönste Variante.

Aber ich habe kein Erbe, keine Rente, kann keine Webseiten aufstellen, bin keine Lehrerin, keine Dozentin, habe nicht Architektur oder was anderes Nützliches studiert oder gelernt und kann auch keine Filme produzieren oder Kitschromane schreiben.

Hilft mir diese Liste also jetzt irgendwie weiter?

Nicht die Bohne. Im Gegenteil. Sie deprimiert mich. Sie zeigt mir, was ich schon vorher geahnt habe: Alle anderen schaffen es irgendwie und nur ich bin zu doof.

Ich schreibe eine Mail an Clara und Anna und frage sie, ob sie vielleicht eine Idee haben, was ich machen könnte, aber es kommt keine Reaktion und bestätigt damit, was ich auch schon geahnt habe. Sie wissen auch nicht, was ich machen kann. Was habe ich mir damals nur dabei gedacht, als ich anfing Romanistik zu studieren?

 

Das Ergebnis meiner bisherigen Überlegungen sieht also so aus.

Berufe, von denen ich in letzter Zeit gehört habe (abgesehen von den oben genannten) und von denen andere anscheinend leben können, für die ich aber auch nicht geeignet bin:

 

Stand-up Comedian wie der Freund von Clara und Alan (das könnte ich einfach nicht, mir fällt ja schon im Gespräch oft nicht die richtige Antwort ein, erst später, wenn ich zu Hause bin, da macht es endlich klick)

Schauspieler in einem von Alans Filmen (Nicht, dass es zur Debatte stünde, ich bin ja viel zu alt)

Kurierfahrer auf The Road

Schauspieler überhaupt, denn a) kann ich mich nicht gut verstellen, b) bin ich zu schüchtern und c) habe ich vermutlich auch gar kein Talent

 

Berufe, von denen ich in letzter Zeit gehört habe, für die ich geeignet bin:

 

Keiner

Nicht ein einziger

Mist, Mist, Mist

 

***

 

Der Quilting-Workshop ist klasse. Wir sind in der Schule, April stellt mich vor. Sie sagt: Das ist Jasmin. Und die Frauen sagen praktisch im Chor: Hi Jasmin. Und April sagt: Das klingt ja wie bei den anonymen Alkoholikern, und alle lachen.

Janet rückt ein Stück zur Seite und ich darf mit Janet und April an einem Tisch sitzen. April drückt mir ein Paket in die Hand – das ist der Stoff, den sie für mich aus der Stadt mitgebracht hat. Ich mache das Paket auf und finde zwölf Stücke Stoff in sechs Farben und Mustern. Und ein großes Stück Stoff und die Wattierung. Und noch ein Stück für die Umrandung. Das große Stück ist grau gemustert und weich und wird die Rückseite werden. Die Wattierung kommt in die Mitte, also sandwich-mäßig zwischen Vorder- und Rückseite. Und die Vorderseite soll ich aus diesen zwölf anderen Stücken zusammensetzen. Es sind hübsche Farben, Baumwolle, alle so im Batikmuster, in grün und gelb und blau, mit hellem Muster. Ich lege die Stoffstücke nebeneinander und es sieht jetzt schon fast aus wie ein amerikanischer Quilt, obwohl ich doch noch gar nichts gemacht habe.

Janet zeigt mir, wie ich den Stoff verarbeiten muss. Zuerst schneide ich schmale Streifen, das geht einfacher als erwartet, weil man es nicht mit einer Schere schneidet, sondern mit einer Art Pizzaroller, nur in scharf. Dann werden die Streifen in Stücke geschnitten, in verschieden große Stücke. Dann wird alles zusammengenäht, in Quadrate nach einem bestimmten Muster, so dass es möglichst gut durcheinander ist und gleichzeitig passend aussieht. Außer mir und Janet und April sind noch fünf andere Frauen da. Jede macht einen anderen Quilt. Jede hat sich andere Farben ausgesucht, aber wir nähen alle das gleiche Muster: Hopscotch.

Mittags gibt es Pizza mit Elchfleisch und Janet sagt, sie findet Elchfleisch viel besser als Karibufleisch. Und Mary sagt, sie findet Karibufleisch besser. Ist schmackhafter. Und dann reden sie über Bärenfleisch. Wie Bärenfleisch schmeckt. Anscheinend nicht so gut. Von den acht Frauen wissen sieben Frauen, wie Bärenfleisch schmeckt. Die achte bin natürlich ich. Ich habe in meinem Leben bisher weder Bärenfleisch noch Karibu noch Elch gegessen. Und ich hätte auch nie gedacht, dass ich das mal probieren würde. Aber die Elchfleisch-Pizza ist echt lecker.

Die nächsten drei Tage verbringen wir praktisch in der Schule. Der Raum ist riesig, die Tische sind groß, es gibt Nähmaschinen und Bügeleisen, es gibt Kühlschränke und Mikrowellen und Herde und Geschirr. Wir nähen und kochen und essen und waschen ab und trinken Kaffee und lachen und erzählen Geschichten und plötzlich sind meine dreißig Quadrate fertig.

Janet und Mary legen sie mit mir nach der Hopscotch-Vorlage auf dem Tisch aus und wir schieben es ein bisschen hin und her, bis es so richtig gut aussieht. Im Sinne von die Farben gut verteilt. Nicht zu viel Blau in einer Ecke, sondern schön mit dem Grün und Gelb gemischt. Die Farben und Muster im Gleichgewicht. Die sechs verschiedenen Stoffe so verteilt, dass es ein schönes Gesamtbild ergibt. Und dann darf ich alles zusammennähen. Ich nähe und nähe und nähe. Es ist ziemlich lange her, dass ich zum letzten Mal genäht habe. Dabei habe ich eine Nähmaschine, eine ziemlich alte, alt im Sinne von Jahren, ansonsten praktisch neu, weil fast nie benutzt. Ein Geschenk von Jorges Mutter übrigens, als Nicole drei war und ich mit Tiago schwanger. Kam damals nicht so gut bei mir an, habe ich irgendwie als Aufforderung verstanden, als – wie soll ich sagen – als versteckte Kritik. Dass ich mehr tun soll im Haushalt. Besser für meine Familie sorgen. Häuslicher sein.

Mary fragt mich, ob ich die Jasmin Monteiro bin, die in Anna Schmidts Haus wohnt. Ich sage ja und Mary sagt, sie arbeitet auf der Post und da sind ein paar Briefe und die kann ich mir am Montag abholen.

Post. Irgendwie habe ich überhaupt nicht mit Post gerechnet. Wer soll mir schreiben? Ich maile mir doch mit allen, oder wir skypen, oder wir schicken Nachrichten auf Facebook. Wer soll mir schreiben? Wer hat überhaupt meine Adresse?

An die Quadrate kommt eine Borte. Meine Borte ist aprikosengelb und rahmt das Blau-Grün-Gelb super gut ein. Dann noch eine Reihe Quadrate außen dran. Und die Wattierung drunter und die Rückseite dran und die Umrandung drumrum.

Mir tun die Schultern weh, ganz besonders die linke. Ich merke meinen Rücken. Ich stehe zwischendurch auf, trinke einen Kaffee und esse einen von den Cherry Squares, die Mary mitgebracht hat, und bewundere die anderen Quilts. Jeder schön. Jeder auf seine Art. Jeder anders. obwohl wir doch alle das gleiche Muster verwenden. Ich finde, das hat was. Und Spaß macht es auch.

Am dritten Tag bin ich fast fertig, da passiert ein kleines Unglück, ich passe mit diesem scharfen Roller nicht auf und schon blutet der Zeigefinger. Aber wie. Aber richtig. April nimmt ein Stück Stoff, einen blau-gemusterten Batik-Rest, den keiner mehr braucht und macht mir einen Verband. Janet näht meine Umrandung fertig dran und dann sieht es doch in der Tat aus wie ein Quilt. Wie ein echter amerikanischer Quilt. Fehlt nur noch die End-Verarbeitung mit der Hand. Das mache ich irgendwann in Ruhe zu Hause.

Halt es hoch, sagt Janet. Ich halte das eine Ende hoch und Mary das andere und April macht ein Foto.

Abends bin ich fix und fertig und staune immer wieder über meinen Quilt. Ein echter amerikanischer Quilt. Sozusagen.

April mailt mir das Foto: Mary und ich halten den Quilt, darüber sieht man mein Gesicht (stolz), an der Seite meinen verbundenen Finger (sieht schlimmer aus, als es ist, zum Glück). Das stelle ich natürlich sofort auf Facebook. Stolz wie Oskar – Oskarine? Oskaline – na wie ein weiblicher Oskar eben.

 

Und am nächsten Morgen sind die Kommentare da. Deswegen stellt man das Foto ja auf Facebook, nicht wahr. Wegen der Kommentare. Um Lob einzuheimsen. Um Daumen hoch und Gefällt-mirs abzustauben.

Anna schreibt: Sieht echt super aus! Wäre das nicht was? Das kann man doch bestimmt verkaufen!

April schreibt: nice, nice, nice

Clara schreibt: That´s it! Absolutely. Go for it.

Jorge schreibt: Jasmin, ich bin vielleicht nicht immer der perfekte Ehemann gewesen und du kannst mir bestimmt einiges vorwerfen, aber ich habe dich und die Kinder immer anständig ernährt und ich werde das auch weiterhin tun. Dein Jorge.

Nicole schreibt: Da hat der Papa recht

Und ich glaube, es ist dieses dein Jorge, aber vielleicht ist es auch Nicoles da hat der Papa recht und plötzlich wird mir ganz weh ums Herz.

Und schon denke ich an Lissabon. Aber merkwürdigerweise nicht an unsere jetzige Wohnung in der Rua Francisco Metrass, sondern an unsere erste Wohnung in Lissabon. Auch in Campo de Ourique. Die Wohnung in der Rua do Patrocínio. Das war, ehe ich mit Nicole schwanger war. Es war ein heißer Sommer, aber das sind die Sommer in Lissabon ja eigentlich alle. Also es war Sommer und es war heiß. Jorge arbeitete schon an der Uni. Und ich habe unsere erste Wohnung eingerichtet. Die Wände neu gestrichen. Gardinen ausgesucht und aufgehängt. Die Küche ausgestattet. Es kam mir ein bisschen vor wie Puppenstube spielen. Und wir waren wirklich richtig glücklich.

Und deswegen gehe ich zur Telefonzelle und versuche Jorge anzurufen. Ich sehne mich plötzlich danach, seine Stimme zu hören. Jorge hat eine schöne Stimme, und wenn er portugiesisch spricht, klingt es sehr weich. Portugiesisch ist eigentlich eine ganz schöne Sprache, denke ich plötzlich und mir wird klar: Es ist Wochen her, dass ich portugiesisch gesprochen habe. Ich wähle unsere Nummer und da ist Jorges Stimme. Auf Deutsch und Portugiesisch.

Hier ist der Anrufbeantworter von Jorge Monteiro, ich bin im Moment nicht zu Hause, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.

Und mir wird ganz komisch. Mir wird klar – er hat meine alte Ansage gelöscht, er hat eine neue gesprochen und in dieser neuen komme ich nicht mehr vor. Das ist doch, das ist ... das ist. Ich weiß nicht, was das ist. Ich rufe bei Nicole an. Wir reden über dies und das und dann frage ich sie nach Jorge und Nicole sagt, der Papa ist im Alentejo. Ich frage: im Haus von Miguel? Und Nicole sagt, ja. Ich frage: alleine?

Nicole druckst ein bisschen rum und sagt dann: ja ja, alleine.

Das kommt mir aber doch ein bisschen komisch vor. Jorge ist alleine im Alentejo? In Deixa-o-Resto? Warum sollte er?

Ich rufe Anna an. Jetzt, wo ich hier schon mal in der Telefonzelle stehe. Diese Telefonkarte hat noch viele Minuten.

Anna freut sich total und sagt Sachen wie, mein Gott ist das schön, deine Stimme zu hören, und wie geht es dir und klasse Quilt und wie gefällt dir das Dorf und wer sind eigentlich Jeff und Carl, und wieso kennst du die, ich habe die noch nie getroffen. Und irgendwann frage ich: Sag mal, ist der Jorge eigentlich alleine in Deixa-o-Resto?

Die Anna wird es vermutlich wissen. Es ist schließlich das Ferienhaus von Miguel Moreira und Miguel Moreira ist der Mann, mit dem sie jetzt zusammen ist. Anna sagt erst nichts und ich denke schon, die Verbindung ist zusammengebrochen oder die Leitung plötzlich tot. Und dann sagt sie, er ist mit der Catarina da.

Und in diesem Moment wird mir klar: Unsere Ehe ist zu Ende. Meine Ehe mit Jorge ist zu Ende. Catarina ist nicht irgendeine Studentin. Catarina ist eine alte Freundin. Die Catarina ist nicht irgend so ein junges Ding, die Catarina ist eine attraktive dunkelhaarige Frau mit einer Topfigur. Eine Designerin mit Atelier im Bairro Alto. Eine Frau mit Kopf und Herz und Verstand und Seele. Die Catarina ist eine echte Gefahr für unsere Ehe.

Und dann denke ich: Was für eine Ehe? Ist das überhaupt noch eine Ehe?

Ich denke auch: Irgendwie war das früher auf dem Dorf einfacher. Man stritt sich und versöhnte sich. Und wenn man sich ganz doll stritt, zog man zurück zu den Eltern oder einer Tante. Dann traf man sich dreimal beim Bäcker. Beim ersten Mal nickte man sich nur zu. Beim zweiten Mal grüßte man. Beim dritten Mal sagte man irgendwas Unverbindliches wie: Na, wie gehts. Und dann gab´s an einem Wochenende einen Feuerwehrball und man trank ein paar Bier zuviel, tanzte zusammen und wachte am nächsten Morgen gemeinsam auf. Man wusste vielleicht nicht mehr so genau, was in der Nacht passiert war. Aber man wusste: alles ist wieder in Ordnung. Aber die Variante fällt für Jorge und mich weg. Schon weil wir uns in so verschiedenen Ecken der Welt rumtreiben, dass wir uns nie und nimmer irgendwo beim Bäcker begegnen können. Wenn wir uns treffen wollen, dann muss einer was dafür tun. Sogar ziemlich viel. Und danach sieht es im Moment nicht aus.

Ich bin an einem Ende der Welt und Jorge an einem anderen.

 

Ich gehe zur Post und Mary begrüßt mich wie eine alte Bekannte. So ein Quilting-Marathon mit Elch-Pizza und Cherry Squares, mit Chicken-Wraps und Brombeer-Crumble aus im Sommer gepflückten Brombeeren, mit marinierten Austern aus dem Inlet und Nanaimo Bars aus der Stadt – so ein Quilting-Marathon schweißt einen eben wirklich zusammen.

Mary drückt mir einen Stapel Post in die Hand. Ich sehe verblüfft auf die Briefe, den großen Umschlag und das Päckchen. Ich werde in den Cookshack gehen und mir das in aller Ruhe ansehen. Bei einer Tasse Kaffee. Mit Blick auf den Fjord und die Berge.

Ich habe übrigens mal gegoogelt, was Hopscotch ist. Unser Patchwork-Muster. Hopscotch ist ein Kinderspiel. In Deutschland bekannt unter Hickelkasten. Oder Himmel und Hölle. Man malt sich die Kästchen auf den Boden und dann hüpft man die Muster ab. Am Anfang ist die Erde, oben ist der Himmel. Dazwischen liegt die Hölle. Das gibt mir zu denken. Und wenn das ganze Leben Patchwork ist? Womöglich nach dem Hopscotch-Muster? In welchem Kästchen befinde ich mich dann??? Das ist die Frage.

Ich nehme den Stapel Briefe und lege ihn vor mir auf den Tisch. Ich fächere ihn auf. Womit soll ich anfangen?