VI

 

Johanna sah sich in ihrem Atelier um. Sie konnte stolz auf sich sein. An den Wänden hingen an Nylonfäden cremefarben gebeizte Regalbretter vor einer hellbeigen Wand, so dass die Bretter in der Luft zu schweben schienen und wie von Zauberhand gehalten wirkten. Die Wand, in der sich die Eingangstür befand, war in einem dunklen Weinrot gestrichen und sah fabelhaft aus. Eine schöne Balance zu den Hüten in den Regalen.

„Schon toll, was man aus so einer alten Ladenwohnung in Winterhude machen kann“, sagte eine Stimme. Johanna drehte sich um und sah Elly. Elly war Anfang neunzig und sah keinen Tag älter aus als fünfundachtzig, wie sie mit Genugtuung zu sagen pflegte. Elly war auch sonst gut beieinander, eine bodenständige Winterhuderin, für die schon ein Ausflug nach Eppendorf oder Altona eine Reise in eine andere Welt bedeutete.

„Gefällt es dir?”, fragte Johanna.

„Ob es mir gefällt? Ach Kind – das ist wunderbar. Du bist eine wirkliche Künstlerin“, sagte Elly und Johanna spürte, wie gut ihr das Kompliment tat. Elly war so ganz anders als Johannas Mutter. Johannas Mutter hatte sie nie gelobt. Johannas Mutter hatte sich ihr Leben lang beklagt und nie konnte man es ihr recht machen. Und wenn sie je stolz auf Johanna gewesen war, so hatte sie es jedenfalls gut zu verbergen gewusst.

Johanna sah die Hüte an. Die Hüte saßen auf Köpfen aus Styropor, die sie an einem Glückstag in einem Friseurgeschäft entdeckt hatte, wo der Besitzer seinen Laden aufgab, weil er sich einfach nicht mehr lohnte. Jetzt trugen die gesichterlosen Köpfe Johannas Kreationen. Hüte aus Filz in so wunderbaren Farben wie Aubergine und Mauve, Petrol und Moos, Sand und Zinnober. Und schwarz, natürlich. Schwarz war immer noch der Klassiker. Johanna formte die Hüte und verzierte sie. Mit Bändern und Blumen, mit Anstecknadeln und Broschen, mit Federn und Tüll. Sie nahm einen sattlila Hut mit rotem Band und einem kleinen Blütengesteck in die Hand und gab ihn Elly.

„Ein Traum“, seufzte Elly und drehte den Hut in der Hand. „Ein Traum.“

Johanna wusste, dass Elly als Fischverkäuferin auf den Hamburger Wochenmärkten gut klar gekommen war, aber sie ahnte auch, dass Elly nie in ihrem Leben auch nur daran gedacht hatte, so einen Hut zu besitzen.

„Setz ihn auf.“

„Nein“, wehrte Elly ab. „Das kann ich nicht, der ist viel zu gut für mich.“

„Ach Elly“, sagte Johanna und setzte Elly den Hut einfach auf den Kopf und aus Elly der Marktfrau wurde im gleichen Moment eine Art Lady Elly.

„Er gehört dir.“

Elly nahm sofort den Hut wieder ab und gab ihn Johanna.

„Das kann ich nicht annehmen“, sagte Elly. „Der ist doch viel zu teuer.“

„Doch du kannst“, sagte Johanna. „Ohne dich würde es diesen Hut ja gar nicht geben.“

„Aber ich habe doch nichts an diesem Hut gemacht“, wunderte sich Elly.

„Oh doch“, sagte Johanna. „Oh doch. Du hast mir immer wieder Mut gemacht. Ohne dich hätte ich hier doch längst aufgegeben. Weißt du noch, der Tag, als der Maler nicht gekommen ist? Ich war kurz davor alles hinzuschmeißen und wieder nach Bad Bramstedt zurückzugehen. Und du hast Willy angerufen und der hat das hier ratzfatz gemalt. “

Elly setzte den Hut wieder auf und sah in den Spiegel.

„Wennste meinst“, sagte Elly etwas unsicher und sah weiter in den Spiegel. Der lila Hut passte perfekt zu ihren grauen Haaren und ihren grauen Augen.

„Und er steht dir so gut“, sagte Johanna.

„Keinen Tag über fünfundachtzig?“, fragte Elly.

„Wie Anfang achtzig“, sagte Johanna. „Wie Anfang achtzig.“

Als Elly wieder gegangen war, schenkte Johanna sich einen Kaffee ein und setzte sich hinter den alten Tisch aus Mahagoni. Auch ein Glücksfall. Der alte Tisch hatte eingestaubt einfach im Laden gestanden und Johanna hatte ihn abgewischt und zum Vorschein war dieses wunderbare Möbelstück gekommen. Ein antiker Tisch, der ihr nun als Ladentheke und Sekretär diente.

Überhaupt war der ganze Laden ein Glücksfall. Ein schöner Verkaufsraum mit Fenstern zur Straße hin, ein kleinerer Raum als Atelier direkt hinter dem Verkaufsraum. Und dazu noch ein Zimmer und ein Bad, wo sie wohnen konnte. Jedenfalls fürs erste. Und alles zusammen für eine absolut akzeptable Miete. Ein wirklicher Glücksfall.

Allerdings ein Glücksfall mit einem Wermutstropfen. Ein Glücksfall mit Preis. Der Preis oder Wermutstropfen wog achtzig Kilo und hieß Peter. Ein Brummbär von einem Mann, der in der Ladenwohnung nebenan wohnte und Johanna nervte, wo er nur konnte. Peter war Bootsbauer, lief grundsätzlich nur in Arbeitsklamotten rum, war unfreundlich und hörte laut Musik. Nicht irgendwelche Musik, sondern Rock und Heavy Metall, Musik, die Johannas Klassik im Hutladen übertönte und ihre Kunden vertreiben würde. Und es war ja nicht nur die Musik, er sägte, er hämmerte, er hobelte.

Johanna hatte versucht, sich zu beschweren, aber dieser Peter hatte nur gesagt, er wäre eben Bootsbauer und er würde die Boote aus Holz bauen und dafür brauchte man Hobel und Sägen, und er würde ihr, Johanna, ja auch keine Vorschriften darüber machen, wie sie ihre Hüte zu nähen hatte und welche Arbeitsgeräte sie benutzen sollte.

Das einzig Gute war, dass dieser Peter unregelmäßig arbeitete und viel unterwegs war, wo auch immer er sich rumtrieb, wahrscheinlich in den Kneipen von Winterhude. Und dann kam er spät nach Hause, wenn Johanna längst im Bett lag und zu schlafen versuchte und stellte diese laute Musik an.

Am Samstag war die Eröffnung.

Johanna überlegte, ob es wohl Sinn machen würde, nochmal mit dem Brummbär zu reden. Vermutlich war es sinnlos. Aber sie musste es versuchen. Sie hatte wirklich viel Arbeit in diese Eröffnung gesteckt. Nicht nur war der Laden perfekt, im Gegensatz zu ihrer Wohnung übrigens, sondern sie hatte auch einen richtigen schicken Empfang geplant. Eine Art Hut-Vernissage. Mit allem Drum und Dran.

In der Wohnung stand bis jetzt nur ein Bett, der Rest waren fünf Kisten und drei Koffer, Johannas ganze Habe. Es gab nicht mal eine richtige Küche, sondern nur so eine Art Wintergarten mit Kochstelle und Kühlschrank. Aber wenn ihr Laden erstmal laufen würde, dann würde sie es sich schon schön machen.

Erstmal ging der Laden vor. Johanna hatte Flyer im Stadtteil verteilt und eine Anzeige in der Stadtteilzeitung aufgegeben. Es war nicht einfach, mit so wenig Geld ein Atelier aufzubauen, aber Johanna hatte ihr Bestes gegeben. Sie hatte Annett aus dem dritten Stock überredet, ihr ein paar Platten mit Schnittchen zu machen, im Austausch für einen wirklich schönen rostroten Filzhut mit grünen aufgestickten Blättern. Sie hatte mit dem Weinhändler um die Ecke geredet und er hatte sich bereit erklärt, ihr erstens zehn Prozent Rabatt zu geben und zweitens nur die Flaschen abzurechnen, die sie auch öffnete. Elly hatte ihr Gläser und Teller gebracht und Johanna hatte günstig in einem Billigladen einigermaßen hübsche Servietten aufgetrieben. Es konnte losgehen.

Alle hatten sie für verrückt erklärt, dass sie ausgerechnet Hutmacherin werden wollte. Was für ein altmodischer Beruf. Wie unmodern. Wie unbedacht, einen Beruf zu lernen, der sowieso bald aussterben würde.

 

Natürlich weiß ich auch, wie das jetzt ausgehen wird.

Johanna wird sich bestimmt in diesen Brummbär von Peter verlieben und unter seiner rauen Schale steckt ein total netter Kerl, der Johanna lieben und beschützen wird. Aber auch hier wie so oft im Leben und wie von so vielen Leuten immer wieder betont, obwohl sie sich selber nicht die Bohne dran halten, ist natürlich der Weg das Ziel. Und der Brummbär wird ihr helfen, diesen Daddy aufzutreiben, der sich ein Leben lang nicht um Johanna gekümmert hat, und es wird sich herausstellen, dass Papa gar nichts dafür konnte, weil er ja gar nichts von ihr wusste.

Und am Ende wird es Friede-Freude-Eierkuchen sein und sie werden schön in einem Restaurant am Hafen sitzen, der Papa und der Brummbär und Johanna und Elly, und edel essen und danach in der Hafenbar einen Cocktail trinken. Einen Tequila Sunrise. Im Tower. Mit Blick über ein dunkles, aber beleuchtetes Hamburg. Ach ja.

 

Johanna dekorierte einen moosgrünen Hut mit schwarzem Tüll und suchte in den Anstecknadeln nach einer passenden Hutnadel. Sie nahm die Nadeln in die Hand und sah sie versonnen an. Silber oder gold? Verziert oder schlicht? Wusste ihr Vater von ihr oder nicht? Wenn er nicht von ihr gewusst hatte, konnte man ihm schlecht vorwerfen, dass er sich nicht um sie gekümmert hatte.

Aber wenn er von ihr gewusst hatte, warum hatte er sich dann nicht um sie gekümmert? Johanna seufzte und nahm die silberne Hutnadel und steckte sie in das Ripsband am Hut. Allerdings, wenn er doch von ihr gewusst hatte und sich nicht gekümmert hatte, dann war das, dann war das eine ...

In diesem Moment ging das Telefon und Johanna steckte die beiden anderen Hutnadeln einfach in ihre Weste und ging zum Tisch vorne im Laden. Sie nahm den Hörer ab. Wer rief um diese Zeit noch an?