IX

 

Die Rückfahrt kommt schneller als erwartet, nämlich noch am gleichen Tag, weil der Jeep vor dem Inn steht, als wir vom Pier zurückkommen. Der Abschleppwagen hat ihn vor dem Inn abgestellt und wider Erwarten ist der Jeep sogar in Ordnung, er hat den Rutsch in den Graben ohne Schäden überstanden. Wie wir ja auch. Nur den Aufenthalt in der Stadt, den haben wir nicht so gut überstanden. Die Rückfahrt verläuft äußerst schweigend. Jeff fährt, Carl sitzt vorne, April und ich sitzen auf der Rückbank. Wir haben alle unsere Einkäufe gemacht. Wir sind erschöpft, geschafft und enttäuscht. Valentinstag ist doppelt vorbei und niemand von uns hat wirklich was davon gehabt, um es mal so zu sagen.

Auf der Rückfahrt hänge ich meinen Gedanken nach, während wir durch eine immer noch weiße Landschaft fahren. Vorbei am Campbell Lake und am Upper Campbell Lake, vorbei an der Lodge, wo Jeff und Carl Hilfe geholt haben. Wir halten kurz am Rastplatz vom Strathcona Park, wo der große Elch aus Holz steht und wir alle pinkeln gehen, weil hier Klohäuschen in der Wildnis stehen, und das macht das Pinkeln einfacher, jedenfalls für die Frauen. Dann geht es schweigend weiter.

Nach einer Weile schiebt Jeff eine CD in den Player und Patsy Cline bricht das Schweigen mit alten Country-Songs. Weiß nicht, ob das jetzt besser ist. Doch, vielleicht. Doch ist besser. Patsy Cline singt He is walking away ... tja, das ist jetzt hier nicht möglich, für keinen von uns, wir sitzen hier zusammen, nicht im gleichen Boot, aber im gleichen Jeep und das noch für eine ganze Weile. Zum Glück ist der Highway geräumt und wir kommen wenigstens gut voran.

Und das war unser restlicher Tag in Campbell River:

April und Jeff haben den ganzen Tag nicht mehr miteinander geredet. Carl und ich waren vorsichtig miteinander. Wir waren nie alleine, weil wir den ganzen Tag zu viert durch die Gegend gezogen sind wegen April und Jeff, die kein Interesse daran hatten, miteinander alleine zu sein und dass jeder einfach alleine seine Einkäufe macht, das hat sich irgendwie auch nicht ergeben.

Und so kaufen wir alle gleichzeitig erst bei Thrifty Foods und dann bei Superstore ein. Gehen gemeinsam zu Canadian Tire, weil man ja immer irgendwelche Kleinigkeiten fürs Haus oder fürs Auto braucht, eine neue Fußmatte, Nägel, Schrauben, Wischerflüssigkeit oder Öl. Dann alle zu Staples. Jeff braucht Tinte für seinen Drucker, April kauft einen Stapel Lineale für ein neues Projekt mit den Kids in der Schule, und ich kaufe mir ein hübsches Journal und einen Satz schwarze Stifte und vielleicht, wenn ich da meine Gedanken aufschreibe, Tag für Tag für Tag, stoße ich doch noch auf einen Beruf, der zu mir passt und mich ernährt. Dann wird getankt und es geht ab nach Hause.

Wir teilen den Sprit, ohne dass Jeff was sagen muss. Wir teilen durch drei, denn Jeff hat ja schon das Auto, das wir hier alle gemeinsam abnutzen. Jeff nimmt das Geld ohne die Miene zu verziehen oder sich zu bedanken. Er und April reden immer noch nicht miteinander.

Um Mitternacht stehe ich völlig erledigt und von oben bis unten mit Plastiktüten beladen wieder vor meinem blauen Flusshaus.

Und Delfine haben wir übrigens auch nicht gesehen.

Am Ende von The Road dann doch ein kleiner Lichtblick – als Carl aussteigt, als erster, weil seine Farm ja vor dem Dorf liegt, und sich von uns verabschiedet, flüstert er mir schnell noch was ins Ohr. Und ich spiele den Satz immer wieder in meinem Kopf ab (Modell LP mit Sprung, genauso out wie die Schreibmaschine in Annas Link, übrigens). Ich spiele den Satz ab, es ist immer wieder der gleiche Satz. Ich versuche, da nicht zu viel rein zu interpretieren und kann doch nicht widerstehen. Der Satz lautet: Hast du Lust, morgen Abend zu mir auf die Farm zum Essen kommen, sagen wir so gegen acht?

Ein Satz, der mal so für sich, so ohne Kontext, ein eher bedeutungsloser Satz ist. Aber wenn man ihn in Zusammenhänge bringt, wenn man bedenkt, wie die letzten vierundzwanzig Stunden ausgesehen haben, wenn man an die Szene im Zimmer im Motel denkt, kurz ehe April an die Tür klopfte, und an die Spannung zwischen uns und an den Fast-Kuss auf dem Pier, dann ist der Satz doch vielversprechend, finde ich. Er verspricht im Grunde sehr viel mehr als nur eine nette Mahlzeit, oder etwa nicht?

Der Satz kann bedeuten: Ich möchte dich unbedingt wiedersehen und zwar so schnell wie möglich, nämlich gleich morgen. Er kann bedeuten: Ich werde dir was ganz besonders Schönes kochen, denn ich habe in der Stadt gut eingekauft, die ganzen leckeren Sachen, der Lachs, der Blätterteig, die frischen Kräuter, die ich bei Thrifty Foods gekauft habe, die sind nämlich für dich, Jasmin, und du weißt, ich kann gut kochen, und du weißt, ich bin ein guter Gastgeber und ein guter Gastgeber werde ich sein. In jeder Beziehung. Er kann bedeuten: Ich finde dich total nett und ich will sehr viel mehr von dir, als nur zusammen essen.

Und so weiter und so fort und so weiter und so fort und so weiter und so fort. Eine LP mit Sprung.

Ich flüstere Carl eine kurze Antwort ins Ohr. Eine einfache kurze Antwort. Ein schlichtes Ja. Das natürlich in Wirklichkeit ein ja, ja ich will, ja ist.

Und während ich die ganzen Einkäufe aus den Plastiktüten befreie und in Schrank, Regal und Kühlschrank verteile, wird mir klar, dass ich einen ganz entscheidenden Einkauf vergessen habe. Vergessen ist das falsche Wort. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich dieses Etwas brauchen würde. Etwas, das ich morgen vielleicht brauche. Hoffentlich brauchen werde. Etwas, das man hier im Dorf nicht kaufen kann. Etwas, das man nur in der Stadt bekommt. Ich kenne allerdings jemanden, der es hat und nicht braucht. Und zwar Jeff.

 

Ich sitze am Vormittag zum Aufwachen mit einem Becher Milchkaffee an meinem Computer und sehe auf den Fluss. Der Fluss ist heute wieder opaque-grün. Der Himmel ist blau. Rugged Mountain ist dick mit Schnee bedeckt.

Die Augen noch fast zu, mache ich als erstes den Laptop auf und an und gucke die Neuigkeiten auf Facebook: Joana Almeida ist jetzt mit Jasmin Monteiro, Jorge Monteiro, Nicole Monteiro, Tiago Monteiro, Carlota da Silva, Maria Teresa Candeias Monteiro und drei weiteren Personen befreundet.

Einträge an der Pinnwand:

Anna: es tut mir leid, wir dachten wirklich, es wäre so das Beste ... sorry sorry sorry – bjs Anna

Clara: tut mir leid, tut mir wirklich leid, aber vielleicht musste es so sein, vielleicht bist du mit der Joana schon aus der Vergangenheit verbunden, wer weiß, was dahinter steht, komm nach LA, ich kenne hier eine super Heilerin, die macht mit dir eine Rückführung und du wirst sehen: alles hat seinen Sinn – c u hoffentlich!!! bald - Clara

Die Prinzessin: ich hätte gerne mehr Geschwister, ich finde so eine große Familie total cool Love Lena

 

Auf dem Weg zum Cookshack an der Post vorbei. Keine Post. Dann einen Kaffee bei Kathleen. Dann Mut zusammengenommen und auf zu Jeff.

Ich klingle und Jeff öffnet. Er sieht mich unwillig an, er ist wieder ganz der Jeff vom Anfang, verschlossen und mürrisch.

„Is was?“, fragt Jeff.

„Ich würde dir gerne die, äh, also die Schachtel mit den – tja äh – die Schachtel mit den Präsern abkaufen“, sage ich.

Jeff sieht mich weiter an.

„Abkaufen?“, sagt Jeff. „Und zu welchem Preis?“

„Ich weiß nicht, was kosten sie denn?“, frage ich.

„Wie viel sind sie dir denn wert?“, fragt Jeff.

„Was haben sie denn gekostet?“, sage ich.

Was ist das hier? Eine live e-bay-Auktion, oder was. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal am Ende der Welt mit einem Knauser um eine Schachtel Präser schachere. Jeez Louise.

„Tja“, sagt Jeff. „Bis in die Stadt sind es hundertfünfundfünfzig Kilometer. Ein Weg. Macht hin und zurück dreihundertirgendwas. Das ist viel Sprit. Öl nicht mitgerechnet. Und von der Zeit mal ganz abgesehen.“

Was soll das denn heißen? Bedeutet das, Jeff will den Einkaufspreis plus den ganzen Spritpreis? Das ist doch total albern. Der kann mich mal.

„Du kannst mich mal“, sage ich.

„Na dann“, sagt Jeff und macht mir die Tür vor der Nase zu.

Hallo die Enten.

Und jetzt?

Auf nach Gold River. Das sind nur fünfundsechzig Kilometer. Nur im Sinne von im Vergleich zu hundertfünfundfünfzig bis in die große Stadt. Das gibt mir die Gelegenheit, endlich mal selber über The Road zu fahren, was ich ja bisher noch nie getan habe. Vielleicht wird es mal Zeit. Vielleicht ist die ganze Sache dafür gut. Ich nehme Annas Van und fahre nach Gold River und hoffe, dass es da auch das gibt, was ich brauche.

Es ist eine erstaunlich schöne Fahrt.

The Road ist frisch geschoben vom Grader, der hier Tag und Nacht die Straße in Schuss hält. Rechts und links ist Postkarten-Landschaft vom Feinsten. Links die hohen Berge. Rechts der Perry Lake und der Malaspina Lake. Links die Three Sisters Wasserfälle, die allerdings oft nur zwei Sisters sind, weil die dritte Schwester zeitweise einfach verschwindet und niemand weiß, wohin.

The Road windet sich durch die Wildnis und ich bin alleine. Ungefähr in der Mitte sehe ich einen großen Hirsch. Er sieht eine Weile auf das Auto und verschwindet dann langsam im Wald. Ich mache mir klar: Das ist hier wirklich die Wildnis. The Road ist nur ein schmales Band, das zwei Kleckse Zivilisation miteinander verbindet. Hier gibt es ganz viel Leben in den Bergen. Bären, Bergpumas, Hirsche ...

Ich bin froh, dass ich in Annas dunkelblauem Van sitze, er fühlt sich wie eine Schutzhülle an, eine Kapsel Zivilisation, die mich durch die Wildnis transportiert auf einer Umlaufbahn in Form von The Road. Die Farben sind wirklich toll. Grün in vielen Schattierungen. Das Grün der Tannen, der Farne, der Flechten. Von dunklem Moosgrün zu hellem Gelbgrün. Dazu das Strohgelb der Gräser und das Rostrot der Sträucher, nichts ist grell, alle Farben sind sanft, gedämpft, unaufdringlich. Dazu der weiße Schnee oben auf den Gipfeln. Postkarte pur.

Ich steige allerdings nicht aus und ich mache keine Fotos, denn da reiht sich Fotomotiv an Fotomotiv und wenn ich da erst anfange zu fotografieren, dann würde ich nie in Gold River ankommen und dann als Folge erst sonstwann zurückkommen, was natürlich nicht geht, weil ich ja zum Abendessen bei Carl sein will. Ein Abendessen, auf das ich mich wirklich freue. Der erste Abend seit langem, auf den ich mich so richtig freue. Einfach nur freue. Und das nicht nur, weil es mit Sicherheit ein super Essen wird, weil Carl ein guter Koch ist. Ein guter Koch und ein guter Gastgeber.

 

Gold River selber ist klein, aber nett. Ein paar Cafés an einem zentralen Platz. Ein Supermarkt für Lebensmittel und Sachen wie Klopapier und Reinigungsmittel und dergleichen, und ein Shop, der eine Mischung aus Souvenirshop, Buchladen und Bastelgeschäft ist. Der Shop hat sogar Stoff zum Quilten. Sehr schönen Stoff. Super Auswahl. Ich kann nicht widerstehen und kaufe mir Stoff für einen neuen Quilt, einen Quilt für das Doppelbett unten im Basement, in den Farben Rostrot, Strohgelb und Moosgrün, für einen Quilt in den Farben von The Road. Schließlich habe ich Quilten gelernt und will es nicht gleich wieder verlernen und Spaß macht es ja auch und mein erster Quilt ist schließlich super geworden, da wird dieser es womöglich auch.

Außerdem kaufe ich ein ovales Glasbild, eine bunte Blume, sieht sehr schön aus, die kann ich mir an das Fenster hängen, wo der Schreibtisch steht. Ich blättere ein paar Bücher durch und kaufe auch noch ein Buch über Art Quilts und ein Buch mit einem Bericht von einem Weißen, der von den Indianern hier in der Gegend als Sklave gehalten wurde. Was es aber auch alles gibt. (Oder gab – denn das ist ja schon sehr lange her, glücklicherweise).

Endlich finde ich auch einen Drogeriemarkt und da bekomme ich dann auch, was ich eigentlich suche, und weswegen ich ja den weiten Weg hierher gefahren bin. Ich trinke einen großen Milchkaffee im Downtown Café, ich tanke den Van wieder voll, ich kaufe mir an der Tankstelle eine Zeitschrift, die zwar schon ein halbes Jahr alt ist, aber deren Tipps trotzdem interessant klingen, und dann geht es wieder zurück ans Ende der Welt, wo Carl auf mich wartet. Wo Carl mit einem Abendessen und wer weiß was noch auf mich wartet ...

 

In der Tat werde ich sogar schon zu Hause erwartet.

Allerdings nicht von Carl. Sondern von Dona Maria Teresa Candeias Monteiro aka meine Schwiegermutter. Mit ihrer jungen Reisebegleiterin Joana. Sie sitzen in der Garage auf ihren Koffern und sind in eine angeregte Unterhaltung vertieft.

Da fragt man sich doch wirklich. Also echt.

Wie ist das möglich, ich wohne hier am Ende der Welt, das ist hier wirklich weit weg. Richtig abgelegen. Wie oft habe ich in Lissabon in meiner Wohnung gesessen und mir Besuch gewünscht, am Fenster gestanden und nach draußen gesehen und mir Gesellschaft gewünscht und niemand kam vorbei. Und jetzt das hier. Der völlig unerwünschte Besuch zum völlig unpassenden Zeitpunkt.

Mein Abend-Date mit Carl kann ich jetzt natürlich knicken. Jetzt habe ich die Präser, aber jetzt kann ich hier nicht mehr weg, irgendwie, weil ja dieser Besuch da ist. Denn wie soll ich das meiner Schwiegermutter erklären. Ich könnte lügen, aber es würde sich blöde anfühlen. Die Anwesenheit der Schwiegermutter macht alles kompliziert. Sowas aber auch. Warum ist das Schicksal manchmal so gemein zu mir? Warum? Warum, warum, warum ... Ich verstehe das nicht. Ich bemühe mich doch, finde ich, immer nett und korrekt zu sein, mich wohl zu verhalten und alles richtig zu machen.

Und wenn schon Besuch, warum dann nicht einen Besuch, den ich mir aussuche, den ich gerne im Haus habe. Von dem ich was habe. Mit dem ich gerne zusammen bin. Warum ausgerechnet die Schwiegermutter? Meine Schwiegermutter, die normalerweise nicht mal für einen spontanen Besuch im Café Nicola zu haben ist. Meine Schwiegermutter, die selbst in ihrem Alter noch einen Terminkalender hat und sich auch daran hält (Ordnung ist das halbe Leben, wie sie zu sagen pflegt). Diese Schwiegermutter sitzt unangekündigt hier am Ende der Welt vor der Tür. In meiner Garage. Auf ihrem Koffer.

Und dazu auch noch die uneheliche Tochter meines Mannes. Ein Mädchen, von dem ich doch im Grunde möchte, dass sie nicht existiert, jetzt mal ganz ehrlich. (Ist nicht persönlich gemeint, Joana.)

Aber wen würde ich als Besuch wollen? Auch schwer zu sagen, im Moment, in der Tat. Normalerweise freue ich mich ja immer über Anna und Clara, aber mit denen rede ich im Moment nicht.

„Na, wie sieht´s aus, dürfen wir eintreten?“, sagt meine Schwiegermutter und ich schließe auf und schlagartig wird mir klar, was mir vorher gar nicht so richtig aufgefallen ist.

Das Haus ist total unaufgeräumt. Schon weil ich ja heute den ganzen Tag unterwegs war. Und gestern auch. Und vorgestern auch. Und die Tage davor, na ja, da hatte ich nicht so recht die Lust und letzten Endes kam es ja auch nicht drauf an, und wen stört schon so ein bisschen Unordnung in Form von Geschirr in der Spüle, in der Wohnung verteilten Kleidern, aufgeschlagenen Büchern auf dem Teppich und einem ungemachten Bett? Aber es gibt einen Menschen, der mich dafür jahrelang kritisiert hat. Und genau dieser Mensch steht jetzt hier bei mir in der Wohnung und sieht sich kritisch um.

Anna witzelt ja manchmal, dass sie an kosmische Buchführung glaubt. Kosmische Buchführung bedeutet, dass man das, was man an einer Stelle gibt, an einer anderen zurückkommt. Als besonders gelungenes Beispiel erzählt sie immer die Geschichte von dem Fernseher, der hier im Basement steht und von dem ich im Moment auch profitiere, weil ich hier die schönen alten Filme von Es geschah in einer Nacht über Overboard bis Hellboy zwei sehe. Anna hat diesen Fernseher hier auf Vancouver Island nämlich per kosmischer Buchführung als Austausch für ihren Fernseher zu Hause in Monsanto in Portugal bekommen.

Also die Geschichte geht so, damit man´s auch versteht. So hat sie sie Clara und mir erzählt.

Eines Tages ging der Fernseher von Annas Nachbarin kaputt, Dona Ermelinda heißt sie, glaube ich, ja genau, so heißt sie. Und Anna hatte noch einen Fernseher im Keller, den sie nicht brauchte, weil Jan sich einen neuen Fernseher gekauft hatte. Und so hat sie den alten Fernseher Dona Ermelinda gegeben. Und noch am gleichen Tag haben ihr Steve und Chris hier im Ort – also in achttausend Kilometer Entfernung – diesen Fernseher hier ins Basement vom blauen Flusshaus gestellt, weil sie ihn nicht mehr brauchten. Das ist sowas wie Teleport ohne Teleport. Kosmische Buchführung vom Feinsten. Normalerweise geht es bei dieser kosmischen Buchführung natürlich meist um kleinere Dinge. Einen Kaffee, den man an einem Tag in einem Café einem Freund ausgibt und an einem anderen Tag in gleichen Café oder sogar in einem anderen Café von einem anderen Freund ausgegeben bekommt.

Anna erzählt diese kleinen Begebnisse immer mit einem kleinen feinen Lächeln und wir werden wohl nie herausbekommen, ob sie nun wirklich dran glaubt oder nicht. Jeff ist übrigens jemand, der sich der kosmischen Buchführung entzieht. Er spielt einfach nicht mit, sozusagen. Er zahlt seine Rechnung, und grundsätzlich nur seine und keinen halben Cent mehr, wie wir an diesem Wochenende gelernt haben. Aber vielleicht ist es auch kein Wunder, dass man jeden Glauben an irgendeine universelle Gerechtigkeit verliert, wenn man erlebt hat, was Jeff erlebt hat.

Und was ist mit mir?

Ganz ehrlich – die Tatsache, dass jetzt meine Schwiegermutter, die eigentlich achttausend Kilometer entfernt wohnt, hier durch meine unaufgeräumte Wohnung läuft, lässt mich an eine kosmische Kontrollinstanz glauben.

Die Jasmin Monteiro läuft Gefahr, sozial zu verwahrlosen? Da schicken wir doch die Schwiegermutter, damit die Wohnung mal wieder aufgeräumt wird. Und als Begleitung für die Schwiegermutter nehmen wir das Kuckuckskind. Was ja jetzt so nicht stimmt, weil das Kuckuckskind nicht bei mir aufgewachsen ist, sondern von meinem Mann in ein fremdes Nest gelegt ...

„Jasmin“, sagt Dona Teresa. „Ist alles in Ordnung?“

„Alles bestens“, sage ich. „Alles bestens.“

 

Ich setze die beiden ins Wohnzimmer und setze einen Tee auf. English Breakfast mit Honig. Ich mache einen kleinen Teller mit Keksen zurecht, Chocolate Chip Cookies und Haferkekse. Ich serviere den Tee und die Kekse und so sitzen wir im Wohnzimmer. Joana hat dunkle lange Haare, die sie offen trägt, sie ist jung und hübsch, die Brille ist modisch und peppig und passt perfekt zu ihren Augen, sie sieht aus wie ihre Mutter damals und sie macht einen netten Eindruck. Sie ist in Jeans, T-Shirt und Sweatshirt gekleidet, praktisch für die Reise, nix Auffälliges, bis auf eine abgefahrene Silberkette, ein echtes Designerstück. Meine Schwiegermutter sieht aus wie immer. Grau-blaue Dauerwelle, Goldschmuck, Schneiderkostüm. Aus rosa Bouclé. Mit goldenen Knöpfen. Dazu Pumps.

„Ich wollte ja Kekse mitbringen“, sagt meine Schwiegermutter. „Aber die Joana war dagegen. Wegen dem Zoll.“

Ich nicke.

„Aber ich sehe mal, dass ich die Zutaten hier im Dorf finde“, sagt Dona Teresa. „Und dann backe ich morgen.“

„Es gibt hier einen Supermarkt“, sage ich. „Gleich um die Ecke.“

„Nicht diese Zutaten“, sagt Maria Teresa. „Die anderen Zutaten. Und das hier ist übrigens die Joana.“

„Ich weiß“, sage ich. Und dann reiße ich mich zusammen und denke an meine Manieren und begrüße endlich das Mädchen.

„Ich hoffe, wir stören nicht“, sagt Joana.

Nicht stören? Aber hallo, die beiden stören total, endlich gab es mal einen Abend, auf den ich mich richtig gefreut habe, der erste Abend seit langem, der erste Abend, seit ich aus Lissabon weg bin, der erste Abend, wo ich das Gefühl habe, vielleicht fängt ein neues Leben an und da kommt die Vergangenheit in Form von diesen beiden Besuchern und vermasselt mir alles.

„Nein, überhaupt nicht“, sage ich.

„Hätt ja sein können“, sagt Dona Teresa. „So unangemeldet. Ist sonst eigentlich nicht meine Art. Ganz und gar nicht meine Art. Aber dann ist ja gut.“

Nichts ist gut.

„Wie seid ihr eigentlich hierher gekommen?“, frage ich.

Small Talk aus Verlegenheit und ein bisschen interessiert es mich auch, ich habe keinen Leihwagen vor der Tür stehen sehen und öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht.

„Wir sind getrampt“, sagt meine Schwiegermutter. „Mit dem Laster vom Supermarkt. Und ich soll dir ausrichten, dass sie jetzt wieder Pfefferminzshampoo haben.“

„Danke“, sage ich, obwohl ich Pfefferminzshampoo genauso wenig brauche wie diesen Besuch hier. Frage mich, wie der Besitzer auf die Idee kommt, dass ich dieses Shampoo will, es ist ja genau das Shampoo, das ich nicht will. Ich seufze. Irgendwie geht alles schief in meinem Leben.

„Ach Jasmin, Kind“, sagt die Schwiegermutter. „Tut mir alles leid, irgendwie.“

Und da fange ich doch in der Tat an zu schniefen. Ich fasse es nicht. Ach Mann.

„Kind, Kind, Kind“, sagt meine Schwiegermutter und sucht in ihrer unmodischen Handtasche nach einem Taschentuch. Sie drückt mir ein Stofftaschentuch in die Hand. Bestickt mit Monogramm MTCM. Vermutlich noch aus der Zeit von Es geschah in einer Nacht. Noch aus der Zeit vor Schreibmaschine und LP.

„Ist dir eigentlich klar, dass ich dich immer beneidet habe?“, sagt meine Schwiegermutter.

„Wirklich?“, sage ich. Beneidet? Worum kann sie mich denn beneidet haben.

„Als ihr damals in Lissabon angekommen seid, der Jorge und du“, sagt sie, „nach dieser langen Busfahrt. Ihr wart so ungewaschen und so unbeschwert. Ich habe euch beneidet. Du kennst ja Jorges Vater. Da musste immer alles korrekt sein. Jederzeit. Was habe ich euch beide beneidet!“

„Wirklich?“, sage ich ungläubig.

„Wir hatten damals doch gar keine Wahl“, sagt Maria Teresa. „Man machte, was die anderen von einem erwarteten und das war´s. Da hatte eure Generation es wirklich viel besser.“

„Ich finde hundertfünfundfünfzig Kilometer trampen ist ein guter Anfang“, sage ich.

„Ich war übrigens dagegen“, sagt Joana. „Ich wollte, dass wir einen Leihwagen nehmen.“

„Ich bin Anfang achtzig“, sagt meine Schwiegermutter. „Wie viele Reisen kann ich in meinem Alter wohl noch machen? Das wird meine letzte große Reise sein. Die vielen Stunden im Flugzeug, das lange Sitzen, da ist man ja hinterher ganz steif. Noch so eine Reise machen meine alten Knochen nicht mehr mit. Und da wollte ich doch wenigstens einmal in meinem Leben trampen.“

„Und dann gleich mit einem Gemüselaster“, sage ich.

Meine Schwiegermutter lächelt verschmitzt, öffnet ihre Handtasche und wühlt ein bisschen drin rum. Dann zieht sie eine Puderdose raus und pudert sich die Nase.

„Ich bin sehr froh, dass wir das gemacht haben“, sagt sie. „Sehr froh. Da fühlt man sich doch gleich zehn Jahre jünger, nicht wahr.“

Sie steckt die Puderdose wieder in ihre Handtasche und sieht sich in der Wohnung um. Ich seufze wieder und stähle mich innerlich für das, was jetzt kommt. Wahrscheinlich wird sie sagen, ich bin selber schuld, dass Jorge sein Glück außer Haus sucht, wenn es bei mir so aussieht, wie es bei mir zu Hause aussieht.

„Gemütlich hast du´s hier“, sagt Maria Teresa stattdessen. „Meinst du, wir könnten noch einen Tee kriegen? Vielleicht mit Schuss? Wenn wir schon keine ordentlichen Kekse haben. Nichts gegen diese Haferkekse, die sind schon lecker, aber du weißt, was ich meine.“

Ich mache also noch einen Tee und suche Flaschen mit Alkohol in den Regalen. Ich finde eine halbe Flasche Macieira (die müssen Jan und Anna aus Portugal mitgebracht haben), eine kleine Flasche Rum und eine große Flasche schönen alten Whiskey. Und eine Flasche Portwein, sogar einen LBV, auch nicht schlecht. Im Laufe des Abends verändert sich irgendwie automatisch die Zusammensetzung von Tee und Alkohol. Schon weil der Tee irgendwann fast alle ist und wir ein bisschen damit sparen müssen, weil keiner Lust hat in die Küche zu gehen und Wasser aufzusetzen. Schließlich trinken wir den Portwein pur und dann sind alle Flaschen alle. Zum Tee hören wir Joanas Geschichte.

Sie ist in der Tat die Tochter von dieser bebrillten Studentin namens Joana, die damals bei uns vor der Tür stand. Nach dem Besuch bei uns hat Joana-Mutter das Studium abgebrochen und ist nach New York gegangen. Dort hat sie nach wenigen Tagen einen erfolgreichen Juwelier kennengelernt und geheiratet, und so gesehen hatte die ganze Geschichte doch eine Art Happy End.

Der Juwelier ist Mutter Joana ein guter Ehemann gewesen und Tochter Joana ein guter Vater. Für ihn war Mutter Joana die Liebe seines Lebens. Vor fünf Jahren ist die Mutter an Krebs gestorben und hat Joana noch kurz vor ihrem Tod erzählt, dass der Juwelier gar nicht ihr richtiger Vater ist, und dass der richtige Vater in Lissabon wohnt. Nach dem Tod der Mutter hat sich Joana also auf den Weg nach Lissabon gemacht, und weil sie erst fünfzehn war, hat sie der Juwelier-Vater (der immer wusste, dass sie nicht seine biologische Tochter ist) sogar begleitet, und sie haben sich zusammen auf die Suche nach diesem Jorge Monteiro gemacht. Man sieht: dieser Juwelier-Vater ist ein richtig guter Vater, der für seine Kleine alles tut. Und die Kette am Hals ist nicht aus Silber, sondern aus Platin und ein Weihnachtsgeschenk vom Vater (vom Juwelier-Vater).

Sie haben Jorge gefunden und weil es Joana wichtig war, ihren wirklichen Vater besser kennenzulernen, haben sie und Jorge Kontakt gehalten. Sie haben gemailt und telefoniert, und einmal im Jahr ist Joana nach Lissabon gekommen und hat dort bei Catarina gewohnt (das Ganze nimmt das Ausmaß einer Verschwörung an, alle haben es gewusst, außer mir). Und einmal im Jahr ist Jorge nach New York geflogen.

Einmal im Jahr ist Jorge nach New York geflogen?

Das trifft mich jetzt wirklich. Aber so richtig. New York ist die Stadt, in die ich immer mal wollte. New York ist meine Traumreise. Von New York träume ich seit Jahren. Ich würde gerne die ganzen Orte aufsuchen, die man aus den Filmen kennt. Die Gegend aus E-Mail für dich mit dem Kinderbuchladen und dem Wochenmarkt. Ich würde mich – genau wie all die anderen Touristen – auf der Treppe von dem Haus mit dem Appartement von Carry Bradshaw aus Sex and the City fotografieren lassen und ich würde zu Nero Wolfes Haus in der fünfunddreißigsten Straße gehen, für ein paar Minuten die Augen schließen und mich in das New York von Nero Wolfe und Archie Goodwin versetzen. Ich würde wenigstens einmal in meinem Leben den Broadway entlang gehen. Aber Jorge hat immer gesagt, er hat an New York kein Interesse. Dabei ist er heimlich in New York gewesen, all die Jahre. Ohne mich. Und irgendwie trifft mich das jetzt fast mehr als die Seitensprünge.

„Aber was hatte er denn für eine Wahl?“, sagt Maria Teresa, als sie mein geschocktes Gesicht sieht.

„Er hätte es mir sagen können“, sage ich.

„Dann hättest du ihn verlassen“, sagt sie.

„So habe ich ihn auch verlassen“, sage ich.

„Aber erst fünf Jahre später“, sagt sie.

„Und ist das nun ein Vorteil?“, sage ich.

„Das musst du wissen“, sagt Maria Teresa, „das musst du wissen.“

Über all dem vergesse ich doch in der Tat Carl abzusagen. Als es mir einfällt, ist es zu spät. Carl hat da draußen kein Telefon, ich kann da nicht eben mal anrufen. Und Auto fahren kann ich nach dem ganzen Tee auch nicht mehr. Mir wird plötzlich klar, woher dieser Ausdruck Er hat einen im Tee kommt. In diesem Fall sie, also ich. Ich kann Carl nur morgen Bescheid sagen, vorbeifahren und Bescheid sagen. Er wird sauer auf mich sein, verletzt, enttäuscht, vermutlich, aber es gibt nichts, was ich jetzt tun kann.

Ich quartiere Joana im Gästezimmer oben ein und meine Schwiegermutter im großen Doppelbett im Gästezimmer im Basement, da kann sie unten das Bad benutzen, da kommen wir uns am wenigsten in die Quere.

Dann liege ich in meinem Bett, unter meinem neuen Quilt, dreißig von mir zusammengenähte Quadraten in wunderhübschen Farben, und versuche zu schlafen. Es dauert eine ganze Weile, bis ich endlich einschlafen kann, weil in meinem Kopf das gleiche Patchwork herrscht wie in dieser Decke, nur nicht so geordnet. Ich denke an Carl und mein wieder verpatztes Date. An Jorges Mutter, die hier plötzlich aufkreuzt. Und an Joana. Jorges Tochter. Und an den Juwelier, der so großzügig ein fremdes Kind großzieht, während ich schon Mühe habe, dem Mädel Tee und Kekse anzubieten, und an New York und dass ich da immer mal hinwollte, und dass Jorge da einfach ohne mich hingefahren ist und dadurch dann natürlich auch an Jorge, und wie es ihm wohl mit dieser ganzen Geschichte und überhaupt geht, oder gegangen ist, und warum er es mir nicht gesagt hat, und ob er es mir hätte sagen sollen oder nicht, und an Anna und Clara und Catarina, und dass sie es alle gewusst haben, alle, alle, alle haben es gewusst, nur ich nicht, und dann denke ich wieder an Carl und an das verpatzte Date und an die Schwiegermutter und ...

 

Ich laufe über eine Wiese, hinten sieht man Johns Farm, ich bin auf dem Weg zu Carl, meine Schwiegermutter und Joana sind an meiner Seite. Plötzlich sehe ich, dass die Wiese gar keine richtige Wiese ist, sondern ein Sumpf, ein modriger Sumpf, gelbes Gras, das unter Wasser steht. Wir durchqueren den Sumpf, wir bekommen nasse Füße. Plötzlich sehen wir: In diesem Sumpf liegen lauter schlafende Hunde. Schlafende Hunde in allen Farben und Größen. Wilde Hunde, die kein Zuhause haben und eingeringelt im Sumpf schlafen.

Als wir an den Hunden vorbeigehen, heben sie kurz ihre Schnauze und sehen uns aus verschlafenen Augen an. Plötzlich schnappt einer der Hunde nach mir, erwischt fast meine Wade und ich wache auf.

Das war ein Traum.

Ein so offensichtlicher Traum, dass es geradezu peinlich ist. Ich bin auf dem Weg zu Carl – in Begleitung meiner Schwiegermutter (!) und Joana – und muss dazu eine sumpfige Wiese mit schlafenden Hunden durchqueren, die wir nicht wecken dürfen.

Jeez Louise.

Das ist ja sowas von offensichtlich. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich endlich wieder einschlafen kann. Ich glaube, mein Herz schlägt ein bisschen zu schnell. Das macht bestimmt dieser Whiskey im Tee ... und den Traum werde ich nicht kommentieren ...