II

 

Als die Kinder klein waren, haben wir uns mal bei einer Wanderung im Monsanto Park verlaufen. Das ist dieser große Park in Lissabon, der eigentlich kein Park ist, sondern ein Wald. Mit Hügeln und Wildnis. Mit einem großen Campingplatz an einem Ende und vielen Wanderwegen kreuz und quer. Die Kinder liefen sowieso nicht gerne, sie hassten diese Sonntagsspaziergänge und waren daher gleich von Anfang an am Maulen. Und ich war auch geladen.

Ich hatte am Abend vorher herausgefunden, dass Jorge ein Verhältnis mit einer seiner Studentinnen hatte. Und zwar, weil diese Studentin, eine dunkelhaarige bebrillte Joana, bei uns vor der Tür stand und mich aufforderte, ihrem Glück nicht länger im Weg zu stehen.

Mit anderen Worten, wir hatten eine dramatische und schlaflose Nacht hinter uns und gingen mit den Kindern im Monsanto Park spazieren, um nicht zu Hause weiter zu streiten. Und weil keiner so richtig auf den Weg geachtet hat, haben wir uns gründlich verlaufen. Und dann bekam Nicole Durst und Tiago Hunger. Und Jorge sagte zu mir: Ich verstehe nicht, wieso du nichts mitgenommen hast, Brote, Äpfel, Bananen, irgendwas, wie kann man denn mit den Kindern das Haus verlassen und nichts mitnehmen.

Und ich habe daraufhin gesagt, du hättest ja auch was mitnehmen können. Und Jorge hat daraufhin gesagt, das ist nicht meine Aufgabe, das ist deine Aufgabe. Dein Job ist zu Hause, mein Job ist an der Uni. Und ich habe daraufhin gesagt, na was dein Job an der Uni ist, das haben wir ja gestern gesehen.

Und daraufhin haben wir nichts mehr gesagt. Schon wegen der Kinder. Nicole war sieben und Tiago vier. Oder wie es immer so schön heißt, Nicole war sieben und und wurde acht, und Tiago war vier und wurde fünf. Nicole hat gesagt, ich habe Hunger. Und Tiago hat gesagt, ich habe Durst. Und Jorge und ich haben gesagt, jetzt reißt euch mal zusammen, man kriegt im Leben nicht immer, was man will und besser, man lernt das so früh wie möglich.

Und daraufhin waren die Kinder doch wirklich ruhig und sind ohne zu Murren und Maulen gelaufen. Stundenlang. Und als wir später dann endlich im Café saßen und die Kinder an der Eistruhe standen, um sich ein Eis auszusuchen, hat Jorge gesagt, dass es ihm leid tut und dass ihm die Familie wichtig ist und dass er mich liebt und dass es nicht wieder vorkommen wird.

Und als die Kinder mit dem Eis am Tisch saßen, habe ich zu den beiden gesagt: Das habt ihr super durchgehalten, wie habt ihr das bloß geschafft? Und Nicole hat gesagt, ich habe mir einen Witz erzählt und dann gings. Und dann hat sie uns den Witz erzählt und der ging ungefähr so:

Eine Gruppe Ameisen greift einen Elefanten an. Sie entern den Elefanten und krabbeln bis oben auf seinen Kopf. Und da schüttelt sich der Elefant und sie fallen alle runter bis auf eine. Und nun stehen die anderen Ameisen alle unten und sehen auf die Ameise oben auf dem Elefanten und rufen: Halt durch, Emil.

Und Nicole sagt, das hat sie sich die ganze Zeit im Monsanto Park gesagt, immer wenn sie nicht mehr konnte: Halt durch, Emil, halt durch.

 

Und so geht es mir jetzt, als ich jetzt das Foto auf Facebook sehe. Gestern haben wir da nämlich lieber nicht mehr reingeguckt.

Wir haben uns alle gewaschen und geföhnt. Das heißt, Peppermint haben wir nur geföhnt, nicht gewaschen. Dann hat der Pudel sein Prozac gekriegt und Clara und ich heiße Schokolade mit ordentlich Rum und schön viel Marshmallows obendrauf, und dann haben wir im Basement den Ofen angemacht und tüchtig eingeheizt, bis der Raum so um die dreißig Grad hatte, und haben Overboard – ein Goldfisch fällt ins Wasser gesehen. Mit Goldie Hawn und Kurt Russel. Auch ein Klassiker. Auch ein Fall von Halt durch, Emil, übrigens. Und man darf das natürlich nicht mit den Augen einer Hausfrau betrachten, sondern man muss einfach diese schöne Liebesgeschichte sehen, als nettes Märchen, und ich bin mir sicher, die beiden leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage und schaffen damit, was wir im realen Leben ja anscheinend alle nicht so richtig schaffen.

Und heute Morgen haben wir dann den Computer angeschaltet und sind auf Facebook gegangen. Und yep. Da war das Foto.

Und Jeff hatte uns markiert, wie es so schön bei Facebook heißt. Jasmin Monteiro und Clara Claaßen wurden auf einem Foto von Jeffrey Thompson markiert. Das ist der Facebook-Euphemismus für bloßgestellt. Drei begossene Pudel. Und weil wir unsere Jacken ausgezogen hatten, und weil es so kalt war, und weil wir so nass waren, kann man auch so richtig viel sehen.

„Jeez Louise“, sage ich

„Das ist mein Spruch“, sagt Clara.

„Ich weiß“, sage ich.

Und da sind ja auch schon die Kommentare an unseren Pinnwänden und ein bisschen fragt man sich, wieso können sie das alle sehen, das ist doch eigentlich ein Foto von Jeff, oder?

Gucken wir also erstmal, was bei Clara so steht.

Anna schreibt: Wie ich sehe, habt ihr so richtig Spaß! Viva Vancouver Island, beijinhos Anna

Alan schreibt: Ich kann dich nicht orten – ist das Regenwald an der Westküste von Vancouver Island? Melde dich. Ich vermisse dich. Und was macht das Script? - A

Ich sage zu Clara: Was für ein Script? Und Clara druckst eine Weile rum und sagt dann, sie hat Alan versprochen, ihm bei seinem neuen Projekt zu helfen. Und ich sage: du schreibst einen, äh einen, also einen äh na, du weißt schon. Und Clara sagt: jeder braucht mal Abwechslung und das ist mal was Anderes.

Paul schreibt: Hi Clara – sag bloss, du bist auf Vancouver Island. Und was treibst du so, wenn du nicht gerade badest? Grüß mir die Bären Paul

Paul ist ein fast oder Ex-Liebhaber von Anna. Da gab es mal eine Schwärmerei, ganz besonders von Annas Seite, und verstehen kann man´s auch, wenn man Pauls Profil-Foto bei Facebook sieht, sieht schon gut aus, der Typ, aber ich denke, da sind jetzt alle drüber weg.

Die Prinzessin schreibt: cooles pic, cooler Pudel, c u Lena

Die Prinzessin heißt eigentlich Lena, ist fast vierzehn, Pauls Tochter und hat alle Bücher von Clara gelesen, als sie bei Anna zu Besuch war.

Alan schreibt: hab dich jetzt geortet. Was um Gottes Willen machst du denn da? Noch dazu mitten iim Winter??? - A

Und jetzt gehen wir zu meiner Pinnwand.

Anna schreibt: freut mich, dass es dir gefällt und du dich nicht langweilst – beijinhos Anna

Jorge schreibt: Jasmin, ich möchte dich daran erinnern, dass du immer noch meine Frau bist

Nicole hat mir eine Nachricht geschickt, als private Nachricht, nicht an die Pinnwand: Ach Mann Mama, das ist echt peinlich, muss das wirklich sein?

Tiago schreibt nichts.

Und April Green schickt mir einen Freundschaftsanfrage, sie hat also auch das Foto gesehen, sie ist mit Jeff befreundet, so wie wir ja alle mit Jeff befreundet sind, ohne mit ihm befreundet zu sein, wegen dem Straßenbericht für The Road, und nun macht sie sich wahrscheinlich Sorgen um ihre kleine Peppermint. Aber Peppermint gehts ja gut.

Mir jetzt nicht mehr ganz so. Ich sehe auf das Foto. Wie kommt es eigentlich, dass alle das sehen und kommentieren können? Das liegt bestimmt an diesen Einstellungen bei Facebook, aber wie kann man das ändern? Keine Ahnung.

Wenn wir wenigstens die Jacken angehabt hätten. Tja, Nicole hat da schon irgendwie recht. Peinlich. Das ist das richtige Wort. Peinlich.

Ich beschließe: dieses Foto muss da wieder weg. Und da gibt es nur eine Möglichkeit. Ich muss mit diesem doofen Jeff reden. Und ihn irgendwie dazu kriegen, dass er es da wieder rausnimmt.

 

Und deswegen stehe ich am Abend vor Jeffs Tür und klopfe, weil die Klingel kaputt ist. Jeff wohnt im anderen Teil des Dorfes, dem Teil, der merkwürdigerweise Downtown genannt wird, obwohl er eher höher liegt als der Teil, wo ich wohne. Ich wohne im Tal, da, wo der Fluss aus den Bergen kommt und ins Inlet fließt. Das Tal ist schmal, gerade mal zwei Straßen, die parallel laufen. Vorne am Inlet ist es etwas breiter, da gibt es eine Tankstelle und einen kleinen Baumarkt und einen Laden mit Café und noch einer Tankstelle (ja, der Laden, und Shampoo ist immer noch aus, weil der Laster immer noch kaputt ist, nicht zu fassen). Wenn man nach Downtown will, muss man über die Brücke fahren und ein Stück zwischen Felsen und Fjord entlang gehen oder fahren, und dann liegen links von der Straße die drei Marinas und rechts am Hügel die teuren Häuser mit Blick auf den Fjord. Außerdem ist in Downtown das Gesundheitszentrum, das Postamt, der Cookshack, wo ich immer Kaffee trinken gehe und der Pizza-Pub.

Jeffs Haus ist klein, aber gut in Schuss. Die Holzwände sind dunkelbraun gestrichen, die Tür ist dunkelrot. In der Garage ist Feuerholz gestapelt, ein Auto ist nicht zu sehen, womöglich ist er gar nicht zu Hause und ich stehe hier mit meiner Schüssel Frikadellen wie bestellt und nicht abgeholt.

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit einer Schüssel Frikadellen am Ende der Welt vor der Tür eines Mannes stehe, den ich a) nicht leiden kann und der mich b) auf Facebook bloßgestellt hat.

Ich will mich schon umdrehen, ich kann hier schließlich nicht ewig mit einer Schüssel Frikadellen rumstehen, denn die Bären sind zwar im Winterschlaf, aber die Pumas nicht, da geht die Tür auf und Jeff guckt mich an. Ich halte ihm die Schüssel hin und Jeff nimmt sie.

„Möchtest du reinkommen?“, fragt Jeff.

„Gerne“, sage ich.

Stimmt natürlich nicht wirklich, ist aber im Moment die korrekte Antwort, denn ich will ja was von Jeff und muss daher kleine Brötchen backen und gut Wetter machen.

Ich gehe hinter Jeff ins Haus. Das Erdgeschoss besteht im Grunde nur aus einem Wohnzimmer und der Küche. Vielleicht noch ein Badezimmer. Eine Treppe geht nach oben, das ist bestimmt das Schlafzimmer, aber das interessiert mich natürlich nicht. Jeff hat einen Schreibtisch mit Blick auf den Fjord und ein sehr gemütliches Wohnzimmer, ehrlich gesagt. Hätte ich überhaupt nicht gedacht. Der Fußboden ist aus Holz und sieht neu aus. Auf dem Boden liegen bunte Läufer, die Möbel sind dunkel und gut gearbeitet. An den Wänden Fotos vom Regenwald und vom Inlet.

Jeff kommt mit einer Kanne Tee und zwei Bechern und gießt uns ein. Wir trinken Tee. Earl Grey. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Jeff sagt auch nichts. Ich nippe am heißen Tee.

„Ist da oben dein Schlafzimmer?“, frage ich und könnte mir im gleichen Moment die Zunge abbeißen. Das kommt, weil ich einfach nicht weiß, was ich sagen soll. Das war eine ganz normale Frage, einfach eine Frage. Konversation sozusagen. Um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Ja“, sagt Jeff.

Wieder Gesprächspause.

„Äh“, sage ich. „Ich wollte dich fragen, ob du das Foto nicht wieder rausnehmen kannst. Du weißt schon, dieses Foto auf Facebook.“

„Tut mir leid“, sagt Jeff. „Kann ich nicht.“

„Tja dann“, sage ich und stehe auf.

„Willst du die Frikadellen unter diesen Umständen wieder mitnehmen?“, sagt Jeff.

„Nö“, sage ich. „Kannste behalten.“

Denn irgendwie käme mir das jetzt auch doof vor. Soll er sie doch behalten. Was soll´s.

Und zu Hause mache ich den Computer an und gehe auf Facebook und dann schreibe ich einen Kommentar unter Jorges Kommentar zu meinem Foto. Ich schreibe: ich hätte dich womöglich auch öfter darauf aufmerksam machen sollen, dass du mein Mann bist. Jasmin

 

Am nächsten Tag gehen Clara und ich den West Bay Trail. Ein kleiner Pfad am Ende des Dorfes. Ein paar alte Holzstufen im Wald runter bis ans Ufer des Inlets und dann einen Ringel hinten durch den Wald wieder hoch. Die Bäume sind riesig. Die kleinen Pflanzen auf dem Boden winzig. Eine Holzbrücke führt über einen Wasserfall. Es riecht nach Erde und Feuchtigkeit. Das Highlight ist ein vom Blitz getroffener Baum, der immer noch lebt.

Der Spaziergang ist völlig ereignislos. Keine Bären, keine Pumas und Peppermint bleibt an der Leine. Clara fragt, warum ich Jorge verlassen habe, und ich erzähle ihr von den Studentinnen, der Mann kann einfach nicht treu sein, und immer wieder hat er mir versprochen, dass er sich ändert, und jedes Mal wieder habe ich es geglaubt.

Du hoffst ja auch immer noch, dass Rick und Ilsa sich am Ende von Casablanca kriegen, sagt Clara. Von Mal zu Mal weniger, sage ich, von Mal zu Mal weniger.

Clara und ich laufen runter an das Ufer und ich fotografiere driftwood. Driftwood sieht klasse aus, Treibholz, das das Meer blank gescheuert hat und das die absonderlichsten Formen hat. Manchmal kann man Figuren erkennen, manchmal Gesichter. Immer sieht es interessant aus. Das gibt schöne Fotos. Die kann man auf Facebook stellen, die tun keinem weh.

Ich sage zu Clara: Und jedes Mal ging es eine Zeitlang gut und dann kam die nächste Affäre.

Treue ist overrated, sagt Clara. Das ist einer von ihren neuen LA-Ausdrücken, die sie jetzt andauernd verwendet. Es bedeutet überbewertet. Na also, ich weiß nicht. Kann man Treue überbewerten? Ist Treue nicht das A und O einer Beziehung?

Glaubt sie nicht, sagt Clara, und sie war noch keinem Mann treu.

„Auch Alan nicht?“, frage ich.

„Doch, Alan schon“, sagt Clara. „Aber einfach nur, weil wir gar nicht lange genug zusammen waren, um uns untreu zu sein.“

 

Am übernächsten Tag laufen wir nach Downtown und trinken im Cookshack einen Kaffee. Und okay, zugegeben, Clara isst einen Nanaimo Bar und ich esse einen Rocky Road Square. Wir wissen auch, dass uns das nicht gut tut, aber wir können einfach nicht widerstehen. Und außerdem sind wir die ganze Strecke nach Downtown zu Fuß gegangen. Das verbraucht ja Kalorien, nicht wahr. Wir lassen uns gegenseitig probieren und versuchen herauszufinden, was besser ist.

Die Pluspunkte für Nanaimo Bar: es sind drei Schichten, zuerst der kräftige Schokoladenboden, dann die leckere helle Creme und darauf die feste Schokolade. Einfach gut. Die Pluspunkte für den Rocky Road Square? Schwer zu sagen. Vielleicht der Name. Im Grunde ist es einfach eine Art mächtiger Schokokuchen mit vielen kleinen weißen Marshmallows obendrauf. Die Negativpunkte für beide, und da nehmen sich die beiden nichts: sobald man auch nur einen Bissen zuviel isst, wird einem schlecht. Und gut für die schlanke Linie sind sie auch nicht.

 

Am Tag drauf klingelt es den ganzen Tag an der Tür.

Erst kommt Kathleen und bringt eine neue Schachtel Prozac für Peppermint, weil Aprils Mutter immer noch krank ist, und deswegen hat April irgendwem, der in der Stadt war und raus hier zu uns ins Dorf fuhr, eine Schachtel Prozac mitgegeben und derjenige hat sie dann bei Kathleen im Café abgeliefert, weil er nicht wusste, wo der Prozac-Pudel wohnt. Als Beigabe für uns gibt es Brownies. Yummie. Aber natürlich genauso schädlich wie Nanaimo Bars und Rocky Road Squares, machen wir uns nichts vor.

Dann klingelt es wieder und es ist Jeff und er bringt die Schüssel zurück. Leer. Natürlich. Klar, so war das ja auch gedacht, nicht wahr.

Dann klingelt es wieder und Paul und die Prinzessin sind da. Zu einem Spontanbesuch übers Wochenende. Unangekündigt, aber gern gesehen.

Damit sind die Schlafzimmer im Haus voll. Ich schlafe in Annas Zimmer. Clara schläft nebenan in dem Gästezimmer mit den zwei Einzelbetten. Und Paul und die Prinzessin quartieren wir unten im Basement ein, im zweiten Gästezimmer. Da steht ein riesiges Doppelbett, und Paul und die Prinzessin sagen, kein Problem. Übers Wochenende können sie da gut zusammen schlafen und sie sind das von Pauls Appartement sowieso gewohnt. Pauls Appartement in Vancouver ist nämlich nur ein Raum, und da ist sogar die Küchenecke mit im Raum, und wenn die Lena übers Wochenende kommt, dann schlafen sie da eh zusammen im Doppelbett.

Dann klingelt es noch mal und da steht doch in der Tat dieser Outdoor-Abenteurer-Typ mit der Pfeffermühle. Das heißt, jetzt Abenteurer ohne Pfeffermühle. Also der Typ, der uns die Pfeffermühle gegeben hat am Peppermint-weg-Tag, und jetzt fragt er, ob wir sie noch brauchen, die Pfeffermühle, er bräuchte sie nämlich sonst heute, weil er für einen Freund kocht und der Laden im Dorf hat keine, weil der Laster immer noch kaputt ist.

Ich gehe hoch in die Küche, nehme die Pfeffermühle und gehe wieder runter. Ich denke: Ich muss jetzt doch noch mal ganz genau hingucken, und sehen, ob der der Typ wirklich so gut aussieht, wie er aussah, als wir ihn das erste Mal sahen.

Ich drücke ihm die Pfeffermühle in die Hand und sehe ihn mir genauer an. Ja, er sieht schon gut aus. Aber jetzt hier so vor meiner Haustür auch schon etwas normaler, ein ganz normaler Mann eben. Ich frage mich kurz, soll ich ihn einfach fragen, wo er damals herkam, oder soll ich das als Rätsel bestehen lassen? Der Mystery Man, der aus dem Nichts auftaucht. Aber weil die Mystik ja eh schon gelitten hat, weil er ja hier steht und so real ist, frage ich ihn, wo er wohnt. Und siehe da – er wohnt auf Johns Farm. Der verlassenen Farm zwischen Leiner River Trail und Campingplatz. Er ist Johns Großcousin oder Großneffe oder wie so entfernte Verwandte eben heißen, und er überlegt, ob man aus der Farm nicht einen historischen Ort machen könnte. Als Beispiel für eine Homestead, eine frühe Besiedelung von Weißen. Und in der Tat, das leuchtet sofort ein. Er lädt mich, uns, ein, doch mal vorbeizukommen, dann wird er uns die Farm zeigen. Dann geht er.

Und kaum ist er weg und ich habe gerade die Tür zugemacht, da klingelt es schon wieder und Alan steht vor der Tür.

Ich hole Clara. Das soll Clara selber regeln, da mische ich mich nicht ein.

 

Sie regeln ein bisschen und das Ergebnis ist: Alan schläft im Schlafsack auf einer Isomatte im Basement im Fernsehzimmer. Das ist kein Problem, denn die ganze Campingausrüstung von Anna und Jan ist ja noch hier im Haus. Paul und die Prinzessin bieten natürlich sofort das Doppelbett an, aber Clara und Alan sagen für ein Doppelbett besteht keine Notwendigkeit. Und Clara möchte Alan anscheinend auch nicht in ihrem Zimmer im zweiten Bett haben. Also das Basement.

Aber erstmal nutzen wir das Basement natürlich als Fernsehzimmer. Wir heizen den Ofen und machen es uns mit Himbeerbrause für die Prinzessin, Rotwein für Clara und mich, Bier für Paul und Alan, und Popcorn und Trailmix für uns alle auf und vor der Couch gemütlich. Der Pudel liegt mit vor der Couch und bekommt, was er immer bekommt, nämlich sein Prozac. Dazu sehen wir einen uralten Film.

Die Bibliothek hier hat theoretisch wirklich viele DVDs zum Ausleihen. Man bestellt sie und kommt auf eine Warteliste und da ist man dann auf Platz 185 oder so ähnlich und wartet, bis alle anderen, die vor einem auf der Warteliste sind, den Film gesehen haben. Und je besser der Film, desto höher der Platz auf der Warteliste. Logischerweise.

Oder man nimmt das, was praktisch da ist. Das sind die Sachen, die da einfach stehenbleiben, weil keine andere Bibliothek aus dem Vancouver Island Bibliotheksverband sie anfordert. Weil sie nämlich keiner bestellt. Weil sie keiner sehen will. Da stehen Sachen wie veraltete Ratgeber mit dem Namen Iß dich schlank und gesund aus den frühen sechziger Jahren, und Ob blond, ob braun mit Elvis Presley, auch aus den frühen Sechzigern. Da steht die Reise der Bella Coola Indianer nach Deutschland, ein Doku über eine Reise, die eigentlich keine wirkliche Reise war, sondern eine Art Auslandsjob, und die Indianer bekamen ein Gehalt und wurden bei Hagenbeck im Zoo ausgestellt. Und dann in anderen Städten rumgereicht. Aber weil sie nicht der Vorstellung entsprachen, die sich die Deutschen von den Indianern machten, mussten die Indianer Kostüme tragen, damit sie so aussahen, wie Indianer aussehen sollten. Aber das ist eine Geschichte für sich.

Für heute Abend haben wir Es geschah in einer Nacht von Frank Capra von 1934. Das ist ein schöner alter Film. Clara, Alan und ich kennen ihn natürlich, aber für Paul und die Prinzessin ist er neu.

Der Film ist mit Clark Gable und Claudette Colbert.

„Wusstet ihr, dass Clark Gable praktisch gezwungen wurde, die Rolle zu spielen?“, fragt Alan. „Sozusagen strafversetzt von MGM?“

Wussten wir nicht. Aber es hat sich gelohnt. Für Gable, weil er einen Oscar als bester Hauptdarsteller bekommen hat und für uns, weil wir einen schönen Film sehen können. Und der Film ist wirklich klasse. Auch die Prinzessin ist beeindruckt. Das ist für sie ja sowas wie Mittelalter, dabei ist es noch nicht mal hundert Jahre her. Und erst jetzt, mit den Augen der Prinzessin, sieht man so richtig, was damals alles anders war. Die Telefone hingen fest in der Wand. Wenn man jemandem eine schnelle Nachricht schicken wollte, ging man zum Telegrafenamt und ein Fräulein gab es durch, indem sie in einer bestimmten Reihenfolge auf Knöpfchen drückte. Ich bin mir sicher, die Lena hat in ihrem Leben noch kein Telegramm gesehen. Ja, ich weiß nicht mal, ob es Telegramme überhaupt noch gibt. Die anderen wissen es auch nicht. Und selbst Paul hat noch nie eins bekommen, obwohl er nur ein paar Jahre jünger ist als wir.

Ich habe mal ein Telegramm bekommen.

Das ist natürlich schon sehr lange her. Von Jorge. Ich war dreiundzwanzig und studierte in Hamburg an der Uni romanische Sprachen. Warum? Es gefiel mir, ich hatte schon immer ein Faible für Sprachen. Und Romanistik klang gut. Da steckte Roman drin und Romantik und Romanze. Romanistik versprach Süden und Lebensart und Sommerabende mit Baguette, Käse und Rotwein.

Jorge war neunundzwanzig und hatte seine erste Dozentenstelle bei uns an der Uni und war damit mein Dozent. So haben wir uns kennengelernt. Wir waren ein paar Mal zusammen ausgegangen und hatten gerade die erste Nacht zusammen verbracht, da musste Jorge völlig überstürzt nach Lissabon, weil sein Vater krank wurde und er seiner Mutter helfen musste. Und da kam dieses Telegramm. Und es hatte nur ein einziges Wort. Saudade – Sehnsucht. Und dieses eine Wort drückte alles aus, was wir damals fühlten.

Und man sieht auch, was es damals alles nicht gab. Es gab keine Handys, kein Internet, keine Computer, kaum Autos. Da war nichts mit eben mal schnell irgendwohin fliegen oder fahren. Da war man tagelang unterwegs, wenn man von irgendwo in Amerika nach New York wollte. Da konnte ein anständiger Regenguss so eine Reise noch so richtig aufhalten. Die Autos waren offen und fuhren vierzig. Die Motels hatten keine Bäder im Zimmer und man musste morgens für ein Außenbadezimmer anstehen. Die Prinzessin staunt und staunt.

Dann kommt die schöne Szene, wo Clark Gable eine Wäscheleine im Motelzimmer spannt und eine Überdecke drüber hängt. Das ist die Trennwand für die Nacht, zwischen den beiden Betten.

„Das wäre doch auch eine Möglichkeit für euch gewesen“, sage ich zu Clara und Alan. Aber die beiden können da irgendwie nicht drüber lachen.

 

Am nächsten Tag gehen wir raus zu Johns Farm. Und damit wird das Wochenende der totale Trip in die Vergangenheit. Johns Farm wurde so ungefähr im gleichen Jahr gebaut, als Frank Capra seinen Film gedreht hat.

Wir stellen das Auto ab und laufen den Trail vom Campingplatz am Fluss entlang zu Johns Farm. Peppermint bleibt an der Leine. Alan erzählt von seiner Arbeit in LA. Die Prinzessin hängt an seinen Lippen. Hollywood, Schauspieler, Film-Premieren. Sie will wissen, ob er schon mal Promis getroffen hat. Ja, hat er. Sie will wissen, was er dreht. Clara und ich sehen uns kurz an. Aber Alan schafft es, Lena alles zu erklären, und doch bleibt es jugendfrei.

Und ich finde: der Alan ist ein wirklich netter Typ. Er sieht jetzt nicht so umwerfend aus auf den ersten Blick und schon gar nicht heute bei null Grad mit Brille, Pudelmütze und dickem Schal. Unspektakulär auf den ersten Blick, aber unglaublich anziehend auf den zweiten. Ein Mann fürs Leben.

Kein Wunder, dass Clara bis ans Ende der Welt geflohen ist, um diesem Mann zu entkommen. Clara, die sich bisher immer nur in verheiratete Männer verliebt hat. Clara mit ihrem Drang nach Unabhängigkeit. Da muss dieser Mann doch eine echte Bedrohung sein.

Der Abenteurer begrüßt uns.

„Ich heiße übrigens Carl“, sagt Carl und damit hat Mystery Man auch endlich einen Namen.

Carl setzt auf dem Eisenofen Wasser auf, für Tee, und dann zeigt er uns die Farm. Die Farm liegt am Fluss. Weit genug weg, so dass der Fluss über die Ufer treten kann, ohne die Gebäude zu erreichen, aber nah genug, dass man den Fluss als Wasserversorgung nutzen kann. Zum Baden, zum Wäschewaschen, zum Trinken, zum Kochen. Die Prinzessin ist beeindruckt und von Minute zu Minute froher, dass sie erst jetzt lebt und nicht damals.

Das Farmhaus ist aus Holzschindeln, die hat John Lawrence damals selber hergestellt. Vom Baumabsägen bis zum Schindelspalten, was für eine Arbeit! Das Dach ist aus grünem Metall, das hat er später mal ersetzen lassen und jetzt wird Carl es wieder runternehmen und wieder mit Holzschindeln decken, damit es authentisch wird oder traditionell oder historisch. Oder wie immer man das nennt. Carl hat auch die Fenster repariert, die Gläser waren alle zerbrochen, die Rahmen verwittert und ausgetrocknet. Jetzt sieht es wieder gut aus.

Aus dem Dach kommt ein Eisenschornstein und so eine anständige Ofen-Inpektion würde das natürlich nicht überstehen, aber das ignoriert Carl erstmal. Der Eingang ist mit altem Maschendraht eingezäunt, da soll jetzt eine Veranda hin, am besten mit Schaukelstuhl (ganz wie Im Tal der wilden Rosen – Clara und ich sehen uns an – was haben wir schon für schöne Abende mit dieser Sendung verbracht, ach ja). Jetzt sieht es natürlich noch nicht wirklich charmant aus, mit einer rostigen Regentonne vor der Tür und den Dielen, die morsch sind. Ihr müsst ein bisschen aufpassen, sagt Carl, guckt, wohin ihr tretet, okay. Aber es hat Potential, das kann total schön werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass da Touristen kommen werden und sich das ansehen als Beispiel für eine alte Farm, als Beispiel für das Leben der ersten Siedler, als Beispiel für kanadische Geschichte.

Ich sage zu Carl, man könnte Kekse backen, nach alten Rezepten, und Tee anbieten, aus Kräutern, die hier wachsen. Eine Art historisches Café. Ein Museums-Café. Jemand könnte dort Führungen machen, in traditioneller Kleidung. Man könnte ein Klavier reinstellen und auf einem kleinen Tisch würde eine angefangene Handarbeit liegen. Ja, sagt Carl, das könnte man so machen und genauso stellt er sich das auch vor.

Drinnen gibt es Tee aus Campingbechern, was anderes hat Carl noch nicht da. Aber im Großen und Ganzen hat er wirklich schon viel geschafft. In der Ecke ist der Eisenofen. Daneben ein Stapel Holz, damit es austrocknet. An einer Wand eine alte Couch mit einem wunderschönen Quilt. Carl sieht meinen Blick und sagt, der ist von April Green, April macht fantastische Quilts. Was für ein Muster! Was für Farben!

Ich kann mich gar nicht davon trennen, ich fasse den Quilt immer wieder an. April ist eine echte Künstlerin, finde ich. Ich sage zu Carl: Es muss ein wunderbares Gefühl sein, so ein schönes Teil mit den eigenen Händen herzustellen. Es Stück für Stück wachsen zu sehen. Carl nickt und sagt, das kann er gut verstehen, denn genauso geht es ihm mit Johns Farm. Viel mehr Möbel gibt es sonst noch nicht. Einen Tisch und zwei Bänke, eine Anrichte, vorerst mit Campinggeschirr, und kupferne Töpfe an der Wand. Daneben ein gesticktes Bild unter Glas in einem Holzrahmen: Home is where you are happy.

Mein Blick fällt auf ein Foto an der Wand. Ein altes Schwarzweißfoto. Das Foto ist in einem billigen Rahmen aus Plastik, das dunklen Marmor imitiert. Das Foto zeigt die Ecke eines Zimmers. In die Wand eingelassen ein Regal aus dunklem Holz mit ein bisschen Geschirr. Daneben eine Art Kamin, auf dem Kaminsims ein Kerzenleuchter aus Messing.

In der Ecke ein Sessel. Auf dem Sessel ein Paar, vermutlich irgendwas zwischen fünfzig und sechzig, also unser Alter, jedenfalls das von Clara und Alan und mir, aber die beiden sehen sehr viel älter aus, so wie das früher eben war, da sahen die Leute irgendwie älter aus, finde ich. Der Mann sitzt zufrieden in seinem Sessel und hat die Hände überm Bauch gefaltet und die Beine übereinandergeschlagen. Und auf der Sesselkante sitzt die Frau. Sie legt ihren Arm um die Schulter des Mannes, sie lehnt sich etwas an ihn an. Es sieht furchtbar unbeholfen aus. Man sieht deutlich ihren Bauch unter der gepunkteten Kittelschürze. Ihre Beine hängen in der Luft. Sie trägt Schuhe mit Riemen. Der Mann ist in Socken, seine Schuhe stehen vor dem Sessel, merkwürdigerweise verkehrt rum. Vor dem Sessel liegt eine gestreifte Katze und guckt die beiden an. Der Boden ist mit Teppichen bedeckt, die Tapete ist hässlich. Und doch strahlt das Bild Zufriedenheit aus.

„Ist das John Lawrence mit seiner Frau?“, frage ich Carl.

„Nein“, sagt Carl. „John war nie verheiratet, er hat diese Farm hier ganz alleine bewirtschaftet. John war ein richtiger Einzelgänger. Wir sind irgendwie über seinen Bruder verwandt.“

„Wer sind die Beiden auf dem Foto dann?“, frage ich.

„Weiß ich nicht“, sagt Carl. „Ich habe das Foto im Thrift Store in der Kirche gefunden.“

Das ist die Kirche, wo ich montags immer Pfannkuchen essen gehe. Ein Thrift Store ist ein Laden, wo Leute Sachen abgeben, die sie nicht mehr brauchen und andere können sie dann da für ein paar Dollar kaufen und die Kirche kriegt ein bisschen Geld rein. Zusätzlich zu den Pfannkuchen. Der Thrift Store sieht auf den ersten Blick allerdings mehr wie eine Müllstelle aus. Aber wie man jetzt sieht, birgt dieser Müll echte Schätze.

Wir gucken weiter auf die beiden im Sessel, die Prinzessin stellt sich zwischen uns und guckt auch auf das Bild.

„Krass“, sagt die Prinzessin und geht weiter.

„Lass mal sehen“, sagt Clara und drängt sich nach vorne.

Jetzt steht sie vor dem Bild und Alan kommt an ihre Seite.

Ich merke, wie sie dieses Foto in sich aufnehmen. Wer sind diese beiden Unbekannten? Wie hat ihr Leben ausgesehen? Waren sie glücklich zusammen? Oder hat sich diese Frage damals einfach gar nicht gestellt? Weil man sehen musste, wie man durchs Leben kam und das ging einfach besser, wenn man sich zusammenraufte und seine Kräfte zusammentat? Und machen wir uns heute einfach viel zu viel Gedanken? Ich sehe, wie sich Alans Hand etwas bewegt. Und dann bewegt sich Claras Hand und dann stehen die beiden da Hand in Hand vor dem Bild. Alan drückt Claras Hand und Clara umfasst seine Hand ganz fest, und das ist jetzt ungefähr so, wie wenn die beiden da jetzt zusammen in den Sonnenuntergang reiten. Sie drehen ihre Köpfe zueinander, nur ein bisschen und sehen sich an. Und dieser Blick sagt alles. Der Blick sagt: Ich werde versuchen, dich glücklich zu machen, ich möchte mit dir alt werden, ich werde immer für dich da sein, in guten wie in schlechten Zeiten. Du kannst dich auf mich verlassen. Für immer.

Tja, ich denke, das war´s dann ja wohl mit Claras Unabhängigkeit. Die ist jetzt vorbei.

Alan legt seinen Arm um Claras Schulter. Er dreht seinen Kopf zu ihr und flüstert ihr was in Ohr. Clara lacht.

 

Am nächsten Tag ist die Abreise. Sie zieht sich hin, denn wir können uns nicht voneinander trennen. Aber Paul muss wieder nach Vancouver, er unterrichtet Deutsch und Englisch und macht Übersetzungen, und irgendwo muss das Geld für die täglichen Einkäufe und die Miete ja herkommen, nicht wahr. Und die Prinzessin muss wieder in die Schule. Sie hat jetzt schon einen Tag geschwänzt und Paul wird ihr eine Entschuldigung schreiben. Historisch war das Wochenende ja durchaus wertvoll und vermutlich hat sie hier erheblich mehr gelernt, als sie in der Schule gelernt hätte. Aber auf Dauer geht das natürlich nicht.

Sie steigen in ihr Auto und wir winken. Wir haben kurz den Straßenbericht für The Road auf Jeff´s Facebook-Seite nachgesehen und The Road ist gut in Schuß. Kein Eis, kein Schnee, durchschnittlich normale Anzahl Löcher.

Alan bringt die Taschen in den Leihwagen, seine eine und Claras viele.

„Glücklich?“, sage ich zu Clara.

„Glücklich wie im Tal der Rosen“, sagt Clara.

Wir umarmen uns und Clara sagt zu mir: Du solltest dir auch wieder jemanden suchen, warum gehst du nicht auf eine von diesen Dating-Websites? Die sind voll von Männern. Da muss doch wer drunter sein. Alan umarmt mich auch, und Clara umarmt mich noch mal und dann sind sie alle wieder weg.

Und ich stehe mit Peppermint auf der Straße und winke, da kommt April Green. Mein Gott, ich hatte doch glatt irgendwie vergessen, dass Peppermint eigentlich April gehört. Und jetzt holt sie Peppermint ab. Sie bedankt sich und gibt mir eine Schachtel Nanaimo Bars, die hat sie von Superstore aus der Stadt, und sie richtet mir viele Grüße von ihrer Mutter aus – unbekannterweise – und sie ist mir wirklich dankbar, dass ich Peppermint so lange gehütet habe. Eine ganze Schachtel Nanaimo Bars!

„Kein Problem“, sagt April. „Die halten sich eine ganze Weile im Kühlschrank.“

Ja, das vermutlich schon. Das Problem sind nicht die Nanaimo Bars, das Problem bin ich. Dass sich die Dinger lange halten, glaube ich gerne. Aber wie lange halten sie sich bei mir? Das ist die Frage. April und Peppermint gehen die Straße runter und ich bin alleine, aber so richtig alleine alleine.

 

Am nächsten Morgen wache ich auf. Das Haus ist still. Niemand redet oder lacht oder setzt Teewasser auf oder ist im Bad. Keine Pudelschnauze, die mich anstupst, weil sie Prozac oder Fressen oder Gassi gehen will.

Ich bleibe einfach weiter im Bett liegen. Warum aufstehen? Ich denke: was habe ich getan? Ich habe mein Leben zerstört. Jorge hat recht. Ich habe eine harmonische Familie zerstört. Ich werde nie wieder Sex haben. Ich werde nie wieder in den Sonnenuntergang reiten. Was habe ich nur getan?

Draußen gurren die Tauben. Und das Gurren der Tauben – und vielleicht auch, weil es so ein vergangenheitsbeladenes Wochenende war – katapultiert mich um Jahre zurück. Das Gurren der Tauben erinnert mich an ein Wochenende mit Jorge. Wir waren in einem kleinen Gästehaus an der Alentejoküste. In Melides. Es war April. Ein kalter Frühling mit sonnigen Tagen und frischen Morgen. Das Gästehaus lag abgelegen auf einem Hügel und man hörte nichts außer dem Gurren der Tauben. Genau wie hier.

Und wenn ich die Augen schließe, bin ich wieder da. An diesem Ort, in dieser Zeit. In Jorges Armen, angekuschelt an seinen warmen Körper in einem warmen Bett. Wir haben keine Lust aufzustehen und in das kalte, ungeheizte Bad zu gehen. Wir genießen, dass wir frei haben und dass die Kinder bei Jorges Mutter sind. Wir genießen, dass wir uns haben. Jorge hat mir seine Affäre mit Sofia gebeichtet. Aber die Affäre ist beendet und Jorge hat mir versprochen, dass es nicht wieder vorkommen wird. Ich weiß natürlich auch, dass das vermutlich nicht stimmt. Das wird nicht die letzte Affäre gewesen sein. Aber in diesem Moment, ja, in diesem Moment sind wir glücklich.

Irgendwann mischt sich das Gurren der Tauben mit dem Klappern von Geschirr und Gelächter auf der Terrasse. Das sind die Gäste, die frühstücken. Wir bleiben einfach liegen. Heute gibt es keine Verpflichtungen. Keine Sorgen. Keine Rechnungen. Kein Kindergeschrei. Keinen angebrannten Toast. Keine verschwundenen Schultaschen. Keine Hektik. Heute ist einfach heute, zusammen im Bett. Es ist ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Irgendwann stehen wir dann doch auf, und weil das Frühstück im Gästehaus vorbei ist, gehen wir ins Dorf. Wir essen Tosta mista (lecker, lecker – Brötchen mit Käse und Schinken, zusammengepresst und gut getoastet) und trinken dazu Galão (auch lecker – dunkler Milchkaffee mit genau der richtigen Mischung aus Espresso und Milch). Wir gehen am Strand spazieren, Hand in Hand, und später bei Fernando am Strand was essen, einfach Schnitzel mit Pommes und Salat, viel Auswahl gibt es bei Fernando nicht. Wir kaufen einen ganzen Stapel Zeitungen und Zeitschriften und liegen stundenlang im Liegestuhl und lesen. Und abends sind wir früh wieder im Bett.

Und im Bett liege ich auch jetzt. Und aufstehen möchte ich auch nicht. Das ist genauso wie damals. Aber mein Leben ist völlig anders.

 

Es regnet tagelang. Der Fluss ist dunkelgrün und träge. Ein weißer Schwan schwimmt alleine und einsam den Fluss hoch. Das alleine stimmt, denn es ist nur ein Schwan und nicht zwei oder drei. Das einsam interpretiere ich in den Schwan, denn so fühle ich mich. Nicht, dass ich ein Schwan wäre, aber einsam – ja, einsam bin ich schon. Ich sitze am Computer und vertreibe mir die Zeit, weil ich nicht weiß, was ich sonst so tun könnte.

Ich habe mein Leben lang meine Familie versorgt. Da war ich gut beschäftigt. Und da war ich auch gut drin, übrigens. Ich habe Ausflüge ans Meer geplant und Kindergeburtstage organisiert. Ich habe Hausaufgaben beaufsichtigt und Nicole und Tiago deutsche Texte diktiert, damit sie anständig deutsch schreiben lernen. Ich sehe aus dem Fenster. Der Schwan ist weg, dafür geht jetzt ein Schwarm Wildgänse die Straße lang. Zu Fuß. Sie könnten auch fliegen oder schwimmen, aber sie gehen zu Fuß. Neunzehn Gänse, die nicht im Gänsemarsch gehen, sondern mehr so als ungeordnetes Triangel langsam die Straße runter watscheln.

Normalerweise habe ich einen schönen Ausblick auf Rugged Mountain, auf die wild gezackten schneebedeckten Gipfel des Berges, aber heute ist Rugged Mountain hinter Wolken und Nebel verschwunden. Und weil ich nichts Besseres zu tun habe, google ich Rugged Mountain.

Ein Captain Hamilton Moffat hat mal versucht ihn zu besteigen, im Jahr 1852 und musste aufgeben. Und es hat über hundert Jahre gedauert, bis dann endlich jemand Rugged Mountain erfolgreich bestiegen hat. Was sagt mir das? Dass es manchmal sehr lange dauert, bis irgendwas klappt? Dass alles irgendwann doch noch gut wird? Oder sagt es mir einfach nichts?

Und jetzt ist auch noch bald Weihnachten! Es wird mein erstes Weihnachten alleine sein. In meinem ganzen Leben. Bisher habe ich Weihnachten immer in Gesellschaft verbracht. Mit Familie. Mit Freunden. Es war vielleicht nicht immer der Hit, aber es war immer jemand da.

Klar – ich könnte jetzt auch irgendwohin fahren oder fliegen. Anna hat eine E-Mail geschickt, ich kann Weihnachten mit ihr und Miguel in Porto verbringen und sie würden sich freuen, wenn ich komme. Clara und Alan haben mich nach Los Angeles eingeladen und bieten mir an, mit mir den ganzen Sunset Boulevard entlang zu fahren, vom Anfang am Meer bis zum Ende in der Stadt. Paul und die Prinzessin laden mich nach Vancouver ein.

Und Nicole hat eine Nachricht auf Facebook geschickt: Liebe Mama, Tiago und ich feiern bei Papa. Was ist mit dir? Der Papa macht sich übrigens Sorgen, kannst du ihn nicht mal anrufen oder ihm deine Telefonnummer geben? Deine Nicole

Aber Lissabon, Porto und Los Angeles sind weit weg. Und Vancouver klingt zwar nah, ist aber auch weit weg. Eine Tagesreise hin, eine Tagesreise zurück. Und Pauls Appartement ist ja winzig, das weiß ich, das hat die Prinzessin erzählt, da können gerade mal die Prinzessin und Paul schlafen, also müsste ich in einem Motel übernachten. Aber will ich Weihnachten alleine in einem Motel übernachten? Irgendwo in einer großen fremden Stadt? Nein. Nein, das will ich nicht. Aber was will ich dann?