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Das Päckchen, der Umschlag, drei Briefe und die Weihnachtskarte von Paul und Lena sind für mich. Die anderen Briefe sind für Anna. Ein paar Stromrechnungen und ein Brief von Jan.

Ich sehe auf den Poststempel, der Brief hat sage und schreibe zwei Jahre und zwanzig Tage gebraucht um hier anzukommen. Jan hat ihn wenige Monate vor seinem Tod geschrieben. Da wusste er schon, dass er krank war. Und vielleicht hat er da auch schon gewusst, dass er bald sterben würde. Er hat den Brief im Dezember geschrieben und ist im April gestorben. Jetzt halte ich den Brief in der Hand und weiß nicht, was ich damit machen soll. Eigentlich habe ich das ja auch gar nicht zu entscheiden, denn der Brief ist ja von Jan an Anna und hat mit mir nichts zu tun. Also müsste ich ihn eigentlich weiterschicken. Die Adresse hier durchstreichen und Annas Adresse in Portugal draufschreiben. Ihre eigene oder die von Miguel. Aber irgendwie möchte ich das nicht.

Gerade hat Anna sich ein bisschen erholt, es scheint ihr ein bisschen besser zu gehen, aber wer weiß, wie gut es ihr wirklich geht. Dieser Brief könnte sie total aus dem Gleichgewicht bringen und dann geht diese ganze Trauer wieder von vorne los. Wenn die Post schon schlampt, warum dann nicht richtig, warum hat sie den Brief dann nicht einfach verloren, wenn sie ihn schon nicht in einem angemessenen Zeitraum ausliefert, sagen wir einer Woche oder zwei. Maximal drei. Und warum hat Jan Anna einen Brief an diese Adresse hier in Kanada geschickt? Wollte er vielleicht, dass Anna ihn erst später bekommt? Nach seinem Tod?

Ich lege den Brief – natürlich ungeöffnet – auf die Stromrechnungen, um die ich mich zum Glück nicht kümmern muss, denn der Strom wird automatisch abgebucht.

Jetzt zu meiner Post. Das Päckchen ist von M. Teresa C. Monteiro. Jorges Mutter hat mir zu Weihnachten ein Päckchen geschickt, das ist ja eigentlich wirklich ganz nett. Freundin auf Facebook und ein Päckchen zu Weihnachten. Bedeutet das, dass sie mich noch immer als Schwiegertochter sieht? Soll ich jetzt hier im Café das Päckchen auspacken? Das sieht ja auch komisch aus. Nein, das Päckchen hebe ich mir für Zuhause auf. Also für Annas Zuhause, also für das blaue Flusshaus, in dem ich im Moment wohne.

Der Umschlag ist von Clara. Sie hat mir ein Buch von sich geschickt. Clara produziert diese Bücher in einer erstaunlichen Folge, und weil es diese Kitschromane sind, werden sie in der gleichen erstaunlichen Folge veröffentlicht. Alle zwei Monate eins. In einer vernünftigen Auflage. Und Clara kann in der Tat ganz gut davon leben. Ich kenne von Clara Liebe mit Hindernissen und Liebe auf Umwegen und Liebe in Lissabon. Aber ich weiß, dass sie noch sehr viel mehr von diesen Titeln hat. Das Wort Liebe im Titel ist sozusagen Claras Markenzeichen. Dieses hier ist schon ein paar Jahre alt und hat den Titel Liebe und Lüge. Clara hat mir eine Widmung reingeschrieben.

War da nicht mal was??? In Liebe, Clara.

 

Kryptisch. Was soll denn das bedeuten? Ich lege das Buch auf den Umschlag und sehe die Briefe durch.

Tiago hat mir geschrieben, das ist nett, endlich mal, ich habe schon eine Weile nichts von ihm gehört. Von meinem Kleinen, der ja jetzt auch schon groß ist. Von Nicole höre ich eigentlich andauernd was, schon auf Facebook. Aber Tiago meldet sich selten.

Ein Brief von Anna. Und ein Brief von Jorge.

Der Brief von Jorge ist auch erstaunlich lange unterwegs gewesen. Nicht so lange wir der von Jan an Anna, aber doch lange. Ich sehe noch mal auf den Poststempel und fange an zu rechnen. Jorge hat den Brief zwei Wochen nach meiner Abreise geschrieben. Der Brief hätte mich also schon viel früher erreichen müssen. Und dann sehe ich, der Brief war gar nicht so lange unterwegs. Er hat die ganze Zeit hier auf der Post gelegen. Mir wird klar: Dieser Brief hat hier im Postamt darauf gewartet, dass ich ihn abhole. Was ich ja aber nicht wusste, und nun bekomme ich ihn erst jetzt, Wochen später. Und der Gedanke zu spät geht mir durch den Kopf. Ich denke, zu spät? Zu spät wofür? Und dann öffne ich endlich den Brief.

Jorge hat den Brief mit der Hand geschrieben, in seiner ordentlichen Schrift, eigentlich erstaunlich für einen Professor, Leute, die viel schreiben, schreiben oft unleserlich. Aber nicht Jorge. Er hat eine schöne Schrift und ich sehe ihn in Gedanken da in Lissabon in seinem Arbeitszimmer sitzen, an dem großen Schreibtisch, der immer und aber auch immer übervoll mit Papieren ist. Die Jalousien sind heruntergezogen, aber schräg gestellt, und Sonnenlicht fällt in Streifen auf das Chaos. Papiere auf dem Schreibtisch, Papiere neben dem Schreibtisch, gestapelte Bücher an der Seite und neben dem Stuhl. Bücher quer in den Regalen.

Ich sehe, wie sein Füller über das Papier läuft, Jorge schreibt immer noch mit Füller, er lehnt Kugelschreiber oder Roller nicht ab, soll jeder so schreiben, wie er will. Aber er hängt an seinem Füller. Schwarze Tinte. Unliniertes Papier.

 

Meine liebe Jasmin,

in Lissabon ist es kalt geworden. Und dieses Jahr ist der Winter ungewöhnlich kalt. José vom Café hat nach dir gefragt, er wollte von mir wissen, wie es der Dona Jasmina geht, und ob sie wohl bald wieder kommt. Und ich habe gar nicht gewusst, was ich ihm antworten sollte.

Wie wird es dir wohl gehen, wenn du diese Zeilen liest? Wie dein Leben wohl aussieht ... Miguel und Anna waren neulich in Lissabon zu einem Konzert im Gulbenkian und wir haben uns am nächsten Tag zum Essen getroffen. Anna hat von ihrem Haus in Kanada erzählt und von dem Dorf am Ende der Welt und so habe ich doch ein bisschen eine Vorstellung davon, wie du jetzt so lebst.

Ich denke viel an dich. Die Wohnung ist leer und mir wird klar, ich habe wohl nicht immer ausgedrückt, wie sehr ich zu würdigen weiß, was du hier für den Haushalt leistet. Für die Kinder. Für mich. Ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe, und ich hoffe, dass du mir vielleicht doch noch mal verzeihen kannst.

In Liebe, dein Jorge

 

Ich lese den Brief zweimal und seufze. Dann mache ich Tiagos Brief auf. Im Brief ein Foto von ihm und einem netten Mädel, krause schwarze Haare, bunter Schal, der wie selbstgestrickt aussieht. Auf der Rückseite Tiagos Schrift: Liebe Mama, das ist die Carlota, ich habe sie im Chapitô kennengelernt und wir sind dabei uns eine Wohnung zu suchen. Im Mai wird geheiratet. Tiago

 

Ich fasse es nicht, mein Kleiner will heiraten, und das so schnell und unüberlegt, und dann bin ich womöglich wirklich bald Oma. Ich öffne Annas Brief.

 

Liebe Jasmin,

jetzt bist du in dem Haus, in dem ich so oft mit Jan war. Wie geht es dir? Es ist der perfekte Ort, um einfach mal weg zu sein. Am Ende der Welt. Aus der Welt. Es hat mir im letzten Winter sehr gut getan, dort einfach meine Seele baumeln zu lassen und von Jan Abschied zu nehmen.

Und das bringt mich zu dem, was ich dir eigentlich schreiben will. Ich weiß sehr wohl – ungefragt erteilte Ratschläge können als feindlicher Akt aufgefasst werden, und das natürlich völlig zu Recht. Aber wir kennen uns schon so lange und ich denke so viel an dich. Also werde ich das einfach mal riskieren.

Miguel und ich sind über Weihnachten in den Alentejo gefahren und haben auf der Fahrt in Lissabon einen Stopp gemacht und Jorge besucht.

Er vermisst dich. Er vermisst dich wirklich. Ich weiß, dass er Fehler gemacht hat, und natürlich ist Untreue nicht akzeptabel (ich weiß, Clara sieht das anders), aber sie ist doch auch kein Weltuntergang.

Was ich damit sagen will, und um es jetzt mal auf den Punkt zu bringen, ich denke, man muss für seine Liebe kämpfen. Ich würde viel dafür geben, wenn ich wieder mit Jan zusammen sein könnte. Natürlich habe ich jetzt Miguel und er ist nett und es ist schön. Aber ... es ist nicht das Gleiche. So eine lange gewachsene Beziehung, das hat einfach was.

Das wollte ich dir eigentlich schreiben. Ich kann meinen Mann nicht zurückholen, weil er ... weil er nicht mehr ... weil er nicht mehr ist (du siehst, ich habe immer noch Mühe, das Wort tot zu verwenden). Jorge dagegen ist ja nach wie vor in Lissabon ...

Wie auch immer – du wirst schon wissen, was du tust – hoffe ich doch –

Beijinhos, Anna

 

Wieder zu Hause mache ich das Päckchen von Jorges Mutter auf. Es sind ihre Weihnachtskekse. Dona Maria Teresas berühmte Weihnachtskekse. Jahr für Jahr backt sie vor Weihnachten Kekse und verschenkt sie an Freunde und Familie. Die Kekse sind sogar heil, sie hat sie sehr gut verpackt, in Alufolie und in einer Blechdose. Zimtsterne, Rumkugeln, Vanillekipferl. Wundert mich, dass das durch den Zoll gekommen ist, es heißt ja immer, man darf keine Lebensmittel hier ins Land bringen. Aber es hat ja irgendwie geklappt. Eine Weihnachtskarte ist auch dabei.

Meine liebe Jasmin, ich wünsche dir frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr. Vorsicht mit den Vanillekipferln, es ist ein Rezept von Carlota – Tiagos neuer Freundin – und wir haben eine ganz besondere Zutat reingetan. Es sind H---sch-Kekse. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine. Deine Schwiegermutter.

 

Hallo die Enten. Wundert mich, dass das durch den Zoll gekommen ist. Deswegen vielleicht die gründliche Verpackung. Also wirklich. Ich muss schon sagen. Es heißt ja immer, dass die Großeltern mit den Enkeln Sachen machen, die sie mit den Kindern nie gemacht haben oder machen würden. Ganz offensichtlich. Denn mit Jorge und mir hat sie nie H---sch-Plätzchen gebacken.

Ich nehme die Vanillekipferl in die Hand, sie sind in einer Extra-Tüte. An der Tüte hängt ein freundlicher Weihnachtsmann aus Papier und auf der Rückseite steht in grünen großen Buchstaben: ease up.

Jeez Louise.

Vielleicht nimmt sie mich einfach nur hoch? Und ich bin so blöde und glaube das auch noch. Vielleicht hat meine Schwiegermutter einfach einen schrägen Humor. Ich mache die Tüte auf und nehme einen Keks raus. Das Kipferl ist mit Puderzucker bestäubt. Ich halte es an die Nase und rieche dran. Riecht ganz normal, nach Vanille und Keks. Ich beiße vorsichtig ab. Schmeckt ganz normal. Ich nehme noch einen Bissen. Gute Vanillekipferl. Lecker. Yep – backen kann sie wirklich gut, meine Schwiegermutter. Und meine vermutliche bald-Schwiegertochter offensichtlich auch. Ich esse den Keks und dann noch einen. Klar – Jorges Mutter hat sich einen Scherz mit mir erlaubt, und ich habe es doch fast geglaubt. Unglaublich. Ich lege Musik auf, Klassik aus Annas Sammlung, setze mich aufs Sofa und lese weiter in Cool Career for Dummies.

Ich esse noch ein paar Kekse und höre weiter der Musik zu. Draußen regnet es. Der Regen fügt sich in die Musik ein und ich stehe auf und gehe zum Fenster. Der Fluss strömt träge zum Inlet. Grün, gleichmäßig und unendlich. Zeitlos. Jetzt hört der Regen auf und ich sehe die Tropfen in den Bäumen hängen. Sie glitzern. Mir wird plötzlich ganz anders, ich fühle mich irgendwie leicht und mir wird klar, das Vorsicht mit den Vanillekipferln war ganz ernst gemeint. Dona Maria Teresa und Carlota haben da wirklich was rein getan.

Und plötzlich bekommt das ease up einen Sinn. Natürlich.

Meine Schwiegermutter hat recht. Ich habe das zu verbissen gesehen. Und Clara hat auch recht. Treue wird überbewertet, was ist schon so schlimm da dran, dass er mich ein paar Mal betrogen hat, und plötzlich wird mir auch klar, was Clara in ihrer Widmung mit dem: Da war doch was gemeint hat.

Meine Affäre mit Tiagos Deutschlehrer damals. Wolfgang. Lehrer an der deutschen Schule. Das hatte ich ganz vergessen. Es war gleich, nachdem wir die Kinder in der deutschen Schule eingeschult hatten, damit sie richtig Deutsch lernen, nicht nur sprechen, sondern auch schreiben. Ich habe Jorge nie von Wolfgang erzählt. Ich habe meine Affäre nie gebeichtet, ich wollte schon, einerseits, aber ich konnte nicht, andererseits, und ich habe es erst vor mir her geschoben und dann bei mir behalten, vielleicht um es mal irgendwann einzusetzen, und vielleicht auch, weil es fast mehr als eine Affäre war, denn ich war in Wolfgang so richtig verliebt.

Ich hätte das beichten müssen.

Wer bin ich, dass ich Jorge seine Affären vorwerfe und selber eine hatte. Ich glaube, ich habe ihm unrecht getan. Er ist ein netter Mann. Und Anna hat recht. Wenn man seine Liebe behalten will, dann muss man was dafür tun und dafür kämpfen und ich denke, ich hätte mehr tun müssen. Wir hätten reden können. Ich bin einfach weggelaufen. Ich habe ihm nicht mal gesagt, warum, ich meine, ich habe ihm nicht gesagt, warum gerade zu diesem Zeitpunkt. Ich habe einfach nur gesagt: ich gehe. Und jetzt tut es mir leid, leid, leid, es tut mir so leid, ich merke, ich liebe Jorge, mein Gott, ich liebe ihn, ich vermisse ihn, ich will ihn zurück, ich will ihn zurück, ich will ihn zurück ...

 

Jeff macht die Tür auf und sieht auf mich und meinen kleinen blauen Rucksack. Wie bin ich hierher gekommen?

„Kannst du mich zum Flughafen bringen?“, frage ich Jeff.

Aber es ist mehr eine Aufforderung als eine Frage. Jeff sieht runter auf den Anleger für die Wasserflugzeuge. Ich folge seinem Blick.

„Zu einem richtigen Flugzeug“, sage ich.

„Okay“, sagt Jeff erstaunlicherweise und ohne irgendwelche Fragen zu stellen und holt den Schlüssel für seinen Jeep, und zum ersten Mal in meinem Leben fahre ich über The Road. In einem ziemlichen Tempo, damit ich das letzte Flugzeug von Campbell River nach Vancouver noch erwische. Und ja, die Abhänge sind tief. Ganz besonders, wenn der Blick durch Spezial-Vanillekipferl geschärft ist.

Ich steige in Campbell River ins Flugzeug. Ich wechsle in Vancouver das Terminal und steige in ein Flugzeug nach Amsterdam. Und von dort wird es nach Lissabon gehen. Ich lerne: Solche ungebuchten Spontanflüge sind möglich aber teuer und ich hoffe, dass ich das Geld für sowas nie mit Patchwork-Decken zusammenähen muss, denn das könnte schwierig werden.

Irgendwann schräg nördlich hoch über Edmonton lässt die Wirkung der Weihnachtskekse nach und ich komme zu mir. Aber jetzt ist es natürlich zu spät um auszusteigen. Jetzt muss ich die Reise weitermachen. Ich verbringe fast dreißig Stunden im Transit und dann stehe ich vor unserer Wohnung in der Rua Francisco Metrass.

Es ist Mitternacht.

Ich überlege, ob ich einfach aufschließen soll, aber dann entscheide ich mich doch zu klingeln. Weiß gar nicht, ob das jetzt so eine gute Idee war, hier einfach aufzukreuzen.

Ich klingle.

Ich höre Schritte, die Tür geht auf und da steht Jorge und ich falle in seine Arme. Ich denke: das Leben kann so einfach sein und warum habe ich das vorher nicht gesehen.

 

Wir gehen ins Wohnzimmer und Jorge sagt: setz dich erstmal, ich mache uns einen Tee.

Ich sitze in meiner alten Wohnung, alles ist so vertraut und doch so fremd, ein ganz merkwürdiges Gefühl. Jorge bringt ein Tablett mit der Teekanne und zwei Bechern und einem Teller Weihnachtskekse. Er stellt das Tablett ab und ich stehe wieder auf und gehe zu ihm. Ich möchte, dass er mich in die Arme nimmt, ich möchte, das alles wieder gut wird, ich möchte, na, alles eben ...

Jorge küsst mich erst, seufzt und schiebt mich dann von sich weg.

„Tut mir leid“, sagt er. „Ich bin jetzt mit der Catarina zusammen.“

Ja und?

„Und Untreue ist ja nicht mehr“, sagt Jorge. „Ich habe meine Lektion gelernt.“

Wie war das noch bei Leigh Michaels? Die Heldin zähmt und zivilisiert den Helden. Aber irgendwas ist hier doch gründlich schief gegangen. Ich gucke auf den Teller mit den Weihnachtsplätzchen. Rumkugeln, Zimtsterne, keine Vanillekipferl.

„Keine Vanillekipferl?“, frage ich.

„Waren dieses Jahr nicht dabei“, sagt Jorge. „Mutter sagt, mit den Vanillekipferln ist was schief gegangen.“

In der Tat. Kann man wohl sagen. Aber gründlich.

„Möchtest du, dass ich ausziehe?“, fragt Jorge.

„Was?“, sage ich.

„Wenn du die Wohnung behalten willst, dann ist das okay“, sagt Jorge. „Dann suche ich mir was Anderes.“

Ich gucke mich in der Wohnung um, in der ich so viele Jahre gewohnt habe. In der ich gekocht, geputzt und gegessen habe. In der ich zwei Kinder großgezogen habe. Das kombinierte Wohn-Eßzimmer, wo wir mit der Familie doch wirklich viel Spaß hatten. Das Schlafzimmer, wo Jorge und ich ja auch viel Spaß hatten, jetzt mal ganz ehrlich. Das Arbeitszimmer mit dem Papierchaos. Das ehemalige Kinderzimmer, das eigentlich mein Raum werden sollte, aber den ich mir nie eingerichtet habe, weil ich gar nicht so recht wusste, wofür oder wozu.

„Oder ich bleibe hier und wir suchen was Anderes für dich“, sagt Jorge.

Alles an dieser Wohnung wird mich immer an Jorge erinnern. Das tue ich mir nicht an. Aber will ich woanders hin? Nein, irgendwie nicht.

„Nein“, sage ich.

„Nein zu was?“, fragt Jorge.

„Nein zu allem“, sage ich.

 

Und so kommt es, dass ich am nächsten Tag schon wieder stundenlang im Flugzeug sitze. Schon wieder in Amsterdam Fastfood esse und durch den Flughafen-Buchladen schlendere, um die Zeit totzuschlagen. Kurz darauf bin ich wieder am Ende der Welt. Abgeschieden. Einsam. Alleine. Der einzige Vorteil von dieser merkwürdigen Vanillekipferl-induzierten Reise ist in der Tat, dass ich keinen Jetlag habe, weil ich nicht lange genug in der anderen Zeitzone war, um mich umzustellen. Mein Körper hat das praktisch gar nicht mitbekommen, so schnell war ich wieder hier.

Aber sonst hat er viel mitbekommen. Mir ist so elend, dass mir die Nieren weh tun. Ich liege auf dem Bett, ich höre keine Musik, ich lese keine Bücher.

Das bin ich. Jasmin Monteiro. Anfang fünfzig. Ohne Beruf. Ohne Wohnung. Ohne Ehemann. Ohne Aussicht auf eine vernünftige Zukunft.

Es gab da mal diese Visitenkarte, die reichten wir rum, als wir jung waren. Wir fanden das damals witzig, warum, kann ich im Moment nicht so recht nachvollziehen. Auf der Karte stand: kein Name, kein Titel, kein Bock. Und sonst nichts. Keine Adresse, keine Telefonnummer, nichts weiter.

So eine Karte sollte ich mir wieder drucken lassen.

 

Als ich aufwache, stehen Carl, Jeff und April an meinem Bett. Was machen sie hier? Wie sind sie reingekommen?

„Anna hat in der Baustoffhandlung einen Ersatzschlüssel fürs Haus“, sagt April. „Den haben wir geholt.“

„Wir wollten nur gucken, ob alles okay ist mit dir“, sagt Carl.

„Wir haben uns Sorgen gemacht“, sagt Jeff.

„Ich habe dir eine Suppe mitgebracht“, sagt Carl. „Du musst was essen.“

„Wenn du willst, lasse ich dir Peppermint für ein paar Tage da“, sagt April. „Das ist kein Problem, ich muss sowieso zum Arzt in der Stadt.“

Ich bleibe einfach liegen. Ich sage nichts. Ich schließe wieder die Augen.

„Na, nun steh schon auf“, sagt April und schlägt einfach die Decke zurück.

Die beiden Männer gehen in die Küche, um die Suppe aufzuwärmen und den Tisch zu decken und April hilft mir aus dem Bett. Ich stelle vorsichtig die Füße auf den Boden. Der Boden gibt nicht nach. Ich stehe vorsichtig auf. Ich falle nicht um. Ich gehe einen kleinen Schritt. Aber wohin, wohin, wohin soll ich gehen?

„Als erstes gehst du mal ins Bad“, sagt April. „Wird nämlich Zeit.“

 

Wir essen erst die Suppe und dann die Weihnachtskekse. Rumkugeln und Zimsterne. Die Vanillekipferl sind ja alle. Zum Glück. Dann darf ich wieder ins Bett. Peppermint darf sich vors Bett legen und April deckt mich mit meinem neuen Quilt zu und Carl bringt mir einen Kamillentee.

„Geht´s dir wieder besser?“, fragt Jeff.

Ich nicke.

„Ich komme morgen wieder, okay?“, sagt Carl.

Ich nicke.

„Soll ich dir was aus der Stadt mitbringen?“, fragt April.

Ich schüttle den Kopf. Alles, was ich haben möchte, ist in einer Stadt sehr weit weg und gehört jetzt Catarina.

Die drei gehen und ich nehme Claras Buch in die Hand. Peppermint hat die Augen geschlossen und ab und zu zucken ihre Pfoten im Schlaf. Ich liege unter meinem neuen Quilt. Noch vor zwei Wochen waren das doch im Grunde einfache Stoffstücke. Aber jetzt in dieser Kombination ist es geradezu ein Kunstwerk. Ein bisschen Blau, ein bisschen Grün, ein bisschen Apricot und schon ist es eine wärmende Decke. Ich seufze nochmal. Ich versuche nicht, diesen Quilt und mein Leben jetzt irgendwie zu vergleichen. Oder anders: Ich versuche, diesen Quilt und mein Leben jetzt irgendwie nicht miteinander zu vergleichen. Ich glaube, meine Seele braucht eine Ruhepause. Dafür sind Claras Bücher doch eigentlich perfekt. Ich schlage das Buch auf und fange an zu lesen.

Da ist dieses junge Mädchen oder besser diese junge Frau, Johanna Bauer. Johanna kommt aus einer kleinen Stadt in Schleswig-Holstein. Die letzten Jahre hat sie ihre kranke Mutter gepflegt. Jetzt ist die Mutter gestorben und Johanna kommt nach Hamburg, um dort den Mann zu finden, der ihrer Mutter das Herz gebrochen und damit ihr Leben zerstört hat. Den Mann, der ihr Vater ist. Er kennt Johanna nicht – aber er wird sie kennenlernen.

Ach ja, ach ja, ach ja, das klingt vielversprechend. Ich seufze und falle in Johannas Welt.

 

Am nächsten Vormittag bringt Carl einen Elch-Eintopf und kocht mir eine große Kanne Earl Grey, sitzt ein bisschen bei mir am Bett und unterhält mich mit Storys von The Road.

Am Nachmittag kommt Jeff und bringt mir eine Schüssel roten Wackelpeter. Wir essen den Wackelpeter mit Sprühsahne aus der Dose und Jeff sagt, tut ihm leid, er hätte gerne was anderes gebracht, aber er kann nicht so richtig kochen, und meistens snackt er sich so durch oder isst Kathleens Take-out. Was mich dazu bringt ihn zu fragen, was mit seiner Frau passiert ist. So arbeitet der menschliche Kopf – Jeff sagt Kathleen und Take-out und mein Kopf macht die Kette: Jeff, Kathleen, Take-out gleich telefonische Bestellung gleich Telefonzelle gleich belauschtes Gespräch.

„Woher weißt du, dass meine Frau tot ist?“, sagt Jeff erstaunt.

„Von Kathleen“, sage ich.

„Kathleen hat mir dir über meine Frau geredet?“, sagt Jeff.

Sein Gesicht wird verschlossen. Und ich möchte jetzt natürlich nicht, dass Kathleen da Ärger mit ihm bekommt, denn sie hat ja nicht mit mir über seine Frau geredet. Sondern mit ihm.

„Äh – nicht direkt“, sage ich.

„Nicht direkt?“, sagt Jeff.

Ich sage nichts, ich überlege.

„Die Telefonzelle“, sage ich nach einer Weile.

„Die Telefonzelle?“, fragt Jeff.

Dann lacht er und schüttelt seinen Kopf.

„Klar, die Telefonzelle. Hab davon gehört.“

„Du willst nicht drüber reden“, sage ich.

„Nein“, sagt Jeff. „Will ich nicht. Soll ich dir was vorlesen?“

Er nimmt Claras Buch und schlägt es an der Stelle auf, wo mein Lesezeichen steckt. Ich verwende als Lesezeichen ein Foto von mir und Jorge. Ein Foto aus glücklichen Tagen. Jorge und ich am Strand von Melides. Ich trage ein buntes Sommerkleid, Jorge ist in Shorts. Wir sehen entspannt und glücklich aus und sind es wohl auch gewesen. Mein Gott, wie jung wir waren.

Jeff sieht das Lesezeichen, sieht sich das Foto an.

„Das ist nicht gesund“, sagt Jeff. „Das Leben geht weiter. Man muss auch loslassen können.“

„Sieh an, wer spricht“, sage ich und Jeff klappt das Buch wieder zu.

„Also gut“, sagt er und erzählt mir von seiner Frau.

Seine Frau hieß Louise. Sie haben in Vancouver gewohnt, draußen in Burnaby. Es ging ihnen gut. Jeff hat für eine Computerfirma gearbeitet und Louise in einer Boutique in der Robson Street. Sie gehen ins Kino, es ist Sonntag-Nachmittag. Und als sie aus dem Kino kommen, ist da eine Schießerei. Zwischen fliehenden Bankräubern und der Polizei. Und Louise war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

„Oh mein Gott, Jeff“, sage ich. „Das ist furchtbar.“

„Ja“, sagt Jeff. „Das ist furchtbar. Furchtbar. Sinnlos.“

„Kinder?“, frage ich.

„Eine Tochter“, sagt Jeff. „Sie war vierzehn. Sie stand direkt neben Louise. Sie waren beide sofort tot.“

„Oh mein Gott, Jeff“, sage ich. „Jeff, das tut mir so leid.“

Jeff guckt zur Seite, dann nimmt er wieder das Buch in die Hand und will anfangen zu lesen. Aber – das Buch ist auf Deutsch. Schade eigentlich, denn sonst könnten wir jetzt beide in der Welt von Johanna Bauer versinken. Denn das ist das Schöne ans Claras Büchern: Johanna kann jetzt hier so viel leiden, wie sie will und muss, am Ende wird die Liebe siegen und Johanna wird es gut gehen. Ach, wenn das doch im Leben auch so wäre!

Also liest Jeff ein bisschen aus Cool Career for Dummies vor und dann muss er los, ein Kunde hat Ärger mit seiner Webseite und Jeff muss sich kümmern. Er kocht mir noch einen Kamillentee und stellt ihn mir ans Bett.

„Jeder, der hier wohnt, hat irgendwie seine Geschichte“, sage ich.

„Ja, das habe ich früher auch gedacht“, sagt Jeff.

„Und jetzt?“, frage ich.

„Jetzt denke ich: Jeder hat seine Geschichte“, sagt Jeff. „Egal, wo er wohnt, egal, was er macht. Hier bekommen wir es nur mehr mit. Weil es so ein kleines Dorf ist und jeder jeden kennt.“

Jeff geht. Ja, es stimmt, wir haben alle unsere Geschichte. Ich habe April übrigens gar nicht gefragt, warum sie schon wieder in die Stadt zum Arzt muss. Und Jeff, das ist wirklich ein hartes Schicksal. Ich nehme wieder Claras Buch in die Hand.

Ich denke: Armer Jeff. Arme April. Kleine süße Peppermint. Glückliche Catarina. Sexy Carl. Poor me. Poor me. Poor me ...