VIII

 

Blauer Himmel. Ein paar Wolken. Die Sonne geht hinter den Bergen auf und die Zacken von Rugged Mountain leuchten rötlich. Dann steigt die Sonne höher, das Licht breitet sich aus und das ganze Schneefeld strahlt rötlich. Sieht klasse aus. Ich bin früh wach, und das, obwohl ich doch so spät ins Bett gegangen bin. Aber ich bin überhaupt nicht müde. Der Fluss ist heute opaque-grün und spiegelglatt und ein Weißkopfadler sitzt im Baum gegenüber und sieht in mein Fenster.

Als Vorspeise gab es gestern Abend Ziegenkäse mit Honig auf Baguette im Ofen überbacken. Oder heißt es womöglich an Baguette, könnte ja sein, bei so einem edlen Essen. Als zweite Vorspeise gab es marinierte Austern und gegrillte Krabben. Austern und Krabben von Steve und Chris eigenhändig aus dem Inlet gefischt und bei Carl als Weihnachtsgeschenk abgeliefert. Der Hauptgang: Steak mit Kräuterbutter, marinierte Trauben und Ofenkartoffeln. Die Nachspeise: Mousse au Chocolat. Und zwar die beste, die ich je in meinem Leben gegessen habe.

Mein Tischpartner der vollendete Gentleman.

Seine Geschichten voller Abenteuer, in denen Orte wie Dawson City, Delta Junction und Fairbanks eine Rolle spielen. Er hat sich sein Studium als Geologe mit Feldforschungen finanziert und mehrere Sommer im Kispioux-Valley verbracht. Sie haben in Zelten geschlafen und Mäuse in Eimern gefangen und die Eichhörnchen haben ihnen die Schokoriegel weggefressen. Wie man Mäuse in Eimern fängt? Ganz einfach. Man bohrt eine leere Dose auf und zieht sie auf einen Draht. Dann hängt man diese Dose über einen mit Wasser gefüllten Eimer und legt etwas Erdnussbutter drauf. Das zieht die Mäuse an. Sie laufen über den Draht zu der Dose, klettern auf die Dose, um an die Erdnussbutter zu kommen – und zack – die Dose dreht sich und die Maus fällt ins Wasser. Einziger Nachteil: wenn schon sehr viele tote Mäuse in dem Eimer liegen, dann könnten die zuletzt reingefallenen Mäuse wieder rausspringen. Also muss man die Eimer jeden Tag leeren. Super Falle. Carl ist einen Sommer lang mit dem Auto durch Kanada und Alaska gefahren, von Vancouver über Dawson City nach Anchorage und runter bis nach Homer und dann noch rüber mit der Fähre nach Seldovia. Unterwegs hat er fotografiert und gezeichnet, er hat gedacht, dass er da vielleicht Artikel drüber schreiben könnte, aber daraus ist dann nichts geworden. Irgendwann hat er das Studium abgebrochen und ein paar Monate auf einer Bohrinsel gearbeitet. Er hat im Winter eine Lodge in der Nähe von Talkeetna gehütet und ist mit Fischern in Griechenland draußen gewesen.

In Griechenland? Ja, in Griechenland. Er hat eine Reise durch Europa gemacht, als er noch jung war (in meinen Augen ist Carl ja eigentlich immer noch jung, schon deswegen, weil er jünger ist als ich, und zwar fünf Jahre).

Draußen fährt Jeff in seinem Jeep die Straße runter und der Typ mit dem Boxer an der Leine und dem Kaffeebecher in der Hand geht die Straße hoch.

Ist Carl nie in Versuchung gekommen, ein bürgerliches Leben zu führen? Nein, sagt Carl, ist er nicht. Hat er nie für die Zukunft vorsorgen wollen, frage ich ihn. Nein, sagt Carl, hat er nicht, und irgendwie ergibt sich immer was Neues, etwas, das man gar nicht einplanen kann, weil man zum Zeitpunkt der Planung noch nichts davon weiß. Aber was, aber wenn ... ich versuche es mit Einwänden, den normalen Einwänden, mit denen ich aufgewachsen bin und die die meisten von uns dazu bringt, ihr Leben anständig zu strukturieren, in Rentenpläne einzuzahlen und Sparbücher anzulegen, Wohnungen zu kaufen und Vorräte anzulegen.

Irgendwie geht es immer, sagt Carl. Er verdient eine Zeitlang gut und dann lebt er eine Zeitlang davon. Er hütet Häuser und hilft auf Farmen, er fährt mit Booten raus und lebt in der Wildnis. Und wenn es mal nicht mehr geht, sage ich, wenn du krank wirst, wenn du nicht mehr arbeiten kannst, was dann? Und wenn ich morgen tot umfalle, sagt Carl, was dann?

Beeindruckt mich ja schon, die Art, wie Carl lebt.

Aber könnte ich das, wäre das eine Lösung für mich?

Nein, überhaupt nicht. Ganz und gar nicht. Ich brauche Sparbücher und Rentenpläne und einen Kalender mit Terminen. Ich brauche Sicherheit und ein Grund, warum ich jetzt hier so durchhänge, ist ja, dass ich nicht weiß, was morgen ist. Dass ich nicht mal weiß, was ich für mein Morgen möchte, wie mein Morgen aussehen soll. Von übermorgen ganz zu schweigen.

Jetzt gehen Jeff und April mit Peppermint an der Leine die Straße hoch. Peppermint hat ein neues blaues Halstuch um. Jeff und April gehen nebeneinander her, fast im Gleichschritt. Jeff erzählt mit seinen Händen in der Luft, April lacht und Peppermint schnüffelt die Straße ab.

Carls neues Projekt ist die historische Farm. Seine Familie will eine Stiftung gründen, und da wäre dann sogar ein Gehalt für Carl drin, und für einen Angestellten. Oder Angestellte. Und ob ich vielleicht Lust hätte, da zu arbeiten? Ich hatte doch so gute Ideen, als wir das erste Mal auf der Farm waren, Ideen, wie man das Museumscafé einrichten und betreiben könnte.

Und schon hat sich ein neuer Job für mich ergeben.

Ich versuche es noch mit ein paar Einwänden, was ist mit Aufenthaltsgenehmigung und was ist mit Arbeitsgenehmigung und was ist mit ... als Carl mich stoppt. Ich soll mir überlegen, ob ich es machen will, und wenn ich es machen will, dann findet sich auch eine Lösung. Ich merke: Das kann ich im Moment gar nicht entscheiden. Ich lege den Gedanken auf Eis und öffne Facebook um mich abzulenken und um zu sehen, was die anderen alle so treiben.

Clara hat ein Foto vom Pier in Manhattan Beach reingestellt, Alan und sie auf dem Pier und hinter ihnen der Sonnenuntergang. Der klassische Abspann für den Anfang vom Leben im Glück.

Anna hat einen Link zu einem 40-Sekunden-Spot reingestellt. Von einer Sekretärin, die nach dreißig Jahren wieder anfängt zu arbeiten und schon habe ich einen sehr persönlichen Bezug zu diesem Spot. Das bin sozusagen ich. Der Link hat einen Vermerk: verständlich nur für Leute über vierzig Jahre. Die Frau sitzt am Schreibtisch und tippt, dann fegt sie mit ihrer Hand den Monitor vom Tisch. Klar – wie früher bei der Schreibmaschine, da musste man ja am Ende der Zeile immer dieses Ding verschieben. Ich sehe den Spot drei Mal, ja, das hat was. Ich kann mich noch gut an meine erste Schreibmaschine erinnern. Wir haben unsere Referate noch auf Matritze getippt und irgendwo unten im Uni-Keller an einer Maschine abgezogen. Schreibmaschinen sind zwar noch nicht so veraltet, dass sie für Johns Farm als Deko passen, aber sie sind eben doch veraltet. Und was dieser Spot mir über meine Berufsaussichten sagt – darüber denke ich lieber gar nicht erst nach.

Catarina hat Fotos reingestellt. Von einem Familientreffen in einem Restaurant. Ich kenne das Restaurant, es ist ein einfaches Lokal in der Avenida da Roma, mit einem großen Speisesaal im hinteren Teil des Restaurants, gut für Familientreffen, es gibt leckere portugiesische Hausmannskost zu günstigen Preisen und riesige Portionen. Man sieht einen langen gedeckten Tisch und an diesem Tisch sitzt meine Familie und isst. Ohne mich. Jorge mit Nicole und Tiago und Carlota, Jorges Mutter, Anna und Miguel. Und – ich fasse es nicht – da sitzt doch dieses junge Mädchen, diese Studentin, die ich damals an Jorges Tisch gesehen habe, im Restaurante O Retiro, der Anlass, wo ich dachte, jetzt reicht´s, das ist es, jetzt gehe ich, genug ist genug.

Eine Joana Almeida hat mir eine Freundschaftsanfrage geschickt. Wer soll das denn sein? Kenne ich nicht, merkwürdig. Da – ein paar Einträge an meiner Pinnwand.

Nicole schreibt: ruf den Papa bitte mal an, es ist wichtig

Anna schreibt: Hi Jasmin, ich denke, du solltest Jorge mal anrufen, bjs Anna

Teresa Monteiro schreibt: Seit ich ab und an Carlotas Kekse esse, sehe ich die Welt in bunteren Farben. Sag mir Bescheid, falls du neue Vanillekipferl brauchst. Oder hättest du lieber eine andere Sorte? Alles ist möglich – deine Schwiegermutter

Catarina schreibt: es ist wirklich wichtig – LG Catarina

Unglaublich, als ob sie dazu gehören würde, sagt mir, was ich mit meinem Fast-Ex-Mann machen soll. Na, ganz ehrlich, die kann mich mal. Und eine Nachricht von Clara, nicht an der Pinnwand, sondern in den Nachrichten: Sag mal, hat die Prinzessin dir geschrieben? Wegen verliebt und so? Haben wir irgendwelche schlauen Ratschläge für das Kind? C u – Clara

Ich sinniere über diesen Nachrichten. Was ist da los?

Irgendwas ist da doch los, oder. Mir kommt der Ausdruck negative spaces in den Sinn. Ich brauche eine Weile um meinem Kopf zu folgen.

Wo habe ich den Ausdruck gehört?

Und wieso fällt er mir jetzt ein?

Ich denke nach und mir fällt ein: Ich habe ihn von April gehört.

Ich habe April neulich endlich gefragt, warum sie immer in die Stadt zum Arzt fährt und April hat mir gestanden, sie geht zum Psychologen, weil sie immer noch deprimiert ist, wegen der Scheidung von ihrem Mann, und weil sie da irgendwie nicht so richtig drüber wegkommt, und deswegen hat sich dieses Prozac genommen. Ich habe gesagt, ich dachte, Peppermint bekommt das Prozac. Und April hat gesagt, Peppermint bekommt das Prozac mit Rindergeschmack, ich nehme das normale.

Na, jedenfalls hat sich April nach dem letzten Besuch beim Psychologen entschlossen, das Prozac abzusetzen. Für beide, also für sich und Peppermint. Und sie hat beschlossen malen zu lernen. Und um malen zu lernen, muss man erstmal zeichnen lernen. Also so eine Art Zeichnen-statt-Prozac-Aktion. Und dabei hat sie die negative spaces entdeckt. Das sind die Zwischenräume. Also das, was man nicht zeichnet. Das, was sich durch den Rest der Zeichnung ergibt. Also in klaren Worten: Wenn man einen Stuhl zeichnet, sagen wir einen Holzstuhl, mit Rückenlehne und Querstreben zwischen den Beinen, dann sind die nicht mit Holz ausgefüllten Teile, die Räume, die man nicht umrandet mit seinem Zeichenstift und die nachher doch als umrandetete Räume sichtbar sind, also die Zwischenräume, das sind die negative spaces. Und die sind total wichtig. Sie gehören genauso zum Bild wie die positiven Räume.

Und in diesem Moment wird mir klar, warum mir der Begriff eingefallen ist. Ich werfe nochmal einen Blick auf meine Nachrichten. Ja genau. So ist es.

Alle möglichen Leute haben mir alle möglichen Nachrichten geschickt. Der negative space ist Jorge. Denn Jorge hat sich nicht gemeldet. Er hat nicht auf meine Nachricht reagiert, er hat nichts an meine Pinnwand geschrieben. Was hat das zu bedeuten?

Also versuche ich Jorge anzurufen. Ich schlage acht Stunden drauf – in Lissabon ist es jetzt abends, das ist eine gute Zeit. Telefonzelle eins ist kaputt. Ich fahre also zum Cookshack und versuche es in Telefonzelle zwei. Auch erfolglos. Und zwar, weil April gerade ein Essen für heute Abend bestellt. Lasagne für zwei und Apple Pie mit Sahne. Lasagne und Apple Pie für zwei? Wen hat April zum Essen eingeladen? Womöglich Jeff. Die beiden sind vorhin zusammen die Straße hochgegangen.

Interessant. Macht Spaß, so ein Schreibtisch mit Blick auf die Straße, man kriegt wirklich was mit vom Dorf. Ersetzt geradezu eine Menge direkten Klatsch. Muss April mal fragen, was da läuft, und ob sie was mit Jeff hat. Endlich legt April auf und ich kann wählen. Und habe wieder den Anrufbeantworter dran. Hier ist der Anrufbeantworter von Jorge Monteiro und so weiter und so fort. Ich lege auf. Ich gehe in den Cookshack, wechsle ein paar Worte mit Kathleen und nehme mir einen Becher aus dem Regal. Gieße mir einen Kaffee ein, fülle mit Milch auf. Sehe mir die Kuchen an. Bin vernünftig und nehme keinen Nanaimo Bar oder Rocky Road Square, sondern einen ganz schlichten Blaubeer-Muffin. Aus Vollkornmehl. Und setze mich auf meinen Lieblingsplatz am Fenster.

Der Fjord ist dunkelblau wie immer. Die Berge sind schneefrei. Am anderen Ufer der Streifen Gelb, das ist das vertrocknete Gras. Dahinter, den Fluss hoch, liegt Johns Farm, wo jetzt Carl wohnt. Der Cookshack ist leer bis auf Kathleen und mich. Kathleen fragt mich, ob ich kurz den Diner hüten kann, sie will mal eben zur Post und ich sage, klar, kein Problem.

Als Kathleen weg ist, kommt Jeff. Er fragt nach Kathleen und ich sage ihm, dass ich die Vertretung bin und Jeff bestellt bei mir Essen für abends. Lasagne und Apple Pie. Mit Sahne. Für zwei. Oh la la. Da war meine Schlussfolgerung, was April und Jeff betrifft, offensichtlich falsch.

„Besuch zum Abendessen?“, frage ich.

Ganz die unprofessionelle Wirtin, die sich einmischt, obwohl es sie nichts angeht. Jeff gibt eine ausweichende Antwort und sagt mir nicht, wer zum Essen kommt. Da muss ich wohl noch eine Menge lernen. Ich notiere Jeffs Bestellung und lege den Zettel für Kathleen hin.

Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl so wäre, wenn ich so einen Diner hätte und ob das was für mich wäre.

 

Ich müsste wahnsinnig früh aufstehen und anfangen zu kochen und zu backen. Ich würde Rezepte aus Zeitschriften ausschneiden und ständig auf der Suche nach neuen Gerichten sein. Ich würde in der Küche experimentieren und womöglich den ganzen Tag Kuchenteig naschen. Ich würde den ganzen Tag im Diner sein und abends nach achtzehn Stunden auf den Beinen völlig erschöpft nach Hause gehen und in mein Bett fallen. Ich müsste zu allen freundlich sein. Ich müsste immer lächeln. Leute, die selber überhaupt nicht kochen können, würden womöglich mein Essen kritisieren.

Ich merke: Nein, das wäre es nicht.

Damit ist die Liste der Berufe, die nicht in Frage kommen, wieder ein Stückchen länger. Und die Liste mit den Berufen, die in Frage kommen, immer noch erschreckend kurz.

Okay, ehrliches Statement: weiterhin nicht existent. Nicht ein einziger Beruf auf dieser blöden Liste.

Das heißt, halt, dabei fällt mir ein: Was ist denn nun eigentlich mit diesem Museumscafé, will ich das machen oder will ich das nicht machen? Könnte ich das überhaupt? Ist das mein neues Leben? Will ich das? Und wenn ich es machen will, was würde das bedeuten? Würde ich für immer hier in diesem kleinen Ort bleiben? Für den Rest meines Lebens alleine? Eine ältere alleinstehende Museumsassistentin am Ende der Welt? Oder wäre ich gar nicht alleine, weil ja Carl an meiner Seite wäre? Und womöglich nicht nur an meiner Seite, sondern überhaupt. Und müsste ich zu allen freundlich sein? Vermutlich schon ... Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht ...

Kathleen kommt zurück, bestellt mir Grüße von Mary von der Post und ich soll auf dem Rückweg da vorbeigehen, da liegt ein Brief für mich.

 

Der Brief ist von Jorge. Er ist mit Expresspost geschickt und richtig schnell hier gewesen. Der Brief ist ziemlich kurz. Im Umschlag ist ein Foto. Auf dem Foto ist das junge Mädchen, das ich damals im O Retiro gesehen habe und das auch jetzt auf den Fotos von dem Familienessen im Restaurant ist. Sie heißt Joana Almeida, ist zwanzig und Jorges Tochter.

Sie ist doch wirklich und wahrhaftig die Tochter von dieser bebrillten Studentin, die damals bei uns vor der Tür stand und meinte, ich solle ihrem Glück nicht länger im Weg stehen und mich von Jorge scheiden lassen. Er hat von der Tochter nichts gewusst, schreibt Jorge, bis sie vor fünf Jahren vor der Tür stand. Er hat nicht gewusst, wie er es mir sagen soll, und deswegen lieber nichts gesagt. Und Anna und Clara waren auch der Meinung, dass er mir lieber nichts sagen soll.

Das gibt´s doch nicht.

Ich fasse das nicht.

Ich sitze mit dem Brief in der Hand an meinem schmalen Schreibtisch und gucke auf den Fluss. Dann wieder auf das Foto, dann wieder auf den Fluss, dann auf das Foto in Facebook, dann auf die Anfrage, na klar – diese Joana Almeida ist seine Tochter – und sie haben es alle gewusst. Anna und Clara. Nicole und Tiago. Wahrscheinlich sogar die Schwiegermutter. Nur ich habe nichts geahnt. Es ist nicht zu fassen. Das ist mir eine schöne Familie. Das sind mir schöne Freundinnen, die können mich mal! Was ist denn das für eine Familie? Was ist denn das für eine Freundschaft? Die können mich alle mal. Und zwar – wie heißt es so schön? – kreuzweise. Ich weiß zwar nicht so richtig, was es bedeutet, aber genau das können sie mich. Kreuz- und querweise.

Zeit für ein paar Mitteilungen auf Facebook.

Freundschaftsanfrage von Joana angenommen, das arme Kind kann ja schließlich am wenigsten dafür. Anzahl der Freunde auf Facebook damit – dank außerehelichem Nachwuchs des Ehemannes – jetzt auf neunundvierzig. Dem Ziel der Prinzessin wieder ein bisschen näher gekommen.

Dann ändere ich mein Profil. Ich bin jetzt nicht mehr verheiratet, sondern single. Ha. Und damit auch alle wissen, worum es geht, gleich eine schöne Statusmeldung des Tages.

@ alle: Ich begrüße als neues Familienmitglied die Tochter meines Mannes, Joana Almeida

Und dann:

@Clara, @ Anna: ihr habt das gewusst? Ich bin von euch enttäuscht, ihr könnt mich mal – Jasmin

@ Nicole – meine eigene Tochter belügt mich – ach Kind, hab dich natürlich trotzdem lieb, auch wenn´s mir heute schwerfällt, Mama

@ Clara: jetzt sag bloß, die Joana ist die Vorlage für deine Johanna aus Liebe und Lüge. Für eine gute Geschichte tust du wohl alles, was?

@ Anna: von dir hätte ich das nicht gedacht - Jasmin

@Jorge: es reicht, ich will die Scheidung, Jasmin

@ Teresa Monteiro, @ Carlota: brauche dringend Weihnachtskekse, gerne Vanillekipferl

 

Erst als die ganzen Meldungen raus sind und da im Universum hängen, denke ich, ob die Catarina das absichtlich gemacht hat? Die Fotos auf Facebook gestellt, so dass ich sie sehe? Oder ist es einfach nur passiert? Und wenn sie es absichtlich gemacht hat, war es dann mit dem Ziel, dass ich mich von Jorge scheiden lasse? Damit sie ihn heiraten kann? Ich sehe weiter auf den Fluss. Das Wasser ist immer noch dunkelgrün, aber nicht mehr spiegelglatt. Er fließt jetzt träge in Richtung Inlet. Der Adler sitzt nicht mehr auf dem Baum.

 

Am Abend kommen April, Jeff und Carl vorbei. Es ist nämlich so, April wollte Jeff als Überraschung zum Abendessen einladen und Jeff wollte April als Überraschung zum Abendessen einladen, zwei Herzen ein Gedanke, und weil ja eine Ahnungslose im Diner Vertretung hatte (ich), die Bestellungen nicht genug hinterfragt hat, gibt es nun Lasagne und Apple Pie für vier. Also haben sie Carl von seiner Farm geholt und stehen nun alle hier. Ich habe noch ein paar Flaschen Wein im Haus. Bier ist auch da. Popcorn auch. Und Carl hat eine DVD dabei – Hellboy zwei. Yep. Mistery Man bringt Hellboy ins Haus, ja, das hat was.

Es wird ein klasse Abend und sogar Hellboy zwei entpuppt sich wider Erwarten als sehr sehbarer Film. Er ist schräg. Er ist bunt. Es ist ein Märchen. Es rührt an unsere Kinderseelen und entführt uns in eine andere Welt. Am schönsten ist die Stelle, wo Red (das ist der mittlerweile erwachsene Hellboy) am Bett seiner geliebten Liz steht. Der große harte und etwas angetrunkene Kerl mit der steinernen Faust guckt ganz weich auf seine schlafende Frau und sagt: Das ist sie. Ich würde für sie in den Tod gehen. Aber sie will, dass ich auch noch abwasche.

Oder so ähnlich. April und ich gucken uns an und lachen los. Und ja – wir begreifen die Botschaft: Männer sind was Wunderbares, aber man darf sie nicht überfordern. Reicht doch im Grunde, dass sie für uns in den Tod gehen wollen, für den Abwasch gibt es schließlich Spülmaschinen.

 

***

 

Am fünften Februar ist es mild. Kein Regen, aber auch keine Sonne. Rugged Mountain hat nur wenig Schnee und eine Wolke auf halber Höhe, sieht wie eine Halskrause aus.

Am sechsten Februar ist es neblig und verhangen, und Rugged Mountain hinter Nebel versteckt. Am Nachmittag setzt ein feiner aber stetiger Regen ein.

Am siebten Februar regnet es nicht. Man sieht sogar ein Stückchen blauen Himmel, die Wolken sind an einer Stelle aufgerissen.

 

Am vierzehnten Februar ist Valentinstag und wir fahren alle nach Campbell River. Nicht, weil Valentinstag ist, sondern weil es sich einfach so ergibt. April muss zum Arzt, Carl will ins Museum gehen wegen Anregungen für die historische Farm, Jeff muss dringend mal richtig einkaufen. Und ich muss einfach mal raus. Meine Güte, ich bin ja im Grunde jetzt schon Wochen hier, wenn man mal von meinem unnützen Blitzbesuch in Lissabon absieht, der sich im Rückblick wie ein Traum anfühlt und von dem ich oft wünsche, es wäre einer gewesen.

The Road ist gut.

Aber auf dem Highway erwischt es uns. Es fängt ganz harmlos mit ein paar Schneeflocken an und am Buttle Lake hängen wir in einem Schneesturm. In Minuten ist alles weiß. Außer uns ist kein Auto auf der Straße, aber das ist hier in der Gegend ja noch nicht mal ungewöhnlich, hier kann man Kilometer um Kilometer fahren und kein anderes Auto sehen, selbst an Tagen mit Sonnenschein.

Die Berge sind weiß. Der Schnee türmt sich am Straßenrand. Die Sicht ist minimal. Absurderweise denke ich an Schneeweißchen und Rosenrot, die beiden bösen Schwestern aus Claras Skype. Ist ja auch merkwürdig, was einem so alles durch den Kopf geht. Wahrscheinlich wegen Schnee und Schneeweißchen. Wir sehen sogar einen Bergpuma und das ist wirklich selten. Er läuft direkt vor dem Auto über die Straße, bleibt kurz am Straßenrand stehen, sieht uns an und ist weg. Noch ehe einer von uns auch nur das Wort Kamera denken kann, ist er auch schon wieder weg. Schade. Das wäre ein super Foto für Facebook gewesen.

Jeff fährt sehr langsam, aber plötzlich rutscht der Jeep und wir hängen im Straßengraben. Glücklicherweise ist uns sonst nichts passiert. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, für mich sieht das alles aus wie einer Doku über Grönland oder Churchill, aber Jeff kennt den Weg und weiß, die Lodge ist nur fünf, vielleicht sechs Kilometer entfernt, und dort gibt es Leute und ein Telefon und Hilfe.

Jeff und Carl ziehen sich ihre Jacken an und setzen Mützen auf. Sie steigen aus und gehen in Richtung Lodge. April und ich fragen, ob wir mitkommen sollen, aber die beiden sagen nein, das ist nicht nötig, und es ist kalt und ungemütlich da draußen und April und ich sollen im warmen Auto bleiben. Dann ziehen die beiden los. Schnee und Kälte und Bergpumas zum Trotz. Und jetzt mal ganz ehrlich, dafür, dass sie da jetzt so selbstverständlich losziehen im Schneesturm, können April und ich ruhig ein paar Mal abwaschen, nicht wahr?

 

In Campbell River ist das Wetter dann eigentlich ganz okay. Allerdings werden wir hier jetzt ein paar Tage festhängen (so ganz im Hier und Jetzt, wenn auch unfreiwillig), denn es wird ein bisschen dauern, bis der Jeep von einem Abschleppwagen eingesammelt werden kann.

Der Highway 28 ist immer noch kaum befahrbar, und der Abschleppwagen hat reichlich zu tun. Leihwagen gibt es auch nicht mehr, da wir nicht die einzigen sind, die im Graben gelandet sind. Da werden wir wohl zu Fuß durch die Stadt gehen müssen. Wir erwischen gerade noch zwei Doppelzimmer im Inn im Stadtzentrum. Die beiden letzten freien Zimmer. Da haben wir ja direkt noch Glück gehabt. Wie heißt es immer so schön? Glück im Unglück. Wir sind ohne Gepäck, das ist noch im Jeep, das kriegen wir morgen. Hoffentlich. Sonst übermorgen. So ein Schneesturm bringt eben das ganze Leben durcheinander. Dafür haben wir einen Puma gesehen. Wir stehen im Flur vor den Zimmern 110 und 112, als klar wird – eigentlich möchten April und Jeff ein Zimmer gemeinsam.

Sie drucksen erst ein bisschen rum und sagen dann, wir hätten ja wohl gemerkt, was los ist und wenn sie schon mal zusammen in der Stadt sind, dann wollen sie es auch gemeinsam genießen. Das leuchtet natürlich ein. Nur - wenn April und Jeff ein Zimmer zusammen nehmen, dann müssen sich Carl und ich ein Zimmer teilen.

„Ist das okay?“, fragt Jeff.

„Oder ist das ein Problem?“, sagt April.

„Das ist doch kein Problem, oder?“, sagt Carl zu mir.

Ich sehe auf meine Zehenspitzen. Wow. Ein Zimmer mit Carl. Manchmal hat das Schicksal ja so richtig gute Überraschungen auf Lager. Sozusagen Mega-Glück im Unglück. Ich fühle mich wie ein Schulmädchen. Mein Gott, hoffentlich werde ich jetzt nicht rot. Ich räuspere mich.

„Nein, kein Problem“, sage ich. „Überhaupt kein Problem.“

Ich frage mich, wie viele Betten wohl in dem Zimmer sind. Manchmal sind es ja zwei Doppelbetten in diesen Motelzimmern, aber manchmal ist es auch nur eins. Und wenn es nur eins ist, was dann? Wir haben nicht mal Schlafanzüge. Aber die kann man natürlich im Laden kaufen. Wir müssen ja eh Zahnbürsten und Zahnpasta und Shampoo kaufen. Da kann man auch einen Schlafanzug kaufen. Wenn man denn einen anziehen will. Ich stecke die Karte ins Schloss und mache die Tür auf. Es ist nur ein Bett. Es ist nur ein Bett und ich werde nicht rot und ich denke nicht an heute Nacht.

Wir gehen zu viert los und erforschen die Stadt. Das heißt, die anderen kennen die Stadt ja schon, für mich ist sie neu.

Campbell River liegt an der Ostküste von Vancouver Island, schon ziemlich weit oben im Norden, ein Stückchen überm fünfzigsten Breitengrad, zwischen Nanaimo und Port Hardy. Es hat angeblich fast dreißigtausend Einwohner, wirkt aber irgendwie kleiner. Vielleicht, weil es so ruhig ist. Breite Straßen mit wenig Verkehr. Viele Trucks, viele Vans. Eine Einkaufsstraße unten am Wasser. Mehrere Malls. Eine große Marina. Boote dümpeln im Wasser und Quadra Island wirkt ganz nah. Wir sollten mal rüber nach Quadra Island fahren, sagt Carl zu mir. Carl. Carl an meiner Seite und heute Abend in meinem Bett. So langsam fange ich an, mich richtig zu freuen. Ich bin aufgeregt. Und glücklich. Und ich genieße die Vorfreude. Ich sehe ihn immer wieder an. Carl ist groß und kräftig. Carl hat lange Haare, braune Augen und ein nettes Lachen. Ich frage mich, ob er wohl ein guter Liebhaber ist und ich denke: Bald werde ich es wissen. Bin ich eigentlich noch eine verheiratete Frau?

Nö, irgendwie doch eher nicht, oder.

Wir leben getrennt.

Jorge hat eine Freundin, Catarina. Also bitte.

Es kann gar nicht schnell genug Abend werden, aber es zieht sich irgendwie hin. Wir laufen durch Campbell River, in der Stadt ist Schneematsch, und Carl hält meine Hand, so dass ich nicht ausrutsche und hinfalle. Durch die Handschuhe kann ich seine Haut nicht spüren, aber nicht mehr lange und wir werden im Warmen sein und die Handschuhe ausziehen. Die Mützen absetzen. Die Schals abwickeln. Die Jacken ausziehen. Und alles, was wir sonst noch so zwischen Jacke und Haut haben.

Aber noch ist es nicht so weit. Noch laufen wir zu viert durch die Stadt. Wir gehen ins Pub und essen frittierte Tintenfischringe mit Pommes und trinken dazu Bier. Und noch mehr Bier. Schließlich muss keiner mehr fahren, weil das Auto ja schon im Graben liegt, nicht wahr. Dann sagen April und Jeff, dass sie noch was einkaufen müssen, und wenn wir wollen, können wir schon mal los, was wir auch tun.

Wir gehen langsam zurück zum Inn. Wir schlendern. Wir bleiben vor den Schaufenstern stehen und kommentieren die Auslagen. Wir gucken hoch zu den Sternen. Wir gehen Hand in Hand, damit ich nicht ausrutsche. Ich frage mich, wie das wohl gleich im Zimmer wird.

Im Zimmer ist es warm und gemütlich. Wir machen die Vorhänge zu und die ungemütliche Außenwelt mit Schnee und Eis und Kälte bleibt draußen. Wir stehen nah beieinander. Carl nimmt mein Gesicht in seine Hände. Gleich wird er mich küssen.

Da klopft es. Aber wie. Aber heftig. Wir zucken zusammen, wir hatten in der Tat vergessen, dass da draußen noch eine andere Welt ist. Wir waren gerade dabei unterzutauchen. In unsere eigene Welt einzutauchen. Ich gehe zur Tür und öffne.

Es ist April. Sie hat ihre Sachen bei sich.

„Ich schlafe hier“, sagt April. „Oder störe ich etwa?“

Carl und ich sehen uns an. April ist so um die dreißig Sekunden zu früh gekommen. Jetzt ist alles zerstört. Nichts mehr kann einfach passieren, jetzt müssten wir laut und deutlich sagen, was wir wollen und dazu ist noch keiner bereit.

„Jeff hat sie nicht mehr alle“, sagt April. „Gut, dass ich das rechtzeitig gesehen habe.“

Carl sammelt seine Sachen zusammen und geht.

Mist.

Oder gut. Vielleicht war es gut, dass nichts passiert ist. Wer weiß, wer weiß.

„Und was war?“, sage ich.

„Jasmin“, sagt April. „Frag nicht.“

Sie fängt an sich auszuziehen und zieht ein T-Shirt an, das sie vorhin im Supermarkt erstanden hat. Im Ausverkauf. Heruntergesetzt auf einen Spottpreis. Weil es nämlich noch von Weihnachten ist, mit bärtigen Weihnachtsmännern und Rentieren vor beladenen Schlitten, und sowas will im Februar keiner mehr haben. Und weil sie nicht wirklich damit gerechnet hat, dass sie das Nachthemd heute Nacht braucht, hat sie das hässliche Teil für ein paar Dollar gekauft.

Ich ziehe ein weißes T-Shirt an. Auch aus dem Supermarkt. Schwierige Wahl. Ich konnte mich überhaupt nicht entscheiden. Es sollte sozusagen das Nachthemd überhaupt sein. Ich wollte super aussehen, ohne dass es gewollt aussehen sollte. Sexy ohne zuviel Ausschnitt oder Transparenz. Hübsch ohne aufgedonnert. Sinnloser Kompromiss: ein weißes XXXL T-Shirt.

Wir liegen im Dunkeln und ich bin gerade am Einschlafen, da rückt April mit der Sprache raus.

„Weißt du, was Jeff gemacht hat?“, sagt April.

„Nein“, sage ich. „Was?“

„Er hat Präser gekauft“, sagt April.

„Na, das ist doch sehr umsichtig“, sage ich.

„Er wollte, dass ich mich an den Präsern beteilige“, sagt April.

Ich sage nichts.

„Mit siebzig Prozent“, sagt April. „Nicht mit der Hälfte, nein – mit siebzig Prozent. Und weiß du, wieso?“

„Weil Männer nicht schwanger werden können?“, sage ich.

„Genau“, sagt April.

„Und du hast natürlich erwartet, dass er dich zu dieser Runde Präser einlädt“, sage ich.

„Irgendwie schon“, sagt April.

Ich schließe die Augen und denke daran, was diese Nacht hätte sein können und was diese Nacht nicht ist. Und dass Jeff daran schuld ist, dass diese Nacht nicht so ist, wie sie sein könnte.

„Weißt du, was meine Theorie ist?“, fragt April.

„Nein“, sage ich.

Ich fühle mich plötzlich sowas von müde. Vor meinen Augen sehe ich Campbell River und den Schneematsch auf den Straßen, das super Angebot in den Supermärkten, das bin ich überhaupt nicht mehr gewohnt nach meiner Auszeit am Ende der Welt, warum gibt es hundert Sorten Zahnpasta, mir fällt zum ersten Mal auf, wie unsinnig das eigentlich ist, hundert Sorten Zahnpasta.

„Meine Theorie ist folgende“, sagt April.

Vor meinen Augen sehe ich uns in den Graben fahren. Immer wieder. Ich sehe die weiße Landschaft. Und den rutschenden Jeep.

„Nur ein guter Gastgeber ist auch ein guter Liebhaber“, sagt April. „Daran, wie jemand seine Gäste behandelt, wie er für Leute sorgt, daran kann man sehen, wie er mit Bedürfnissen anderer umgeht.“

Vor meinen Augen sehe ich den Bergpuma, der uns kurz ansieht und dann in den Wäldern des Strathcona Parks verschwindet. Carl war übrigens ein fantastischer Gastgeber, neulich Abend. Er hat mich wirklich verwöhnt. Jetzt wird mir so richtig klar, was mir gerade entgeht. Wenn Aprils Theorie denn stimmt. Aber spricht ja viel dafür, finde ich.

„Jemand, der so geizig ist wie Jeff, der kann kein guter Liebhaber sein“, sagt April.

Jeff ist schuld, denke ich, an meinem Verlust heute Nacht. Ich schließe die Augen und versuche nicht an das zu denken, was hätte sein können. Ich bin gerade dabei einzuschlafen, da fängt April wieder an zu reden.

„Ich leide richtig körperlich bei so viel Knauserei“, sagt April.

Ich sage nichts, die Augen geschlossen, versuche wieder einzuschlafen.

„Aber womöglich bin ich ja auch selber schuld. Ich habe mir für die erste gemeinsame Nacht ein fünf-Dollar-Nachthemd mit Weihnachtsmännern und Rentieren gekauft“, sagt April nach ein paar Minuten. „Ich hab sie doch nicht mehr alle. Vielleicht sollte ich doch wieder Prozac nehmen. Und Peppermint vermisst das Prozac auch.“

Ist April also schuld? Oder bin ich schuld, weil ich nichts gesagt habe, weil ich nicht gesagt habe, nein, ich will das Zimmer nicht wechseln, kommt nicht in Frage, ich will hier mit Carl schlafen? Oder ist Carl schuld, denn der hätte ja auch was sagen können. Ich denke, wir sind alle schuld.

Jeff, weil er geizig ist.

April, weil sie nicht vorgesorgt hat.

Carl, weil er mich nicht geküsst hat.

Ich, weil ich feige bin.

Und Jorge, weil er mir untreu war, denn wenn Jorge mir nicht untreu gewesen wäre, dann wäre ich jetzt nicht hier. Ich finde: im Grunde ist Jorge schuld. Wie immer. An allem. Und mit diesem vertrauten Gedanken schlafe ich ein.

 

Am nächsten Morgen ist die Stimmung so richtig Scheiße. Zwischen mir und Carl herrscht eine undefinierte Spannung, etwas Ungeklärtes, eine Mischung aus Unsicherheit und Anziehung. Wahrscheinlich denken wir beide, wenn´s dem anderen wirklich wichtig gewesen wäre, die Nacht zusammen zu verbringen, dann hätte der doch was gesagt und weil der andere nichts gesagt hat, war´s ihm nicht wirklich wichtig.

Und April redet nicht mit Jeff. Das Interessante: Jeff ist wie immer. Der merkt überhaupt nicht, dass was nicht in Ordnung ist. Wir frühstücken im White Spot und ich frage mich, wie wir das mit der Rechnung machen. In Portugal kommt die Rechnung ja immer erst, wenn man sie bestellt, weil man zahlen möchte. Und dann übernimmt einer die Rechnung oder man teilt einfach durch die Anzahl der Personen. Aber hier kommt die Rechnung immer gleich.

Die Kellnerin bringt Eggs Benedict für mich, Pfannkuchen für Carl, Pfannkuchen mit Sahne und Obst für April und Rührei für Jeff. Dann schenkt sie uns allen Kaffee nach, obwohl die Becher ja eigentlich noch voll sind und bringt die Rechnung. Das ist keine Aufforderung schneller zu essen oder ein Rauswurf, sondern das ist einfach Landessitte.

Wir essen unser Essen.

Keiner rührt die Rechnung an.

Die Kellnerin kommt und fragt, ob alles in Ordnung ist. Sie meint natürlich unsere Eier, Omeletts und Pfannkuchen und ja, die sind in Ordnung. Zu dem Rest äußern wir uns lieber nicht.

„Du musst übrigens noch mal bei Kathleen vorbeigehen, da ist noch deine Hälfte von der Rechnung von neulich offen“, sagt Jeff jetzt zu April. „Ich hab´s für dich anschreiben lassen.“

Und wenn das jetzt ein Comic wäre, würde der Zeichner über Aprils Kopf ein paar dicke Fragezeichen zeichnen.

„Was für eine Rechnung neulich?“, sagt April und redet nun doch mit Jeff. „Ich zahle bei Kathleen immer gleich.“

„Die Lasagne und der Apple Pie“, sagt Jeff.

„Aber ich habe meine Lasagne und den Apple Pie bezahlt“, sagt April.

„Vielleicht den Teil, den du bestellt hast“, sagt Jeff. „Aber da ist ja noch deine Hälfte von dem, was ich bestellt habe.“

Ich schicke ein kleines Stoßgebet zum Himmel, ein kurzes Lieber-Gott-bitte-lass-mich-nie-so-werden, so knickerig-knauserig, und ich lege im Kopf eine Liste an mit Eigenschaften, die mir bei einem Mann wichtig sind. Und an die erste Stelle setze ich Großzügigkeit. Ich drehe die Rechnung um, es sind fast achtzig Dollar, das lässt sich einfach durch vier teilen, bisschen Trinkgeld drauf, fertig.

„Jeder vierundzwanzig?“, sage ich.

„Meins hat weniger gekostet“, sagt Jeff.

„Dann leg einfach irgendwas hin“, sagt Carl und Jeff legt fünfzehn rein, und Carl legt fünfunddreißig rein und April sieht aus, als ob sie gleich im Boden versinkt.

„Kann man hier eigentlich Delphine sehen?“, frage ich. Einfach um mal auf ein anderes Thema zu kommen, schließlich sind wir hier noch für eine ganze Weile zusammen. Wer weiß, wann Jeffs Jeep fertig ist.

„Manchmal schon“, sagt April. „Vorne auf dem Pier.“

„Lasst uns zum Pier gehen“, sagt Carl. „Vielleicht haben wir ja Glück und sehen Delphine.“

Wir laufen durch die Stadt. Das Wetter ist unglaublich trübe und grau. Leichter Nieselregen fällt vom Himmel und macht den Schnee endgültig zu Schneematsch. Ich laufe und sehe nach unten. Ich bin einsam. Jorge fehlt mir. Ich frage mich, was ich hier eigentlich mache. Ich frage mich, was ich überhaupt machen soll. Ich kann hier doch nicht ewig einfach rumhängen. Ich müsste meinem Leben eine Richtung geben. Aber welche?

Wir laufen den Pier hoch und sehen auf die Strait von Georgia. So heißt das Wasser hier nämlich, diese Durchfahrt zwischen Vancouver Island und Festland. Ein paar Angler stehen auf dem Pier und versuchen Fische zu fangen. Lachse, Heilbutt und was es hier sonst noch so gibt. Vorne am Pier gibt es einen kleinen Kiosk, wo sie Snacks und Eis verkaufen, aber uns ist nicht nach Eis, uns ist auch so kalt genug.

Wir laufen den Pier nach links, man hat einen klasse Blick auf die Boote und Quadra Island und die schneebedeckten Berge hinten auf dem Festland. Im Sommer muss es hier richtig schön sein. Jetzt ist es hauptsächlich kalt. Ich sehe raus aufs Meer. Ich friere. Carl legt mir seinen Arm um die Schultern und drückt mich an sich. Ich lehne mich eng an ihn an, meine Schulter passt genau in seine Achselhöhle und ich fühle mich sehr aufgehoben. Ganz langsam wird mir ein bisschen wärmer. Ich sehe zu ihm hoch und er sieht mich an und ich weiß, jetzt wird er mich gleich küssen. Aber zunächst küsst er mich sanft auf die Schläfe, genau an der Stelle, wo die Mütze aufhört und die Haut freiliegt.

„Wir bleiben hier jetzt solange stehen, bis wir Delfine sehen“, sagt April und sieht entschlossen in die Ferne.