XI

 

Joana und meine Schwiegermutter werden gegen Mittag von Jeff abgeholt, er wird sie nach Nanaimo bringen, von dort werden die beiden nach Vancouver fliegen und dann weiter nach New York, wo Maria Teresa noch zwei Wochen mit Joana verbringen wird, ehe sie wieder nach Lissabon zurückfliegt. Jetzt ist sogar meine Schwiegermutter bald in New York. Nur ich – ich bin noch nie da gewesen.

Ich bin ja so froh, dass ich das noch erleben darf, sagt meine Schwiegermutter, was ist das doch für ein Glück, dass es die Joana gibt. Ich sage nichts dazu, denn ich kann mich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass es ein Glück ist, dass es die Joana gibt.

Wir stehen alle vor dem Haus und nehmen Abschied. Ich verabschiede mich zum ersten Mal in meinem Leben ungern von meiner Schwiegermutter, denn eigentlich waren es nette Tage hier mit ihr. Ich nehme die Joana in den Arm und drücke sie. Sie ist wirklich ein nettes Mädchen und ich kann in ihr Jorge sehen, und eine Ähnlichkeit mit Nicole, das irritiert mich irgendwie, natürlich. Und gleichzeitig hat es etwas Nettes, was Familiäres.

Plötzlich kommt April. Sie hat einen kleinen Rucksack in der einen Hand und Peppermint an der Leine in der anderen Hand und sie sagt zu Jeff, dass sie gestern bei Kathleen war, um ihre Rechnung zu bezahlen. Jeff sagt nichts.

„Aber es gab gar keine Rechnung“, sagt April.

Jeff sagt immer noch nichts.

„Kann ich mitfahren?“, fragt April.

Jeff sagt immer noch nichts.

„Es tut mir leid“, sagt April. „Es tut mir wirklich und von Herzen leid, dass ich dich so falsch eingeschätzt habe. Dass ich dir so misstraut habe. Können wir nicht noch mal von vorne anfangen? Bitte.“

Jetzt endlich nickt Jeff und nimmt April den kleinen Rucksack ab und stellt ihn in den Kofferraum. Und was ist mit der Schule, will Jeff wissen, muss April nicht unterrichten? Aber April sagt, sie hat sich in der Schule krank gemeldet (liebeskrank, wahrscheinlich) und Peppermint ist kein Problem, die wird von Jasmin gehütet, nicht wahr, Jasmin?

Und schon habe ich Peppermints Leine in der Hand. Peppermint guckt vertrauensvoll zu mir hoch. Und irgendwie ist das doch bewundernswert, wie schnell der kleine Hund sich mit wechselnden Umständen anfreundet und nur das Beste erwartet.

„Kein Prozac?“, frage ich.

„Kein Prozac“, sagt April. „Wir wollen das jetzt so schaffen, nicht wahr, Peppermint?“

 

Und dann sind alle weg und ich wieder alleine. Das sollte ich vielleicht ausnutzen und weiter überlegen, was ich mit meinem Leben anfangen will. Ich bin da doch noch kein Stück weiter, oder? Ich weiß immer noch nicht, was ich mit meinem Leben machen kann oder will. Langsam nervt es mich selber. Warum bin ich zu blöde? Warum fällt mir nichts ein? Andere schaffen es doch auch.

Joana wird übrigens Hutmacherin, genau wie die Johanna in dem Buch von Clara. Ich habe zu Joana gesagt, dann hat die Clara das also von dir. Und Joana hat gesagt, nein, umgekehrt, ich habe es aus dem Buch, denn anders kommt es zeitlich ja auch gar nicht hin, nicht wahr. Das Buch ist schon ein paar Jahre alt und ich bin doch erst jetzt mit der Schule fertig. Ich bin die Vorlage für die Johanna, das ist schon wahr, aber ich werde Hutmacherin, weil die Johanna Hutmacherin geworden ist und ich das einen schönen Beruf finde, da ist die Johanna die Vorlage für mich. Das ist eine merkwürdige Verkettung von Leben und Fiktion und ich schaffe es nicht, da jetzt genauer drüber nachzudenken, was da der Anlass für was war, das ist mir jetzt zu viel.

Als ich nach oben komme, liegt ein kleines Päckchen neben meinem Computer. Daneben ein eingerolltes Papier, mit Band und Siegel zusammengehalten. Ich breche das Siegel auf und mache das Band ab. Rolle das Papier auf. Es ist ein Brief.

 

Liebe Frau Monteiro,

mein Name ist Benjamin Walter. Ich bin Joanas Vater. Nicht ihr biologischer Vater – das wissen Sie ja auch – aber ich habe Joana großgezogen und sie ins Leben begleitet. Sie ist meine Tochter und sie wird es immer sein.

Ich verstehe, dass die ganze Situation für Sie nicht einfach ist. In meiner Arbeit als Juwelier habe ich die tägliche Herausforderung, verschiedene Materialien so zusammenzufügen, dass es ein gelungenes Ganzes ergibt.

Wie ich hörte, sind Sie eine talentierte Quilterin, und ich denke, somit haben auch Sie die Fähigkeit, einzelne Teile zu einem stimmigen und schönen Ganzen zusammenzufügen.

Als Zeichen meiner Anerkennung und Wertschätzung erlaube ich mir, Ihnen beiliegendes Schmuckstück zu schenken.

 

Ihr Benjamin Walter

 

Benjamin Walter. Und woher weiß er nun, dass ich eine talentierte Quilterin bin? Vermutlich über Joana und dieses Foto auf Facebook, ich mit dem Quilt und dem kaputten Daumen, dieses Facebook ist doch die größte Klatschbörse der Welt. Und so genial, weil man nicht mal offen klatschen muss, man kann es einfach am Computer tun. Gleich morgens als erstes. Hinter dem Rücken aller, sozusagen. Wenn man will jederzeit. Und dazu noch weltweit. Und ehrlich gesagt, ich mache es ja auch. Und zwar so richtig gerne.

Benjamin Walter, wo habe ich den Namen nur schon mal gehört ... Natürlich – er ist ein bekannter New Yorker Juwelier, ich habe neulich einen Artikel über ihn gelesen, in einer dieser vielen Zeitschriften, die hier in Annas Haus rumfliegen, weil sie ein Zeitschriftenjunkie ist. Ja klar, dieser Benjamin Walter ist der Benjamin Walter und damit der Juwelier New Yorks.

Ich öffne die Schachtel und sie enthält – wie jetzt ja auch schon von mir erwartet – ein Schmuckstück. Beziehungsweise zwei. Eine Kette mit Anhänger und eine dazu passende Brosche. Aus Silber oder sogar Platin (bin keine Expertin, habe nie viel Schmuck getragen, zumindest keinen echten, dazu fehlt in einem Haushalt mit einem Einkommen und zwei Kindern ja schlicht und einfach auch das Geld, nicht wahr), mit blauen Steinen, bestimmt Edelsteine, welche, kann ich nicht sagen.

Die Brosche ist ein paar Zentimeter groß und rund, aber es fehlt ein Teil, sieht aus wie rausgebrochen. Das fehlende Teil ist der Anhänger. Wenn man beides zusammenfügt, ergibt es ein Ganzes. Beides sind Stücke, die man sieht und sofort weiß: das sind echte Designer-Teile. Was sie ja auch sind. Beide Teile sind signiert beziehungsweise gestempelt: BWNY. Das steht, na logo, für Benjamin Walter New York. Wow. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Kette und eine Brosche von BWNY besitzen würde. Wow.

Ist schon verrückt: Damals, als ich die Tür meiner Wohnung in Lissabon vor der Nase des bebrillten Seitensprunges meines Mannes zuschlug, hätte ich doch nie gedacht, dass mir genau diese Geste gute zwanzig Jahre später mal ein Schmuckstück von einem angesagten Designer aus New York bescheren würde. Das ist doch wieder mal der klassische Butterfly-Effekt. Und zwar vom Feinsten.

 

Peppermint liegt zufrieden auf dem Teppich und ich gucke zufrieden in Facebook. Super Fotos drinnen von gestern Abend. Das war Jeff natürlich. Die irische Musik. Die tanzenden Leute. Die riesige Pizza. Das schönste Foto: Carl und ich mit einer riesigen Pizza, bereit da reinzubeißen, jeder von einer Ecke. Getagt und kommentiert von Jeff.

Jasmin Monteiro und Carl Lawrence teilen immerhin schon einmal eine Pizza.

Super. Sieht klasse aus. Nur Teile von unseren Gesichtern, die mit großen Augen in die Kamera gucken und im Mittelpunkt der vampirmäßig an der Pizza angesetzte Biss. Jeder von einer Seite. Klasse. Nehme ich doch gleich mal als Profilbild, sieht doch super aus.

Da ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, jetzt hier so plötzlich ganz alleine, und geputzt ist ja auch schon, die ganze Wohnung ist so sauber wie nie zuvor, nicht mal die Fenster müssen geputzt werden, der Blick auf Rugged Mountain und den Fluss ist ungetrübter denn je, und Cool Career for Dummies kenne ich ja jetzt mittlerweile praktisch auswendig, ohne dass mir das allerdings auch nur irgendwie irgendwas gebracht hat, und weil es ja immer heißt, dass man durch Gehen an der Luft auf neue Gedanken kommt, weil der Kopf durchgepustet wird und weil mein morgendlicher Skype mit Anna oder Clara wegfällt, weil ich ja immer noch nicht mit den beiden rede, und weil ja Peppermint bewegt werden muss, nehme ich den Pudel an die Leine und stehe vor der Entscheidung: Leiner River Trail, West Bay Trail oder Müllkippe.

 

Als wir von der Müllkippe zurückkommen, steht meine Entscheidung fest: ich werde mit meinem neuen Stoff einen neuen Quilt nähen. Und während ich die Teile der Patchworkdecke zusammenfüge, fügt sich vielleicht auch mein Leben zusammen, wer weiß. Ich mache den Esstisch frei und fange an. Ich lege die Gummimatte auf den Tisch, damit ich hier nicht Annas Esstisch beschädige (rücksichtsvoll, nicht wahr, trainierte Hausfrau eben) und fange an, die fat quarters in Streifen zu schneiden. Fat quarter ist ja auch ein merkwürdiges Wort. Es bedeutet, dass man einen Viertel Yard Stoff kauft, aber eben nicht einen Viertel Yard hoch, sondern einen halben Yard hoch und dafür nur die Hälfte der Breite. Leuchtet doch ein – oder? Das ist ein fat quarter.

Ich falle völlig in meine Patchworkdecke. Ich messe, schneide, nähe, kombiniere, probiere Muster, ändere, trenne, messe, schneide, nähe und der Quilt wächst unter meinen Händen. Ab und zu gehe ich mit Peppermint nach draußen. Bin dem Schicksal dankbar, dass es mir diesen Hund geschickt hat, sonst würde ich ja überhaupt nicht mehr vor die Tür gehen.

Das wird ein super Quilt. Während ich so nähe, denke ich vor mich hin, nicht, dass ich mit meiner Berufsentscheidung irgendwie weiterkäme, das nicht. Aber ich merke plötzlich, dass ich mich noch nicht bei Joanas Vater, also bei Joanas Stiefvater, für den wunderschönen Schmuck bedankt habe. Ich müsste ihm einen Brief schreiben, aber hier ist kein Drucker.

Und es braucht doch in der Tat eine Weile, bis ich merke: man kann Briefe auch mit der Hand schreiben. In der Tat war das ja lange Zeit – vor LP, Schreibmaschine und Stofftaschentüchern – sogar die einzige Möglichkeit. Ich suche in Annas Schrank nach Papier, nehme einen Bogen und einen Stift und schreibe einen netten Dankesbrief an Benjamin Walter.

Im Grunde hat er mir sehr viel mehr geschenkt, als nur diesen Schmuck, merke ich. Ich kann es noch nicht so richtig benennen, aber ich merke, da ist was.

Ich bringe den Brief zur Post, und weil ich schon mal auf dem Weg zur Post bin, nehme ich den Brief von Jan an Anna mit. Ich gehe zu Fuß, die ganze South Maquinna hoch, über die Brücke mit dem Fluss, an dem langsam verfallenden Gebäude vorbei, wo früher für die Leute vom Sägewerk gekocht wurde. Zu diesen Zeiten hatte der Ort über zweitausend Einwohner. Da war das hier eine richtige kleine Stadt. In der Kurve der Wasserfall, der rauschend in einen Bach fließt und unter der Straße durch, und wie immer das Gefühl: Hier ist die Wildnis, die Häuser täuschen Zivilisation vor, aber sie sind nichts weiter als ein kleiner Klecks Zivilisation in weiten Wäldern. Da sollte man sich von Heizung und Heißwasser nicht täuschen lassen, da läuft schon mal ein Bergpuma durch den Garten und hinterlässt mit seiner Tatze einen Abdruck im Schnee.

Ich laufe weiter. An der Kirche mit dem Spitzdach vorbei. Eine schmale Kirche, eingepresst zwischen Straße und Fjord. Ein Stückchen weiter die erste Marina. Im Winterschlaf. In weißes Plastik eingeschweißte Boote warten an Land darauf, dass die Saison losgeht. Das grüne Gebäude mit dem roten Dach der Marina. Souvenirshop, Restaurant und Bar, allerdings nur im Sommer. An den Anlegern dümpeln Boote. Alte, neue, fein herausgeputzte und alte Holzkisten oder wie es so schön heißt: schwimmende Särge.

Ich erzähle Mary auf der Post von meinem neuen Quilt und wir diskutieren eine Weile sachverständig (fühlt sich jedenfalls für mich so an) die Fortschritte meines Quilts. Da tut sich im Grunde eine ganze Welt auf. Es gibt die traditionellen Muster. Es gibt aber auch art quilts, wie ich jetzt in meinem neuen Buch aus Gold River gesehen habe. Es gibt wunderschöne Landschaften, es gibt abstrakte Kunst. Es gibt Westen und Jacken. Dann gebe ich Mary den Brief nach New York und den Brief nach Lissabon.

Ist schon wahr – ich habe das nicht zu entscheiden. Ich werde vermutlich nie erfahren, was in dem Brief von Jan an Anna steht. Und das ist auch völlig richtig so, denn es geht mich ja auch wirklich nichts an. Jan hat diesen Brief an Anna geschrieben. Nur der merkwürdige und – machen wir uns nichts vor: allgegenwärtige – Butterfly-Effekt hat veranlasst, dass dieser Brief erst jetzt hier ankommt. Und dieser Butterfly-Effekt hat auch veranlasst, dass der Brief in meine Hände fällt. Und jede meiner Entscheidungen wird Auswirkungen haben und keine davon kann ich auch nur im Ansatz übersehen. Aber da denke ich jetzt nicht drüber nach, denn sonst wird es so richtig kompliziert.

Mary sagt, wart mal, da ist auch ein Brief für dich und sie sieht die postlagernden Briefe durch und gibt mir einen Brief. Von Tiago.

 

Im Cookshack binde ich Peppermint auf der Terrasse an und trinke drinnen bei Kathleen einen Kaffee. Ich könnte mich an das Leben hier gewöhnen. Das hat doch was.

Der beruhigende Blick auf das Inlet mit seinen blauen Bergen.

Der ruhige, um nicht zu sagen verschlafene, Rhythmus des kleinen Dorfes, ausgelegt für zweitausend Einwohner, bewohnt von dreihundert Einwohnern.

Die Abhängigkeit vom Zustand von The Road.

Die Pizza im Pub. Das Frühstück in der Kirche. Der Kaffee im Cockshack. Ich esse eine Zimtschnecke mit Butter. Groß, lecker, frisch und süß. Ich weiß – ist nicht gut. Aber ich bin zu Fuß hierher gelaufen, so dass das wenigstens eine Plus-Minus-Geschichte ist. Und zurück muss ich ja auch noch, das verbraucht ja auch Kalorien, allerdings wohl leider nicht so viel, dass es kalorienmäßig eine Minus-Geschichte wird.

Der Brief ist von Tiago. Eine Einladung zu seiner Hochzeit mit Carlota im Mai. Die beiden wollen also wirklich heiraten. Sogar schon im Mai. Im Mai – das ist ja auch schon in zwei Monaten. Mein Kleiner heiratet. Meine Güte. Aber tja – ich war auch nicht älter als Tiago, als ich geheiratet habe. Ob die beiden wissen, was sie da tun? Vermutlich nicht und vermutlich ist das gut so. Ich merke plötzlich, das ist die erste persönliche Nachricht seit Tagen, ich habe über diesem Quilt doch glatt vergessen im Internet rumzudaddeln und bei Facebook vorbeizugehen. Sowas aber auch. Ich habe in der Tat seit Tagen keine Nachrichten mehr auf Facebook geguckt. Ich bin völlig in meinen Quilt gefallen.

 

Also zu Hause erstmal Computer auf und zu Facebook. Ein Foto mit meiner Schwiegermutter, Benjamin Walter und Joana mit der Freiheitsstatue im Hintergrund. Darunter zehn gefällt-mir-Daumen. Da setze ich doch gleich noch einen dazu. Macht elf.

Und eine ganze Reihe von Nachrichten auf meiner Pinnwand als Kommentar zu meinem neuen Foto im Profil.

Paul: Bären- oder Beerenpizza? Love Paul

Die Prinzessin: cooles pic, coole Pizza – Lena

Anna: das sieht nach mehr aus? R U in love??

Clara: Jeff oder Carl???

Jorge: Jasmin, ich möchte, dass du weißt, dass ....

Hier bricht der Satz ab. Was möchte Jorge, dass ich weiß? Was soll ich wissen? Und was ist passiert? Computer kaputt? Internet zusammengebrochen? Mein Noch-Mann sprachlos? Fassungslos? Eifersüchtig?? Eine Mischung aus allem? Da blinkt Anna im Skype auf. Also gut. Mut zusammen und durch.

Ich: ich muss dir was beichten

Anna: und ich möchte dir was erklären

Ich: wer zuerst?

Anna: fang du an, dann gucken wir weiter

 

Nach einer Weile ist die Welt wieder in Ordnung und wir sind wieder versöhnt. Anna weiß jetzt, dass dieser Brief von Jan an sie unterwegs ist, und sie wird schon irgendwie damit fertig werden. Sagt sie.

Ich weiß jetzt, wieso die Anna von der Joana wusste. Weil nämlich damals, als Joana auftauchte, Jorge sich an Miguel gewendet hat. Weil Männer nämlich auch nicht nur Einzelgänger sind, sondern sich manchmal bei ihren Freunden Rat holen. Aber weil Miguel auch nicht wusste was raten, hat er es Anna und Jan erzählt. Und sie dachten alle, ich würde mich von Jorge trennen, wenn ich es erfahre. Und sie fanden alle, das wäre schade, weil Jorge und ich doch so gut zueinander passten und weil wir so eine harmonische Familie waren. Also haben sie alle beschlossen, dass es besser ist, ich weiß nichts davon. Und womöglich war es das ja sogar. Und irgendwie kann ich Anna da schon verstehen. Also gut.

Ich: 3 x das Zeichen für die Blume

Annna: 2 x den Kußmund

Ich: die Sonne und den Kußmund

Anna: Daumen nach oben

Tja, ich würde sagen: Wir sind wieder versöhnt.

Und weil das so gut gelaufen ist, gehe ich doch gleich noch mal bei Facebook vorbei und schicke eine Nachricht an Clara: logo bin ich interessiert am Ende von Schneeweißchen und Rosenrot, d.h. nicht am Ende der beiden, sondern am Ende der Geschichte. Also wie geht´s aus? Wer bekommt den Bären? Oder teilen sie ihn etwa??? Ist es wirklich ein verwunschener Prinz oder müssen sie neue Frösche, äh Bären suchen – beijinhos-küsschen Jasmin

 

Ich nähe an meinem Quilt weiter und bin fast fertig, fehlt nur noch der Rand, aber das ist ja kein Akt, das habe ich gleich, da klingelt es unten an der Tür. Vielleicht April, die Peppermint abholen möchte, wer kann es sonst sein.

Ich mache die Tür auf. Es ist Carl.

„Frauen sind mir ein Rätsel“, sagt Carl statt einer Begrüßung. „Ich hätte nämlich neulich in der Pizza-Nacht im Motel wirklich den Eindruck, dass du ganz gerne mit mir zusammen bist.“

„Bin ich auch“, sage ich.

Bin ich ja wirklich. Und wie er da so steht, merke ich, Carl hat mir gefehlt und ich finde ihn klasse. Es ist nicht nur sein Aussehen (das natürlich auch), es ist einfach die ganze Ausstrahlung, seine Augen, sein Lachen. Alles.

„Und warum hast du dich dann nicht mal bei mir gemeldet?“, fragt Carl.

„Du hast kein Telefon“, sage ich. Aber ich weiß natürlich auch, dass das eine lahme Ausrede ist. Schließlich habe ich ein Auto und weiß, wo Carl wohnt.

„Ach komm“, sagt Carl.

„Also gut, also gut, okay, ich weiß es nicht“, sage ich.

Das ist die ehrliche Antwort. Ich weiß es nämlich wirklich nicht. Habe ich stattdessen erwartet, dass Carl sich bei mir meldet? Nein, nicht mal das. Irgendwie habe ich da einfach nicht dran gedacht, weil ich so in meine Patchwork-Decke gefallen bin.

„Und warum bist du nun neulich nicht zum Essen gekommen?“, fragt Carl.

„Wegen der Schwiegermutter und Joana“, sage ich.

„Aber die sind ja jetzt wieder weg, oder?“, sagt Carl.

„Ja“, sage ich.

„Und sind jetzt irgendwelche anderen Besucher da?“, fragt Carl.

„Nein“, sage ich. „Niemand hier. Außer Peppermint und mir.“

(Reimt sich sogar, Zufallstreffer).

„Werden irgendwelche Besucher für heute erwartet?“

„Nein“, sage ich.

„Irgendwelche anderen Pläne für heute?“, fragt Carl.

„Keine Pläne“, sage ich.

„Vielleicht Lust auf ein gemeinsames Essen heute?“, fragt Carl.

„Yep“, sage ich. Und ob.

„Gut“, sagt Carl.

Er dreht sich um und geht zu seinem Auto. Macht die Tür auf und nimmt einen Picknick-Korb raus.

„Dann koche ich hier“, sagt Carl. „Sonst tauchst du womöglich wieder nicht auf, weil wieder irgendwas dazwischenkommt, und ich sitze wieder mit dem ganzen Essen da und das ist ja irgendwie schade um das gute Essen.“

Carl kocht kompetent in meiner super aufgeräumten Küche (danke Schwiegermama, das ist ganz ernst gemeint, danke) und wir reden über meinen zukünftigen Job im Museum. Meinen möglichen zukünftigen Job im Musem. Soll ich zustimmen oder nicht? Und wenn ich nicht zustimme, was könnte ich dann stattdessen machen? Clochard unter den Brücken von Paris klingt nur romantisch, wenn man jung ist und das Leben noch vor sich hat. Und so richtig romantisch klingt es auch nur, bevor man als Romanistik-Studentin das Auslandssemester in Paris gemacht hat. Danach sieht das dann auch schon ein bisschen anders aus. Es kann unter den Brücken der Seine nämlich verdammt kalt und feucht werden. Und Rotwein-Baguette-Käse ist eine Vorstellung von Nahrung, aber keine wirkliche Dauer-Ernährung.

Beim Abendessen – Mann, ist Carl ein guter Koch! Ich bin ja mehr so die Hausfrau-Familien-Köchin, ich koche nicht schlecht und es sind immer alle satt geworden und es hat immer allen geschmeckt, aber das hier ist irgendwie eine andere Liga. Ich koche in der Spaghetti-Liga, Carl kocht in der Tapas-Antipasti-Liga. Also beim Abendessen spielen wir in Gedanken mal unser Leben als Jasmin Monteiro und Carl Lawrence als Museumsleiter der historischen Farm durch.

 

Carl und ich auf Johns Farm. Wir haben das Haus tipptopp renoviert, die Stallgebäude auch, das Metalldach ist weg und statt dessen liegen wieder Holzschindeln auf dem Dach, es sieht hier wieder aus wie vor siebzig oder achtzig Jahren, als John in der Wildnis ankam und hier sein Leben als Siedler begann. Carl und ich legen im Frühjahr einen Garten für das Gemüse an. Carl schneidet den alten Pflaumenbaum, so dass er wieder Früchte trägt. Ist zwar ein bisschen riskant wegen der Bären im Frühsommer, aber das Risiko gehen wir ein. Er sägt die unteren Äste ab, da sind die Pflaumen für die Bären schwerer zu erreichen.

Carl trägt Kleidung, die ich für ihn im Winter genäht habe. Zumindest wenn die Besucher da sind. Da laufen wir nämlich ganz authentisch rum, wie echte Siedler. Ich im langen Kleid mit Schürze, er in grober Hose, Hemd und Weste. Ich habe ihm die Weste gestrickt, und die Wolle dafür habe ich an den Abenden selber gesponnen, auf dem alten Spinnrad, das hier im Wohnzimmer steht. Das erzählen wir jedenfalls den Besuchern.

Wir pflegen den Garten, ernten das Gemüse, kochen ein, machen Marmelade, die wir im Café servieren und verkaufen. Im Frühjahr und im Sommer sind wir viel draußen. An heißen Tagen baden wir im Fluss. An den Wochenenden kommen die Besucher, manchmal auch in der Woche, aber meistens am Wochenende, wir servieren Tee, Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer und wir können gut davon leben, von den Eintrittsgeldern, der Stiftung der Familie und den Förderungen, die wir noch zusätzlich bekommen.

Einmal im Jahr macht die Schule im Ort ein Projekt, die älteren Schüler kommen für drei oder vier Tage und helfen auf der Farm und lernen, dass Gemüse nicht nur abgepackt und eingeschweißt im Supermarkt zu kaufen ist, sondern eigentlich in der Erde wächst, dass Eier nicht in Zwölferschachteln von Robotern produziert werden, sondern in der Tat hinten aus Hühnern fallen und Milch nicht in Tüten vom Himmel fällt, sondern aus Kühen kommt.

Nach einer Weile werden die Träume schöner und schöner. Das kommt bestimmt von all dem leckeren Essen und dem guten Wein und der Musik von Angelique Ionatos. Wir beschließen, die CD nicht zu wechseln, wir fangen einfach immer wieder von vorne an. Angelique Ionatos singt Gedichte von Frieda Kahlo, Alas pa´ Volar. Das ist die perfekte Musik um zu träumen – also nach einer Weile spielen wir unser Leben nicht nur als gemeinsame erfolgreiche Museumsleiter durch, sondern auch als glückliches Paar.

Carl und ich sind sehr glücklich zusammen. Manchmal fahren wir ins Dorf, um ein paar Sachen im Supermarkt einzukaufen, zu tanken und bei Kathleen Kaffee zu trinken. Ab und an fahren wir über The Road in The Stadt. Wenn wir frei haben, wird Carl mir Courtney und Comox zeigen und wir werden am Kin Beach zelten. Wir werden bei Billy D abends ein Bier trinken und den anderen beim Dart-Spielen zusehen.

Im Winter haben wir die Farm dann ganz für uns. Im Winter kommen keine Besucher. Das Museum ist geschlossen. Carl wird den Ofen heizen und das Werkzeug reparieren. Ich werde Wolle spinnen und Quilts nähen ...

 

Draußen setzt Sturm ein. Wind zieht vom Inlet hoch. Regen prasselt auf das Dach. Wir stehen auf und sehen aus dem Fenster. Der Sturm heult noch mal so richtig auf. Eine Dachpappe segelt durch die Luft, fällt fast auf die Straße, bekommt noch mal Wind von unten und fliegt wieder hoch. Das ist kein Wetter, wo man vor die Tür geht.

„Du kannst einfach hier bleiben, wenn du willst“, sage ich zu Carl.

„Aber nicht im Gästezimmer“, sagt Carl.

„Hat jemand Gästezimmer gesagt?“, sage ich.

„Dann ist ja gut“, sagt Carl.

Wir sehen zu, wie der Wind weiter den Regen durch die Straßen peitscht. Draußen ist es stockdunkel. Kein Auto fährt. Es muss schon sehr spät sein. Kein Mensch ist auf der Straße, natürlich nicht, bei dem Wetter, selbst der Typ mit dem Kaffeebecher und seinem Hund sitzt vor seinem Kamin oder Fernseher oder schläft. So wie die meisten hier im Dorf um diese Zeit. April und Jeff sind jetzt in Nanaimo. Joana und Schwiegermutter sind in New York. Tiago und Carlota stehen jetzt vermutlich auf oder sind längst wach und planen weiter an ihrer Hochzeit, weil uns Lissabon ja um acht Stunden voraus ist. Und wenn ich nicht von der Existenz aller dieser Menschen wüsste (und dem, was sie aktuell tun, dank Facebook), könnte ich denken, wir wären hier alleine auf der Welt.

So ungemütlich da draußen. So kalt. So dunkel.

Aber hier drinnen – richtig gemütlich. So warm und gemütlich.

Die Teelichter tauchen den Raum in ein sanftes Licht. Carl legt den Arm um mich. Er steht dicht hinter mir. Ich kann seinen Körper spüren. Ich lehne mich etwas nach hinten. Gemeinsam sehen wir in die Dunkelheit und lauschen dem Regen. Angelique Ionatos singt: Pies para qué los quiero si tengo alas pa´volar. Was brauche ich Füße, wenn ich doch Flügel zum Fliegen habe ...

Und in diesem Moment weiß ich, das es eine schöne Nacht wird. In diesem Moment interessiert es mich nicht die Bohne, was mit meinem Leben war oder was mit meinem Leben wird. In diesem Moment zählen nur Carl und ich und die Sicherheit des blauen Flusshauses. Die Indianer in dieser Gegend haben Häuser als Schachteln betrachtet. Schützende Schachteln. Der Gedanke gefällt mir. Und in dieser Schachtel hier ist es im Moment besonders schön und geschützt. Und gut. Und einfach – wow ...

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, geht es mir so richtig gut. Ich höre Carl in der Dusche pfeifen. Das hat mir gefehlt – dass ein Mann morgens in der Dusche pfeift. Mein Bett ist warm und fühlt sich wie ein Nest an. Ein warmes gemütliches Nest in einer schützenden indianischen Schachtel. Es geht mir einfach gut und mir wird klar, was meine Schwiegermutter und Carlota mit diesem ease up als Weihnachtsgruß auf ihren Vanillekipferln gemeint haben könnten. Diese Nacht war praktisch ein einziges wunderbares ausgiebiges Ease-up.

Und mein Leben hat endlich wieder eine Perspektive.

 

Beim Frühstück besprechen wir die Details. Wir werden größtenteils auf Carls Farm wohnen. Kann ja auch sein, dass Anna mir ihr Haus hier vermietet, jetzt, wo sie so selten hier ist, weil sie mit Miguel in Porto wohnt und außerdem ja noch ihren Hof in Monsanto hat. Ich werde sie mal fragen. Miguel ist ja nicht so der Typ, der hier in der Wildnis glücklich werden würde. Miguel ist ein Typ für die Stadt, da ist er ganz anders als Jan, und das ist vermutlich auch gut so. Carl und ich könnten natürlich auch eine Wohnung in der Stadt mieten, in Courtney oder Campbell River, und dann abwechseln zwischen Stadt und Land. Wir könnten an den Tagen, wo das Museum geschlossen ist, in der Stadt wohnen. Wir planen und träumen und träumen und planen.

Plötzlich wohne ich in Kanada. Bis gestern war ich Touristin, jetzt plane ich meine Zukunft hier, habe hier eine neue Liebe gefunden und schon bin ich keine Touristin mehr, sondern eine – ja was? Eine Auswanderin beziehungsweise eine Einwanderin? Ja, irgendwie schon. Carl wird mit seiner Familie besprechen, wie wir das mit der Aufenthaltsgenehmigung regeln. Er sagt, das kriegen sie schon hin, die Tochter seiner Tante, also einer entfernten Tante, die Tochter dieser Tante, damit eine noch entferntere Kusine, ist Anwältin in Toronto und wird das regeln. Er wird nächste Woche nach Toronto fliegen, da können sie das alles besprechen und einreichen und dann können wir so richtig mit der Renovierung durchstarten, dann wären wir zur Saison fertig und im Mai könnten dann die ersten Besucher kommen.

Draußen hat der Regen aufgehört. Alles ist noch nass. Die Sonne steht hoch am Himmel (ja, wir sind spät aufgestanden, kann ja vorkommen) und Rugged Mountain steckt seine Spitzen zackig in einen blauen Himmel. Nach dem Frühstück gehen wir Hand in Hand mit Peppermint an der Leine die North Maquinna runter bis zur Müllkippe und zurück. Und wenn ich heute hier abgenagte Karibuknochen finden würde – so what? – jetzt mit Carl an meiner Seite wäre mir das völlig egal.

 

Während Carl in Toronto unsere Zukunft regelt, während meine Schwiegermutter sich von Joana New York zeigen lässt, während Peppermint wieder ihre Knochen bei Frauchen April abnagt und April und Jeff ganz vorsichtig anfangen sich zu trauen, an ein neues Glück zu glauben, nähe ich die Umrandung an meinen Quilt. Die Umrandung ist staubfarben wie der Staub von The Road. Die Umrandung gibt dem Quilt den richtigen Rahmen und hält das Ganze visuell zusammen. Nicht nur visuell, auch materiell, übrigens, denn nur so bleiben die Teile auch an Ort und Stelle.

Der Nachteil dieser Umrahmung: man muss sie mit der Hand nähen. Das ist aufwändig und dauert ewig. Man näht sie mit der Maschine an, aber man muss es mit der Hand festnähen. Staffieren, wie es korrekt heißt, dieser kleine Stich, der die Umrandung unsichtbar an der Unterseite befestigt. Das würde mit der Maschine genäht einfach nicht gut aussehen, also mache ich mir doch wirklich die Mühe und nähe es mit der Hand. Mary von der Post (übrigens keine Post da für mich) sagt, sonst sieht es einfach nicht so professionell aus. Und wenn Mary das so sagt, dann stimmt das auch. Mary ist nämlich the Queen of Quilting hier im Dorf.

Zwischendurch schicke ich eine Mail an Clara: Was ist denn nun eigentlich mit Schneeweißchen und Rosenrot? Wie geht es aus? Wer bekommt den Bären??? Und ist es wirklich ein verwunschener Prinz? LG vom EdW nach HB und bjs – Jasmin