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INNEN / TAG – ZIMMERECKE MIT KAMIN

Ein großer Bär schläft vor einem Kamin, in dem ein Feuer brennt. Im Feuer steht ein großer Kessel aus schwarzem Eisen. Eine FRAU (ca. 50) rührt in dem Kessel und murmelt Zauberformeln halblaut vor sich hin.

 

AUSSEN / TAG – VOR DEM HAUS

Wir befinden uns vor einem Haus, das wie ein Lebkuchenhaus aussieht. An der Wand lehnen drei Reisigbesen. Im Garten vor dem Haus wachsen zwei wunderschöne Rosenbäume – ein roter und ein weißer.

Neben dem Hexenhäuschen (denn darum handelt es sich hier) steht eine große Trauerweide. Unter der Trauerweide steht eine rotgestrichene Gartenbank aus Holz, auf der eine schlafende schwarze Katze liegt. Vor dem Haus stehen SCHNEEWEISSCHEN (ca. 18 Jahre alt, Typ Schneewittchen) und ROSENROT (ca. 18, Typ Dornröschen).

 

SCHNEEWEISSCHEN

Zum letzten Mal. Es ist mein Bär.

 

ROSENROT

Nein, es ist mein Bär. Wer hat ihm denn die Tür geöffnet? Ich. Ich habe ihm die Tür geöffnet.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Aber er liegt jeden Abend vor meinem Kamin. Er wärmt sich an meinem Kamin. Also ist es mein Bär.

 

ROSENROT

Seit wann ist das denn dein Kamin?

 

SCHNEEWEISSCHEN

Ich mache den Kamin sauber, also ist es mein Kamin.

 

ROSENROT

Das ist albern.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Ich mache den Kamin sauber, ich schichte das Holz, ich halte das Feuer in Gang.

 

ROSENROT

Albern.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Du kannst den Zwerg haben.

 

ROSENROT

Was für einen Zwerg?

 

SCHNEEWEISSCHEN

Den Zwerg von vorhin, den Zwerg aus dem Wald.

 

ROSENROT

Du spinnst ja, kommt überhaupt nicht in Frage, das ist ein Giftzwerg.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Vielleicht steckt ja ein goldenes Herz in seiner giftigen Schale.

 

ROSENROT

Was soll ich mit dem Giftzwerg? Wer will einen Giftzwerg? Niemand will einen Giftzwerg.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Und was willst du dann?

 

ROSENROT

Den Bären, natürlich.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Und was willst du mit einem Bären?

 

ROSENROT (verträumt)

Der Bär ist bestimmt ein verwunschener Prinz. Das ist kein normaler Bär. Jede Wette – dieser Bär ist ein verwunschener Prinz. Ich spüre das. Ich fühle das einfach.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Weißt du was, Rosenrot, du bist ja hübsch und nett anzusehen, das bist du wohl, aber manchmal zweifle ich wirklich an deinem Verstand.

 

ROSENROT

Dann sag mir, was willst du mit dem Bären, wenn es kein verwunschener Prinz ist?

 

SCHNEEWEISSCHEN

Mich im Winter wärmen, was sonst. Auch Hexen müssen Heizkosten sparen. Ein Katzenfell im Bett ist im Winter gut. Ein Bärenfell ist besser. Und ein lebendiger Bär ist das Allerbeste.

 

Bei diesen Worten schreckt die Katze aus dem Schlaf hoch, streckt sich, springt von der Gartenbank und verschwindet hinter dem Haus.

 

ROSENROT

Ganz besonders, wenn ein verwunschener Prinz im Bären steckt.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Ach Rosenrot, dein ganzes Leben faselst du nun von diesem verwunschenen Prinzen. Das Leben ist kein Märchen. Werde endlich erwachsen, Rosenrot!

 

ROSENROT

Ich habe wenigstens einen erwachsenen Namen.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Im Gegensatz zu?

 

ROSENROT

Im Gegensatz zu dir, Schneeweisschweisschenweisschen.

 

SCHNEEWEISSCHEN

Du hast recht – ich heiße ab heute Schneeweiß.

 

ROSENROT

Was ist nun mit dem Bären, kann ich ihn haben oder nicht?

 

SCHNEEWEISS

Du kannst den Giftzwerg haben. Das ist mein letztes Wort.

 

ROSENROT

Wer hat eigentlich bestimmt, dass du immer bestimmst?

 

Schneeweiß dreht sich um und greift nach einem der drei Besen an der Wand. Sie sieht, dass der Besen eine raue Stelle am Stiel hat. Sie stellt den Besen zurück, und nimmt einen anderen. Sie schwingt sich auf den Besen, hebt ab und verschwindet in den Lüften.

 

ROSENROT

He, das ist mein Besen ...

 

Die Tür des Hexenhäuschens öffnet sich. Die Mutter erscheint. Hinter ihr sieht man die Schnauze des Bären.

 

MUTTER

Ist Schneeweißchen weg?

 

ROSENROT

Ja.

 

MUTTER

Gut, sehr gut. Also, Rosenrot, hör mir jetzt gut zu, ich möchte dir einen Vorschlag machen ...

 

Ende des Textes. Also echt, Clara. Einen Anfang schicken und dann einfach abbrechen. Sie hat mir das als E-Mail geschickt, und obwohl ich nicht mit ihr rede, konnte ich natürlich nicht widerstehen und habe die Mail aufgemacht (verdammte Neugier, die zu Inkonsequenz verleitet, Mist). Jetzt geht unten eine Tür auf und das Geräusch katapultiert mich in mein eigenes Leben zurück. Schritte auf der Treppe, das sind Maria Teresa und Joana. Klar – die sind natürlich früh wach geworden, da hat eindeutig der Jetlag gegen einen im Tee gewonnen.

„Wir haben in der Kirche gefrühstückt“, sagt Maria Teresa. „Furchtbar unordentlich, und in die Küche guckt man besser nicht rein, aber herrliche Pfannkuchen, nicht wahr, Joana?“

„Super lecker“, sagt Joana.

Die beiden sehen erfrischt und zufrieden aus. Das machen wahrscheinlich der Spaziergang an der guten Luft hier und die leckeren Pfannkuchen in der Kirche. Während ich hier immer noch wie durch den Schrank geschmissen aussehe. Ungekämmt, im Schlafanzug mit dicker Strickjacke drüber. Ich habe wirklich super schlecht geschlafen, der ganze Alkohol, dann dieser wirre Traum mit den schlafenden Hunden, und so bin ich erst in den Morgenstunden richtig eingeschlafen, da gurrten draußen schon die ersten Tauben.

„Wir sollen dich von dieser netten Lehrerin mit den rot-lila Haaren grüßen“, sagt Maria Teresa, „die war auch zum Frühstück, allerdings hat sie keine Pfannkuchen gegessen, sondern Waffeln.“

„April Green“, sagt Joana.

„Genau, April“, sagt meine Schwiegermutter. „Und dann haben wir noch zwei reizende Herren getroffen. Einen Mr Thompson und einen Mr Lawrence. Sie lassen dich auch ganz herzlich grüßen.“

Ich brauche eine Weile, bis mir klar wird, mit den reizenden Herren Thompson und Lawrence sind Jeff und Carl gemeint.

„Die waren auch zum Frühstück?“, frage ich.

„Nein“, sagt meine Schwiegermutter, „ich habe Herrn Thompson aufgesucht, weil Kathleen meinte, dort könnte ich vielleicht die Zutaten für meine Kekse bekommen.“

Erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit meine Schwiegermutter an einem Vormittag das halbe Dorf kennenlernt.

„Jeff verkauft Mehl?“, frage ich.

„Nicht das Mehl“, sagt meine Schwiegermutter, „das haben wir im Supermarkt geholt, bei dem netten Mann, der uns gestern mit dem Laster mitgenommen hat. Nein, die andere Zutat.“

„Oh“, sage ich. „Diese Zutat.“

„Leider hatte Mr Thompson nichts“, sagt meine Schwiegermutter. „Aber er lässt dich schön grüßen und er schickt dir das hier.“

Und mit diesen Worten drückt sie mir das Päckchen mit den Präsern in die Hand, das Jeff in der Stadt gekauft hat. An denen sich April beteiligen sollte. Der Auslöser der Missstimmung, sozusagen.

„Und was will er dafür haben?“, frage ich.

„Ach, Jasmin“, sagt meine Schwiegermutter, stellt ihre Einkäufe auf den Tisch und setzt sich auf das Sofa. „Das ist ein ganz furchtbares Missverständnis. Garnichts will er dafür haben.“

„Aber ...“, sage ich.

„Aber nichts“, sagt die Schwiegermutter. „Herr Thompson hat mir erklärt, wie das Missverständnis zustande gekommen ist. Es war ein Witz.“

„Was war ein Witz?“, frage ich und ganz ehrlich, ich verstehe hier überhaupt nichts.

„Er hat zu April gesagt, dass er will, dass sie sich an dem Einkauf beteiligt“, sagt Maria Teresa. „Aber das war natürlich als Witz gemeint. Mr Thompson hat sich einen Scherz erlaubt. Bloß – April hat das nicht als Witz verstanden, sondern ernst genommen. Und Mr Thompson war daraufhin verletzt, weil April ihm zugetraut hat, dass er so ein Geizkragen ist. Und das ist ja auch sehr verletzend, nicht wahr.“

„Aber er ist ein Geizkragen“, sage ich. „Hinterher im Café, und auch später die ganze Zeit.“

„Weil er verletzt war“, sagt Maria Teresa. „Da hat er die Rolle natürlich weiter durchgezogen.“

„Aber was macht das denn für einen Sinn?“, sage ich.

„Manchmal ist man verletzt und reagiert irgendwie und zieht die Rolle dann durch, obwohl es keinen Sinn macht“, sagt meine Schwiegermutter. Und weiter sagt sie nichts dazu, denn das war deutlich genug und jeder von uns darf sich seinen Teil dazu denken.

„Und dieser andere Herr ist übrigens auch reizend“, sagt Maria Teresa. „Dieser Mr Lawrence. Und wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann warst du gestern Abend dort zum Abendessen eingeladen und bist nicht hingegangen.“

„Äh – ja“, sage ich.

„Vermutlich sind wir daran schuld, die Joana und ich“, sagt meine Schwiegermutter. „Das tut mir jetzt wirklich leid. Aber mal ganz ehrlich – wenn ich noch so jung wäre wie du und mich lädt so ein attraktiver Mann wie dieser Mr Lawrence zum Abendessen ein, dann würde ich da wirklich hingehen und mich nicht von irgendwelchen unangemeldeten Besuchern davon abhalten lassen. Man ist ja schließlich nicht ewig jung.“

„Äh – ja“, sage ich.

Sieh an, meine Schwiegermutter. Wer hätte das gedacht. Meine Schwiegermutter ist wie ausgewechselt. Was doch so eine kleine Zutaten-Änderung in den Weihnachtskeksen ausmacht, sieh an, sieh an.

„Und heute Abend ist Live Music im Motel, da kommt eine Band aus der Stadt und Mr Thompson und Mr Lawrence gehen hin und würden sich freuen, wenn wir auch kommen, und ich fände es schön, wenn wir da auch hingehen würden, das wird bestimmt sehr nett.“

Meine Schwiegermutter steht auf und nimmt die Tüte mit den Einkäufen und geht zur Küche.

„Ich backe jetzt trotzdem Kekse“, sagt sie. „Auch wenn die entscheidende Zutat fehlt. Und wenn ich du wäre, würde ich was davon heute Abend mitnehmen, man kann ja nie wissen.“

Ich soll von den Keksen was mitnehmen? Zu einem Abend im Motel? Mit Live Music? Aber dann zeigt Maria Teresa auf die Schachtel, dir Jeff mir geschenkt hat.

Das meint sie also. Hallo die Enten.

„Wenn ich hier jetzt ein bisschen Ordnung mache, wäre das eine Hilfe oder eine Beleidigung?“, fragt meine Schwiegermutter.

Ich denke kurz nach. In der Tat würde es der Wohnung ja mal ganz gut tun, wenn hier ein bisschen sauber gemacht würde. Und ich habe ja im Grunde gar keine Lust dazu, es selber zu machen. Ich putze nämlich nicht so besonders gerne. Also wäre es doch eine Hilfe, oder? Ich sollte das annehmen, nicht wahr.

„Es wäre eine Hilfe“, sage ich.

„Gut“, sagt meine Schwiegermutter. „Dann bleibst du da einfach sitzen, und ich bringe dir einen Kaffee und die Joana und ich machen hier ein bisschen Ordnung. Aber nur, wenn es wirklich okay ist.“

„Es ist wirklich okay“, sage ich, und merke, es ist wirklich und in der Tat okay, und während ich höre, wie die Kaffeemaschine blubbert und sich der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee im Haus ausbreitet und das Geschirr in der Küche klappert und während um mich herum Ordnung entsteht, ohne dass ich was dafür tun muss, gehe ich zu Facebook und gucke, was da so los ist. Im Grunde ist meine Schwiegermutter jetzt hier doch eine echte Hilfe. Und womöglich hat sie das früher auch als Hilfe gemeint. Nicht als Kritik, sondern als Hilfe. Und ich habe das nur missverstanden. Und missverstanden ist natürlich das Stichwort, weil ich gleich an Jeff und April denke, und womöglich ist die ganze Welt voller Missverständnisse, weil wir alle zu blöde sind, vernünftig miteinander umzugehen.

Einträge an der Pinnwand:

Nicole: sag mal, ist die Oma bei dir? Der Papa macht sich echt Sorgen, weil er solange nichts von ihr gehört hat. Deine Nicole

Das ist ja auch interessant. Bei mir macht sich Jorge Sorgen, bei seiner Mutter macht er sich echt Sorgen.

Die Prinzessin: was soll ich denn jetzt mit diesem Typen machen? Ich finde ihn total cool – und er beachtet mich nicht. Love Lena

Mist, über meinen eigenen Problemen habe ich doch ganz vergessen, der Prinzessin zu antworten.

Anna: komm schon – du kannst doch nicht ewig schmollen – jetzt sag mal piep – Anna

Clara: Menina Jasmina, wenn du das Ende der Geschichte hören willst, musst du wieder mit mir reden. Bjs – Clara

Jorge: Jasmin, bitte ruf mich mal an, rede mit mir, du kannst nicht einfach so aus meinem Leben verschwinden nach all den Jahren, so geht das nicht, Jorge

Also here we go und zwar sofort, damit ich es nicht wieder verschlampe. Ich schreibe eine Nachricht an Lena.

Jasmin an Lena: liebe Prinzessin – tut mir leid mit der späten Antwort. Leider weiß ich auch nicht so recht, was ich dir raten soll, denn mit Allgemeinplätzen wie die Zeit heilt alle Wunden, kommt Zeit, kommt Rat und so weiter ist dir ja auch nicht wirklich geholfen. Was soll ich sagen? Im Grunde doch: ganz egal, wie alt man wird, Liebe, Beziehungen und Männer werden für Frauen wohl immer ein Rätsel bleiben. Frag Anna, Clara und mich (was du ja in der Tat getan hast), wir können dir das alle bestätigen. Und weißt du was – sprich den Jungen doch einfach mal an, unterhalte dich mit ihm und dann sieht man, was passiert – Küsschen von deiner fast-Tante Jasmin, incompetent love consultant

Ob die Lena überhaupt das Wort Allgemeinplatz kennt? Womöglich wird das heute gar nicht mehr benutzt, weil es genauso altmodisch ist wie LP, Telegramme und Stofftaschentücher. Wie Galan und Landpomeranze, wie ... Plötzlich steht meine Schwiegermutter neben mir und hält mir einen Brief vor die Nase.

„Den habe ich beim Aufräumen gefunden“, sagt sie.

Ach du liebe – äh – Zeit, das ist der Brief von Jan an Anna.

„Und was machen wir damit?“, fragt meine Schwiegermutter.

Ja, was machen wir denn damit? Ich weiß es auch nicht.

„Ich weiß es nicht“, sage ich.

„Und warum hast du ihn nicht längst an die Anna geschickt?“, fragt meine Schwiegermutter.

„Ich hatte irgendwie Angst, dass es ihr wehtut“, sage ich.

Denn das war es doch, ich hatte Angst, dass dann die ganze Trauer wieder aufbricht. Ich will nicht, dass sie wieder in dieses tiefe schwarze Loch fällt. Ich möchte, dass es Anna gut geht. Auch jetzt noch, obwohl ich nicht mir ihr rede.

„Sieh an, sieh an“, sagt meine Schwiegermutter. „Da hast du also entschieden, was für die Anna gut ist.“

Sie legt mir den Brief auf den Schreibtisch und geht in die Küche. Sie hat nichts weiter gesagt, aber da hängen jetzt natürlich reichlich unausgesprochene Sätze in der Luft. Von wegen selber Sachen tun, die man anderen übel nimmt und so weiter und so fort. Ich sehe auf mein neues Glasbild mit der blauen Blume und dann auf Rugged Mountain. Rugged Mountain ist heute ganz besonders gezackt, finde ich, und die Schneegrenze scheint ein bisschen höher zu sein. Anscheinend taut es. Der Fluss ist dunkelgrün und ein paar Enten dümpeln auf dem Wasser in Richtung Inlet.

Ich drehe mich auf meinem Schreibtischstuhl und sehe in das Wohnzimmer statt aus dem Fenster. Da steht Joana und macht mit dem Besen ein paar Spinnweben oben in einer Ecke an der Decke weg. Sie hat einen Kopfhörer auf und summt irgendeine Melodie mit. Das Mädel kennt mich kaum und hat sich auf die weite Reise zu mir gemacht und macht hier auch noch Spinnweben in der Wohnzimmerecke weg. Das ist in der Tat doch supernett von ihr.

Meine Schwiegermutter erscheint und stellt mir einen neuen Kaffee hin, mit etwas Milch, ohne Zucker, genauso wie ich ihn immer trinke. Dann geht sie wieder in die Küche. Ich sehe wieder auf den Brief. Ich weiß immer noch nicht, was ich damit machen soll. Aber ich gehe zu Facebook und schreibe an Annas Pinnwand.

Jasmin an Anna: piep

 

Am Abend gehen wir zu der Veranstaltung im Motel. Drei Generationen Frauen, nicht blutsverwandt, jedenfalls nicht alle, aber vom Schicksal merkwürdig miteinander verkettet. April ist auch da und sogar Kathleen hat ihren Cookshack für den Abend geschlossen und ein hübsches Kleid angezogen, ich erkenne sie kaum wieder. Ohne ihre Schürze. Und die reizenden Herren Thompson und Lawrence sind auch da, zur Freude meiner Schwiegermutter. Und der Fahrer vom Gemüselaster und auch sonst viele Leute aus dem Dorf, im Grunde fast das ganze Dorf. Wer fehlt, ist die Band. Die sind nämlich einfach nicht gekommen.

Das macht aber nichts, davon lässt sich so eine Holzfäller-Sägewerk-Gemeinde nicht unterkriegen, die sind ganz anderes gewohnt, die wissen, wie man am Ende der Welt ohne Hilfe von der Außenwelt alleine zurechtkommt. Wie man improvisiert.

Noch vor kurzem hatten die doch nicht mal eine anständige Straße (wenn man denn The Road als anständige Straße bezeichnen will). Da wurde die Post eingeflogen. Da wurde der Alkohol jeden Freitag aus dem nächsten Dorf mit dem Boot geholt, weil es im Dorf keinen Alkohol zu kaufen gab. Da fuhr eine Abordnung Holzfäller fünfundvierzig Minuten bei Wind und Wetter das Inlet runter, im Sommer wie im Winter, und das nächste Inlet wieder hoch und kam Stunden später (gut gelaunt und innerlich gewärmt) zurück mit einem Boot, das so richtig schwer im Wasser lag, wegen der wertvollen Ladung, und von den anderen schon sehnlichst am Pier erwartet wurde. Da fuhr man Kolonne, wenn man wirklich mit dem Auto in die Stadt musste. Da wußte jeder Fahrer: Wenn du einen Holzlaster siehst, dann ziehst du besser den Kopf ein, denn wenn der Truck um die Ecke fährt, haut er dir das Verdeck von deinem Auto ab und so bleibt dein Kopf trotzdem dran. Da kamen die Nachrichten aus Vancouver auf Kassette, mit der Post, und wurden dann im Dorf abgespielt, mit zwei Tagen Verspätung.

April, Jeff und Carl sind längst die nächste Generation, Zugezogene, die sich aus irgendwelchen Gründen hier am Ende der Welt aufhalten. Genau wie ich. Aber es gibt sie noch, die alten Holzfäller, die Leute, die früher im Sägewerk gearbeitet haben, die Leute, die die alten Zeiten noch kennen.

Solche Leute lassen sich nicht so einfach unterkriegen.

Steve organisiert eine Gitarre. Chris hat eine Geige und kann sogar drauf spielen, das hat sie von ihrem irischen Vater gelernt. Der Mann, der die Pfannkuchen in der Kirche backt, hat auch eine Gitarre und kann auch drauf spielen. April – so stellt sich heraus – hat eine wunderbare Stimme. Und schon haben wir einen Abend mit irischer Musik vom Feinsten. Und einer Bombenstimmung. Die wir ganz nach original irischer Art flüssig anheizen.

Am nächsten Morgen werden wir bestimmt alle einen kollektiven Kater haben. Einen Gesamt-Dorf-Kater, sozusagen. Aber was soll´s. Das ist es doch allemal wert, oder etwa nicht?