24

Ich ging um den Wagen herum, der hier seltsam bedrohlich wirkte, wie das Skelett eines unbekannten Tieres. Aus allen vier Reifen war die Luft herausgelassen. Shana hatte offenbar nirgendwo mehr hinfahren sollen. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass sie tot war, dass sie zu ihrer Verabredung mit Dr. Dunne erschienen war und danach das Grundstück nicht mehr verlassen hatte. Ich hob den Kopf. Unter den Bäumen war es kühl. Es roch nach fauligen Blättern, feuchtem Moos und Schwefel. Die Dunkelheit war undurchdringlich, die Geräusche der Nacht auf unheimliche Weise verstummt, so als wäre meine Gegenwart allein bedrohlich genug für die Zikaden und Frösche, um das Zirpen und Quaken einzustellen. Ich wollte sie nicht finden. Ich wollte nicht suchen. Jede Faser in mir sagte mir mit schmerzlicher Sicherheit, dass hier irgendwo ihre Leiche liegen musste.

Ich fühlte, wie sich mein Magen zusammenzog, als ich den Schein meiner Taschenlampe über die Vordersitze des Plymouth gleiten ließ. Nichts. Ich wiederholte die Prozedur auf der Rückbank. Wieder nichts. Ich starrte auf den Kofferraumdeckel. Mit meinem Dietrich würde ich an diesem Schloss nichts ausrichten können. Vermutlich blieb mir nichts anderes übrig, als in das Hotelbüro einzubrechen, Shanas Schlüssel aus dem Karton für »Fundsachen« zu entwenden und damit hierher zurückzukommen. Ich drückte auf den Knopf, und der Deckel klappte auf. Der Kofferraum war leer. Erleichtert atmete ich aus, ich hatte automatisch die Luft angehalten. Ich ließ den Kofferraum offen, um nicht unnötig Krach zu machen. Das »Sanctuary« musste irgendwo in der Nähe sein.

Ich versuchte mich an den Lageplan zu erinnern. Auf der Suche nach einem Weg ließ ich den Lichtkegel der Taschenlampe über die Büsche gleiten. Blattwerk, das bei Tag in frischem Grün leuchtete, wirkte jetzt in der Nacht matt und gelblich wie Pergamentpapier. Bei einer Lücke zwischen den Büschen führten einfache Stufen aus Eisenbahnschwellen und gestampfter Erde abwärts.

Ich stieg die Treppe hinunter. Ein Holzpfeil mit der Aufschrift >Adlerhorst< zeigte nach links. Ich kam an »Hafen« und »Tipp Top« vorbei. »Sanctuary« war die vierte Heilquelle von oben. Plötzlich fiel mir wieder ein, dass »Sanctuary« am Ende eines gewundenen Weges lag, von dem zwei kleinere Pfade abzweigten. Die Blätter unter meinen Füßen waren feucht und weich und schluckten jedes Geräusch meiner Schritte. Die Abdrücke meiner Schuhe füllten sich mit Wasser. Als ich das »Sanctuary« erreicht hatte, leuchtete ich mit der Taschenlampe über den Boden und entdeckte drei Zigarettenkippen zwischen dem Laub. Ich bückte mich. Camel ohne Filter. Shanas Marke.

Die Stille wurde nur gestört durch das gelegentliche Aufheulen einer Sirene auf dem Highway. Hin und wieder raschelte der Wind in den Zweigen. Der starke Schwefelgestank machte es unmöglich, andere Gerüche wahrzunehmen. Man sagt mir nach, dass ich eine Leiche mit der Nase finden könne, aber an einem solchen Ort musste auch ich passen.

Über dem Badebecken lag eine zweilagige Isolierplane mit einem Plastikgriff am Rand. Nach kurzem Zögern hob ich die Plane hoch. Eine Schwefelwolke wehte mir ins Gesicht. Das Wasser in dem Holzbassin war pechschwarz, die Oberfläche spiegelglatt, Dampfschwaden hingen darüber. Ich spürte, wie sich mir der Mund zusammenzog. Um keinen Preis der Welt hätte ich meine Hand da hineingesteckt. Ich spürte schon förmlich an meinen Fingerspitzen Shanas weiches, wallendes Haar in der schwarzen Brühe. Dann fiel mir ein, dass sie, falls sie getötet und dann hier ins Wasser geworfen worden war, mittlerweile durch die Gasbildung längst an der Oberfläche treiben müsste. Ich merkte, wie mir schwindlig wurde. Manchmal sind meine eigenen Gedanken meine größten Feinde.

Auf Kniehöhe entdeckte ich eine Holztür, hinter der sich vermutlich Heizaggregat und Pumpe befanden. Ich öffnete sie. Der Mörder hatte die Leiche mit den Füßen zuerst hineingestopft. Shanas Oberkörper klappte automatisch rückwärts aus der Öffnung, sodass ihr Kopf auf meinen Fuß fiel. Blicklose Augen starrten mich an. Ich stöhnte entsetzt auf.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!«

Ich fuhr hoch und wirbelte herum, mein Herz raste, und ich presste die Hand dagegen.

Da stand Elva Dunne mit einer Taschenlampe in der linken Hand.

»O Gott, Elva! Haben Sie mich erschreckt!«, fuhr ich sie an.

Elva warf einen flüchtigen Blick auf Shana, ohne auch nur annähernd so entsetzt zu wirken, wie ich es gerade gewesen war. Viel zu spät entdeckte ich die kleine halbautomatische Pistole vom Kaliber 5,6 Millimeter, die sie in Gürtelhöhe auf mich gerichtet hielt. Waffenfreaks mögen vom Kaliber 5,6 Millimeter nichts halten, da sie offenbar der Meinung sind, eine Waffe tauge erst dann etwas, wenn man damit ein schönes großes Loch durch eine Holzscheibe schießen kann. Elva hatte solche Skrupel wohl leider nicht. Sie sah aus, als sei sie entschlossen, mir direkt über dem Nabel ein hübsches kleines Loch zu verpassen. Mit einer Kugel vom Kaliber 5,6 Millimeter in den Eingeweiden fühlt man sich kaum sonderlich wohl. Sie prallt wie ein kleines Spielzeugauto von jedem Knochen ab und zerfetzt jedes Organ, das ihr im Weg ist.

»Ein Mann hat mich angerufen und behauptet, Bailey Fowler sei hier oben«, sagte Elva. »Also keine Bewegung, sonst schieße ich.«

Ich hob die Hände hoch, wie es die Leute im Film immer tun, um sie zu beruhigen. »Hier ist kein Bailey. Ich bin’s nur.« Ich deutete auf Shanas Leiche. »Hoffentlich denken Sie jetzt nicht, dass ich das war.«

»Reden Sie keinen Quatsch. Natürlich waren Sie das. Weshalb wären Sie denn sonst hier?«

Mittlerweile konnte ich die Polizeisirene auf der kurvenreichen Straße unten näher kommen hören. Irgendjemand musste auch mit den Bullen telefoniert haben. Man brauchte nur Baileys Namen zu nennen, und die Polizei funktionierte wie auf Knopfdruck. »Hören Sie, nehmen Sie das Ding da weg. Glauben Sie mir doch! Ich habe Shanas Autoschlüssel heute Nachmittag in der Schachtel für Fundsachen bei Ihnen entdeckt. Daraus habe ich geschlossen, dass sie noch irgendwo hier sein müsste, und wollte nachsehen.«

»Wo ist die Tatwaffe? Was haben Sie ihr getan? Sie mit einem Baseballschläger erschlagen?«

»Elva, sie ist seit Tagen tot. Vermutlich hat man sie Mittwochnacht umgebracht. Wenn ich sie gerade getötet hätte, würde sie noch bluten...« Ich hasse es, wenn die Leute nicht mal das Fundamentalste begreifen.

Elva blickte unruhig umher und trat nervös von einem Bein aufs andere. Dr. Dunne hatte sie als Paranoikerin bezeichnet. Die Frage war nur, was das bedeutete. Eigentlich hatte ich angenommen, dass solche Leute heutzutage mit Thorazin ruhig gestellt würden. Und die Frau war groß, der breitschultrige nordische Typ. Außerdem hatte ich bereits erlebt, wie unberechenbar sie reagierte. Wenn sie mich schon mit einem Tennisschläger beinahe erschlagen hatte, was würde sie erst mit einer Schusswaffe anrichten? Von unten näherten sich im Zickzack zwei Polizisten mit Taschenlampen. Es sah nicht gut aus für mich.

Ich sah bedeutungsvoll an Elvas Hosenbeinen hinab. »Oje! Erschrecken Sie nicht! Aber da krabbelt eine ziemlich große Spinne an Ihrem Bein.«

Elva konnte nicht anders, sie musste nachsehen.

Ich holte aus und trat ihr die Waffe aus der Hand; sie verschwand in hohem Bogen mit einem doppelten Salto in der Dunkelheit. Dann rannte ich geduckt auf Elva zu und rammte ihr meinen Kopf in den Magen. Sie schrie auf, stolperte rückwärts und stürzte den Hang hinunter.

Einer der Polizisten war offenbar bereits auf halber Höhe. Ich lief, was ich konnte. Ohne zu wissen wohin, wollte ich nur möglichst schnell weg. Zwischen den Bäumen hindurch kletterte ich in Richtung Brandschutzschneise, weil ich glaubte, dort eine Weile ungehindert weiterlaufen zu können. Die Schneise war von Unterholz überwuchert und wurde von Shanas Plymouth blockiert. Selbst wenn die Polizei es schaffen sollte, mit einem Streifenwagen so weit vorzudringen, würden sie an dieser Stelle nicht weiterkommen. Ich konnte nicht feststellen, ob mir jemand folgte; dazu machte ich selbst viel zu viel Krach. Aber sicher war es klüger anzunehmen, dass sie mir dicht auf den Fersen waren. Ich rannte schneller und stolperte über einen Baumstamm, der quer über dem Weg lag.

Schließlich führte die Schneise steil bergan und endete ohne Vorwarnung an einem Gatter in einem Drahtzaun, der am Hang entlanglief. Ich stützte die Hände auf den Gatterpfosten, versuchte mit einer Flanke darüberzuspringen, blieb mit dem Fuß an der Drahtkante hängen und landete unsanft auf der anderen Seite. Ich unterdrückte ein Stöhnen und sprang sofort wieder auf die Beine. Beim Fallen hatte ich mir die Davis in die Rippen gerammt. Und das tat verdammt weh.

Weiter, immer bergan. Die Steigung flachte ab und endete in einer wild wuchernden Wiese mit Buscheichen. Wir hatten zwar nicht Vollmond, aber der Mond schien hell genug, um das Gelände zu beleuchten. Ich musste noch gut vierhundert Meter von der Straße entfernt sein in einem für Fahrzeuge unzugänglichen Areal. Was ich dringend brauchte, war eine Verschnaufpause. Ich warf einen Blick zurück. Hinter mir war niemand zu sehen. Ich wurde langsamer und trabte im Joggingtempo weiter und suchte das Gras nach einer günstigen Kuhle ab.

Völlig außer Atem ließ ich mich fallen und wischte mir mit dem Ärmel des Rollkragenpullovers den Schweiß von der Stirn. Irgendein geflügeltes Wesen segelte auf mich zu und entfernte sich flügelschlagend wieder. Vielleicht hatte es mich irrtümlich für etwas Essbares gehalten. Ich hasse Natur. Wirklich. Natur, das sind Äste und Wurzeln, über die man fallen kann, Löcher, in die man ahnungslos hineinstolpert, das ist Schmutz, das sind beißende, stechende Tiere und zahllose andere Gemeinheiten. Ich stehe mit dieser Einstellung übrigens nicht allein. Seit Jahrtausenden baut der Mensch Städte, um der Natur zu entkommen. Mittlerweile sind wir auf dem Weg zum Mond und anderen Planeten, wo man noch einen Stein hochheben kann, ohne gleich von irgendeinem Tier erschreckt zu werden. Je schneller wir dorthin kommen, desto besser, finde ich.

Es war Zeit, mich wieder auf den Weg zu machen. Ich stand auf, fiel in mein normales Joggingtempo und wünschte, ich hätte einen genauen Plan gehabt. Ins Motel konnte ich nicht zurück — in spätestens zehn Minuten würde die Polizei dort auftauchen — , aber was sollte ich ohne Autoschlüssel und Geld anfangen? Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, mit Elva zusammen auf die Polizei zu warten und mich auf mein Glück im Umgang mit den Männern des Gesetzes zu verlassen. Jetzt war ich auf der Flucht, und das passte mir gar nicht.

Ich sah die tote Shana wieder vor mir. Vermutlich war sie erschlagen und dann in die Pumpkammer des Pools geschoben worden; vielleicht hatte der Mörder vorgehabt, die Leiche später verschwinden zu lassen, überlegte ich. Vielleicht war das der Grund gewesen, weshalb sich Elva im Dunkeln dort oben rumgetrieben hatte. Ich wusste nicht, ob ich Elva die Sache mit dem Anruf glauben sollte. Hatte sie Shana Timberlake umgebracht? Und vielleicht auch ihre Tochter siebzehn Jahre zuvor? Aber weshalb der große Zeitabstand? Und warum Ori Fowler? Wenn Elva die Mörderin sein sollte, ergab Oris Tod überhaupt keinen Sinn. Oder wollte der Anrufer mich in eine Falle locken? Die einzigen, die wussten, wo ich war, waren meines Erachtens Jack Clemson und Bert.

Ich blieb stehen. Das Gelände vor mir führte wieder steil bergab. Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit. Am Fuß des Abhangs erkannte ich das graue Asphaltband einer Straße. Ich hatte zwar keine Ahnung, wohin diese Straße führte, doch wenn die Polizisten schlau waren, hatten sie Verstärkung angefordert, und die Streifenwagen mussten jeden Augenblick hier vorbeikommen, um mir den Weg abzuschneiden. Ich kletterte so schnell wie möglich den steinigen Hang hinunter, halb laufend, halb auf dem Hinterteil rutschend und kleine Lawinen aus Erde und Steinen lostretend. Gerade als ich die letzten Meter über das lockere Erdreich hinunterschlidderte, hörte ich das Heulen von Polizeisirenen näher kommen. Mein Atem ging keuchend vor Anstrengung, doch ich gönnte mir keine Pause. Ich rannte geduckt über die Straße und hatte die gegenüberliegende Seite gerade erreicht, als der erste schwarz-weiße Streifenwagen an der gut sechshundert Meter entfernten Kurve auftauchte.

Ich sprang mit einem Satz ins Gebüsch, warf mich zu Boden und kroch auf dem Bauch weiter durchs hohe Gras. Sobald ich den schützenden Baumgürtel erreicht hatte, blieb ich liegen. Jetzt galt es erst, die Orientierung wieder zu gewinnen. Gegen die aufziehende Nebelbank erkannte ich den reflektierenden Schein der Straßenbeleuchtung auf der Ocean Street. Floral Beach war nicht weit. Mein Pech war nur, dass zwischen mir und der Stadt das bewachte Gelände der Ölraffinerie lag. Ich schätzte den gut zwei Meter hohen Maschendrahtzaun ab. Die Oberkante war noch zusätzlich mit Stacheldraht gesichert. Da gab es kein Durchkommen. Hinter dem Zaun ragten die monströsen pastellfarbenen Öltanks wie überdimensionale Geburtstagskuchen in den Nachthimmel.

Ich war noch so nahe an der Straße, dass ich die quäkenden Geräusche aus den Funkgeräten der Streifenwagen hören konnte, die mittlerweile auf der Bankette parkten. Lichtkegel glitten über den Abhang. Ich hoffte inständig, dass die Bullen keine Hunde mitgebracht hatten. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich kroch bis zum Zaun und setzte meinen Weg dicht am Zaun entlang fort. Er diente mir im Dunkeln nicht nur als Orientierungshilfe, sondern auch als Halt. Immer mehr Warnschilder tauchten auf. Auf dem Gelände galten strenge Sicherheitsvorschriften, und ich hatte nicht einmal einen Schutzhelm. Ich war völlig außer Atem und schweißgebadet, meine Hände waren zerschunden, und meine Nase lief. Der Geruch des Meeres wurde stärker. Das war mein Trost.

Plötzlich machte der Zaun eine scharfe Biegung nach links, und vor mir öffnete sich ein Trampelpfad, von Abfall übersät. Vielleicht ein Pfad, der von Liebespaaren benutzt wurde. Ich wagte nicht, meine Taschenlampe anzuknipsen. Zwar befand ich mich noch immer oberhalb von Floral Beach, aber ich näherte mich der Stadt. Nach weniger als vierhundert Metern mündete der Trampelpfad in die Kehre einer Sackgasse. Und dann wusste ich zum Glück, wo ich war: direkt über dem Steilhang hinter dem alten Wohngebäude der Timberlakes. Ich brauchte nur die wacklige Holztreppe bis zur Haustür von Jeans alter Wohnung hinunterzusteigen und mich zu verstecken. Rechts lag das große Haus aus Holz und Glas, wo ich vorhin geklingelt hatte. Drinnen brannte Licht.

Ich ging an der hüfthohen Hecke des Grundstücks entlang. Hinter dem Küchenfenster stand der Bewohner und schien mich geradewegs anzusehen. Ich ließ mich automatisch fallen. Dann wurde mir klar, dass der Mann an der Spüle stehen musste und in der reflektierenden Scheibe nicht mich, sondern sein Spiegelbild sah. Vorsichtig richtete ich mich wieder auf und schaute genauer hin. Es war Dwight Shales.

Ich überlegte. Konnte ich ihm vertrauen? War ich hier oben bei ihm sicherer als in dem leer stehenden Wohnhaus unten am Hang? Schüchternheit konnte ich mir jetzt nicht leisten. Ich brauchte Hilfe.

Schließlich ging ich zum Vordereingang zurück und klingelte. Während ich wartete, behielt ich die Straße im Auge; schließlich konnte auch hier jederzeit ein Streifenwagen auftauchen. Irgendwann mussten sie ja gemerkt haben, dass ich ihnen durchs Netz geschlüpft war. Und da der Zaun zum Gelände der Ölraffinerie unüberwindbar war, musste ich logischerweise hier oben gelandet sein. Die Außenbeleuchtung flammte auf. Die Haustür wurde geöffnet. Ich drehte mich um und sah ihn an. »Kinsey, mein Gott! Was ist denn mit Ihnen passiert?«

»Hallo, Dwight! Darf ich reinkommen?«

Er hielt die Tür weit auf und trat einen Schritt zurück. »Was ist los? Haben Sie Schwierigkeiten?«

»So könnte man’s nennen«, erwiderte ich. Mein Abriss der Ereignisse war ein Kurztext von gut fünfundzwanzig Worten oder weniger, die ich loswurde, während ich ihm durch die Diele aus viel rohem Holz und moderner Kunst folgte. Wir stiegen eine Stufe ins Wohnzimmer hinunter, das direkt vor uns lag: Glasscheiben über zwei Stockwerke und eine großartige Aussicht. Das Dach von Jean Timberlakes ehemaliger Wohnung war zwar nicht zu sehen, aber dafür hatte man die Lichter von Floral Beach fast bis zum großen Hotel am Hang vor sich.

»Ich hole Ihnen erst mal was zu trinken«, sagte Dwight.

»Danke. Kann ich mich irgendwo frisch machen?«

Er deutete nach links. »Am Ende des Ganges.«

Ich fand das Badezimmer, drehte den Wasserhahn an und wusch Hände und Gesicht. Dann sah ich mich im Spiegel an. Ich hatte eine auffällige Schramme an der Backe, und mein Haar war stumpf vor Staub und Schmutz. Im Apothekerkasten fand ich einen Kamm und fuhr mir durch die zerzauste Mähne. Dann ging ich pinkeln, wusch noch einmal Hände und Gesicht und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Dwight mir einen Brandy im Kognakschwenker reichte.

Ich leerte das Glas mit einem Schluck. Er schenkte nach.

»Danke«, murmelte ich. Ich fühlte, wie der Alkohol mir heiß hinunterrann und musste im ersten Moment nach Luft schnappen.

»Wow! Großartig.«

»Setzen Sie sich. Sie sehen ziemlich geschafft aus.«

»Bin ich auch«, gestand ich und warf einen ängstlichen Blick zur Haustür hinüber. »Kann man uns von der Straße aus sehen?«

Die schmalen Scheiben rechts und links neben der Haustür waren aus Milchglas. Das Wohnzimmer mit seiner riesigen Glasfront machte mir eher Sorgen. Ich fühlte mich wie auf der Bühne. Dwight stand auf und schloss die Vorhänge. Der Raum wirkte plötzlich viel gemütlicher, und ich entspannte mich etwas.

Er setzte sich in den Sessel mir gegenüber. »Also, erzählen Sie noch einmal.«

Ich berichtete ein zweites Mal, was geschehen war, und ging diesmal mehr ins Detail. »Vermutlich hätte ich doch auf die Polizei warten sollen.«

»Wollen Sie die Polizei anrufen? Das Telefon ist hier.«

»Nein, noch nicht«, wehrte ich ab. »Das habe ich Bailey zwar auch geraten, aber mittlerweile weiß ich, wie ihm zu Mute gewesen sein muss. Sie würden mich nur die ganze Nacht lang mit Fragen quälen, auf die ich keine Antworten habe.«

»Was haben Sie vor?«

»Das weiß ich nicht. Zuerst muss ich mal einen klaren Kopf kriegen. Ich bin übrigens schon vor Stunden hier gewesen und habe geklingelt, aber da waren Sie nicht zu Hause. Eigentlich wollte ich nämlich fragen, ob jemand hier oben je gesehen hat, dass Jean die Holztreppe benutzt hat.«

»Die Holztreppe?«

»Ja, die, die von der Wohnung der Timberlakes hier raufführt. Die liegt nämlich direkt dort unten.« Ich deutete unwillkürlich auf den Fußboden, um zu verdeutlichen, dass ich den Fuß des Steilhangs meinte.

»Ja, richtig. Das hatte ich ganz vergessen. Wir leben eben in einer Kleinstadt. Hier sitzt jeder jedem auf der Pelle.«

»Kann man wohl sagen.« Ich fühlte mich plötzlich unbehaglich. Seine Antwort hatte nicht ehrlich geklungen. Vielleicht war es seine betont lässige Art, die so unecht wirkte. Gelassenheit zu spielen, ist schwieriger, als man denken sollte. Hatte es irgendetwas zu bedeuten, dass sie so nahe beieinander gewohnt hatten? »Haben Sie vergessen, dass Jean Timberlake nur einen Steinwurf von Ihnen entfernt gewohnt hat?«

»Sie haben nur ein paar Monate hier gewohnt, vor ihrem Tod«, entgegnete er und stellte seinen Kognakschwenker auf den Couchtisch. »Haben Sie Hunger? Ich mache Ihnen gern was zu essen.«

Ich schüttelte den Kopf und kam auf das Thema zurück, das mich zu interessieren begonnen hatte. »Heute Nachmittag habe ich erst festgestellt, dass man durch die Hintertür der Timberlakeschen Wohnung direkt zu der Treppe gelangen konnte. Vermutlich hat sie diesen Weg gewählt, um sich mit den Jungen zu treffen, mit denen sie geschlafen hat. Haben Sie sie mal hier oben gesehen?«

Er schien sein Gedächtnis anzustrengen. »Nein, ich glaube nicht. Ist das so wichtig?«

»Es könnte wichtig werden. Wer Jean gesehen hat, hat vielleicht auch den Mann gesehen, mit dem sie die entscheidende Affäre hatte.«

»Jetzt, da Sie fragen... Ich glaube, ich habe gelegentlich nachts Autos hier oben bemerkt. Aber damals ist mir offen gestanden nie der Gedanke gekommen, dass die Fahrer auf Jean gewartet haben.«

Ich mag lausige Lügner. Sie bemühen sich so sehr und sind doch so leicht zu durchschauen. Ich selbst kann prima lügen, aber nur weil ich eine jahrelange Erfahrung darin habe. Und auch ich komme nicht immer damit durch. Dieser Typ beherrschte nicht einmal die Grundregeln. Ich saß schweigend in meinem Stuhl, sah ihn an und ließ ihm Zeit, seine Position neu zu überdenken.

Er runzelte die Stirn. »Was ist übrigens mit Anns Mutter passiert? Mrs. Emma hat ungefähr vor einer Stunde angerufen und mir erzählt, Bailey habe die Medikamente vertauscht. Ich konnte es nicht fassen...«

»Verzeihen Sie, aber könnten wir zuerst noch von Jean Timberlake sprechen?«

»Selbstverständlich. Ich dachte, das Thema sei erledigt. Und ich habe mir Sorgen gemacht um Ann. Unglaublich, was sie durchmacht. Aber bitte, fahren Sie fort!«

»Haben Sie Jean Timberlake auch gefickt?«

Der Ausdruck war genau richtig; ordinär und deutlich. Er stieß ein kurzes ungläubiges Lachen aus, als habe er sich verhört. »Wie bitte?«

»Kommen Sie! Sagen Sie einfach die Wahrheit. Ich will es wirklich wissen.«

Er lachte erneut und schüttelte den Kopf, als wolle er auf diese Weise Klarheit in seine Gedanken bringen. »Mein Gott, Kinsey, ich bin der Direktor der Highschool.«

»Ich weiß, wer Sie sind, Dwight. Ich frage Sie, was Sie getan haben.«

Er starrte mich an. Es war ihm anzusehen, dass meine Hartnäckigkeit ihn ärgerte. »Das ist doch lächerlich. Das Mädchen war siebzehn.«

Ich schwieg, und allmählich gefror sein Lächeln. Er stand auf und schenkte sich Kognak nach. Dann hielt er die Kognakflasche fragend in meine Richtung. Ich schüttelte den Kopf.

Er setzte sich. »Ich finde, wir sollten über Wichtigeres reden. Ich bin durchaus bereit zu helfen, aber diese Spielchen mache ich nicht mit.« Er klang wieder sehr geschäftsmäßig. Der Herr Direktor rief die Versammlung zur Ordnung. »Ich hätte ja verrückt sein müssen, mich mit einer Schülerin einzulassen«, fuhr er fort. »Mein Gott, allein die Vorstellung!« Theatralisch zog er die Schultern hoch. Es war nicht zu übersehen, wie dringend er mich einwickeln wollte, doch seine Worte waren alles andere als überzeugend.

Ich starrte auf die Tischplatte und rückte meinen Kognakschwenker ein Stück vom Rand weg. »Wenn’s um Sex geht, tun wir alle manchmal die erstaunlichsten Dinge.«

Er schwieg.

Ich blickte ihn unverwandt an.

Er schlug die Beine übereinander. Jetzt war er es, der es vermied, mich anzusehen.

»Dwight?«

»Ich habe geglaubt, in sie verliebt zu sein«, sagte er schließlich.

Vorsichtig, dachte ich. Ganz behutsam. Die Situation war kritisch. Er bewegte sich auf dünnem Eis. »Es muss eine harte Zeit für Sie gewesen sein. Damals stellte sich auch heraus, dass Karen MS hatte, stimmt’s?«

Er stellte sein Glas wieder ab und sah mich an. »Sie haben ein gutes Gedächtnis.«

Ich schwieg.

Schließlich nahm er den Faden wieder auf. »Die Untersuchungen waren noch nicht abgeschlossen, aber ich glaube, wir haben es geahnt. Es ist erstaunlich, wie einen so was aus der Bahn werfen kann. Zuerst war sie verbittert. Hat sich ganz in sich zurückgezogen. Am Ende ist sie besser damit fertig geworden als ich. Mein Gott, ich konnte es einfach nicht fassen! Und als ich mich umsah, war Jean da. Jung, sexy, hemmungslos.«

Er schwieg einen Moment.

Ich sagte kein Wort und überließ ihm das Reden. Er brauchte kein Stichwort. Er kannte seine Geschichte auswendig.

»Karens erster Krankheitsschub war so heftig, dass ich glaubte, sie würde sowieso nicht mehr lange leben. Ihr Zustand hatte sich praktisch über Nacht drastisch verschlechtert. Herrgott, ich war überzeugt, dass sie das Frühjahr nicht mehr erleben würde. In einer solchen Situation will man alles nur einfach hinter sich bringen. Ich erinnere mich, dass ich damals dachte, ich schaffe es... Und ich habe mir eingeredet, dass mit unserer Ehe sowieso nicht mehr viel los war. Ich war damals neununddreißig. Ich hatte noch ein ganzes Leben vor mir. Ich dachte daran, wieder zu heiraten. Warum auch nicht? Wir beide waren nicht perfekt. Ich weiß nicht einmal, ob wir so gut zueinander gepasst haben. Ihre Krankheit hat alles verändert. Als sie starb, habe ich sie so geliebt wie nie zuvor.«

»Und Jean?«

»Tja, Jean. Zuerst...« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Ich war verrückt. Muss verrückt gewesen sein. Wenn unsere Beziehung je bekannt geworden wäre... Ich wäre ruiniert gewesen. Und Karen auch...«

»Sind Sie der Vater des Kindes gewesen?«

»Das weiß ich nicht. Vermutlich. Ich wünschte, ich könnte Nein sagen, aber was hätte ich tun sollen? Ich habe erst nach Jeans Tod davon erfahren. Die Konsequenzen wären unvorstellbar gewesen... Ich meine, wenn ihr Zustand publik geworden wäre.«

»Ja, Unzucht mit Minderjährigen.«

»Hören Sie bloß auf! Selbst jetzt noch wird mir übel, wenn ich den Ausdruck nur höre.«

»Haben Sie sie umgebracht?«

»Nein. Das schwöre ich. Ich war damals zu vielem fähig, aber dazu niemals.«

Ich musterte ihn aufmerksam und spürte, dass er die Wahrheit sagte. Dwight Shales war kein Mörder. Er mochte verzweifelt gewesen sein; mochte im Nachhinein erkannt haben, in welch gefährliche Situation er sich begeben hatte, aber aus ihm sprach nicht die Logik eines Killers. »Wer wusste sonst noch, dass sie schwanger war?«

»Keine Ahnung. Ist das jetzt noch wichtig?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Sie können nicht mit Sicherheit sagen, dass das Kind von Ihnen war. Vielleicht gab es noch einen anderen.«

»Bailey wusste davon.«

»Ich meinte, abgesehen von ihm. Könnte sonst noch jemand von der Schwangerschaft erfahren haben?«

»Sicher. Und wenn schon? Ich weiß, dass sie ziemlich aufgeregt in die Schule kam und sofort in die Sprechstunde der Schulpsychologin gerannt ist.«

»Ich dachte, die Schulpsychologen befassen sich nur mit schulischen Problemen der Schüler.«

»Es gab Ausnahmen. Manchmal mussten wir uns auch um persönliche Probleme kümmern.«

»Was hätte die Schule unternommen, wenn Jean um Hilfe gebeten hätte?«

»Wir hätten getan, was wir konnten. In San Luis gibt es für solche Fälle Sozialstationen.«

»Mit Ihnen hat Jean nie darüber gesprochen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn sie es doch getan hätte. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Wer weiß. Aber Jean war manchmal eigensinnig. Abtreibung war für sie kein Thema. Sie hätte das Kind ausgetragen und es auch alle Welt wissen lassen. Und sie hätte um jeden Preis darauf bestanden, geheiratet zu werden. Ich muss Ihnen gestehen... und ich weiß, es klingt schrecklich... aber ich war erleichtert über ihren Tod. Und zwar ungemein erleichtert. Als mir klar wurde, worauf ich mich eingelassen hatte... was auf dem Spiel stand! Es war wie ein Geschenk Gottes. Danach habe ich einen klaren Schlussstrich gezogen und meine Frau nie wieder betrogen.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte ich. Aber irgendetwas beunruhigte mich noch. Ich wusste nur noch nicht, was.

»Es war ein ziemlich unsanftes Erwachen, als dann einiges ans Tageslicht kam nach Jeans Tod«, fuhr Dwight fort. »Ich war so naiv gewesen zu glauben, uns beide hätte etwas ganz Besonderes verbunden. Das stellte sich im Nachhinein als Irrtum heraus.«

Ich blieb hartnäckig am Ball. »Da Jean nicht Sie um Hilfe gebeten hat, könnte sie sich doch an jemand anderen gewandt haben, oder?«

»Sicher, aber viel Zeit ist ihr ja nicht mehr geblieben. Sie hat das Ergebnis des Schwangerschaftstests erst am Nachmittag vor ihrem Tod erfahren.«

»Wie lange dauert ein Telefonanruf?«, hielt ich ihm entgegen. »Sie hatte Stunden zur Verfügung. Sie hätte die Hälfte der männlichen Bevölkerung von Floral Beach und San Luis anrufen können. Angenommen ein anderer war der Vater ihres Kindes. Angenommen Sie waren nur das Feigenblatt für eine andere Beziehung? Es muss andere Männer gegeben haben, die mindestens ebenso viel zu verlieren hatten.«

»Das ist möglich«, murmelte er, doch sein Ton blieb skeptisch.

In diesem Moment klingelte das Telefon. In der Stille des großen Hauses klang das besonders schrill und unangenehm. Dwight lehnte sich zurück und griff nach dem Hörer des Apparats, der auf dem Beistelltisch neben der Couch stand. »Ja? Ah, hallo!«

Seine Miene hellte sich sichtlich auf, und er blickte mich an.

»Nein, nein. Keine Sorge. Bleib dran. Sie ist hier bei mir.« Er hielt mir den Telefonhörer hin. »Es ist Ann.«

»Hallo, Ann. Was gibt’s?«

Ihre Stimme klang kalt, und sie war hörbar aufgebracht. »Endlich finde ich Sie! Wo sind Sie gewesen? Ich suche Sie seit Stunden.«

Ich starrte verwirrt auf den Hörer in meiner Hand und versuchte mir vorzustellen, warum sie einen solchen Ton mir gegenüber anschlug. »Ist die Polizei bei Ihnen?«, fragte ich.

»Das kann man wohl sagen.«

»Wollen Sie wieder anrufen, wenn die weg sind?«

»Nein, meine Liebe. Das habe ich nicht vor. Hören Sie mir gut zu. Ich will, dass Sie augenblicklich Ihren Hintern in Bewegung setzen und hierher kommen. Daddy hat das Krankenhaus auf eigenes Risiko verlassen und macht mir hier die Hölle heiß. Wo sind Sie gewesen?«, schrie sie schrill. »Haben Sie eine Ahnung... haben Sie überhaupt eine Ahnung, was hier los ist? Verdammt noch mal!«

Ich hielt den Hörer vom Ohr weg. Ann begann sich in Rage zu reden. »Ann, hören Sie auf. Beruhigen Sie sich. Die Sache ist kompliziert. Ich kann Ihnen das alles jetzt nicht erklären.«

»Speisen Sie mich bloß nicht mit diesem Unsinn ab. Damit ist Schluss!«

»Abspeisen? Worüber regen Sie sich eigentlich so auf?«

»Das wissen Sie genau!«, zischte sie am anderen Ende. »Was machen Sie da oben? Jetzt hören Sie mir mal zu, Kinsey. Hören Sie mir mal gut zu...«

Ich wollte sie schon unterbrechen, doch sie hatte die Hand über die Sprechmuschel gelegt und sprach mit jemandem im Hintergrund. Wer war bei ihr? Ein Bulle? Erzählte sie ihm gerade, wo ich war?

Ich legte einfach auf.

Dwight musterte mich verdutzt. »Alles in Ordnung? Worum ging’s eigentlich?«

»Ich muss nach San Luis Obispo«, antwortete ich vorsichtig. Das war natürlich eine Lüge, aber was anderes war mir nicht eingefallen. Ann hatte der Polizei meinen Aufenthaltsort verraten. In wenigen Minuten würde die Sackgasse von Polizisten wimmeln. Ich musste hier weg, und ich hielt es nicht für ratsam, ihm zu sagen, wohin ich wirklich wollte.

»San Luis?«, wiederholte er. »Wozu denn das?«

Ich ging zur Haustür. »Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich bin bald zurück.«

»Brauchen Sie keinen Wagen?«

»Ich kriege schon einen.«

Ich machte die Tür hinter mir zu, nahm die Stufen der Treppe mit einem Satz und rannte.