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Gegen zwei Uhr schlich ich mich auf leisen Sohlen die Außentreppe des Motels hinauf in mein Zimmer, wo ich die Straßenkleidung gegen die Jogging-Klamotten tauschte. Ich hatte nichts zu Mittag gegessen, war jedoch viel zu überdreht und aufgekratzt, um etwas zu mir nehmen zu können. Seit den tumultartigen, blutigen Szenen im Gerichtssaal hatte ich Stunden in engem Kontakt mit anderen Menschen verbracht, und all meine Energie hatte sich zu innerer Erregtheit gesteigert. Ich zog mein Sweatshirt über die Jogginghose, schnürte die Laufschuhe zu und rannte hinaus. Den Zimmerschlüssel hatte ich in die Schuhbänder gebunden. Es war ein kühler Nachmittag, und die Luft war dunstig. Meer und Himmel gingen am Horizont konturlos ineinander über. Der Wechsel der Jahreszeiten geht in Süd-Kalifornien gelegentlich kaum merklich vor sich, ein Phänomen, das Menschen, die im Osten oder Mittleren Westen aufgewachsen sind, als ausgesprochen unangenehm empfinden. Jeder Tag ist eine Jahreszeit für sich. Die Stimmungen des Meeres ändern sich ständig. Das Licht wechselt, und die Landschaft nimmt feinste farbliche Veränderungen auf, sodass sich das satte, winterliche Grün ganz allmählich in das lohfarbene Gelb des Sommergrases wandelt, das so schnell verbrennt. Die Bäume zeigen ein wahres Feuerwerk an Farben, vom feurigen Rot bis zum flammenden Goldton, ein Farbspiel, das dem Herbst anderer Landstriche durchaus Konkurrenz machen kann; und die geschwärzten Äste, die Zurückbleiben, sind so kahl und düster wie an den winterlichen Bäumen im Osten, erholen sich langsam und treiben nur allmählich wieder neue Knospen.

Ich joggte den Fußweg entlang, der hinter dem Strand der Küstenlinie folgt. Vereinzelt waren Touristen unterwegs. Zwei etwa achtjährige Kinder tobten in den Wellen, und ihre Schreie hallten so rau durch die Luft wie die der Vögel, die über ihnen kreisten. Es war fast Ebbe, und ein breites, glitzerndes Band trennte die Brandungszone vom trockenen Sand. Ein größerer Junge fuhr mit seinem Skateboard geschickt am Wasserrand entlang. Vor mir sah ich die zerklüftete Küste, dort wo die Straße ihren Konturen folgte, vom Asphalt gesäumt. Am Ende der Straße lag der Port-San-Luis-Hafen, ein Werftgelände mit einer Auftankstation für die Boote aus der Gegend.

Ich erreichte die Küstenstraße und bog nach links ab, zum Fußweg auf dem Damm. Rechts oben am Hang lag das große Hotel mit seinen ordentlich geschnittenen Hecken und gemähten Rasenflächen. Am Golfplatz vorbei führte ein breiter Meerwasserkanal landeinwärts. Die Entfernung war trügerisch, und ich brauchte eine halbe Stunde, bis ich das Ende der Sackgasse am Bootshafen erreicht hatte. Ich ging im Schritttempo weiter, um wieder zu Atem zu kommen. Mein Sweatshirt war feucht, und ich fühlte, wie mir der Schweiß über die Schläfen rann. Ich war schon in besserer Verfassung gewesen, und die Erkenntnis, wie viel Schweiß es mich kosten würde, verlorenen Boden wiedergutzumachen, war kaum verlockend. Der Weg machte hier eine Kehre, die ich entlangschlenderte, während ich interessiert beobachtete, wie drei Männer ein Sportboot mit Hilfe eines Krans zu Wasser ließen. Im Trockendock lag ein Fischtrawler, dessen Rumpf sich zu einem Ruder hin verjüngte, das aussah wie die Kufe eines Schlittschuhs. Neben einem rostigen Wellblechschuppen fand ich einen Wasserhahn. Ich hielt meinen Kopf unter den Strahl und trank durstig, bevor ich mich auf den Rückweg machte. Meine Beinmuskeln protestierten, als ich das Tempo erneut beschleunigte. Als ich die Hauptstraße von Floral Beach wieder erreicht hatte, war es kurz vor vier, und die Februarsonne warf lange Schatten am Fuß des Hangs.

Ich duschte, zog Jeans, Turnschuhe und einen Rollkragenpullover an und war bereit, mich der Welt wieder zu stellen.

Das Telefonbuch von Floral Beach hatte ungefähr das Format und den Umfang eines Comic-Hefts, sperrig gesetzt, mit einem Minimum an Werbung. In Floral Beach gab es keine Attraktionen, und die wenigen Geschäfte hier kannte sowieso jeder. Ich suchte Shana Timberlakes Nummer heraus und notierte mir ihre Adresse in der Kelley Street.

Meinem Orientierungsvermögen nach zu urteilen musste die Kelley Street gleich um die Ecke liegen. Bevor ich das Motel verließ, warf ich einen Blick ins Büro, doch es war niemand da.

Ich ließ meinen Käfer auf dem Parkplatz stehen und ging die kurze Strecke zu Fuß. Jeans Mutter lebte in einer Wohnanlage, die wie ein umgebautes Motel aus den fünfziger Jahren aussah: schmale Fachwerkhäuschen in einem umgekehrten U angeordnet, mit je einem Parkplatz vor der Haustür. Nebenan war die Feuerwehr von Floral Beach untergebracht, eine hellblau gestrichene Garage mit dunkelblauer Umrandung für vier Löschfahrzeuge.

Nach dem Nest hier wird mir Santa Teresa diesmal sicher wie New York City Vorkommen, dachte ich.

Vor der Hausnummer 1 parkte ein verbeulter grüner Plymouth. Ich sah durch das Fenster auf der Fahrerseite. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Am Schlüsselring baumelte ein großes metallenes T... T wie Timberlake vermutete ich. Die Leute hier waren reichlich vertrauensselig. Autodiebstahl schien in Floral Beach nicht »in« zu sein. Auf Shana Timberlakes winziger Veranda standen reihenweise Kaffeebüchsen, in die Kräuter gepflanzt und die mit ordentlich beschrifteten Aufklebern versehen waren: Thymian, Majoran, Oregano, Dill und eine Zwei-Liter-Tomatenmarkbüchse voller Petersilie. Die beiden Fenster rechts und links neben der Flaustür waren einen Spaltbreit geöffnet, die Vorhänge waren zugezogen. Ich klopfte.

»Ja?«, ertönte ihre Stimme sofort.

»Mrs. Timberlake?«, sagte ich durch die geschlossene Tür und richtete meine Rede an eine der Türangeln. »Ich bin Kinsey Millhone, Privatdetektivin aus Santa Teresa. Ich möchte mich mal gern mit Ihnen unterhalten.«

Schweigen. Dann: »Sind Sie die, die Royce angeheuert hat, um Bailey freizupauken?« Die Aussicht schien sie kaum zu begeistern.

»So kann man das natürlich auch sehen«, erwiderte ich. »Aber eigentlich bin ich in der Stadt, um den Mordfall noch mal aufzurollen. Bailey behauptet ja jetzt, dass er unschuldig ist.«

Schweigen.

Ich versuchte es erneut: »Sie wissen doch, dass man die Ermittlungen praktisch beendet hat, nachdem er ein Geständnis abgelegt hatte.«

»Na und?«

»Angenommen, er sagt die Wahrheit? Angenommen, der Mörder läuft noch frei herum und lacht sich ins Fäustchen.«

Auf der anderen Seite war es lange still. Dann machte sie die Tür auf.

Ihr Haar war zerzaust, die Tränensäcke geschwollen, die Schminke zerflossen und die Nase tropfte. Sie roch wie eine ganze Flasche Bourbon. Sie schnürte den Gürtel ihres Morgenmantels fester und starrte mich aus glasigen Augen an. »Sie sind doch heute in der Verhandlung gewesen.«

»Richtig.«

Sie schwankte leicht und versuchte aufrecht zu bleiben. »Glauben Sie an Gerechtigkeit? Glauben Sie, dass es Gerechtigkeit gibt?«

»Gelegentlich.«

»Also ich nicht. Was gibt’s da noch zu quatschen? Tap haben sie über den Haufen geschossen. Jean hat man erwürgt. Glauben Sie, dass irgendwas meine Tochter wieder lebendig machen könnte?«

Ich schwieg, hielt jedoch ihrem Blick stand, und wartete, dass sie sich beruhigte.

Ihre Miene wurde düster und verächtlich. »Sie haben wahrscheinlich nicht mal Kinder. Ich wette, Sie haben nicht mal ‘nen Hund. Sie sehen aus wie jemand, der ohne jede Verpflichtung durchs Leben rauscht. Aber ausgerechnet Sie reden hier von >Unschuld<. Was verstehen Sie schon davon?«

Ich zügelte mein Temperament, aber meine Stimme klang kalt und schneidend: »Lassen Sie’s mich mal so ausdrücken, Mrs. Timberlake. Wenn ich ein Kind hätte und jemand brächte es um, dann würde ich hier nicht am helllichten Tag besoffen herumstehen. Ich würde diese verdammte Stadt auseinander nehmen, bis ich herausgefunden hätte, wer’s getan hat. Und dann würde ich die Gerechtigkeit in die eigenen Hände nehmen, wenn’s sein muss.«

»Na, jedenfalls kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Das wissen Sie doch gar nicht. Sie haben keine Ahnung, was ich von Ihnen will.«

»Warum sagen Sie’s mir dann nicht endlich?«

»Warum bitten Sie mich nicht rein, damit wir uns unterhalten können?«

Sie warf einen Blick zurück über die Schulter. »Bei mir sieht’s furchtbar aus.«

»Mich stört das nicht.«

Shana Timberlake fixierte mich erneut. Sie konnte sich kaum aufrecht halten. »Wie viele Kinder haben Sie?«

»Keines.«

»Genau wie ich«, murmelte sie. Damit stieß sie die Tür auf, und ich trat ein.

Die Wohnung bestand aus einem großen, länglichen Zimmer, Herd, Spüle und Kühlschrank standen nebeneinander an der Rückwand. Jede freie Flache war mit schmutzigem Geschirr vollgestellt. Ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen trennte die Küche vom Wohnraum, wo ein Messingbettgestell in einer Ecke stand. Decke und Leintuch waren halb heruntergezogen. Die Matratze hing in der Mitte durch und sah aus, als würden die Federn ein Quietschkonzert von sich geben, sobald man sich darauf setzte. Rechts hinter einem Vorhang befand sich offenbar das Badezimmer. Gegenüber stand ein Schrank, und daneben war die Hintertür.

Ich folgte Shana zum Küchentisch. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken, stand jedoch sofort wieder auf und ging mit gerunzelter Stirn vorsichtig in Richtung Badezimmer, wo sie sich ausgiebig übergab. Ich hasse es, zuhören zu müssen, wenn andere sich übergeben. Daher ging ich zur Spüle, räumte das schmutzige Geschirr heraus, ließ heißes Wasser ein, um die Geräusche aus dem Badezimmer zu übertönen, gab Spülmittel ins Wasser und beobachtete zufrieden, wie sich Schaumblasen zu bilden begannen. Dann ließ ich die Teller hineingleiten und legte das Besteck an die Seite.

Während ich die Schmutzkrusten einweichen ließ, leerte ich den Mülleimer, in dem sich vor allem Whiskyflaschen und Bierbüchsen befanden. Ich warf einen Blick in den Kühlschrank. Die Innenbeleuchtung war kaputt, es roch schimmelig, und die Metallgitter waren schmutzverkrustet. Ich machte die Tür schnell wieder zu, um nicht Shana im Badezimmer Gesellschaft leisten zu müssen.

Ich horchte auf die Geräusche. Die Toilettenspülung rauschte, und danach wurde die Dusche aufgedreht. Da ich eine unverbesserliche Schnüfflerin bin, schweifte mein Blick zur Post, die auf dem Küchentisch lag. Wenn ich schon mal das Heinzelmännchen spielte, fühlte ich mich auch berechtigt, meine Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken. Ich blätterte durch einige ungeöffnete Rechnungen und Werbezuschriften. Auf den ersten Bück war nichts Interessantes dabei. Ich konnte überhaupt nur einen persönlichen Brief entdecken. Es war ein großer, viereckiger Umschlag mit einem Poststempel aus Los Angeles. Eine Glückwunschkarte? Drohungen? Das Kuvert war so fest verschlossen, dass ich mit dem Fingernagel nichts ausrichten konnte. Ich hielt ihn gegen das Licht. Nichts zu sehen. Völlig geruchlos. Shanas Name und Adresse waren handschriftlich mit Tinte geschrieben, doch das Schriftbild wirkte so neutral, dass Rückschlüsse auf die Person des Absenders unmöglich schienen. Widerwillig legte ich den Umschlag auf den Stapel zurück und ging zur Spüle.

Als ich das Geschirr gespült und zu einem gefährlichen Turm auf der Ablage aufgebaut hatte, kam Shana aus dem Badezimmer. Ein Handtuch hatte sie um den Kopf, ein anderes um den Körper gewickelt. Ohne jedes Schamgefühl trocknete sie sich ab und zog sich an. Ihr Körper wirkte älter als ihr Gesicht. In Jeans und T-Shirt und ohne Schuhe und Strümpfe ließ sie sich schließlich am Küchentisch nieder. Sie sah erschöpft aus, doch ihre Haut war sauber und gut durchblutet, und ihre Augen blickten wieder klarer. Sie zündete sich eine Camel ohne Filter an. Die Dame schien das Rauchen verdammt ernst zu nehmen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Zigaretten ohne Filter überhaupt noch im Handel waren.

Ich setzte mich ihr gegenüber. »Wann haben Sie zum letzten Mal was gegessen?«

»Hab ich vergessen. Mit dem Trinken habe ich heute Vormittag nach dem Chaos im Gerichtssaal angefangen. Armer Tap. Ich stand fast daneben.« Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Ich konnt’s nicht fassen. Das war einfach zu viel für mich. Ich mochte ihn nicht besonders, aber er war in Ordnung, ‘n bisschen dumm. Ein Aufschneider, der blöde Witze machte. Er muss verrückt gewesen sein. Kaum kommt Bailey in diese Stadt zurück, schon fängt alles wieder von vorn an. Die nächste Leiche. Und diesmal sein bester Freund.«

»Daisy meint, dass jemand Tap dazu angestiftet hat.«

»Das war Bailey!«, fuhr sie mich an.

»Augenblick mal«, entgegnete ich. »Tap ist gestern Abend in Pearls Billardsalon von irgendjemandem angerufen worden. Er ist dann sofort gegangen.«

Shana putzte sich die Nase. »Da muss ich schon fort gewesen sein«, sagte sie skeptisch. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe aber bloß Nescafé.«

»Ich trinke gern ‘ne Tasse.«

Sie legte ihre Zigarette auf den Rand des Aschenbechers und stand auf. Über der Spüle füllte sie einen Topf mit Wasser, stellte ihn auf den Herd und zündete die Gasflamme an. Dann nahm sie zwei Kaffeebecher aus dem Geschirrkorb. »Danke fürs Abspülen. Das hätten Sie nicht zu tun brauchen.«

»Ich hatte ja sonst nichts zu tun...«, murmelte ich und verschwieg, dass ich die Gelegenheit genutzt hatte, ein wenig herumzuschnüffeln.

Shana förderte eine Dose Nescafe und zwei Löffel zu Tage, die sie auf den Tisch stellte, während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte. Schließlich zog sie erneut an ihrer Zigarette und blies den Qualm zur Decke. Langsam hüllte mich der Qualm ein. Ich würde mir noch einmal die Haare waschen und mich umziehen müssen.

»Ich glaube immer noch, dass Bailey sie umgebracht hat«, stellte sie unvermittelt fest.

»Aber warum hätte er das tun sollen?«

»Warum hätte es jemand anders tun sollen?«, konterte sie.

»Keine Ahnung. Aber nach allem, was ich gehört habe, war er der einzige wirkliche Freund, den sie hatte.«

Shana schüttelte den Kopf. Ihr Haar war noch feucht, es fiel ihr in Strähnen auf die Schultern und hinterließ dunkle Flecken auf ihrem T-Shirt. »Gott, ich hasse das! Aber manchmal habe ich mich gefragt, was wohl aus ihr geworden wäre. Darüber habe ich oft nachgedacht. Ich bin nie eine Mutter im üblichen Sinn gewesen, aber die Kleine und ich... wir standen uns sehr nah. Eher wie Schwestern.«

»Ich habe Fotos von ihr im Jahrbuch der Highschool gesehen. Sie war sehr schön.«

»Das hat ihr kein Glück gebracht. Manchmal denke ich, dass genau das die Ursache für alle ihre Probleme war.«

»Wissen Sie, mit wem sie sich eingelassen hatte?«

Shana schüttelte den Kopf. »Dass sie schwanger war, habe ich erst aus dem gerichtsmedizinischen Befund erfahren. Natürlich habe ich gewusst, dass sie sich nachts weggeschlichen hat, aber ich hatte keine Ahnung, wohin sie ging. Was hätte ich denn schon machen sollen? Die Tür vernageln? Junge Leute in dem Alter kann man nicht ständig kontrollieren. Vielleicht sollte ich besser sagen, wir waren uns nahe gewesen, und ich glaubte, das wäre noch immer so. Wenn sie in Schwierigkeiten steckte, hätte sie zu mir kommen können. Für sie hätte ich alles getan.«

»Soviel ich gehört habe, hat sie versucht, herauszufinden, wer ihr Vater war.«

Shana sah mich verblüfft an und überspielte ihre Überraschung dann mit hausfraulicher Aktivität. Sie machte ihre Zigarette aus, ging zum Herd hinüber und schob den Wassertopf sinnlos hin und her. »Wer hat Ihnen denn das gesagt?«

»Bailey. Ich habe gestern im Gefängnis mit ihm gesprochen. Haben Sie ihr nie gesagt, wer ihr Vater war?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Ich hatte eine Abmachung getroffen und meinen Teil eingehalten. Vielleicht hätte ich es ihr trotzdem sagen können, aber ich hab’ nicht eingesehen, wozu das gut sein sollte.«

»Hat sie Sie danach gefragt?«, wollte ich wissen.

»Sie hat möglicherweise mal davon gesprochen. Allerdings schien sie nicht besonders scharf auf die Antwort zu sein, und ich hab’s wieder vergessen.«

»Bailey ist der Meinung, dass sie was über den Mann herausbekommen haben musste. Wäre es möglich gewesen, dass sie ihn ausfindig gemacht hat?«

»Aber warum denn? Sie hatte doch mich.«

»Vielleicht war sie auf der Suche nach Anerkennung. Oder sie brauchte Hilfe«, gab ich zu bedenken.

»Weil sie schwanger war?«

»Möglich wäre es«, erwiderte ich. »Soviel ich weiß, hatte sie’s selbst gerade erst erfahren, aber sie muss längst einen Verdacht gehabt haben. Warum hätte sie sonst bis Lomboc fahren sollen, um einen Schwangerschaftstest machen zu lassen?«

»Keine Ahnung.«

»Und wenn sie ihn nun gefunden hat? Wie hätte er reagiert?«

»Sie hat ihn nicht gefunden«, entgegnete Shana emotionslos. »Sonst hätte er’s mir erzählt.«

»Es sei denn, er hat es vor Ihnen geheim halten wollen.«

»Worauf wollen Sie raus?«

»Sie ist schließlich ermordet worden.«

»Aber jedenfalls nicht von ihm.« Ihre Stimme war laut geworden. Sie wirkte erregt.

»Vielleicht war’s ein Unfall. Vielleicht hat er’s im Affekt getan.«

»Sie ist seine Tochter, Herrgott noch mal! Ein siebzehnjähriges Mädchen? So was hätte er nie getan. Er ist ein netter Mann.«

»Warum hat er dann nicht auch offiziell die Verantwortung für sie übernommen, wenn er so nett ist?«, erkundigte ich mich.

»Weil das unmöglich war. Es war einfach unmöglich. Im Übrigen hat er’s ja auch getan. Er hat Geld geschickt. Das tut er immer noch. Mehr habe ich nie verlangt.«

»Shana, ich muss wissen, wer er ist.«

»Das geht Sie überhaupt nichts an. Und überhaupt! Das geht nur ihn und mich was an. Sonst niemanden.«

»Warum die Geheimniskrämerei? Was soll das? Er ist also verheiratet. Na und?«

»Das habe ich nicht gesagt. Das haben Sie gesagt. Ich will darüber nicht sprechen. Er hat mit der Sache nichts zu tun. Noch eine Frage in dieser Richtung und Sie fliegen raus!«

»Was ist mit Baileys Geld? Hat sie Ihnen je was davon erzählt?«

»Welches Geld?«

Ich musterte sie aufmerksam. »Tap hat mir gesagt, dass er und Bailey eine Summe beiseite geschafft hatten, von der niemand gewusst hat. Sie hatten Jean gebeten, das Geld für sie zu verwahren, bis sie aus dem Gefängnis kamen. Aber keiner hat es je wieder zu Gesicht bekommen.«

»Ich weiß nichts von Geld.«

»Was ist mit Jean? Schien sie mehr auszugeben, als sie bei ihren Jobs verdient hatte?«

»Das ist mir nicht aufgefallen. Wenn Sie Geld gehabt hätte, hätte sie nicht in diesem Loch gelebt.«

»Haben Sie zum Zeitpunkt des Mordes hier gewohnt?«

»Wir hatten ein Apartment ein paar Blocks weiter, aber viel besser war’s dort auch nicht.«

Wir unterhielten uns noch eine Weile, doch mehr war aus Shana nicht herauszubekommen. Gegen sechs Uhr kehrte ich nicht viel klüger in mein Zimmer zurück. Ich tippte einen Bericht und versuchte, durch sprachliche Finessen zu vertuschen, dass ich noch immer nicht weitergekommen war.