22
Ich brauchte dringend frische Luft. Ich schloss meine Zimmertür ab und verließ das Motel. Ich überquerte die Straße, setzte mich auf die Kaimauer und starrte auf den Strand hinunter, wo Jean Timberlake gestorben war. Hinter mir lag Floral Beach, sechs Straßenzüge lang, drei Straßenzüge breit. Irgendwie beunruhigte es mich, dass die Stadt so klein war. Alles war im Umkreis von diesen achtzehn Blocks passiert. Die Bürgersteige, die Gebäude, die Geschäfte — sie alle konnten sich seit damals kaum verändert haben. Und was die Bewohner der Stadt betraf, war es kaum anders. Einige waren weggezogen, einige waren gestorben. In der Zeit, die ich hier war, hatte ich bestimmt zumindest einmal mit dem Mörder gesprochen. Und das empfand ich irgendwie als Affront. Ich drehte mich um und betrachtete jenen Teil der Stadt, den ich von hier aus sehen konnte. Ich fragte mich, ob nicht zumindest einer der Bewohner der schmalen, pastellfarbenen Holzhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite in jener Nacht etwas beobachtet hatte. War ich schon so weit, von Haustür zu Haustür zu gehen? Aber irgendetwas musste ich unternehmen. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach eins. Tap Grangers Beerdigung sollte um zwei beginnen. Er würde eine schöne Totenfeier bekommen. In der Stadt wurde von nichts anderem gesprochen, seit man ihn erschossen hatte. Niemand wollte dieses Ereignis versäumen.
Ich ging zum Motel zurück, stieg in meinen Wagen und fuhr die anderthalb Blocks weiter zu Shana Timberlakes Haus. Am Morgen war sie nicht zu Hause gewesen, aber mittlerweile müsste sie zurückgekommen sein, um sich für Taps Beerdigung umzuziehen; vorausgesetzt, dass sie vorhatte, dorthin zu gehen. Ich hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die kleinen Holzhäuser um den zentralen Hof hatten den Charme einer Kaserne. Der Plymouth stand noch immer nicht in der Einfahrt. Die Vorhänge hinter den Fenstern an der Vorderfront waren wie am Morgen. Die Zeitungen der letzten zwei Tage lagen auf der Veranda. Ich klopfte, und als sich niemand meldete, drehte ich unauffällig am Türknauf. Sie war verschlossen.
Auf der winzigen Veranda des Nachbarhauses stand eine alte Frau mit tiefhängenden Tränensäcken unter den Augen, die mich an einen Beagle erinnerten.
»Wissen Sie, wo Shana ist?«
»Was?«
»Ist Shana hier?«
Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, wandte sich ab und schlug die Haustür hinter sich zu. Ich konnte mir aussuchen, ob sie wütend war, weil sie mich nicht verstand oder weil es ihr völlig egal war, wo Shana sich aufhielt. Ich zuckte mit den Schultern, verließ die Veranda und lief den schmalen Durchgang zwischen den beiden Häusern entlang zur Rückseite.
Auch hier sah alles noch so aus wie am Morgen. Mit einer Ausnahme. Ein Tier — ein Hund oder vielleicht ein Waschbär — hatte ihren Mülleimer umgeworfen und den Inhalt überall verstreut. Alles vom Feinsten. Ich stieg die Treppe zur rückwärtigen Veranda hinauf und sah noch einmal durchs Küchenfenster. Alles deutete darauf hin, dass Shana seit Tagen nicht mehr zu Hause gewesen war. Ich drückte die Klinke der Küchentür herunter und überlegte krampfhaft, wie ich einen Einbruch begründen könnte. Mir fiel jedoch nichts ein. Immerhin ist es gegen das Gesetz, und ich tue so was nur ungern, es sei denn, ich vermute, einen wichtigen Hinweis zu finden.
Als ich die Treppe wieder hinunterstieg, fiel mir unter dem Müll, der in dem kleinen Hinterhof verstreut lag, ein weißer Umschlag auf. War es derselbe, der mir schon in die Hände gefallen war, als ich neulich bei ihr herumgeschnüffelt hatte? Ich hob ihn auf. Er war leer. Also nichts. Vorsichtig begann ich, den Müll zu durchwühlen. Und da war sie. Eine Postkarte, die Reproduktion eines Stilllebens mit üppigem Rosenstrauß in einer Vase. Auf die Rückseite hatte jemand geschrieben: »Sanctuary. Mittw. 2 Uhr.« Mit wem könnte sie sich im »Allerheiligsten« getroffen haben? Mit Bob Haws? June? Ich steckte die Karte in die Handtasche und fuhr zur Kirche.
Die Baptisten-Kirche von Floral Beach (übrigens die einzige Kirche der Stadt, um präzise zu sein) lag an der Ecke Kai und Palm Street und war ein bescheidener Holzbau mit mehreren Nebengebäuden. Eine Treppe erstreckte sich über die gesamte Breite des Hauptgebäudes. Weiße Säulen trugen das Vordach. Eines musste man den Baptisten lassen: sie neigten offenbar nicht dazu, das Geld der Gemeinde an irgendeinen unfähigen Architekten zu verschwenden. Diesen Kirchentyp hatte ich schon oft gesehen; ich nehme an, dass die Kopien der Pläne gegen die Einsendung des Portos verschickt werden. Draußen auf der Straße parkte der Lieferwagen eines Blumengeschäfts; er brachte vermutlich den Blumenschmuck für die Beerdigung.
Die Flügeltür der Kirche stand offen, und ich ging hinein. Die bunten Kirchenfenster innen waren Massenware, Jesus in einem knöchellangen Nachthemd, in dem man ihn in dieser Stadt gesteinigt hätte. Die Apostel zu den Füßen des Gottessohnes, der wie eine albern lächelnde Frau mit lockigem Haar aussah. Haben sich die Männer damals wirklich rasiert? Das waren Fragen, die mich als Kind brennend interessierten und die mir niemand beantwortet hat.
Die Wände waren weiß gestrichen, der Fußboden mit beigefarbenem Linoleum ausgelegt. Die Kirchenbänke hatte man mit schwarzen Satinschleifen geschmückt. Tap Grangers Sarg stand ziemlich weit vorn aufgebahrt. Joleen hatte sich offensichtlich dazu überreden lassen, viel mehr auszugeben, als sie sich leisten konnte. Aber es ist schwer, von Trauer überwältigt standhaft zu bleiben und nüchtern zu kalkulieren.
Eine Frau in weißer Schürze war dabei, ein herzförmiges Blumenarrangement auf einem Ständer aufzustellen. Die breite, lavendelfarbene Schleife trug in schwungvollen Goldbuchstaben die Inschrift: »Ruhe sanft in Jesus’ Armen.« Oben auf der Empore war June Haws zu sehen, die unter heftigen Bewegungen des Oberkörpers und der Füße einen Choral intonierte und mit piepsiger Stimme dazu sang; die Melodie klang wie die musikalische Untermalung eines Seifen-Werbespots. Die Bandagen an ihren Händen weckten merkwürdige Erinnerungen. Als ich näher kam, unterbrach sie ihr Spiel und drehte sich zu mir um.
»Entschuldigen Sie, dass ich störe«, begann ich.
Sie legte die Hände in den Schoß. »Das macht nichts«, sagte sie. Sie wirkte sanft und gelassen, einmal abgesehen davon, dass orangefarbene Wundtinktur mittlerweile bis zur Höhe der Ellbogen durch die Bandagierung drang. Breitete er sich weiter aus, der Aussatz, dieses Giftgeschwür der Seele?
»Ich wusste nicht, dass Sie hier als Organistin aushelfen.«
»Das tue ich normalerweise auch nicht, aber Mrs. Emma ist bei Ann. Haws ist zu Royce ins Krankenhaus gefahren, um ihm beizustehen. Ich nehme an, dass die Ärzte ihm von Oribelles Tod erzählt haben. Arme Seele. Es war die Reaktion auf ein Medikament, oder? Das hat man uns wenigstens gesagt.«
»Ja, sieht so aus. Aber sicher kann man das erst sagen, wenn die Laborberichte vorliegen.«
»Gott sei ihrer Seele gnädig«, murmelte sie und zupfte an der Bandagierung ihres linken Arms. Die Handschuhe hatte sie zum Musizieren abgenommen. Sie hatte kräftige Finger mit kurz geschnittenen Nägeln.
Ich nahm die Postkarte aus meiner Handtasche. »Haben Sie zufällig hier in der Kirche vor ein paar Tagen mit Shana Timberlake gesprochen?«
Sie blickte flüchtig auf die Karte und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht Ihr Mann?«
»Da müssen Sie ihn schon selbst fragen.«
»Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, über Jean Timberlake miteinander zu sprechen«, bemerkte ich.
»Sie war ein armes Ding, sehr hübsch, aber das hat ihr für ihr Seelenheil nichts genützt.«
»Vermutlich nicht«, stimmte ich zu. »Kannten Sie sie gut?«
June Haws schüttelte den Kopf. Irgendein Kummer schien ihren Blick zu verdunkeln, und ich wartete, ob sie weitersprechen würde. Offenbar hatte sie jedoch nicht die Absicht.
»Sie ist Mitglied der kirchlichen Jugendgruppe gewesen, stimmt’s?«
Schweigen.
»Mrs. Haws?«
»Für den Trauergottesdienst sind Sie viel zu früh dran und, ich fürchte, außerdem nicht angemessen gekleidet, Miss Millhone«, sagte in diesem Augenblick Bob Haws hinter mir.
Ich drehte mich um. Haws zog sich gerade einen schwarzen Talar über. Er sah seine Frau nicht an, aber sie schien vor ihm zurückzuweichen. Seine Miene war ausdruckslos und kalt. Ich stellte mir unwillkürlich vor, wie er auf seinem Schreibtisch gelegen hatte, während Jean ihre freiwillige Pflichtübung an ihm vollführt hatte.
»Ich fürchte, dann werde ich an der Beerdigung nicht teilnehmen können«, entgegnete ich. »Wie geht’s Royce?«
»Den Umständen entsprechend. Kommen Sie doch bitte mit in mein Büro. Sicher kann ich Ihnen die Informationen geben, deretwegen Sie Mrs. Haws bedrängt haben.«
Warum nicht, dachte ich. Der Mann machte mir Angst, aber es war helllichter Tag, und wir befanden uns in einer Kirche. Außerdem waren wir nicht ganz allein. Ich folgte ihm in sein Amtszimmer. Er machte die Tür zu. Reverend Haws’ übliche wohlwollend salbungsvolle Miene war einem bedeutend kühleren Ausdruck gewichen. Er blieb hinter seinem Schreibtisch stehen.
Ich blickte mich im Raum um und ließ mir Zeit. Die Wände waren mit Kiefernholz getäfelt, die Vorhänge von staubigem Grün. Eine dunkelgrüne Couch mit Kunstlederbezügen, ein ausladender Eichenschreibtisch, ein Drehstuhl, Bücherregale, eingerahmte Zeugnisse, Urkunden und Pergamentblätter, vermutlich mit biblischen Texten, an der Wand.
»Royce hat mich gebeten, Ihnen was auszurichten. Er hat versucht, Sie zu erreichen. Er braucht Ihre Dienste nicht mehr. Sobald Sie mir eine genaue Aufstellung Ihrer Leistungen geben, sorge ich dafür, dass Sie dafür angemessen bezahlt werden.«
»Danke, aber ich warte lieber, bis er mir das persönlich sagen kann.«
»Er ist ein kranker Mann. Und völlig verzweifelt. Als sein Pfarrer bin ich bevollmächtigt, Sie auf der Stelle von Ihrem Auftrag zu entbinden.«
»Ich habe mit Royce Fowler einen schriftlichen Vertrag abgeschlossen. Möchten Sie ihn mal sehen?«
»Ich kann Sarkasmus nicht ausstehen und finde Ihr Benehmen beschämend.«
»Ich bin von Natur aus skeptisch. Tut mir Leid, wenn Sie das als Beleidigung empfinden.«
»Warum sagen Sie nicht einfach, was Sie uns vorwerfen, und lassen uns dann in Ruhe?«
»Im Augenblick habe ich Ihnen gar nichts >vorzuwerfen<«, entgegnete ich. »Ich dachte lediglich, Ihre Frau könnte mir bei meinen Nachforschungen helfen.«
»Sie hat mit der Sache nichts zu tun. Helfen kann nur ich Ihnen.«
»Das ist ein faires Angebot«, behauptete ich. »Möchten Sie mir dann vielleicht von Ihrem Treffen mit Shana Timberlake erzählen?«
»Tut mir Leid. Aber mit Shana Timberlake treffe ich mich nie.«
»Und was bedeutet dann das hier?« Ich hielt die Glückwunschkarte so, dass er die Nachricht auf der Rückseite lesen konnte.
»Keine Ahnung.« Er schob sinnlos einige Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. »Sonst noch was?«
»Ich habe da gewisse Gerüchte über Sie und Jean Timberlake gehört. Da ich nun schon mal hier bin, sollten wir uns vielleicht darüber unterhalten.«
»Gerüchte dürften nach all den Jahren schwer zu beweisen sein, meinen Sie nicht?«
»Ich mag es, wenn’s kompliziert wird. Das macht meinen Beruf erst richtig aufregend. Möchten Sie gar nicht wissen, was für Gerüchte das sind?«
»Das interessiert mich nicht.«
»Na, gut. Dann vielleicht ein andermal. Die meisten Leute sind neugierig, wenn die Gerüchteküche kocht. Ich freue mich zu hören, dass Ihnen so etwas gar nichts ausmacht.«
»Ich kümmere mich nicht um das Geschwätz der Leute. Es überrascht mich, dass Sie das tun.« Er lächelte frostig und rückte seine Manschetten unter den Ärmeln des Talars zurecht. »Jetzt haben Sie meine Zeit lange genug in Anspruch genommen. Ich habe gleich eine Beerdigung und möchte vorher noch allein ein Gebet sprechen.«
Ich ging zur Tür, öffnete sie und drehte mich dann ganz beiläufig um. »Es gab natürlich einen Zeugen.«
»Einen Zeugen?«
»Na, Sie wissen schon: jemanden, der einen anderen bei einer verbotenen Tat beobachtet hat.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen. Einen Zeugen wofür?«
Ich machte ein Handzeichen, das er sofort zu verstehen schien.
Sein Lächeln war maskenhaft, als ich die Tür hinter mir schloss.
Die Luft draußen kam mir angenehm warm vor. Ich setzte mich in meinen Wagen, blätterte noch einmal meine Notizen durch und suchte nach Unterlassungssünden bei meinen Ermittlungen. Dabei wusste ich nicht einmal, was ich zu finden hoffte. Ich nahm mir erneut die Aufzeichnungen vor, die ich nach der Lektüre von Jean Timberlakes Schulakte gemacht hatte. Damals hatte das Mädchen in der Palm Street gewohnt, also praktisch von der Kirche aus gesehen gleich um die Ecke. Ich überlegte, ob es sich lohnen könnte, sich das Haus anzusehen. Warum eigentlich nicht, dachte ich. In Ermangelung harter Tatsachen durfte ich ruhig auf eine Eingebung hoffen. Ich startete den VW und fuhr zu der früheren Adresse der Timberlakes. Es war nur einen Block entfernt, sodass ich auch zu Fuß hätte gehen können, aber ich hielt es für besser, meinen Parkplatz für den Leichenwagen frei zu machen. Das Wohnhaus lag auf der linken Seite, ein zwei Stockwerke hoher Komplex mit schäbigem, blassgrünem Putz, der unsensibel an einen Steilhang geklatscht worden war.
Beim Näherkommen wusste ich schon, dass es hier nicht viel zu entdecken geben konnte. Das Haus war verlassen, die Fenster mit Brettern vernagelt. An der linken Seite führte ein hölzerner Treppenaufgang in den zweiten Stock hinauf, wo ein Balkon rund ums Gebäude führte. Ich stieg die Stufen hinauf. Die Timberlakes hatten in Nummer 6, also im Schatten des Hanges gewohnt. Es sah trostlos aus. In der Wohnungstür war ein glattes rundes Loch, dort wo früher der Türknauf gesessen hatte. Ich stieß sie auf. Das Holzfurnier war teilweise abgesplittert und hatte das billige Holz darunter freigelegt.
Die Fenster waren noch intakt, aber der Unterschied zu den mit Brettern vernagelten Fensteröffnungen war nur geringfügig; die dicke Staub- und Schmutzschicht auf den Scheiben ließ kaum Licht herein. Rußiger Staub lag auf dem Linoleumfußboden. Die Arbeitsplatte in der Küche war aufgequollen, die Schranktüren hingen schräg in den Angeln. Mäusekot gab überall Zeugnis von den neuen Bewohnern. Das Apartment hatte nur ein Schlafzimmer. Von hier führte die Hintertür auf den Balkon an der Rückseite des Gebäudes zu einer primitiven Treppe, die man in der Hangseite verankert hatte. Ich sah hinauf. Die freiliegende Erde auf dem steilen Abhang war erodiert. Gut fünfzehn Meter weiter oben quollen dichte Weinranken über die Hangkante. Und dort, am höchsten Punkt, lag ein Privathaus. Von dort musste man einen spektakulären Ausblick auf die Stadt haben, linker Hand das Meer, rechter Hand lehnte sich das Grundstück an einen sanften Hügel an.
Ich trat ins Haus zurück und versuchte im Geiste die Jahre zurückzudrehen. Natürlich war das Apartment möbliert gewesen; vielleicht nicht luxuriös, aber mit Sinn für bescheidene Gemütlichkeit. An den Spuren auf dem Fußboden glaubte ich zu erkennen, wo die Couch gestanden haben musste. Ich vermutete, dass die Timberlakes den Essplatz in der Küche als zweite Schlafnische genutzt hatten und überlegte, wessen Bett hier wohl gestanden haben mochte. Shana hatte erwähnt, dass Jean sich nachts häufig davongeschlichen hatte.
Ich ging erneut durch das eine Zimmer, trat durch die Hintertür ins Freie und studierte nachdenklich die Hintertreppe und blickte an der Hangkante in die Höhe. Vielleicht hatte Jean diesen Weg benutzt, um zu der Straße zu gelangen, die oben vorbeiführte, wo ihre jeweiligen Freunde sie mit dem Auto abholen und wieder absetzen konnten. Ich rüttelte an dem Geländer aus rohem Holz, das schlampig verarbeitet und nach der langen Zeit locker geworden war. Die primitive Treppe war ungewöhnlich steil und der Aufstieg nicht ungefährlich. Zahlreiche Teile des Handlaufs waren weggebrochen.
Ich stieg langsam hinauf und gelangte schwer atmend bis zur oberen Hangkante, an der ein Maschendrahtzaun entlangführte. Eine Tür war hier nicht zu sehen, doch früher mochte es durchaus einen Durchgang gegeben haben. Vorsichtig wandte ich den Kopf und sah hinunter auf die Dächer unter mir. Der Blick war atemberaubend... Baumwipfel zu meinen Füßen und dahinter die Stadt... Mir wurde schwindelig. Ein parkendes Auto hatte von hier aus ungefähr die Größe eines Stücks Seife.
Dann sah ich mir das Haus an, das vor mir lag, eine zweistöckige Konstruktion aus Holz mit viel Glas und leicht verwitterten Fassaden. Der Garten war gepflegt und herrlich angelegt, mit Swimmingpool, einem Warmwasserbecken, Terrasse, elegantem Glastisch und Gartenstühlen. Anderswo in der Stadt wäre ein solcher Besitz mit Sichtschutzhecken umgeben, um die Privatsphäre zu schützen. Hier oben konnten die Besitzer ungestört den Rundblick genießen.
Ich wandte mich nach rechts und hangelte mich am Zaun entlang weiter, auf dem schmalen Pfad, der am Grundstück vorbeiführte. Als ich die Grundstücksgrenze erreicht hatte, folgte ich dem Drahtzaun, der das unbebaute Nachbargrundstück begrenzte. Ich erreichte die Straße, das Ende einer Sackgasse, an der nur noch ein anderes Haus lag. Nach allem, was ich bisher von Floral Beach kannte, was dies die einzige »feine« Wohngegend der Stadt.
Ich ging zum Vordereingang der Villa und klingelte. Dann drehte ich mich um und sah auf die Straße hinaus. Hier oben auf der Anhöhe brannte die Sonne erbarmungslos auf die kalifornischen Dornensträucher mit ihren harten, ledrigen Blättern hinunter. Es gab nur vereinzelt Bäume und kaum einen Windschutz. In ungefähr vierhundert Metern Entfernung lag das Meer. Ich fragte mich, ob der Nebel so weit heraufreichte; eine Vorstellung, die mir in dieser Einsamkeit kaum anheimelnd erschien. Ich klingelte zum zweiten Mal, doch offenbar war niemand zu Hause. Was nun?
Der Ausdruck »Sanctuary« machte mir Kopfzerbrechen. In seiner Bedeutung »Allerheiligstes« hatte ich ihn automatisch mit der Kirche und den Haws’ in Verbindung gebracht. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit. Die Thermalquellen-Pools auf dem Gelände des Badehotels trugen solche Bezeichnungen. Vielleicht war die Zeit reif für einen weiteren Besuch bei den Dunnes.