21

Vom Apparat in der Küche aus wählte ich Shana Timberlakes Nummer, doch niemand meldete sich. Ich nahm mir vor, noch einmal bei ihr vorbeizuschauen. Shana hütete einen wesentlichen Teil des Geheimnisses, und so leicht kam sie mir nicht davon. Auf der Küchentheke lag das Telefonbuch. Ich schlug Dr. Dunnes Praxis-Nummer nach und wählte. Am anderen Ende meldete sich die Sprechstundenhilfe. »Praxis Dr. Dunne.«

»Guten Tag. Ist Mr. Dunne schon da?« Man hatte mir gesagt, dass er erst am Montag wieder in der Praxis sein würde, aber ich wollte ja auch mit der Sprechstundenhilfe reden.

»Nein, tut mir Leid. Heute ist Dr. Dunne in der Klinik in Los Angeles. Kann ich Ihnen helfen?«

»Das hoffe ich doch«, erwiderte ich. »Ich bin vor ein paar Jahren Patientin bei ihm gewesen und brauche meine Unterlagen von damals.«

Ann betrat die Küche und ging zum Kühlschrank. Sie holte eine Ampulle Insulin heraus und rollte sie zwischen den Handflächen hin und her, um sie anzuwärmen.

»Wann soll das gewesen sein?«

»Hm... tja, warten Sie... 1966.«

»Das tut mir Leid, aber so lange bewahren wir die Patientenakten nicht auf. Wenn Sie fünf Jahre lang nicht bei uns gewesen sind, archivieren wir Ihre Akte. Nach sieben Jahren werden die Unterlagen vernichtet.«

Ann verließ die Küche. Wenn ich das Gespräch noch etwas in die Länge zog, würde ich die Spritze überhaupt nicht mehr mitbekommen.

»Und das wird auch so gehandhabt, wenn ein Patient verstirbt?«, erkundigte ich mich.

»Wenn er stirbt? Ich dachte, wir sprechen von Ihrer Akte«, entgegnete sie. »Wie ist Ihr Name?«

Ich legte auf. So viel also zu Jean Timberlakes alten Krankenblättern. Ich war frustriert. Ich hasse Fälle, bei denen ich nicht weiterkomme. Schließlich kehrte ich ins Wohnzimmer zurück.

Das Telefongespräch war zu kurz gewesen.

Ann starrte auf die Spritze, hielt die Nadel hoch und drückte einen Tropfen heraus, um sicherzugehen, dass keine Luft in dem milchig weißen Insulin war. Ich bewegte mich so unauffällig wie möglich in Richtung Tür. Als ich an Ann vorbeikam, sah sie auf. »Ich hab ganz vergessen zu fragen. Sind Sie gestern eigentlich bei Pop gewesen?«

»Ja, am Spätnachmittag, aber er hat geschlafen. Warum? Hat er nach mir gefragt?« Ich vermied es tunlichst, in ihre Richtung zu sehen.

»Das Krankenhaus hat heute Morgen angerufen«, erklärte sie seufzend. »Er macht denen dort die Hölle heiß. Wie ich ihn kenne, will er nach Hause.« Sie reinigte eine Stelle auf dem Oberschenkel der Mutter mit Alkohol.

Ich suchte in meiner Handtasche nach einem Papiertaschentuch, als sie die Nadel ins Fleisch stieß. Ori zuckte merklich zusammen. Meine Hände waren feucht, und ich spürte ein erstes Schwindelgefühl.

»Vermutlich macht er Ärzten und Schwestern das Leben schwer«, plauderte Ann weiter, doch ihre Stimme drang nur noch von fern an mein Ohr. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie die Nadel von der Einwegspritze brach und in den Papierkorb warf. Dann räumte sie die Tupfer und die Verpackung der Lanzette weg. Ich setzte mich auf die Couch.

Plötzlich hielt sie inne und musterte mich besorgt. »Geht’s Ihnen gut?«

»Ja, danke. Ich muss mich nur mal setzen«, murmelte ich. Ich war sicher, dass auf diese heimtückische Weise auch der Tod eines Tages kommen würde. Was um Himmels willen sollte ich sagen? Dass ich eine zart besaitete Privatdetektivin bin, die beim Anblick einer Spritze ohnmächtig wird? Ich sah sie nur freundlich lächelnd an, um ihr zu beweisen, dass mit mir alles in Ordnung war. Vor meinen Augen begann es zu flimmern.

Ann war schon wieder beschäftigt. Sie ging in die Küche, um das Insulin in den Kühlschrank zurückzustellen. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, klemmte ich den Kopf zwischen die Knie. Angeblich wird man auf diese Weise nicht ohnmächtig, aber mir ist es trotzdem schon mehrfach gelungen. Ich warf Ori einen entschuldigenden Blick zu, sie zuckte ruhelos mit den Beinen und kam wie üblich nicht auf den Gedanken, es könne irgendjemandem schlechter gehen als ihr. Allmählich sah ich wieder klarer. Ich richtete mich auf und fächelte mir mit lässiger Geste Kühlung zu.

»Mir ist nicht gut«, sagte Ori und kratzte sich am Arm. Wir waren wirklich ein tolles Paar. Ihr geheimnisvoller Ausschlag regte sich offenbar wieder, und ich rechnete damit, das Ergebnis jeden Moment begutachten zu müssen. Ich setzte ein resigniertes Lächeln auf, das allmählich erstarb. Oris Atem ging nur noch keuchend, und ein seltsam katzenähnlicher Ton entrang sich ihrer Kehle, als sich ihre Finger in den Arm krampften. Sie sah mich entsetzt durch dicke Brillengläser an, die die Angst in ihren Augen überdimensional vergrößerten.

»O Gott!«, keuchte sie. »Ich kann nicht...« Sie war aschfahl im Gesicht. Ihre Züge schwollen an, und an ihrem Hals bildeten sich heiße rote Flecken.

»Was ist los, Ori? Kann ich was holen?«

Vor meinen Augen verschlechterte sich ihr Zustand so zusehends, dass ich es kaum fassen konnte. Ich lief zum Bett und rief in die Küche: »Ann, kommen Sie! Hier stimmt was nicht!«

»Bin gleich da«, kam es von Ann zurück, und ihr Ton machte deutlich, dass ihr die Dringlichkeit meiner Bitte entgangen sein musste.

»Ann! Um Himmels willen! Machen Sie schnell!«

Und plötzlich wusste ich, wo ich die Szene schon einmal gesehen hatte. Damals war ich acht Jahre gewesen und war zur Geburtstagsfeier des Nachbarjungen Donnie Dixon hinübergegangen. Er war von einer Hornisse gestochen worden und starb, bevor seine Mutter überhaupt in den Garten gelaufen kommen konnte.

Oris Hände griffen an ihre Kehle, ihre Augen rollten, Schweiß brach ihr aus. Es war klar, dass sie keine Luft mehr bekam. Ich versuchte ihr zu helfen, doch es war zwecklos. Sie streckte wie eine Ertrinkende die Arme nach mir aus und packte mich mit solcher Kraft beim Arm, dass ich das Gefühl hatte, sie würde mir jederzeit ein Stück Fleisch herausreißen.

»Was ist denn los?«, fragte Ann.

Sie stand im Türrahmen, und ihre Miene drückte eine Mischung von Ärger und Resignation aus. Dann schluckte sie, blinzelte, als versuche sie den Anblick, der sich ihr bot, zu deuten. »Was um alles in der Welt... Mutter, was ist los? O mein Gott!«

Seit dem Beginn des Anfalls konnten kaum mehr als zwei Minuten vergangen sein. Ori wurde von Krämpfen geschüttelt, und ich sah, wie sich eine Urinlache unter ihr auf dem Laken ausbreitete. Sie gab Töne von sich, die ich noch nie bei einem Menschen gehört hatte.

Anns Entsetzen machte sich in einem bebenden Schrei Luft, der tief aus ihrer Kehle zu kommen schien. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Telefon und versuchte die Nummer des Notrufs zu wählen. Als sie endlich die 911 gewählt hatte, zuckte Oris Körper wie unter einer Elektroschockbehandlung.

Die Vermittlung für Notfälle meldete sich, ich hörte vage eine weibliche Stimme. Ann versuchte etwas zu sagen, doch ihre Worte wurden zu einem schrecklichen Schrei, als sie das Gesicht ihrer Mutter sah. Ich versuchte mich aufgeregt in Wiederbelebungsmethoden und wusste doch, dass alles umsonst war.

Dann war alles Leben aus Ori gewichen, ihre Augen starrten weit aufgerissen ins Leere. Kein Arzt konnte ihr mehr helfen. Ich warf automatisch einen Blick auf die Uhr. Es war genau neun Uhr und sechs Minuten. Ich nahm Ann den Telefonapparat aus der Hand und verlangte nach der Polizei.

Innerhalb von einer halben Stunde hatten die Leute des Sheriffs den Wohntrakt der Fowlers mit Beschlag belegt: Detective Quintana und sein Kollege, dessen Namen ich noch immer nicht kannte, der Coroner, ein Gerichtsarzt, dem die Untersuchung der Todesursache oblag, ein Fotograf, zwei Beamte von der Spurensicherung und ein Sachverständiger für Fingerabdrücke, drei uniformierte Polizeibeamte, die Haus und Grundstück sicherten, und die Besatzung eines Krankenwagens, die geduldig darauf wartete, dass die Leiche abtransportiert werden konnte. Alles, was irgendwie mit Bailey Fowler zu tun hatte, würde sorgfältig geprüft werden.

Kurz nachdem der erste Streifenwagen eingetroffen war, hatte man Ann und mich getrennt. Es war unschwer zu erraten, dass man verhindern wollte, dass wir uns absprachen. Die Polizei ging kein Risiko ein. Immerhin konnte man nicht ausschließen, dass wir gerade gemeinschaftlich Ori Fowler umgebracht hatten. Allerdings hätte man ruhig annehmen dürfen, dass zwei Frauen, die skrupellos genug gewesen waren, sie zu töten, sicher auch so schlau gewesen wären, ihre Aussagen vor Eintreffen der Polizei abzustimmen. Möglicherweise wollte man also nur verhindern, dass wir uns ungünstig beeinflussten und damit nicht mehr objektiv blieben.

Ann saß bleich und erschüttert im Esszimmer. Während der Polizeiarzt Ori untersucht und sie nach Herztönen abgehört hatte, hatte Ann kurz und emotionslos geweint. Mittlerweile wirkte sie wie betäubt und beantwortete Quintanas Fragen ruhig und mit leiser Stimme. Ich hatte diese Reaktion schon unzählige Male erlebt, wenn der Tod so plötzlich gekommen war, dass kein unmittelbar Betroffener die Konsequenzen im vollen Umfang erfassen konnte. Später erst, wenn die Endgültigkeit des Ereignisses begriffen wird, kommt wütende und tränenreiche Trauer zum Ausbruch.

Quintanas Blick schoss flüchtig in meine Richtung, als ich an der Tür vorbeiging. Ich war auf dem Weg in die Küche, von einer Polizeibeamtin begleitet, deren Dienstausrüstung ihren Taillen-Umfang sicher noch einmal um dreißig Zentimeter vergrößerte: schwerer Gürtel, Funkgerät, Schlagstock, Handschellen, Schlüssel, Taschenlampe, Munition, Pistole und Halfter. Ich fühlte mich unangenehm an meine Zeit in Uniform erinnert. Es ist schwer, ein Gefühl von Weiblichkeit zu bewahren in einer Hose, in der man wie ein Kamel von hinten aussieht.

Ich nahm am Küchentisch Platz und setzte eine gelangweilte Miene auf, um zu verbergen, dass ich jeden Handgriff der Polizei am Tatort genau registrierte. Offen gestanden war ich in diesem Augenblick erleichtert, Ori nicht mehr ansehen zu müssen. Im Tod erinnerte sie mich an eine gestrandete alte Seelöwin. Bestimmt war sie noch nicht einmal erkaltet, aber ihre Haut hatte bereits den stumpfen, fleckigen Schimmer des Todes. Ein Körper, aus dem jedes Leben gewichen ist, scheint fast sichtbar zu verfallen. Das ist natürlich Einbildung; vielleicht dieselbe optische Täuschung wie der Eindruck, Tote würden noch atmen.

Ann musste der Polizei gesagt haben, dass sie ihrer Mutter Insulin gespritzt hatte, denn ein Beamter von der Spurensicherung kam in die Küche, holte die Insulinampulle aus dem Kühlschrank und etikettierte und beschriftete sie sorgfältig. Vorausgesetzt, das Polizeilabor entsprach dem üblichen Standard einer Stadt dieser Größe, würden Insulin und sämtliche Blut- und Urin-Proben der Toten zusammen mit Mageninhalt, Galle und anderen Gewebeproben an das Zentrallabor in Sakramento geschickt. Als Todesursache kam meines Erachtens nur anaphylaktischer Schock in Frage. Die Frage war lediglich, was diesen ausgelöst hatte. Sicher nicht das Insulin, das Ori jahrelang bekommen hatte — es sei denn, jemand hatte sich an der Ampulle zu schaffen gemacht, was mir durchaus möglich erschien. Es konnte sich auch um einen Unfall handeln, aber das bezweifelte ich.

Ich blickte zur Hintertür, wo der Riegel hochgeschoben war. Soweit ich wusste, waren Büro und Empfang des Motels nur selten verschlossen. Es war hier üblich, Fenster und Türen offen zu lassen. Ich dachte daran, wie viele Menschen sich in den letzten Tagen hier eingefunden hatten. Praktisch jeder konnte auch Zugang zum Kühlschrank gehabt haben. Oris Zuckerkrankheit war allgemein bekannt gewesen, und für den Mörder musste es ein leichtes Spiel gewesen sein. Dass Ann es war, die ihr die todbringende Flüssigkeit injiziert hatte, würde ihre Trauer noch durch Schuldgefühle verstärken. Eine teuflische Situation. Ich war neugierig, welchen Reim sich Detective Quintana darauf machen würde.

Wie aufs Stichwort kam er in diesem Augenblick in die Küche und setzte sich an den Tisch mir gegenüber. Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich auf einen Plausch mit ihm freute. Seine Gegenwart wirkte erdrückend. In seiner Nähe fühlte ich mich wie in einem überfüllten Aufzug, der zwischen zwei Stockwerken stecken geblieben war. Und das ist wahrlich kein Erlebnis, das man herbeisehnt.

»Also hören wir uns mal Ihre Version der Geschichte an«, begann er.

Ich muss zugeben, dass er diesmal einfühlsamer war als bei unserer ersten Begegnung; vielleicht aus Respekt gegenüber Ann. Ich legte mit aller mir möglichen Offenheit los. Schließlich hatte ich nichts zu verbergen und sah keinen Grund, Katz und Maus mit dem Mann zu spielen. Ich begann mit dem Drohanruf mitten in der Nacht und endete mit dem Moment, als ich Ann den Telefonhörer aus der Hand genommen und die Polizei verständigt hatte. Quintana machte sich sorgfältig Notizen in seiner schnellen, sauberen Handschrift, die aussah wie die Kursivschrift einer Schreibmaschine. Am Ende hatte er mit seiner Gründlichkeit und seinem Gespür für Details mein Vertrauen gewonnen. Er klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Jacketttasche.

»Haben Sie Grund zu der Annahme, dass sie es getan haben könnte?«

»Wer? Ann?«, fragte ich verdutzt. »Nein. Sie?«

Darauf antwortete er erst gar nicht. »Miss Fowler sagt, dass der Hausarzt freitags nicht praktiziert. Kümmern Sie sich um sie. Sie sieht aus, als könne sie jeden Moment zusammenbrechen. Einen besonders frischen Eindruck machen Sie allerdings auch nicht gerade.«

»Einen Monat Schlaf, und ich bin wieder okay.«

»Rufen Sie mich an, wenn es was Neues gibt.«

Als Quintana schließlich ging, waren die Untersuchungen abgeschlossen, und das Team von der Spurensicherung packte seine Koffer. Ich fand Ann noch immer am Esstisch sitzend vor. Sie blickte in meine Richtung, als ich eintrat, zeigte aber keinerlei Reaktion.

»Geht es Ihnen einigermaßen?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht.

Ich setzte mich neben sie. Vielleicht hätte ich ihre Hand nehmen sollen, aber sie war keine Frau, die man anfasste, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. »Quintana hat Ihnen die Frage bestimmt auch schon gestellt: Litt Ihre Mutter unter einer Allergie?«

»Penizillin«, erwiderte Ann tonlos. »Ich erinnere mich, dass sie darauf einmal ganz furchtbar reagiert hat.«

»Welche Medikamente hat sie sonst noch genommen?«

Ann schüttelte den Kopf. »Nur das, was auf dem Nachttisch steht, und natürlich Insulin. Ich begreife überhaupt nicht, wie das passieren konnte.«

»Wer wusste von der Penizillinallergie?«

Ann wollte etwas sagen, schüttelte dann jedoch nur den Kopf.

»Bailey?«

»Er hätte das nie getan. Er konnte keiner...«

»Wer noch?«

»Pop. Der Arzt.«

»Dunne?«

»Ja. In seiner Praxis hat sie das erste Mal einen Penizillinschock gehabt.«

»Und John Clemson? Sind Sie Kunden in seiner Apotheke?«

Ann nickte.

»Und die Leute von der Kirchengemeinde?«

»Die vermutlich auch. Sie hat kein Geheimnis daraus gemacht. Sie haben sie ja gekannt. Sie hat immer von ihren Krankheiten...« Sie blinzelte, und ich sah, wie sie rot wurde. Ihre Mundwinkel zuckten, als die Tränen kamen.

»Ich rufe jemanden an, der bei Ihnen bleiben kann. Ich habe noch einiges zu tun. Wem soll ich Bescheid sagen? Mrs. Emma? Mrs. Maude?«

Sie kauerte sich zusammen und legte ihre Wange auf die Tischplatte, als ob sie schlafen wollte. Stattdessen begann sie zu weinen, und die Tränen fielen wie heißes Wachs auf die polierte Holzfläche. »O mein Gott, Kinsey! Ich hab’s getan. Ich kann’s nicht fassen. Ich habe ihr das Zeug gespritzt. Wie soll ich damit nur weiterleben?«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.

Schließlich ging ich ins Wohnzimmer zurück, wobei ich tunlichst vermied, zum Bett zu sehen, das mittlerweile leer war; die Bettwäsche war abgezogen und zusammen mit den übrigen Beweisstücken abtransportiert worden. Wer weiß, was sie in den Betttüchern finden würden? Eine Natter, eine giftige Spinne, den letzten Gruß einer Selbstmörderin?

Ich rief Mrs. Maude an und berichtete, was geschehen war. Nachdem ich die obligatorischen Entsetzensbekundungen über mich hatte ergehen lassen, sagte sie, dass sie sofort kommen würde. Vermutlich wollte sie noch schnell ein paar Anrufe tätigen und die Mitglieder des Einsatzkommandos für Familienkatastrophen zusammentrommeln. Ich glaubte schon zu hören, wie sie die Kartoffelchips für die Tunfischkasserollen in der Küchenmaschine zerkleinerten.

Sobald Mrs. Maude eingetroffen war und das Regiment in der Rezeption übernommen hatte, ging ich auf mein Zimmer, schloss die Tür ab und setzte mich aufs Bett. Oris Tod verwirrte mich. Ich hatte keine Vorstellung, was er zu bedeuten hatte, wie er in die Geschichte passte. Ich war völlig fertig vor Erschöpfung und Müdigkeit. Ich wusste, dass ich es mir nicht leisten konnte, jetzt schlafen zu gehen, aber ich war nicht sicher, wie lange ich das noch durchhalten würde.

Neben mir schrillte das Telefon. Hoffentlich war das kein weiterer Drohanruf. »Hallo?«

»Kinsey, ich bin’s. Was zum Teufel ist bloß los?«

»Bailey, wo sind Sie?«

»Sagen Sie mir, was mit meiner Mutter passiert ist?«

Ich erzählte ihm alles, was ich wusste, und das war nicht viel. Am anderen Ende war es danach so lange still, dass ich schon glaubte, er habe aufgelegt. »Sind Sie noch da?«

»Ja, natürlich.«

»Tut mir Leid. Wirklich. Sie haben sie noch nicht einmal wieder sehen können.«

»Ja.«

»Bailey, tun Sie mir einen Gefallen. Sie müssen sich stellen.«

»Erst, wenn ich weiß, was hier eigentlich vorgeht.«

»Hören Sie...«

»Vergessen Sie’s.«

»Verdammt, lassen Sie mich gefälligst ausreden. Dann können Sie tun, was Sie wollen. Solange Sie frei herumlaufen, schiebt man Ihnen die Schuld für alles in die Schuhe, was passiert. Begreifen Sie das denn nicht? Tap wird niedergeschossen, und Sie flüchten. Und als Nächstes stirbt Ihre Mutter.«

»Sie wissen, dass ich das nicht gewesen bin.«

»Dann stellen Sie sich. Wenn Sie wieder in Haft sitzen, kann man Sie wenigstens nicht auch noch für weitere Verbrechen verantwortlich machen.«

Am anderen Ende war es still. »Vielleicht haben Sie Recht«, sagte er schließlich. »Ich weiß es nicht. Das ist alles eine solche Scheiße.«

»Da haben Sie Recht. Das finde ich auch. Hören Sie, rufen Sie Clemson an, und hören Sie sich an, was er Ihnen sagt.«

»Ich weiß, was der sagen wird.«

»Dann befolgen Sie seinen Rat, und machen Sie ausnahmsweise mal was Gescheites!« Damit warf ich den Hörer auf die Gabel.