20

Es war elf Uhr, als ich endlich ins Bett kam. Ich war so erschöpft, dass jeder Muskel meines Körpers wehtat. Ausgestreckt lag ich auf der Matratze und hörte auf meinen Herzschlag und fühlte das Blut in den Armen pulsieren. So hatte es keinen Sinn. Das war klar. Ich schleppte mich ins Badezimmer und schluckte eine der Schmerztabletten, die Dr. Dunne mir gegeben hatte. Ich wollte nicht mehr an die Ereignisse des Tages denken. Es war mir völlig gleichgültig, was vor siebzehn Jahren geschehen war oder was in siebzehn Jahren geschehen würde. Alles, was ich mir wünschte, war ein langer heilsamer Schlaf, und schließlich gab ich mich ungestört von Träumen dem Vergessen hin.

Um zwei Uhr morgens schreckte mich das Telefon aus einem todähnlichen Schlaf. Automatisch griff ich nach dem Hörer und hielt ihn ans Ohr. »Was ist?«, sagte ich.

Eine tiefe, raue Stimme, die schwerfällig und langsam artikulierte. »Du Miststück, ich schneide dich in Stücke. Ich sorge dafür, dass du wünschst, nie deinen Fuß nach Floral Beach gesetzt zu haben...«

Ich warf den Hörer auf die Gabel, bevor der Kerl noch ein weiteres Wort sagen konnte. Ich saß aufrecht im Bett, mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich hatte so tief und fest geschlafen, dass ich im ersten Augenblick gar nicht wusste, wo ich mich befand. Mein Blick schweifte suchend durch die Dunkelheit. Nur allmählich registrierte ich das rhythmische Donnern der Brandung in nur fünfzig Metern Entfernung und erkannte mit Hilfe des gelblichen Widerscheins der Straßenbeleuchtung, dass ich mich in einem Motelzimmer befand. Ach ja, Floral Beach, fiel es mir ein. Und schon wünschte ich, nie hierher gekommen zu sein. Ich schlug die Decke zurück, tappte in Slip und Unterhemd durchs Zimmer und spähte durch die Stores.

Der Mond war verschwunden. Draußen herrschte finsterste Nacht, und die Brandung warf bleigraue Tropfen auf den Sand. Die Straße unter dem Balkon war menschenleer und verlassen. Ein tröstlicher Lichtschein, der irgendwo zu meiner Linken von schräg oben in die Dunkelheit fiel, zeigte an, dass außer mir noch jemand wach war... vielleicht las oder einen Spätfilm im Fernsehen ansah. Noch während ich hinausstarrte, wurde das Licht ausgeknipst, und der Balkon lag wieder im Dunkeln.

Dann schrillte das Telefon wieder. Ich zuckte zusammen. Vorsichtig hob ich den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr. Wieder diese merkwürdig artikulierende Stimme, Wohl dieselbe Stimme, die Daisy damals in Pearls Billardsalon gehört hatte, als nach Tap verlangt worden war. Ich hielt das andere Ohr zu und versuchte Hintergrundgeräusche auszumachen. Die Drohung war ziemlich einfallslos. Ich ließ die Stimme ohne Unterbrechung ausreden. Wer dachte sich solche Scherze aus? Das eigentlich Gemeine dabei war, jemanden mitten aus dem Tiefschlaf zu reißen; eine absolut teuflische Folter.

Der zweite Anruf war ein taktischer Fehler. Beim ersten Mal war ich viel zu schlaftrunken gewesen, um zu begreifen, aber jetzt war ich hellwach. Ich blinzelte in die Dunkelheit, hörte nicht mehr auf den Inhalt der Worte, sondern konzentrierte mich ausschließlich auf die Tonqualität. Rauschen, dann ein Klicken. Doch die Leitung war nicht tot. »Hör zu, du Arschloch«, begann ich. »Ich weiß, was du vorhast. Und ich kriege bald raus, wer du bist. Also genieß deine miese Tour, solange du’s noch kannst!« Am anderen Ende wurde eingehängt. Ich ließ den Hörer neben dem Apparat liegen.

Ohne Licht anzumachen, zog ich mich hastig an und putzte mir die Zähne. Den Trick kannte ich. In meiner Handtasche befindet sich stets ein kleines betriebsbereites Tonbandgerät mit variabel einstellbarer Geschwindigkeit. Nimmt man eine Stimme mit normaler Geschwindigkeit auf und spielt das Band dann langsamer ab, erzielt man exakt diesen Effekt: einen schleppenden, rauen und unbeholfenen Klang, der an einen sprechenden Gorilla erinnert. Allerdings ließ sich daraus nicht ableiten, wie die Stimme bei korrekter Geschwindigkeit klang. Sie mochte männlich oder weiblich, alt oder jung sein. Aber es war mit fast tödlicher Sicherheit eine Stimme, die ich kannte. Weshalb sonst all die Umstände?

Ich schloss meinen Aktenkoffer auf, holte meine Davis, Kaliber 7,65 Millimeter, heraus und wog die kühle, glatte Waffe in meiner Hand. Bisher hatte ich mit der Davis nur auf dem Schießplatz geübt, doch ich konnte damit beinah alles treffen. Ich steckte den Zimmerschlüssel in die Tasche meiner Jeans und öffnete die Tür lautlos einen Spaltbreit. Der Korridor war finster, aber ich fühlte, dass er leer war. Ich erwartete auch nicht, dass jemand mir hier auflauerte. Leute, die dich umbringen wollen, schicken dir nicht zuvor eine höfliche Einladungskarte. Mörder sind notorisch unfair und halten sich nicht an die Spielregeln, die das Leben der restlichen Bevölkerung bestimmen. Der Anruf war reine Taktik gewesen, um Panik zu erzeugen. Ich nahm die Todes- und Verstümmelungsdrohung nicht weiter ernst. Wo konnte man sich schon um diese Nachtzeit eine Kettensäge ausleihen? Ich zog die Tür hinter mir ins Schloss und schlich die Treppe hinunter.

In der Rezeption brannte Licht, die Tür zum Wohntrakt der Fowlers war geschlossen. Bert schlief. Er saß auf seinem Stuhl hinter dem Tresen, das Kinn auf der Brust, und schnarchte. Sein Jackett hing ordentlich auf einem Drahtbügel an der Wand. Er trug eine Strickjacke und Papiermanschetten, die durch Gummibänder gehalten wurden und das Hemd schonen sollten. Wovor allerdings, war mir rätselhaft. Außer den Aufgaben als Nachtportier schien Bert keine weiteren Arbeiten verrichten zu müssen.

»Bert«, begann ich. Keine Antwort. »Bert?«

Er richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Dann starrte er mich schlaftrunken an und blinzelte.

»Offenbar sind die Anrufe, die ich gerade gekriegt habe, nicht über die Vermittlung reingekommen«, sagte ich. Ich sah zu, wie seine kleinen grauen Zellen allmählich zu arbeiten begannen.

»Wie bitte?«

»Ich habe gerade zwei Anrufe bekommen. Und ich muss wissen, woher.«

»Die Telefonvermittlung ist geschlossen«, erklärte er. »Nach zehn Uhr werden keine Anrufe mehr durchgestellt.« Seine Stimme war heiser vor Schlaf, er räusperte sich.

»Das ist ja was ganz Neues«, entgegnete ich. »Bailey hat mich gestern Nacht um zwei Uhr morgens angerufen. Wie hat er das denn geschafft?«

»Ich hab ihn durchgestellt. Er hat darauf bestanden. Sonst hätte ich’s nicht getan. Hoffentlich verstehen Sie, dass ich den Sheriff benachrichtigen musste. Er ist ein entsprungener...«

»Ich weiß, was er ist, Bert. Könnten wir jetzt über die beiden Anrufe reden, die gerade reingekommen sind?«

»Da muss ich passen. Davon weiß ich nichts.«

»Könnte jemand in meinem Zimmer anrufen, ohne über die Vermittlung durchgestellt zu werden?«

Er kratzte sich am Kinn. »Nicht, dass ich wüsste. Sie können direkt nach draußen telefonieren... aber wenn Sie angerufen werden, läuft das nur über die Vermittlung. Das ganze System ist sowieso Krampf. Drüben im >Tides< haben sie noch nicht mal Telefon auf dem Zimmer. Das kostet alles mehr, als es bringt. Wir haben die Anlage erst vor ein paar Jahren installieren lassen, und die Hälfte der Zeit funktioniert sie nicht. Was soll das also?«

»Kann ich mir die Anlage mal ansehen?«

»Bitte, jederzeit. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass kein Anruf reingekommen ist. Ich bin seit neun Uhr im Dienst, und da war kein einziger Anruf. Ich habe nur Rechnungen fertig gemacht. Das Telefon hat keinen Pieps von sich gegeben.«

Mein Blick fiel auf den Stapel Briefkuverts, die im Postkorb lagen. Ich duckte mich unter dem Empfangstresen durch. Die Telefonvermittlungsanlage befand sich auf der anderen Seite. Auf dem Tastenfeld war jedem Zimmer eine nummerierte laste zugeordnet. Nur über der Taste 24, meiner Zimmernummer, brannte ein Lämpchen, weil ich den Hörer nicht aufgelegt hatte. »Das Licht zeigt also an, wann ein Teilnehmer spricht?«

»Ja, das Licht«, sagte Bert. »Ganz richtig.«

»Was ist, wenn von Zimmer zu Zimmer telefoniert wird? Kann ein Gast die Vermittlung umgehen und einen anderen Teilnehmer im Haus direkt anwählen?«

»Wenn er Ihre Zimmernummer weiß.«

Ich dachte an all die Leute, denen ich in den vergangenen Tagen meine Visitenkarte gegeben hatte. Auf die Rückseite hatte ich fein säuberlich die Telefonnummer des Ocean Street Motels — und in einigen Fällen auch meine Zimmernummer — notiert. »Wenn auf einem Apparat gesprochen wird, können Sie anhand der Lämpchen nicht erkennen, ob der Anruf von außen gekommen ist, ob von Zimmer zu Zimmer gesprochen wird oder ob einfach der Hörer nicht aufgelegt worden ist?«

»Nein. Ich könnte aber den Schalter hier bedienen und einfach mithören, das wäre natürlich gegen die Vorschrift.«

Ich studierte das Tastenfeld. »Wie viele Zimmer sind belegt?«

»Darüber darf ich keine Auskunft geben.«

»Wie bitte? Steht vielleicht die nationale Sicherheit auf dem Spiel, oder was?«

Er starrte mich einen Moment wortlos an, dann bedeutete er mir indigniert, dass ich ja in der Zimmerkartei selbst nachsehen könne. Während ich die Kartei durchblätterte, drückte er sich in meiner Nähe herum, um sicherzugehen, dass ich nichts einsteckte. Von vierzig verfügbaren Zimmern waren fünfzehn belegt, aber die Namen sagten mir gar nichts. Ich wusste selbst nicht mehr, was ich mir davon versprochen hatte.

»Hoffentlich wollen Sie nicht schon wieder ein anderes Zimmer«, bemerkte er schließlich. »In diesem Fall müssten wir Ihnen das nämlich berechnen.«

»Ach wirklich? Und weshalb?«

»Anweisung der Hotelleitung«, antwortete er und rückte seine Hose zackig zurecht.

Womit reizte ich ihn so? Er sah aus, als würde er jeden Augenblick wieder von den vorbildlichen Managementmethoden anfangen im »Tides«. Ich wünschte ihm eine gute Nacht und kehrte in mein Zimmer zurück.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Das Telefon begann leise, klagende Geräusche von sich zu geben, als sei es krank, sodass ich den Hörer auflegte und dafür den Stecker aus der Buchse zog. Genau wie in der vorhergegangenen Nacht kroch ich angezogen ins Bett. Dort lag ich wach, starrte zur Decke und hörte auf die gedämpften Geräusche hinter der Wand: ein Husten, das Rauschen einer Toilettenspülung. Die Leitungsrohre dröhnten metallen und ächzten wie ein ganzer Clan von Gespenstern in Ritterrüstung. Allmählich löste Sonnenschein die Straßenbeleuchtung ab, und ich merkte, dass ich hin und wieder eindöste. Gegen sieben Uhr stand ich auf, schleppte mich ins Badezimmer und unter die Dusche, wo ich mein Kontingent an heißem Wasser restlos ausschöpfte.

Fürs Frühstück testete ich das Ocean Street Café, wo ich eine Tasse schwarzen Kaffees nach der anderen in mich hineinschüttete, während ich mich hinter einer Zeitung verschanzte, um die Gespräche der Stammgäste ungestört belauschen zu können. Allmählich waren mir einige Gesichter bekannt. Die Frau, die den Waschsalon betrieb, saß an der Theke neben Ace, der wieder seine Exfrau Betty fertig machte. Und es waren noch zwei Männer anwesend, die ich schon in Pearls Kneipe gesehen hatte.

Mein Tisch stand in einer Nische vor dem großen Panzerglasfenster, durch das ich auf den Strand hinausschauen konnte. Jogger trabten über den nassen, festen Sandstreifen. Ich selbst war viel zu müde, um eine Runde zu laufen, obwohl das meinen Kreislauf vielleicht wieder in Schwung gebracht hätte. Hinter mir unterhielten sich die Gäste, wie sie das vermutlich schon seit Jahren jeden Tag taten.

»Was glaubst du, hat er vor?«

»Das weiß der Himmel. Ich hoffe nur, dass er Kalifornien verlassen hat. Ich würde ihm sofort eine Schrotladung draufbrennen, wenn er mir unter die Augen käme.«

»Wetten, dass du jeden Abend erst mal unter dein Bett guckst?«

»Da schau ich jeden Abend drunter. Es ist schließlich das einzig Aufregende an meinem Leben. Und ich hoffe immer, dass mir da mal jemand entgegenschaut.« In dem folgenden schrillen Gelächter schwang Angst mit.

»Ich komme gern mal rüber, um dir zu helfen.«

»‘ne schöne Hilfe wärst du.«

»Wär ich auch. Ich hab ‘ne Pistole«, sagte Ace.

»Da erzählt Betty aber was anderes.«

»Ja, der hat immer geladen, aber das heißt noch lange nicht, dass seine Pistole funktioniert.«

»Wenn Bailey Fowler auftaucht, denkst du anders«, bemerkte Ace.

»Nicht wenn ich ihn zuerst erwische«, warf einer der Männer ein.

Auf der ersten Seite der Lokalzeitung stand eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse. Der Tenor war dazu angetan, die Stimmung anzuheizen. Fotos von Jean. Ein altes Zeitungsfoto vom Tatort, Einwohner von Floral Beach im Hintergrund. Ihre Gesichter verschwommen und undeutlich; sechzehn Jahre jünger als heute. Jeans Leiche, kaum erkennbar, von einer Decke verhüllt. Niedergetrampelter Sand. Betonstufen in der rechten äußeren Bildhälfte. Darunter stand ein Zitat von Quintana, der schon damals den Mund zu voll genommen hatte. Vermutlich war er von Anfang an auf den Sheriffposten aus gewesen. Er schien der Typ zu sein.

Ich verschlang hastig mein Frühstück und kehrte ins Motel zurück.

Als ich die Außentreppe hinaufging, sah ich, wie eines der Zimmermädchen an die Tür von Nummer 20 klopfte. In ihrer Nähe standen ein Wagen mit frischer Bettwäsche und der Staubsauger.

»Zimmerservice!«, rief sie. Niemand antwortete.

Das Zimmermädchen war klein und mollig. Beim Lächeln entblößte sie einen Zahn mit Goldkrone. Ihr Hauptschlüssel passte offenbar nicht, und sie ging zum nächsten Zimmer weiter. Es war das Zimmer, das ich bewohnt hatte, bis Bert gnädig einem Wechsel zugestimmt hatte. Ich schloss Zimmer 24 auf, ging hinein und machte die Tür hinter mir zu.

Mein zerwühltes Bett wirkte ausgesprochen einladend. Alles in mir prickelte von dem Kaffee, den ich literweise getrunken hatte, doch unter der flimmernden Wirkung des Koffeins war mein Körper vor Müdigkeit bleischwer. Das Zimmermädchen klopfte. Ich gab alle Hoffnung auf ein wenig Schlaf auf und ließ sie herein. Mit einem Plastikeimer voller Lappen und Putzmitteln verschwand sie im Badezimmer. Man fühlt sich selten so nutzlos, wie wenn jemand für einen sauber macht. Ich ging ins Büro hinunter.

Ori stand hinter dem Empfangstresen und hielt sich zittrig an ihrem Stock fest, während sie die Rechnungen durchsah, die Bert im Postkorb abgelegt hatte. Sie trug eine Kittelschürze aus Baumwolle über ihrem Krankenhausnachthemd.

»Mutter!«, rief Ann aus dem angrenzenden Zimmer. »Wo bist du? Mein Gott...«

»Ich bin hier!«

Ann tauchte im Türrahmen auf. »Was tust du da? Ich habe dir doch gesagt, dass ich noch den Blutzuckertest machen will, bevor ich zu Pop fahre.« Dann sah sie mich und lächelte. Die schlechte Laune vom Vorabend war offenbar überwunden. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Ann.«

Ori stützte sich schwer auf Anns Arm, als sie ins Wohnzimmer hinüberschlurfte.

»Kann ich helfen?«, fragte ich.

»Ja, würden Sie das tun?«

Ich schlüpfte unter der Klappe des Empfangstresens hindurch und stützte Ori von der anderen Seite. Ann schob den Stock aus dem Weg. Zu zweit führten wir Ori zum Bett zurück.

»Sollen wir noch zur Toilette gehen, wenn du schon mal auf bist?«

»Ja, das ist das Beste«, antwortete Ori.

Ann setzte sie auf die Klobrille, kam in den Korridor hinaus und machte die Tür zu.

Ich sah Ann an. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen wegen Jean stellen, solange wir hier warten?«

»Okay«, erwiderte sie.

»Ich habe mir gestern Jeans Schulakte angesehen, und darin steht, dass Sie sich als Schulpsychologin auch mit ihr befasst haben. Können Sie mir sagen, worum es dabei ging?«

»Hauptsächlich um ihre Mitarbeit im Unterricht. Wir sind vier Schulpsychologen, und wir beraten die Schüler in schulischen Angelegenheiten. Wir informieren über die Voraussetzungen für den Übergang zum College, beraten bei der Stundenplanzusammenstellung und Kursauswahl. Auch wenn jemand mit einem Lehrer Schwierigkeiten hat oder den Anforderungen nicht gerecht wird, schalten wir uns ein, um zu helfen, die Ursachen zu ergründen oder Streit zu schlichten. Mehr können wir kaum tun. Jean hatte schulische Probleme, und wir haben darüber gesprochen, dass ihre Probleme möglicherweise mit ihrer häuslichen Situation zusammenhingen. Aber ich glaube nicht, dass sich irgendjemand von uns dazu berufen gefühlt hätte, den Psychoanalytiker zu spielen. Möglicherweise haben wir empfohlen, sie zu einem Psychotherapeuten zu schicken, aber ich persönlich habe mich in dieser Rolle bei ihr nicht versucht.«

»Wie war Jeans Beziehung zu Ihrer Familie? Sie ist doch ziemlich viel hier gewesen, oder?«

»Ja, schon. Während der Zeit, als sie und Bailey befreundet waren.«

»Ich habe den Eindruck, dass Ihre Eltern Jean durchaus gemocht haben.«

»Ja, sehr. Das hat meine Aufgabe in der Schule natürlich umso schwieriger gemacht. Die Verbindung zu ihr war gewissermaßen zu eng, als dass ich objektiv hätte sein können.«

»Hat sie sich Ihnen je wie einer Freundin anvertraut?«

Ann runzelte die Stirn. »Ich habe sie dazu jedenfalls nicht ermutigt. Manchmal hat sie sich über Bailey beklagt — wenn die beiden zum Beispiel Streit hatten — , aber er war schließlich mein Bruder. Wie hätte ich mich da so einfach auf ihre Seite schlagen sollen? Schwer zu sagen. Vielleicht hätte ich mich intensiver um sie bemühen müssen. Das habe ich mir hinterher oft gesagt.«

»Was ist mit den anderen Kollegen oder Lehrkräften? Könnte sie sich jemandem anvertraut haben?«

Ann schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

Wir hörten das Rauschen der Toilettenspülung. Ann ging hinein, während ich im Korridor wartete. Dann brachten wir Ori gemeinsam ins Wohnzimmer zurück.

Ori streifte ihre Kittelschürze ab, und wir verfrachteten sie mit vereinten Kräften ins Bett. Sie wog mindestens hundertfünfzig Kilo, zähes Fett unter kalkweißer Haut. Ein muffiger Geruch ging von ihr aus, und ich musste aufpassen, mir meinen Ekel nicht anmerken zu lassen.

Ann begann Alkohol, Tupfer und Lanzette bereitzulegen. Ich wusste, wenn ich diese Prozedur noch einmal mitansehen musste, würde ich ohnmächtig werden.

»Darf ich mal telefonieren?«

»Das ist das Geschäftstelefon«, sagte Ori. »Es sollte möglichst nicht benutzt werden.«

»Gehen Sie in die Küche«, riet Ann. »Und wählen Sie zuerst die Neun.«