23
Ich ließ mich über die Krankenhauszentrale nach draußen durchstellen und sagte der Telefonvermittlung, ich wollte ein persönliches Gespräch mit Lieutenant Dolan unter der Rufnummer, die er mir gegeben hatte. Während ich wartete, dass die Verbindung hergestellt wurde, studierte ich das Anschlagbrett, das zu etwa gleichen Teilen Ärztewitzen, Kursankündigungen und Speisekarten von Fast-Food-Restaurants mit Lieferservice gewidmet zu sein schien. Ich war halbtot vor Flunger.
Als ich Dolans Stimme hörte, schloss ich die Augen. Ich klopfte mir mit einer Hand erleichtert auf die Brust. »Lieutenant Dolan, hier ist Kinsey Millhone. Ich rufe aus dem St. John-Krankenhaus an und muss mich beeilen.«
»Was gibt’s?«
Ich begann zu reden, während meine Gedanken schon vorauseilten und die Information zu strukturieren versuchten. »Also, zuerst mal: Bibianna Diaz liegt hier auf der Intensivstation. Sie ist gestern von einer Bergstraße gedrängt worden — «
»Ich weiß«, warf Dolan ein.
»Sie wissen das schon?«
»Einer von Santos’ Leuten hat mich sofort angerufen, als die Meldung kam. Die Klinik hat Order, möglichst höflich zu Raymond zu sein, ihn aber nicht in die Nähe des Krankenbetts zu lassen. Sie wissen, was sie zu tun haben.«
»Oh, Gott sei Dank ist das schon mal geregelt«, sagte ich. Ich berichtete ihm rasch alles Wesentliche, unter anderem auch von den Akten, die ich in Buddys Autowerkstatt gefunden hatte. »Ich glaube, ich weiß, wo Ihre undichte Stelle ist.« Ich erzählte ihm von Dr. Howard, dem Chiropraktiker, und dem Foto seiner Tochter. Ich hatte keine Ahnung, wie ihr neuer Familienname lautete, gab ihm aber eine genaue (und boshafte) Beschreibung. In ihrer Position als Zivilangestellte beim County Sheriffs Department hatte sie ideale Möglichkeiten, Informationen auf dem Weg über ihren Vater an Raymond weiterzugeben. Als Bibianna in Santa Teresa das erste Mal verhaftet worden war, hatte Raymond wahrscheinlich sofort davon erfahren. Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Lieutenant, wissen Sie irgendwas über die Waffe, mit der Parnell erschossen wurde? Raymond hat eine 30er Broomhandle-Mauser. Ich hab’ sie in seiner Kommodenschublade liegen sehen.«
Dolan unterbrach mich. »Vergessen Sie Parnell für den Moment und tun Sie mir einen Gefallen: legen Sie auf und sehen Sie zu, dass Sie schleunigst da rauskommen.«
»Wieso? Was ist denn los?«
»Tate ist wahrscheinlich schon auf dem Gelände. Das Krankenhaus hat ihn gestern spät in der Nacht noch benachrichtigt, und er ist gleich losgefahren. Wenn Raymond merkt, dass er da ist, kommt es mit Sicherheit zum großen Showdown.«
»Oh, Scheiße.«
Hinter mir kam jetzt eine Ärztin in Chirurgengrün in das Schwesternzimmer. Sie zog sich die Haube herunter und schüttelte matt ihre Haare aus. Sie blieb stehen und musterte mich mit ihrer zerdrückten Frisur und tiefen Erschöpfungsfalten im Gesicht. Ich wusste nicht, ob sie das Telefon wollte oder den Stuhl.
Dolan sagte: »Ich habe jemanden dort drinnen, der Ihnen helfen kann. Augenblick. Da kommt gerade ein Anruf.«
Ich sah Raymond am Anmeldetresen vorbeimarschieren und auf die Aufzüge zusteuern. Wahrscheinlich suchte er mich. Ich konnte nicht auf Dolan warten. »Ich muss weg«, sagte ich ins Nichts. Dann legte ich auf. Jede einzelne Zelle meines Gehirns schrie: mach, dass du wegkommst, aber ich konnte Jimmy Tate nicht einfach allein lassen. Ich lief aus dem Schwesternzimmer und trabte hinter Raymond her, bis ich ihn eingeholt hatte.
Ich tippte ihm auf die Schulter. »Hey, wo wollen Sie hin?«
Er drehte sich um und sah mich ärgerlich an. »Wo zum Teufel sind Sie gewesen? Ich hab’ Sie gesucht.«
»Ich war drüben auf der Neugeborenenstation«, sagte ich.
»Weshalb?«
»Ich liebe Babys. Ich möchte irgendwann auch eins haben. Sie sind so süß, so winzig klein und schrumplig. Wie kleine nackte Vögelchen — «
»Dafür sind wir nicht hier«, raunzte er, obgleich ihn meine Erklärung milder gestimmt zu haben schien. Er packte mich am Arm, drehte mich um meine Achse und bugsierte mich wieder in Richtung Intensivstation.
»Können wir nicht erst mal einen Kaffee trinken gehen?«, fragte ich.
»Scheiß drauf. Ich bin so schon kribblig genug.«
Wir waren beim Warteraum der Intensivstation angelangt, und Raymond setzte sich wieder hin. Er nahm sich eine Illustrierte aus dem Ständer neben der Sitzbank und blätterte zerstreut darin herum. Die Seiten raschelten leise durch die Stille. Zwei Frauen saßen am anderen Ende des Raums und beobachteten sein Gezucke mit unverhohlener Neugier.
Raymond sah auf, ertappte sie und starrte sie an, bis sie wegguckten. »Himmel noch mal, ich hasse das, wenn die Leute mich anstarren. Glauben sie denn, ich mach’ das aus Spaß?« Er ruckte extra heftig mit dem Kopf und stierte finster zu den beiden Frauen hinüber, die sich vor Verlegenheit wanden.
Ich fragte: »Wie geht’s Bibianna? Hat schon jemand was gesagt?«
Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Der Arzt wird angeblich jede Minute kommen und mit uns reden.«
Ich musste ihn hier weglotsen. In dem Farbfernseher in der Ecke lief einer von diesen Tierfilmen, die hauptsächlich davon handeln, wie eine Spezies eine andere frisst. Der Ton war abgestellt.
Raymond beugte sich vor. »Herrgott, was machen die denn so lange?«
»Haben Sie keinen Hunger? Wir können doch runter in die Cafeteria gehen und Luis besuchen. Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.«
Er ließ den Kopf baumeln, schüttelte ihn und sah mich dann mit trüber Miene an. »Und wenn sie’s nicht schafft?«
Ich verbiss mir jede scharfe Entgegnung. Eine Antwort, die nicht kiebig geklungen hätte, wollte mir nicht einfallen. Ich schwieg. Bei genauerem Überlegen entsprach es nur seiner allgemeinen Verleugnungsstrategie, wenn er jetzt vor Sorge um eine Frau zerfloss, der er vor noch nicht mal vierundzwanzig Stunden einen Mörder auf den Hals gehetzt hatte. Wenn Raymond herausfand, dass Jimmy Tate hier war, würde er die ganze Bude zu Kleinholz machen.
Ich sagte: »Wir drehen noch beide durch, wenn wir die ganze Zeit hier rumsitzen. Es dauert ja nicht lange. Wir werfen nur schnell irgendwas ein und kommen dann gleich zurück. Das kann doch noch eine Stunde dauern, bis die Ärzte wiederkommen.«
»Glauben Sie?«
»Kommen Sie schon. Wenigstens für einen Kaffee.«
Raymond warf die Zeitschrift auf den Tisch und stand auf. Draußen auf dem Flur zögerte er. »Ich sollte vielleicht der Schwester Bescheid sagen, falls der Arzt doch auftaucht.«
»Das kann ich auch machen. Sie können ja schon mal vorgehen und auf den Aufzugknopf drücken.«
Zwei mexikanisch aussehende Schwestern kamen den Korridor entlang.
Vorne beim Treppenhaus tat sich etwas, und wir schauten beide hin. Ein Arzt kam aus dem Reha-Trakt und steuerte auf die Intensivstation zu. Er trug einen wadenlangen weißen Kittel über einem grauen Anzug. Oberhalb der Brusttasche war in blauer Schrift sein voller Name eingestickt. Ein aufgerolltes Stethoskop lugte aus seiner Tasche wie ein kleinkalibriger Gartenschlauch. Er war etwas über fünfzig, mit kurzem grauem Haar und einer randlosen Brille. Er humpelte. Sein rechter Fuß steckte in einem Gehgips, der aussah wie ein Skistiefel. Er bemerkte meinen Blick und lächelte, als wollte er mich um Entschuldigung bitten, lieferte aber keine Erklärung. Ich dachte gleich an irgendeinen Sportunfall, was er wahrscheinlich auch bezweckte. In Wirklichkeit war er bestimmt über einen Rasensprenger gestolpert, als er Blattläuse von seinen Rosen pflücken wallte. »Was kann ich für Sie tun?«
Raymond sagte: »Ich bin wegen Bibianna Diaz da. Sind Sie der Arzt?«
»Der bin ich. Schön, dass Sie da sind, Mr. Tate. Ich bin Dr. Cherbak.« Er schüttelte Raymond die Hand. »Die Schwester hat mir gesagt, dass Sie da sind. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat...«
Raymonds Lächeln verrutschte. »Mein Name ist Raymond Maldonado. Was hat Tate damit zu schaffen?«
Cherbak zwinkerte unsicher und sah in Bibiannas Karte nach. »Verzeihung. Sie hat gebeten, dass wir ihren Mann benachrichtigen, und da habe ich angenommen...«
Von meinem Standort aus konnte ich den rosa Notizzettel sehen, der vorne an der Karte klemmte: Schutzgewahrsam. Raymond schien ihn gleichzeitig mit mir entdeckt zu haben.
»Ihren Mann?«, wiederholte er. Er starrte den Arzt an, der inzwischen wohl begriff, dass er einen kapitalen Fehler gemacht hatte.
Ich berührte Raymond leicht am Arm und murmelte: »Das war bestimmt ein Missverständnis, Raymond. Vielleicht hat sie ja Kopfverletzungen. Wer weiß, was sie da geredet hat. Womöglich hat sie halluziniert — «
Raymond schüttelte meine Hand ab. »Halten Sie den Mund!«, sagte er. Und dann, an den Arzt gewandt: »Das hat sie gesagt? Jimmy Tate ihr Mann? So ein Blödsinn. Ich schlage Ihnen Ihre verdammte Visage ein, wenn Sie so was noch mal behaupten.«
Die beiden Schwestern, die bisher ganz ins Gespräch vertieft gewesen waren, spitzten jetzt plötzlich die Ohren und verfolgten das Geschehen so gespannt wie eine Szene aus einer Krankenhaus-Serie. Ich fühlte, wie die Angst mich durchglühte wie Fieber. »Wir kommen besser später noch mal wieder...«
»Wie geht’s ihr?«, fragte Raymond. Er war in Kampfstimmung. Seine Kiefergelenke mahlten vor Anspannung.
»Ich bin nicht befugt — «
»Ich hab’ gefragt, wie’s ihr geht. Antworten Sie mir gefälligst, Sie Wichser!«
Dr. Cherbak erstarrte. »Ich habe da offensichtlich einen Fehler gemacht«, sagte er. »Wenn Sie kein Angehöriger der Patientin sind, sind mir leider Grenzen gesetzt...«
Raymond versetzte ihm einen Stoß. »Fehler gemacht! Schieben Sie sich Ihren Fehler in den Arsch! Ich werde diese Frau heiraten, kapiert? Ich. Raymond Maldonado. Ist das klar?«
Dr. Cherbak machte auf dem gipsfreien Absatz kehrt, humpelte eilig auf die Intensivstation zu und zwängte sich durch die Doppeltür. Ich hörte ihn drinnen rufen: »Sofort die Wachleute herholen...«
Raymond barst krachend durch die Tür und packte ihn von hinten. »Wo ist Bibianna?«, schrie er. »Wo ist sie?«
Der Arzt verlor das Gleichgewicht, und eine der diensthabenden Schwestern rannte davon. Eine zweite Schwester griff nach dem Telefon, um die Wachleute zu rufen. Raymond zog seine Pistole und richtete sie auf die Schwester, mit steif gestrecktem Arm, zu allem entschlossen. Sie legte den Hörer hin. Er schwenkte die Pistole hin und her, während er weiter in den Korridor vordrang. Ich zog die SIG-Sauer, aber der Arzt stand mir in der Schusslinie. Überall schienen weiß gekleidete Menschen herumzustehen.
Ich schrie: »Tate!« und rannte los.
Bibianna lag im zweiten Raum. Tate stand bereit, die Pistole in der Hand. Raymond schoss. Ich sah Tate zu Boden gehen.
Raymond kam zurück, genau auf mich zu.
Ich hielt die Waffe mit beiden Händen und schrie »Stehenbleiben!«, aber er wusste, dass ich in dieser Situation nicht abdrücken würde. Es standen zu viele Leute herum, um eine Schießerei zu riskieren. Er stieß mich mit der Schulter beiseite und sprintete los, mit klackernden Absätzen zurück durch die Doppeltür und den Korridor hinunter. Er hatte die Pistole noch in der Hand, rannte aber zu schnell, um richtig zielen zu können. Ich stürzte los, warf mich gegen die Doppeltür und setzte ihm hinterher. Köpfe lugten, angelockt von dem Tumult, aus irgendwelchen Türen und verschwanden blitzartig wieder, sobald sie die Pistolen sahen. Raymond kam an eine Tür mit einem AUSGANG-Schild, packte den Knauf, brach sich Bahn und stürmte die Treppe hinunter. Ich erwischte die Tür im Zurückschwingen und stieß sie mit lautem Krachen wieder auf. Ich hörte Raymonds Schritte hastig die Treppenspirale hinunterklappern. Ich stürzte hinterher, immer drei Stufen auf einmal nehmend, um seinen Vorsprung zu verkürzen. Dann hörte ich, wie er den Ausgang ins Freie erreichte. Als er durch die Tür verschwand, löste er eine Alarmglocke aus, die laut zu schrillen begann.
Ich verdoppelte mein Tempo und stieß die Tür mit der einen Hand auf, während ich mit der anderen die SIG-Sauer hielt. Die plötzliche, blendende Sonne ließ mich zurückprallen. Ich sah Raymond genau vor mir über ein Rasenstück spurten. Wir waren am einen Ende des Krankenhauses, nahe der Arizona Avenue, in einem Viertel aus kleinen Steinhäusern, zwischen denen sich hier und da ein dreistöckiges Gebäude erhob, das noch zur Klinik gehörte. Raymond lief auf die Straße zu, mit fliegenden Beinen und Ellbogen. Ich nahm diffus wahr, dass jemand hinter mir hergerannt kam, hatte aber keine Zeit, mich umzuschauen. Ich holte auf, indem ich meine letzten Reserven mobilisierte. Ich war offensichtlich besser in Form als Raymond, merkte aber, wie meine Lungen pfiffen und brannten. Sechs Tage ohne Training machten sich bemerkbar, aber ich war trotzdem noch ganz schön fit.
Raymond sah sich kurz um und taxierte die Entfernung, die uns noch trennte. Er feuerte einen Schuss ab, der links von mir in eine Palme schlug. Er versuchte, noch einen Zahn zuzulegen, hatte aber einfach nicht mehr die Kraft dazu. Ich war jetzt so dicht hinter ihm, dass sein keuchender Atem mit meinem eins zu werden schien und seine Absätze fast meine Knie trafen. Ich umklammerte die Pistole ganz fest, schleuderte den Arm nach vorn und stieß sie ihm mit aller Macht in den Rücken. Er stolperte und versuchte wild fuchtelnd, sich zu fangen. Er fiel auf den Bauch, und ich landete mit den Knien voran in seinem Kreuz. Die Luft entwich zischend aus seinem Körper, und die Pistole flog ihm aus der Hand. Ich war sofort wieder auf den Beinen und stand mühsam atmend neben ihm. Er drehte sich um, und ich setzte ihm den Lauf meiner Waffe genau zwischen die Augen. Er hob die Hände und wich zentimeterweise zurück. Ein falsches Zucken, und ich würde diesem Schwein das Gehirn wegpusten. Ich war in Weißglut und völlig ausgerastet. Ich schrie: »Ich bring dich um! Ich bring dich um, du Scheißkerl!«
Hinter mir sagte eine Stimme: »Keine Bewegung!«
Ich fuhr herum.
Es war Luis.
Die Pistole in seiner rechten Hand war direkt auf Raymond gerichtet. In der linken Hand hielt er eine Polizeimarke.