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Ich folgte ihr ins Getümmel wie ein Soldat seinem Offizier in die erste Schlacht. Männeraugen begutachteten uns von Kopf bis Fuß, taxierten uns nach der Größe unserer Titten und Hintern und dem mutmaßlichen Grad unserer Verfügbarkeit. Bibianna erntete eine Menge Geschnalze und Gepfeife, eine unmissverständliche Handbewegung und diverse unsittliche Anträge, die sie zu amüsieren schienen — jedenfalls warf sie den Typen, die ihrer Bewunderung am lautesten Luft machten, gepfefferte Bemerkungen an den Kopf. Sie war unbekümmert und gutmütig und hatte ein ansteckendes, quecksilbriges Lachen.

Die Band legte wieder los, und Bibianna begann, im Gehen zu tanzen, mit den Fingern zu schnippen und sich mit einem Beckenstoß hier und einem Hüftschwung da ihren Weg durch die Menge zu bahnen. Sie ließ den Blick über die Gesichter schweifen, und ich fragte mich, wen sie wohl suchte. Das Rätsel sollte sich bald lösen. Sie drehte noch einen Zahn weiter auf — wie der plötzliche Stromschub vor einem Elektrizitätsausfall. Ihr Körper schien eine spürbare Hitze abzustrahlen.

»Warten Sie mal kurz«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da.«

Ein blonder Typ löste sich aus der Horde an der Bar. Er hatte lockiges Haar, eine Metallbrille, ein Schnauzbärtchen und ein ausgeprägtes Kinn, und seine Mundwinkel waren zu einem leisen Lächeln nach oben gezogen. Ich merkte, dass ich seine äußeren Kennzeichen registrierte wie ein Streifenpolizist die eines Verdächtigen. Ich kannte den Mann. Er war mittelgroß, breitschultrig und schmalhüftig und trug Jeans und ein eng anliegendes schwarzes Polohemd mit kurzen Ärmeln, die sich über den wohlentwickelten Oberarmmuskeln stauten. Tate. Der verrückte Jimmy. Wie viele Jahre war es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten? Er betrachtete Bibianna mit Besitzermiene, die Daumen so in die Gürtelschlaufen gehakt, dass seine Hände die Wölbung unter der Vorderfront seiner Hose einzurahmen schienen. Sein Macho-Gehabe wurde durch Selbstironie gebrochen, eine unwiderstehliche Mischung aus Humor und Selbsterkenntnis. Ich beobachtete, wie er auf Bibianna zukam und sie jetzt schon in eine Art wortloses Vorspiel verwickelte. Niemand sonst schien sie zu beachten. Sie näherten sich der Tanzfläche von benachbarten Seiten, um sich irgendwo in der Mitte zu treffen, als sei jede Bewegung choreographisch genau festgelegt. Wenn das kein Balzritual war.

An einem Tisch standen jetzt Leute auf, und ich schnappte mir einen der freien Stühle. Ich drapierte meine Jacke abschreckungshalber über die Lehne des Nachbarstuhls. Als ich wieder zur Tanzfläche hinüberschaute, war Bibianna nicht mehr zu sehen, aber ich erhaschte einen Schimmer ihres roten Kleids in dem Gewoge und ab und zu für einen Moment das Gesicht ihres Partners. Ich hatte ihn früher in einem völlig anderen Kontext erlebt, und es gelang mir nicht so ganz, meine Wahrnehmung von damals mit diesem Bild übereinzubringen. Sein Haar war früher kürzer gewesen, und der Schnauzer war neu, aber die Ausstrahlung war dieselbe. Jimmy Tate war Polizist — oder inzwischen wohl eher Ex-Polizist, wenn die Gerüchte stimmten. Unsere Wege hatten sich das erste Mal in der Grundschule gekreuzt — in der fünften Klasse, als wir für ein halbes Jahr Seelengefährten gewesen waren, zusammengeschweißt durch einen geheimen Pakt, den wir mit einem Zungenkuss besiegelt hatten. Ganz hochfeierlich. Jimmy war, wie man so schön sagt, ein »Problemkind« gewesen. Ich weiß nicht genau, was mit seinen Eltern war, aber er war bei verschiedenen Pflegeeltern aufgewachsen, da ihn zuerst eine und später dann auch die nächste Familie wieder abgeschoben hatte. Er galt schon mit acht als »unverbesserlich«. Er war rebellisch und hatte einen Hang zu Faustkämpfen, die mit blutigen Nasen endeten. Er war ein notorischer Schulschwänzer, und da ich damals selbst viel schwänzte, entspann sich zwischen uns ein seltsames Band. Ich war zwar in vielerlei Hinsicht ein schüchternes Kind, hatte aber durchaus auch eine wilde Seite, geboren aus der Trauer über den Verlust meiner Eltern mit fünf. Meine Auflehnung erwuchs aus Angst Jimmys aus Wut, aber das äußere Resultat war das gleiche. Ich konnte das Leid und die Zartheit sehen, die sich unter seinem Trotz verbargen. Vielleicht habe ich ihn sogar auf meine unschuldige, vorpubertäre Weise geliebt. Er war, als wir uns kennen lernten, gemessen an meinen elf Jahren mindestens zwanzig, ein gebeutelter junger Mensch, der nie gelernt hatte, was Selbstbeherrschung war. Mehr als einmal war er mir beigesprungen, indem er irgendeinen tyrannischen Fünftklässler, der mich zu drangsalieren versuchte, kurzerhand windelweich prügelte. Ich erinnerte mich noch gut an das berauschende Gefühl, wenn wir zusammen aus dem Schulhof entwischten, freiheitstrunken, obwohl wir wussten, dass dieses Glück von kurzer Dauer sein würde. Er brachte mir das Rauchen bei, versuchte, mich mit Aspirin und Cola high zu machen, zeigte mir den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Ich weiß noch genau, mit welcher Mischung aus Erheiterung und Mitleid ich reagierte, als ich begriff, dass alle Jungen mit so einem Ding geschlagen waren, das aussah wie ein irrtümlich zwischen die Beine geratener Daumen. Schließlich erklärte Jimmys Pflegemutter, dass sie nicht mehr mit ihm fertig würde, und er kam an irgendeinen Ort, wohin man damals unerwünschte Halbwüchsige abschob. Vermutlich ins Erziehungsheim.

Ich hatte ihn acht Jahre nicht gesehen, als er zu meinem Erstaunen an meinem ersten Tag an der Polizeischule ebenfalls dort anrückte. Inzwischen schwang in seiner Raubeinigkeit etwas Manisches. Er war ein hübscher Bursche, trank viel und war immer auf Achse. Wie er es geschafft hat, an der Polizeischule angenommen zu werden, ist mir ein Rätsel. Die Bewerber werden einer strengen psychologischen Begutachtung unterzogen, bei der die ungeeigneten und die instabilen normalerweise sehr schnell durchs Sieb fallen. Entweder war er den listigen Fragen der Kommission geschickt entschlüpft, oder aber er gehörte zu den seltenen Menschen, deren Persönlichkeitsschwächen in Prüfungssituationen nicht zu Tage treten. Seine Noten waren meistens hart an der Grenze, aber er versäumte nie den Unterricht, und seine Kämpfernatur, die durch Konkurrenz angespornt wurde, hielt ihn bei der Stange. Er war klug genug, seine Hitzigkeit zu drosseln, wenn es darauf ankam, konnte sich aber nie lange im Zaum halten. Irgendwie schaffte er es, zusammen mit uns übrigen die Abschlussprüfung zu bestehen, aber er schrammte ständig auf irgendeine Weise hart an der Katastrophe entlang. Ich hielt mich ihm gegenüber auf Distanz, da ich damals zu sehr auf mein eigenes Fortkommen erpicht war, um zu riskieren, dass sein Ruf auf mich abfärbte.

Er bewarb sich genau wie ich bei der Stadtpolizei von Santa Teresa, wurde jedoch nicht angenommen. Ich verlor ihn eine Zeit lang aus den Augen und hörte dann, dass er beim County Sheriff’s Department von Los Angeles gelandet war. Portionsweise drang die Kunde von seinen Heldenstückchen bis zu uns. Nach Feierabend in der Kneipe erzählten sich die Kollegen von den verrückten Dingen, die Jimmy Tate fertig gebracht hatte. Er war die Sorte Polizist, die man am liebsten bei sich haben wollte, wenn es brenzlig wurde. Wenn es hart auf hart ging, war er absolut furchtlos, als könnte er die Gefahr einfach ausblenden. Bei jedem Wettpissen mit der Unterwelt war er vornean. Seine Aggressivität schien rings um ihn herum ein Kraftfeld zu erzeugen, eine Art Schutzschild. Kollegen hatten mir erzählt, wenn man ihn bei einer Schießerei erlebte, würde einem klar, dass er auf seine Weise genauso gefährlich war wie »die anderen« — die Bankräuber, die Dealer, die Gangs, die Heckenschützen und anderen Irren, die es auf uns Ordnungshüter abgesehen hatten. Leider schoss seine wilde Aggressivität mehr als einmal übers Ziel hinaus. Ich bekam aus Andeutungen mit, dass er Sachen machte, über die man hinterher nicht sprach — weil er einem das Leben gerettet hatte und man in seiner Schuld stand und deshalb so tat, als hätte man nichts gesehen. Schließlich wurde er einer Spezialeinheit zugeteilt, die eigens geschaffen worden war, um die Aktivitäten notorischer Krimineller zu überwachen. Sechs Monate später wurde die Einheit nach einer Reihe fragwürdiger Schießereien aufgelöst. Zwölf Beamte wurden suspendiert, darunter auch Jimmy Tate. Alle durften nach Überprüfung der Vorkommnisse durch den Polizeiausschuss ihren Dienst wieder aufnehmen, aber der große Knall schien nur eine Frage der Zeit.

Vor zwei Jahren war ich dann zufällig in der L. A. Times auf seinen Namen gestoßen. Er war bei seiner Wiedereinstellung einer Drogen-Einheit zugeteilt worden, und man bezichtigte ihn jetzt, zusammen mit sechs anderen Beamten, Drogen-Gelder in die eigene Tasche abgezweigt zu haben, ein Skandal, der die ganze Kreispolizei erschütterte. Die ersten Verhöre brachten jeden Tag neue Einzelheiten ans Licht. Fünf der sechs Polizisten kamen vor Gericht, und einer von ihnen jagte sich eine Kugel in den Kopf. Ich bekam durch meine sporadische Lektüre der L. A. Times einiges über den Fortgang des Prozesses mit, erfuhr aber nie, wie er ausgegangen war. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie ihn verurteilt hätten. Er war skrupellos und selbstzerstörerisch, aber so seltsam es klingen mag, ich wusste, wenn ich einen Bruder hätte, würde ich wollen, dass er genauso wäre wie Jimmy. Ich meinte damit nicht sein Verhalten und nicht die dahintersteckende zweifelhafte Moral, sondern seine Loyalität und seinen leidenschaftlichen Überlebenswillen. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich aufs Eingehendste um die Rechte der Kriminellen sorgt, nachdem diese das Leben ihrer Opfer ohne jede Rücksicht zerstört oder ausgelöscht haben. Wenn Jimmy eine Sache in die Hand nahm, wurde der Gerechtigkeit Genüge getan. Nur wurde nicht immer so genau auf die Mittel geachtet.

Jimmy und Bibianna kamen jetzt von der Tanzfläche zurück. Die Band machte Pause, und der Lärmpegel sackte so jäh ab, dass man sich vorkam wie plötzlich ertaubt. Ich fixierte Jimmys Gesicht. Ich wusste, er musste mich jeden Moment entdecken, und ich wartete auf den Funken des Erkennens in seinen Augen. Bibianna setzte sich an den Tisch. Sie raffte mit der einen Hand ihr Haar hoch und fächelte sich mit der anderen den bloßen Nacken. Sie war außer Atem und lachte, die Wangen hochrot, das Haar an den Schläfen feucht, die dunklen Strähnen zu kleinen Ranken verklebt. »Das ist die Frau, von der ich dir erzählt habe — die bei mir war wegen der Wohnung«, sagte sie, auf mich zeigend. »Wie war noch mal Ihr Name?«

Jimmy riss seinen Blick von ihrem Gesicht los und ließ ihn mit einem höflichen Lächeln zu meinem wandern. Ich streckte die Hand aus.

»Hallo, Jimmy. Ich bin’s. Hannah Moore«, sagte ich. »Du kannst dich doch sicher an mich erinnern.«

Er konnte es ganz offensichtlich, und sein Blick sagte mir, dass diese Erinnerung auch meinen richtigen Namen umfasste. Was immer er im Augenblick treiben mochte — das Training als Polizist saß zu tief, als dass er mich hätte hochgehen lassen. Er lächelte, nahm meine Hand und ließ mir eine Dosis desselben Spannungsstroms zukommen, den er die ganze Zeit zu Bibianna hatte hinfließen lassen. Er hob meine Hand an die Lippen und küsste mich herzlich auf die Fingerknöchel. »Hey, du bist’s! Wie geht’s dir? Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen«, sagte er.

»Ihr zwei kennt euch?«, fragte sie.

Er gab mir widerstrebend meine Hand zurück. »Wir waren zusammen auf der Grundschule«, sagte er ohne jede Spur von Zögern, und ich spürte, wie ich freudig errötete, weil das die Verbindung war, die mir wichtig war. Die Polizeischule und alles Folgende — das war Erwachsenenrealität. Dem anderen haftete etwas Magisches an, und deshalb würde es im Buch meiner Erinnerungen immer eine Sonderstellung einnehmen.

Er zog einen zerknitterten Geldschein aus der Hosentasche und sah Bibianna an. »Meine Zigaretten sind alle, Schätzchen. Kannst du mir schnell welche holen?«

Bibianna zögerte gerade lange genug, um ihm zu bedeuten, dass ihre Kooperation ein Geschenk war. Sie lächelte ironisch, sah mich wissend an, steckte den Geldschein zwischen ihre Brüste und setzte sich wortlos in Gang. Jimmys Blick streichelte liebevoll über ihre Beine und hinauf zu den Hüften. Sie ging mit den raffinierten Beckenbewegungen eines Mannequins, im vollen Bewusstsein ihrer Wirkung. Sie lächelte ihn noch einmal lasziv über die Schulter an und spitzte den Mund halb schmollend, halb verheißungsvoll.

Ich fühlte ein Lachen in mir emporperlen. »Ich kann’s nicht fassen, dass ich dich hier wiedertreffe«, sagte ich. »Woher kennst du Bibianna?«

Er lächelte. »Ich habe sie in L. A. bei einer Halloween-Party kennen gelernt. Wir haben uns dort noch ein paar Mal gesehen, und dann sind wir uns hier zufällig wiederbegegnet.«

»Ich wusste gar nicht, dass du wieder hier bist. Was machst du?«

»Nicht viel«, sagte er. Seine Augen huschten über mein Gesicht, während er mich auszuforschen begann. »Und du? Das letzte, was ich von dir gehört habe, war, dass du den Polizeidienst an den Nagel gehängt hast und bei irgendeiner Detektei arbeitest.«

»Das habe ich am Anfang getan. Inzwischen habe ich selbst eine Lizenz. Jetzt arbeite ich auf eigene Rechnung. Bist du immer noch bei den County Sheriffs in L. A.?«

»Nicht direkt.«

»Was treibst du denn? Das letzte, was ich über dich gehört habe, war diese Prozess-Geschichte«, sagte ich.

»Tolle Frau, was?«, wich er meiner Frage aus.

»Erzähl, Jimmy.«

Er stützte das Kinn auf die Faust und lächelte mich mit den Augen an. »Ich bin im Ruhestand. Ich hab’ sie verklagt und zehn Millionen verlangt.«

»Du hast sie verklagt?«, fragte ich. »Und was war mit dem Prozess gegen dich?«

Meine Reaktion schien ihn zu belustigen. Er zuckte die Achseln.

»Sie haben mich freigesprochen. So funktioniert das System nun mal. Mal kriegst du sie an den Arsch, mal kriegen sie dich an den Arsch. Ich war krankgeschrieben, wegen berufsbedingter Beschwerden und Stress, und bekam mein Krankengeld. Und auf einmal, aus heiterem Himmel, zerren sie mich und ein paar andere vor Gericht wegen krimineller Bandenbildung, Geldwäscherei, Steuerhinterziehung und weiß Gott was noch allem. Sie haben uns durch den Wolf gedreht, und als ich da endlich am anderen Ende wieder raus kam, war mein Krankengeld gestrichen, und sie wollten, dass ich von mir aus den Dienst quittiere. Aber das hat nicht funktioniert. Nicht mit mir. Ich habe mir einen Anwalt gesucht und geklagt.«

»Nachdem sie dich freigesprochen hatten?«

»Ja, verdammt noch mal. Das lasse ich mir doch nicht bieten. Sie sind der Ansicht, dass ich nur aus formalen Gründen davongekommen bin. Ich bin als Einziger freigesprochen worden, aber ich hab’ die ganze Scheiße genauso über mich ergehen lassen müssen wie die anderen, warum soll ich mich zweimal bestrafen lassen? Das Gericht hat mich für unschuldig erklärt.«

»Warst du’s denn?«

»Natürlich nicht, aber das ist nicht der Punkt«, sagte er. »Die Justiz hat mir nichts anhängen können, also ist das Thema erledigt. Egal, ob ich es getan habe oder nicht. Das Gericht sagt, ich bin rein und unschuldig. Das ist es, was zählt.«

»Sie haben dich also gefeuert?«

»Im Effekt ja. Faktisch haben sie mir das Krankengeld gestrichen. Sie fanden, ich mache zu viel Ärger, und wollten mich deshalb loswerden. Also haben sie mir den Hahn abgedreht. Sie meinten, ich hätte nicht die richtige Einstellung. Aber das lasse ich nicht mit mir machen. Also hab’ ich sie bluten lassen. Letzte Woche ist es zum Vergleich gekommen. Siebenhundertfünfzigtausend. Wenn das Geld anrollt, sahnt mein Anwalt natürlich noch seinen Teil ab, aber mir bleiben am Ende immer noch dreihundertfünfundsechzigtausend. Meine kleine Alterskasse. Nicht schlecht, was?«

»Fantastisch.«

»Im Moment bin ich allerdings total pleite, aber was will man

machen?«

»Und Bibianna? Weiß sie, dass du ein Bulle bist?«

»Weiß sie, dass du Privatdetektivin bist?«

Ich schüttelte den Kopf und sah weg. Sein Lächeln verschwand, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Du bist doch nicht hinter ihr her?«

Ich sagte nichts, was Antwort genug war.

»Weswegen?«

Ich dachte, ich könnte ihm ebenso gut reinen Wein einschenken. Er würde es früher oder später doch aus mir herausholen. »Versicherungsbetrug«, sagte ich. Ich beobachtete seine Reaktion. Wenn ich mir eingebildet hatte, ihn überraschen zu können, sah ich mich enttäuscht.

»Für wen arbeitest du?«

»Für die California Fidelity.«

»Kannst du ihr was nachweisen?«

»Wahrscheinlich schon. Jedenfalls, wenn ich so weit bin.«

Er wandte die Augen von mir ab und ließ sie zur Jukebox hinüberwandern. Ich folgte seinem Blick und entdeckte Bibianna. Ein Regenbogen aus buntem Licht spielte über ihr Gesicht. Sie hatte irgendwas an sich — eine dunkle Schönheit, eine bestimmte Form körperlicher Vollkommenheit — , was sie offenbar unwiderstehlich machte. Ich sah sie den Kopf in den Nacken werfen und lachen, wenn der Ton auch nicht bis zu uns drang. Sie flirtete mit dem Schlagzeuger, und ihre eine Hand ruhte — in einer Geste, die gleichzeitig intim und beiläufig war — leicht auf seinem Arm. Der Drummer war groß und hager und hatte ein Gesicht wie ein Collie. Seine eng zusammenstehenden Augen glitzerten von Substanzen, die der menschliche Körper eindeutig nicht selbst produziert. Er starrte auf ihre Brüste und emittierte vermutlich das hohe, freudig erregte Winseln eines Welpen beim Anblick eines Milchtropfens. Sie sah nicht zu uns herüber, aber jedes Wort ihrer Körpersprache sagte, dass sie wusste, wie gespannt Jimmy sie beobachtete. Wie du mir, so ich dir, dachte sie wohl. Sie wandte sich der Jukebox zu, warf mehrere Münzen ein und drückte achtlos ein paar Tasten. Gleich darauf ertönte ein Gebummere und Gedröhne, irgendein Pop-Song, der nur aus Bass und Schlagzeug bestand. Bibianna ging zur Tanzfläche, den Drummer im Schlepp. Ihm ging fast einer ab vor Aufregung.

»Ich habe Undercover-Arbeit immer gehasst«, sagte Jimmy, der jetzt die Stimme erheben musste, um zu mir durchzudringen. Seine Augen hingen immer noch an Bibianna, die inzwischen begonnen hatte, sich zu dem hämmernden Rhythmus zu bewegen und ihr Becken rotieren zu lassen, als absolviere sie eine Aerobic-Übung zur Straffung der Gesäßmuskeln.

Ich trank von meinem Bier und sagte nichts. Ich hatte noch nie mit verdeckten Ermittlungen zu tun gehabt, aber viel darüber gehört — und nichts Gutes.

Seine Augen stellten meine. »Sag ihr, was du vorhast«, forderte er.

»Damit die ganze Sache platzt? Du spinnst. Das werde ich mit Sicherheit nicht tun. Und du wirst ihr besser auch nichts sagen. Das ist mein Revier.«

»Das ist mir klar.«

»Wo ist dann das >aber<, Jimmy? Ich kenne diesen Blick.«

»Ich bin total weg von dieser Frau, und ich will nicht, dass sie Ärger kriegt. Ich sage ihr schon seit Monaten, dass diese Sache auffliegen wird. Wenn sie weiß, dass du ihr auf den Fersen bist, wird sie sich da rausziehen.«

»Das ist nicht mein Problem. Sie hat eine betrügerische Forderung an die CF gestellt, und wer weiß, wie viele falsche Schadensanzeigen sie an andere Versicherungen losgelassen hat. Ich werde ihr das Handwerk legen.«

»Sie ist gerade dabei auszusteigen.«

»Natürlich.«

»Nein, es ist wirklich so. Sie hat diese Schadensmeldung vor Monaten eingereicht, aber inzwischen habe ich ihr die Sache ausgeredet. Sie wird es lassen, das schwöre ich dir.«

»Träum süß, Tate. Wenn sie wirklich aussteigen will — warum lässt sie dann nicht die Finger davon?«

»Das tut sie ja.«

»Quatsch! Sie hat uns gerade noch eine Zahlungsaufforderung zugehen lassen. Sie versucht, uns Dampf zu machen, damit wir möglichst schnell zahlen. Deshalb wurde der Fall ja überhaupt an mich weitergegeben.«

»Das glaube ich nicht.«

»Frag sie.«

Er lächelte jetzt gequält. »Das kann ich ja wohl schlecht tun, ohne ihr zu sagen, was läuft.«

»Dann sieh zu, wie du mit dem Problem klarkommst, bevor ich mein Zeug in der Tasche habe.«

»Das ist alles komplizierter, als es aussieht.«

»Es ist immer alles komplizierter, als es aussieht. Und meistens noch krummer«, antwortete ich.

Jimmys gequälter Blick wanderte wieder zu Bibianna zurück. Er betrachtete sie versunken und rieb sich die Unterlippe mit dem Daumen. Er wollte mir nicht glauben. Seine Vernarrtheit in dieses Mädchen (denn das war sie: ein Mädchen) hatte ihm offenbar den Verstand vernebelt. Nachdem er jahrelang mit Ganoven zu tun gehabt hatte, glaubte er jetzt auf einmal, sie könnte wie auf ein Zauberwort von ihrem Treiben lassen, wenn sie befand, dass sie es wollte. Er hatte vergessen, was für eine Sucht die Kriminalität werden konnte. Wiederholungstäter werden noch häufiger von Entzugserscheinungen als von der Not getrieben.

Ich hatte ihn noch nie so im Bann einer Frau erlebt. Früher waren seine Beziehungen unschwer einzuordnen gewesen: leichtherzige Abenteuer ohne jede emotionale Verstrickung seinerseits. Ein bisschen Lachen, ein bisschen schneller Sex, ein paar gemeinsame Wochen. Für die Frauen war das wohl ein wenig anders. Die, die er sich suchte, waren oft sehr gescheit, aber sie neigten dazu, sich was vorzumachen, und verkündeten am Anfang, sie wollten weiter nichts als ihren Spaß, obwohl sie sich im Handumdrehen tiefer auf ihn einließen und sehr bald anfingen, ihn mit allen Mitteln ködern und halten zu wollen. Der Umschwung zeigte sich in der Art, wie sie ihn ansahen, und in ihrem angestrengten Bemühen, verständnisvoll, nicht-besitzergreifend, fügsam und vernünftig zu sein. Ich habe acht bis zehn solcher Frauen innerhalb von zehn Monaten in sein Leben treten und wieder daraus verschwinden sehen. Sie waren alle schlank, attraktiv, intelligent und tüchtig — Karrierefrauen mit Jobs in der Werbung, im Marketing, beim Fernsehen, Grafikerinnen, Designerinnen. Sie verfielen ihm durch die Bank, betört von seiner Verfügbarkeit, seinem lässigen Charme, seiner sexuellen Ausstrahlung. Sie fingen an, ihn zu umsorgen, für ihn zu kochen, Hemden zu bügeln, ihm auf subtile Weise zu demonstrieren, wie viel angenehmer sein Leben sein könnte, wenn sie immer um ihn wären. Dann begannen sie, ihn über seine bisherigen Beziehungen auszufragen, um dahinter zu kommen, was ihre Vorgängerin falsch gemacht hatte, damit sie die betreffenden Verhaltensweisen bei sich ausmerzen konnten. Diese Phase war von kurzer Dauer, da Jimmys Verhalten sich nicht änderte. Ihre Aufopferung trug diesen Frauen nichts ein, es sei denn, einen Anfall von Putzfrauenknie. Er war unverlässlich und promiskuitiv wie eh und je, auch wenn er sich bemühte, höflich zu sein. Er rieb ihnen seine Seitensprünge nicht unter die Nase, machte aber auch kein Geheimnis daraus, da Nicht-Ausschließlichkeit ja die Grundlage der Beziehung gewesen war. Nach und nach wurde die Frau sauer, weil ihr ihre Bemühungen nicht entlohnt wurden. Sie fühlte sich ausgenutzt und ließ ihren Unmut an Jimmy aus, was für ihn wiederum die perfekte Rechtfertigung für den Rückzug war. Meist nach vier Wochen und nie später als nach zwei Monaten ging es dann los: Forderungen, Klagen, kaum unterdrückte Enttäuschung, Vorwürfe. Sobald das passierte, war Jimmy auf und davon, ohne auch nur danke zu sagen. Nie hatte ich ihn eine dieser Frauen so anschauen sehen wie jetzt Bibianna Diaz.

Sie kam an den Tisch zurück und setzte sich provozierend auf Jimmys Schoß, rittlings, das Kleid bis zum Schritt hochgeschoben, die Brüste so dicht vor seinem Gesicht, dass ich schon dachte, er würde gleich hineinbeißen wie in zwei Napfkuchen. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, mir einen Hörschaden zu holen, während Jimmy Tate und Bibianna Diaz schwüle Blicke wechselten und es (mehr oder minder) im Sitzen und mit Kleidern miteinander trieben, wobei die Reibungshitze sämtliche Stoffschichten zwischen ihnen versengen musste. Die Luft roch nach Begierde, so ähnlich wie nasses Gras nach einem Regenguss. Oder wie ein unkastrierter Kater.

Die Band hatte ein Stück beendet und begann ein neues, den ersten langsamen Song dieses Abends. Bibianna ging, um mit jemand anderem zu tanzen. Jimmy schien es nichts auszumachen. Dass auch andere Männer im Lokal etwas von ihr wollten, schmeichelte offenbar seinem Ego. Und mir gab es Gelegenheit, herauszufinden, was in ihm vorging und ob er mir eine Hilfe oder ein Hindernis bei meinem Vorhaben sein würde, mich an Bibianna heranzupirschen. Jimmy streckte mir die Hand hin. »Komm tanzen«, sagte er.