22

Das Schwierigste beim Lügen ist, sich vorzustellen, wie man sich verhalten würde, wenn man ein reines Gewissen hätte. Ich konnte nicht so tun, als hätte ich Dawna Maldonado noch nie gesehen. Wir waren beide Dienstagnacht dabei gewesen, als Chago erschossen wurde. Wie sollte ich sie behandeln? Unter den gegebenen Umständen erschien es mir am klügsten, den Mund zu halten und die Dinge sich entwickeln zu lassen wie beim Stegreif-Theater. Da es sowieso kein Entkommen gab, schlenderte ich, nachdem ich mir die Handtasche unter den Arm geklemmt hatte, zum Küchentisch hinüber. Ich setzte mich und deponierte die Tasche beiläufig neben einem Vorderbein meines Stuhls. Dann nahm ich mir Bibiannas ramponiertes Kartenspiel. Ich mischte und versuchte mich zu erinnern, wie Bibianna ihre Patiencen auszulegen pflegte.

Das Gespräch zwischen Dawna und Raymond hatte sich gerade der Schießerei zugewandt. Just in diesem Moment sichtete sie mich. »Was macht die denn hier?«

Na denn, dachte ich. Los geht’s.

Raymond schien erschrocken über ihre Reaktion, in der ein deutlich feindseliger Ton geschwungen hatte. »Oh, entschuldige, Dawna. Das ist Hannah. Eine Freundin von Bibianna.«

Dawnas schwarzumrandete Augen waren eisblau und hinterhältig. »Warum fragst du sie nicht? Sie war doch an dem Abend mit dabei.«

»Sie war dabei?«

»Sie war in dem Restaurant und hat mit ihnen am Tisch gesessen, als ich vom Telefon kam.«

Raymond schien gar nichts mehr zu verstehen. »Du sprichst von Hannah?«

»Herrgott, Raymond. Hab’ ich doch eben gesagt, oder nicht?«

Er wandte sich mir zu. »Ich dachte, Sie haben Bibianna im Gefängnis getroffen. Ich dachte, ihr kennt euch aus der Zelle?«

Ich fing an, die Karten auszulegen, als sei nichts. Sieben Karten, die erste aufgedeckt, die anderen sechs mit dem Gesicht nach unten. »Das hab’ ich nie behauptet. Sie haben uns zusammen eingebuchtet, aber getroffen hatten wir uns schon vorher, in einer Tanzbar. Ich dachte, das hätte sie Ihnen erzählt oder ich hätt’ was gesagt.«

Nächste Runde: ersten Stapel auslassen. Die aufgedeckte Karte auf den zweiten Stapel, die fünf anderen verdeckt. Einfach nur locker eine Patience legen. Luis war ganz Ohr, aber sorgsam darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, damit Raymond nicht am Ende noch auf ihn losging.

»Was zum Teufel haben Sie da gemacht, mit ihr und diesem Jimmy Tate?«

Aha, er war also dahinter gekommen, dass es Tate gewesen war, vermutlich, weil Dawna ihm den Kerl beschrieben hatte. »Ich hab’ gar nichts gemacht. Wir waren nur kurz ein Haus weiter gegangen, um was zu essen, und plötzlich standen diese beiden da.«

»Bibianna war mit Jimmy Tate zusammen?«

Dawna schnaubte: »Großer Gott, Raymond. Bist du schwer von Begriff? Du klingst wie ein Papagei.« Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie ungemein sie das Ganze befriedigte. In ihrer Familienkonstellation hatte sie sich vermutlich damit wichtig gemacht, dass sie ständig ihre Geschwister verpetzt hatte.

Raymond ignorierte sie und konzentrierte sich ganz auf mich. »Wieso haben Sie mir nie gesagt, dass Bibianna an dem Abend mit diesem Kerl zusammen war?«

»Jimmy Tate war mit mir da. Wir haben Bibianna in der Bar getroffen und sie gefragt, ob sie noch mitkommt, was essen. Was ist denn daran so schlimm?«

»Ich glaub’ Ihnen nicht.«

Ich hörte mit Kartenauslegen auf. »Sie glauben mir nicht?«

»Ich glaube, dass Sie lügen.«

»Jetzt ist aber Schluss, Raymond. Wir kennen uns jetzt ganze fünf Tage. Wie komme ich dazu, mich plötzlich vor Ihnen für irgendwas zu rechtfertigen?«

Raymonds Augen waren glitzrig, seine Stimme einen ganzen Tick zu sanft für meinen Geschmack. »Nach dem, was Dawna sagt, hat Tate meinen Bruder erschossen. Haben Sie das gewusst?«

Uuups. Das hatte ich nun allerdings gewusst. Ich sagte nichts und wunderte mich nur, wieso mein Mund auf einmal so trocken war. Mir fiel keine passende Antwort ein. Ausnahmsweise versagte mein Lügengenerator.

»Reden Sie«, sagte er. »Hat Tate meinen Bruder erschossen?«

Ich versuchte, zwischen den Alternativen zu lavieren, weil ich mich nicht jetzt schon auf einen Kurs festnageln wollte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Als die Schießerei anfing, hab’ ich mich hingeworfen.«

»Sie haben nichts davon gesehen, dass dieser Tate eine Kanone hatte?«

»Na ja, ich wusste, dass er eine hatte, aber ich hab’ keine Ahnung, was er damit gemacht hat, weil ich nichts mitgekriegt habe.«

»Und Chago? Sie haben doch gesehen, dass er getroffen war. Was haben Sie gemeint, wer da geschossen hatte?«

»Keinen Schimmer. Ehrlich. Ich hatte keinen blassen Dunst, was passiert war. Ich weiß nur, dass Tate und ich Bibianna getroffen haben und dass wir nach nebenan gegangen sind, um noch was zu essen, und dass dann plötzlich diese beiden vor uns standen und Bibianna mit vorgehaltener Pistole abgeschleppt haben. Und auf einmal knallten Schüsse. Die Bullen kamen. Und Bibianna und ich wurden in den Knast gekarrt...«

Das war schon etwas sichereres Terrain, da ich ja wusste, dass Dawna ungefähr in dem Moment verschwunden war, als Chago den Treffer abgekriegt haben musste. Ich ging davon aus, dass sie selbst nicht wusste, was danach passiert war. Überhaupt beunruhigte mich dieses ganze Thema wesentlich weniger als der Gedanke, sie könnte sich an unsere Begegnung bei der CF erinnern.

Sie hatte mein Gesicht gemustert, mit gerunzelter Stirn und einem Blick von der Sorte, die anzeigt, dass die Erinnerung mit einer dicken Wolkendecke verhangen ist. Aber dieser Nebel konnte sich jeden Augenblick lichten. »Sie verarscht dich, Raymond.«

»Überlass das mir«, sagte er gereizt. Er wandte sich ab, zündete sich eine Zigarette an und musterte mein Gesicht, während er den ersten Zug inhalierte.

Das Telefon klingelte. Wir fuhren alle vier herum und starrten es an. Luis rührte sich als erster und nahm ab. »Hallo?« Er horchte kurz in den Hörer und legte dann die rechte Hand über die Sprechmuschel. »Da ist ein Bulle dran, der sagt, sie haben den Wagen gefunden.«

Raymond nahm den Hörer. »Hallo?... Ja, am Apparat... Ist jemand verletzt? Ach, wirklich? Oh, das tut mir Leid. Wo? Mmmhmm... verstehe. Und wo ist der Wagen jetzt? Ja, klar weiß ich, wo das ist... Ach, tatsächlich? Das ist ja sehr bedauerlich.«

Raymond legte auf und sah Luis an. »Bibianna hatte einen Unfall, oben im Topanga Canyon. Nach dem, was der Bulle gesagt hat, hat Chopper den Caddy die Felsen runterbefördert.«

»Ohne Scheiß, Mann«, sagte Luis.

Ich spürte, wie mir das Herz im Hals bummerte. »Und Bibianna? Ist ihr was passiert?«

Raymond machte eine unwirsche Handbewegung. »Keine Bange. Sie ist im St. John. Los, holen Sie Ihre Jacke. Es gibt was zu tun.« Er grinste Luis an. »Tolle Sache. Der Caddy ist Schrott. Das sind zweitausendfünfhundert Eier.« Er sah mein Gesicht. »Was gucken Sie so? Das Geld steht mir von Rechts wegen zu«, sagte er philisterhaft.

»Und ich?«, schaltete sich Dawna ein.

»Du kannst mitkommen, wenn du willst, oder hierbleiben und dich aufs Ohr legen. Du siehst ziemlich geschafft aus. Wir sind in einer Stunde wieder da. Dann fahren wir rüber zum Bestattungsinstitut. «

Sie guckte einen Moment lang unentschieden und gab dann nach. »Geht ihr allein. Ich hau mich eine Runde hin.«

Raymond fuhr viel zu aggressiv für die Verkehrsbedingungen. Ich saß vorn, eingequetscht zwischen ihm und Luis. Ich stützte mich mit einer Hand am Armaturenbrett ab und stieß unwillkürlich jedes Mal einen kleinen Laut aus, wenn Raymond ohne zu blinken die Spur wechselte oder seinem Vordermann fast auf die Stoßstange auffuhr, ehe er ausscherte und mit einem finsteren Blick in den Spiegel vorbeizischte. Er presste die Zähne zusammen. Sein Gesicht zuckte jetzt eigentlich permanent, und für alle Widrigkeiten dieser Welt musste irgendjemand anderes herhalten. Selbst Luis wurde es zu viel, und ihm entfuhr ein leises »Jesus«, als Raymond wieder um ein Haar einem Zusammenstoß entgangen war.

Die beiden redeten über mich hinweg, als sei ich Luft. Deshalb dauerte es eine Weile, bis ich kapierte, wovon sie sprachen.

Raymond sagte: »Das dumme Luder ist wohl in Topanga vom 101er abgefahren. Herrgott, wie kann man nur so blöd sein? Das ist doch mitten im Nichts. Kennst du die Strecke?«

»Klar. Wilde Gegend«, sagte Luis.

»Der absolute Horror. Dort sind die Berge steil wie Wände, und neben der Straße geht’s gleich senkrecht runter. Sie hätt’ in ‘ner belebten Gegend bleiben sollen und zusehen, dass sie ein Bullenauto findet. Wer soll ihr denn da draußen helfen? Chopper brauchte nichts weiter zu tun, als abzuwarten, bis sie in einer von den Haarnadelkurven war, und dann Bumm Raymond machte eine verächtliche Handbewegung. »Der Bulle meint, er hat den Caddy von hinten gerammt und ist dabei hängen geblieben. Schwupp!« Er machte eine Art Tauchbewegung mit der Hand.

Ich starrte Raymond an. »Er ist mit runtergerauscht?«

Raymond sah mich an, als hätte ich plötzlich begonnen, Spanisch zu reden. »Was denken Sie denn, wovon wir die ganze Zeit reden? Chopper ist tot, und sie wird’s auch nicht mehr lange machen. Geschieht ihr recht. Haben Sie das nicht kapiert? Bibianna ist auf der Dings... auf der Intensivstation.«

»O nein«, sagte ich.

»He, was soll das? Wollen Sie das vielleicht auch noch mir in die Schuhe schieben? Bibianna klaut meinen Wagen und fährt ihn zu Schrott, und ich bin schuld?«

»Himmel noch mal, Raymond, tun Sie doch nicht so. Das ist alles Ihr Werk, und das wissen Sie genau.«

»Treiben Sie’s nicht zu weit, he! Ich hab’ nichts gemacht!« Raymonds Gesicht färbte sich dunkel, und er raste mit zusammengepressten Kiefern weiter. Ich fühlte, wie sich in meinem Brustkorb Angst ausbreitete und mir den Magen zusammenpresste.

Wir fuhren am Santa Monica Freeway vom 405er ab und weiter nach Westen. Wir nahmen die Ausfahrt Cloverfield und hielten dann rechts. Ich war vor Jahren mal im St. John-Krankenhaus gewesen, und so weit ich mich erinnern konnte, war es nicht mehr weit. Irgendwo an der 21. oder 22. Straße, zwischen dem Santa Monica und dem Wilshire Boulevard. Es war jetzt halb elf. Ich wusste, dass sie es auf der Intensivstation normalerweise mit den Besuchszeiten sehr genau nahmen, aber Raymond würde sich schon Zutritt verschaffen.

Wir parkten auf einem der Besucher-Parkplätze und gingen durch einen Torbogen zum Haupteingang. Ein blaugrün gekachelter Brunnen plätscherte laut in der Mitte eines gepflasterten Hofs. Hinter dem Brunnen stand eine Bronze-Büste der Gründerin Irene Dünne. Der Komplex bestand aus massiven, cremefarbenen Kästen, die wohl ursprünglich schlichte Betonblöcke gewesen waren, jetzt sprang aus der Frontseite ein Säulenvorbau heraus, und rechts und links flankierte je ein Seitenflügel das Hauptgebäude. Dahinter erhob sich ein vielgeschossiger Anbau. Es sah aus, als hätte sich das Krankenhaus nach und nach das ganze verfügbare Gelände und auch noch die angrenzenden Grundstücke einverleibt. Die Umgebung bestand aus eher bescheidenen Einfamilienhäusern im Stil der 5oer-Jahre. Ein Krankenwagen sauste kurz aufheulend an uns vorüber und dann mit blinkendem Gelblicht und ausgestellter Sirene vor die Notfall-Aufnahme.

Zu beiden Seiten des Hauptaufgangs schwangen sich Rollstuhlrampen empor. Wir marschierten über die Stufen in die Halle mit dem gedämpften kastanienbraunen Teppichboden und dem Gewürznelkengeruch. Links war eine ganze Wand den Namen all derer gewidmet, die sich in finanzieller Hinsicht um die Klinik verdient gemacht hatten. Das Spektrum reichte von Wohltätern über Gönner und Freunde bis hin zu den Kleinspendern, die zu knausrig gewesen waren, um eine eigene Kategorie für sich in Anspruch nehmen zu können. Am entfernten Ende der Wand hing über der Anmeldung ein kolossaler Ölschinken mit einer lockenhaarigen Gestalt, die den Blick gequält zum Himmel erhob.

Raymond fragte an der Information nach der Intensivstation. Ich tröstete mich damit, dass Bibianna wohl bei Bewusstsein gewesen sein musste, als sie sie hergebracht hatten. Sonst hätte die Polizei ja nicht herausfinden können, wer sie war. So weit ich wusste, hatte sie keinen Ausweis bei sich gehabt.

Ein Gesprächsfetzen drang von hinten an mein Ohr. Eine Frau sagte: »...und da hab’ ich diese Zicke im Sheriffs Department gefragt: >Was geht euch das an? Wenn sie ihm nichts anhängen können, wie kommt ihr dann dazu, mit seinem Bewährungshelfer zu reden?< Das ist doch eine Verletzung der Grundrechte oder wie das heißt...«

In meinem Kopf schloss sich ein Kontakt. Mir entfuhr ein »Oh«, wie man es von sich gibt, wenn man sich Eiswasser in den Ausschnitt kippt. Plötzlich wusste ich, wer Dr. Howards Tochter war — die Braut auf dem Hochzeitsbild. Natürlich — die Zivilangestellte, an der ich mir im Sheriffs Department die Zähne ausgebissen hatte, als ich wegen Bibiannas Adresse dort gewesen war. Verdammt, ich musste irgendwie an ein Telefon kommen. Kein Wunder, dass Dolan nach einer undichten Stelle fahndete!

Raymond dirigierte uns zum Aufzug, und wir fuhren in den zweiten Stock. Als wir ausgestiegen waren, gingen wir nach rechts, vorbei an der Wöchnerinnen-Station, wo sich eine frisch entbundene Frau wacklig die Wand entlangtastete. Raymond war in Hochform. Er bewegte sich fix und hatte die Augen überall. Ab und zu sah ich Luis’ Blick durch eine geöffnete Tür in ein leeres Zimmer huschen. Ich tat es ihm nach, unfähig, meine Neugier zu zügeln. Aber es gab nicht viel zu sehen. Es roch bereits nach Mittagessen.

Das Stockwerk 2/Südflügel beherbergte hinter einer geschlossenen Doppeltür die Intensivstation, die koronarmedizinische Station, die Koronarchirurgie und die postoperative Versorgung. Ein Schild besagte: Unbefugten ist der Zutritt nicht gestattet. Daneben hing ein Telefon an der Wand. Offenbar musste man zuerst anrufen und sich die Erlaubnis einholen, die Station zu betreten. Im angrenzenden Warteraum saßen vier Frauen, die sich unterhielten oder in Illustrierten lasen. Ich erspähte ein Münztelefon, einen Zeitschriftenständer und einen Farbfernseher. Im Flur befand sich ein Trinkwasserbrunnen, und in einer Nische stand die Statue eines Heiligen mit einem nacktärschigen Jesuskind auf dem Arm. Der Fußboden bestand aus quadratischen Gussmarmor-Fliesen mit schmalen Metallstegen dazwischen.

Luis setzte sich auf eine beige Lederbank. Sein Knie zuckte. Eine Laborassistentin trug ein dickes Röhrchen mit dunkelrotem Blut an uns vorbei. Luis stand auf und ging zur Wand hinüber, um sich in die Besuchszeiten zu vertiefen. Das war das erste Mal, dass ich die beiden in einer Situation erlebte, die sie nicht auf die Macho-Tour bewältigen konnten.

Genau wie Luis gehörte offenbar auch Raymond zu den Leuten, denen alles, was mit Krankheit zusammenhängt, unheimlich ist. Er war ganz still und respektvoll. Das Gezucke hatte wieder angefangen, und sein Kopfrucken erinnerte mich jetzt an das erschreckte Zusammenfahren, mit dem ich manchmal im Moment des Einschlafens reagiere. Die Krankenhaus-Menschen, die an uns vorbeigingen, schienen ihn mit einem kurzen diagnostischen Blick abzutasten und sich ansonsten nicht mehr darum zu kümmern, als ich es inzwischen tat. Aus seinem Verhalten schloss ich, dass er wohl als Kind im Krankenhaus gewesen war und dort Prozeduren über sich hatte ergehen lassen müssen, die ihn ängstlich und misstrauisch gemacht hatten. Er zog kaum merklich den Kopf ein und vergrub die Hände in den Taschen, während er überlegte, was er jetzt tun sollte.

Er wollte gerade den Telefonhörer abnehmen, als sich die Doppeltür öffnete und eine Schwester herauskam. Sie war etwa dreißig, rothaarig, mit einem weißen Hosenanzug und dicksohligen weißen Schuhen. Sie trug ein Schwesternabzeichen, aber kein Häubchen. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, äh... ich bin... meine Verlobte ist letzte Nacht hier eingeliefert worden. Sie hatte einen Autounfall. Die Polizei hat mir gesagt, dass sie hier ist. Sie heißt Diaz... Ich hab’ gedacht, ich könnte sie vielleicht kurz sehen.«

Sie lächelte freundlich. »Einen Augenblick bitte. Ich werde nachfragen.« Sie ging weiter zum Warteraum, steckte den Kopf durch die Tür und bedeutete einer der Besucherinnen, ihr zu folgen. Die Frau legte ihre Illustrierte hin und verschwand mit der Schwester hinter der Doppeltür. Ich linste durch die Glasscheiben, konnte aber nichts erspähen als ein weiteres Stück Flur und ganz am Ende einen verglasten Raum voller medizinischer Apparaturen. Die Gestalt, die dort lag, war kaum zu sehen, und ich vermochte nicht zu erkennen, ob es Bibianna war oder nicht.

Luis trat von einem Fuß auf den anderen und schnippte leise mit den Fingern. »O Mann, das ist mir zu viel. Ich geh’ runter in die Halle. Ihr könnt mich auf dem Rückweg dort wieder auflesen. Vielleicht gibt’s hier ja eine Cafeteria. Dann kann ich solange was essen.«

»Tu das«, sagte Raymond.

Luis umschlang seinen Oberkörper mit den Armen. »Soll ich Kaffee herbringen oder so was?«

»Hau endlich ab, Luis. Mach kein Geschiss.«

»Vielleicht komm’ ich ja zwischendurch noch mal wieder«, sagte Luis. Er sah mich an und machte dann ein paar Schritte rückwärts, um sich zu vergewissern, dass Raymond keinen ernsthaften Einspruch erhob. Raymond schien mit seinen eigenen Fluchtimpulsen zu kämpfen. Luis drehte sich um und steuerte auf die Aufzüge zu.

Sobald er verschwunden war, berührte ich Raymonds Arm. »Ich mach’ mich mal kurz auf die Suche nach der Toilette, okay?«

Die Schwester erschien wieder. »Es wird noch ein paar Minuten dauern. Der Neurologe ist gerade gegangen, aber ich nehme an, er ist noch im Haus. Möchten Sie, dass ich ihn anpiepe?«

»Äh... ja, wenn Sie so nett wären.«

»Aber natürlich. Sie können sich auch setzen, falls Sie möchten«, sagte sie mit einer Armbewegung in Richtung Warteraum.

»Kommt sie denn wieder auf den Damm?«

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen«, erklärte die Schwester. »Sie können mit Dr. Cherbak sprechen, sobald er da ist. Wie war doch gleich Ihr Name?«

»Maldonado. Ich werd’ einfach hier warten. Ich will keine Umstände machen...«

»Dort drüben ist ein Automat, falls Sie Kaffee möchten.«

»Ach, können Sie mir bitte sagen, wo die Toilette ist?«, fragte ich. Herrgott, fiel mir denn gar nichts Originelleres ein, um mich von diesen Kerlen abzusetzen?

Die Schwester zeigte den Gang entlang. »Erste Tür.«

Ich ging mit Raymond in den Warteraum. Sobald er sich hingesetzt hatte, sagte ich: »Ich bin gleich wieder da.«

Vor lauter Unbehagen achtete er gar nicht mehr auf mich. Ich entfernte mich langsam, wobei ich mich mühsam beherrschen musste, um nicht loszurennen. Ich marschierte an der Toilette vorbei und immer geradeaus, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen und einem Telefon.

Das Stockwerk 2/Südflügel ging ohne merkliche Veränderung in das Stockwerk 2/Hauptgebäude über. Der Fußbodenbelag war immer noch derselbe, und auch die Wände blieben weiter hellblau und hellbeige mit einem Muster aus Schnörkeln oder kleinen Kugelbäumen. Ich merkte, dass ich aus den Regionen des Todes in die der Geburt gelangt war. Schilder wiesen zum Wehenzimmer, zum Kreißsaal, zur Neugeborenenstation und zum Warteraum für junge Väter. Ich hielt Ausschau nach einem Münztelefon und kramte neben der Pistole in meiner Tasche nach Kleingeld. Ich fühlte, wie sich meine Panik mit jeder Sekunde steigerte. Sobald ich Dolan das Wichtigste durchgegeben hatte, würde ich machen, dass ich hier wegkam.

Ich kam an der Anmeldung für das Stockwerk 2/Hauptgebäude vorbei. An der Wand hinter dem Tresen links von mir sah ich lauter Monitore mit grünen Linien, in denen ich lebenswichtige Signale vermutete.

Eine schwarze Krankenschwester, die aus einer Tür mit der Aufschrift »Personalraum« trat, rannte mich fast über den Haufen. Sie trug einen knöchellangen, hinten gebundenen weißen Kittel und einen hochgeschobenen Mundschutz, der auf ihrer Stirn saß wie eine blassgrüne Beule. Sie war in den Vierzigern, schlank, mit dunklen Augen und einem klaren, glatten Gesicht. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich hoffe sehr«, sagte ich. »Ich muss Ihnen etwas erklären, und Sie müssen mir bitte vertrauen. Ich bin Privatdetektivin, aus Santa Teresa, und hinter einer Versicherungsbetrugs-Geschichte her. Ich bin mit einem Gangster hier, der jeden Moment hinter mir herkommen kann. Ich muss dringend Lieutenant Dolan in Santa Teresa anrufen. Gibt es hier vielleicht ein Telefon, das ich benutzen kann? Ich schwöre Ihnen, es dauert nicht lange, und es kann mir das Leben retten.«

Sie betrachtete mich mit der leeren Miene eines Menschen, der eine Information auf ihre Glaubwürdigkeit taxiert. Vielleicht war es ja etwas in meinem Ton — die nackte Verzweiflung unter der ernsten Eindringlichkeit. Meine Erscheinung kann es kaum gewesen sein. Ich sagte ausnahmsweise einmal die Wahrheit, und ich bemühte mich, mit jeder Faser meine Aufrichtigkeit zu vermitteln. Sie hörte mir zu, die Augen aufmerksam auf mein Gesicht geheftet. Vielleicht war meine Geschichte aber auch einfach so hanebüchen, dass sie mir nicht zutraute, sie erfunden zu haben. Wortlos zeigte sie auf ein Telefon hinter dem Anmeldetresen.