20
Auf dem Weg nach Colgate hielt ich, um zu tanken. Dieses Hin und Her durch die Stadt summierte sich allmählich auf einmal Idaho und zurück, und ich bereute schon, dass ich Lonnie kein Kilometergeld berechnete. Es war gerade kurz nach achtzehn Uhr und zäher Verkehr, vor allem in der Gegenrichtung, stadteinwärts. Vor den Bergen hingen Wolken wie eine Lage Mull.
Ich steuerte in Richtung Voigt Motors und versuchte abzuschätzen, ob Kenneth Voigt mir die Wahrheit sagen würde. Wie sein Verhältnis zu Curtis auch sein mochte, es war Zeit, ein wenig Tacheles zu reden. Wenn ich aus Kenneth nichts herausbekam, würde ich mir Curtis vorknöpfen. Auf dem Parkplatz vor dem Autohaus quetschte ich meinen VW zwischen einen Jaguar und einen Porsche. Ich ging durch den Vordereingang hinein und ignorierte die Verkäuferin, die eilfertig auf mich zukam, und stapfte die breite Treppe hinauf, zu der Galerie von Büroräumen, die den oberen Flur säumte — Kreditabteilung, Buchhaltung. Offenbar musste das Verkaufspersonal ausharren bis zum Geschäftsschluss um 20 Uhr. Das Büropersonal hatte es etwas besser: Hier war man dabei, Feierabend zu machen. Kenneths Bürotür trug seinen Namen in fünf Zentimeter hohen Messinglettern. Seine Sekretärin war eine Frau von Anfang fünfzig, mit blond gebleichtem Haar, obgleich sie die einschlägige gesetzliche Altersgrenze dafür bereits überschritten hatte. Die Zeit hatte zwischen ihren Augen einen Sorgenwulst aufgeworfen. Sie räumte gerade ihren Schreibtisch auf, packte Unterlagen weg, steckte Bleistifte und Kugelschreiber ordentlich in einen Keramikbecher.
Ich sagte: »Hi. Ist Mr. Voigt da? Ich hätte ihn gerne kurz gesprochen.«
»Sind Sie ihm nicht eben auf der Treppe begegnet? Er ist vor zwei Minuten gegangen, aber vielleicht hat er auch den Hinterausgang genommen. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ich glaube nicht. Können Sie mir sagen, wo er seinen Wagen stehen hat? Vielleicht erwische ich ihn ja noch.«
Ihr Gesichtsausdruck hatte sich geändert, und sie sah mich jetzt misstrauisch an. »Worum geht es denn?«
Ich würdigte sie keiner Antwort.
Ich huschte aus der Tür, ging rasch den oberen Flur hinunter und guckte unterwegs kurz in jeden Raum einschließlich der Herrentoilette. Ein erschrockener Mann im Business-Anzug war gerade am Abschütteln. Ach, Gott, wie praktisch. Wenn es auf dieser Welt so etwas wie Gerechtigkeit gäbe, hätten wir Frauen diese kleinen Baumeldinger, und die Männer müssten sich damit abplagen, Papier auf Klobrillen zu breiten. Ich sagte: »Uuups. War wohl verkehrt« und schloss die Tür wieder. Ich fand die Hintertreppe jenseits einer Tür mit der Aufschrift »Notausgang«. Ich hastete, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter und auf den Parkplatz hinaus, aber dort war von Ken nichts zu sehen, und ich sah auch keinen Wagen wegfahren.
Ich ging zurück zu meinem VW und fuhr vom Parkplatz aus nach links, den Faith Boulevard hinunter, Richtung Upper State Street. Curtis McIntyres Motel war nur eine Meile entfernt. Dieser Stadtteil bestand aus Schnellrestaurants, Wagenwaschanlagen, Elektro-Discounts und diversen kleinen Einzelhandelsgeschäften, zwischen die sich hier und da ein Bürohaus zwängte. Hinter dem Cutter-Road-Einkaufszentrum kam rechts die Auffahrt zum Freeway Richtung Norden. Die State Street zweigte links ab und verlief ein, zwei Meilen parallel zum Highway.
Das Thrifty Motel lag kurz vor der Kreuzung, wo die zweispurige Schnellstraße, die in die Berge im Norden führt, die State Street schneidet. Ich fuhr nach links auf den Motelparkplatz und nahm den unbenutzten Stellplatz vor Curtis’ Zimmer. Die meisten Räumen entlang des L waren hell erleuchtet, und in der Luft hing ein deftiger Geruch nach Gebratenem, eine aromatische Mischung aus Speck, Hamburgern, Schweinekoteletts und Bratwurst. Außerdem konkurrierten Fernsehnachrichten und dröhnende Country-Musik um den Luftraum. Curtis’ Fenster waren dunkel, und mein Klopfen zeigte keine Reaktion. Ich versuchte es nebenan. Der Mann, der mir aufmachte, musste in den Vierzigern sein und hatte leuchtend blaue Augen, einen Topf-Haarschnitt und einen Bart wie ein Haarfilz, den man aus einer Bürste gezupft hat.
»Ich suche Ihren Nachbarn. Haben Sie ihn zufällig gesehen?«
»Curtis ist weggegangen.«
»Ahnen Sie vielleicht, wohin?«
Der Typ schüttelte den Kopf. »Bin nicht sein Aufpasser.«
Ich nahm eine Geschäftskarte und einen Stift heraus und schrieb Curtis eine kleine Notiz, dass er mich so bald wie möglich anrufen solle. »Könnten Sie ihm das hier geben?«
Der Typ sagte: »Wenn ich ihn seh.« Er schloss die Tür wieder.
Ich nahm noch eine Karte, kritzelte noch einmal denselben Wortlaut darauf und steckte sie hinter die metallene 9 an Curtis’ Tür. Das Motelschild blinkte unermüdlich, während ich über den Parkplatz auf das Büro zusteuerte. Es verkündete in flirrendem Grün Thrifty Motel und machte ein Geräusch wie Fliegen, die gegen ein Fliegenfenster surren. Das verglaste Büro war offen, und innen an einer der Scheiben lehnte ein belegt-Schild in roten Lettern auf weißem Grund.
Der Anmeldetressen war nackt und kahl und nicht besetzt. Die Tür im Hintergrund stand einen Spalt offen, und in den Räumen, die üblicherweise dem Manager Vorbehalten sind, brannte Licht. Er sah offensichtlich eine Wiederholungsfolge irgendeiner Seifen-Serie, denn immer wieder erscholl begeistertes Konserven-Gelächter. Jeder dritte Lacher war besonders laut, und man konnte sich leicht ausmalen, wie der Toningenieur an seinem Mischpult saß und die Hebel bediente: rauf und runter und rauf und runter und weit rauf und wieder runter.
Auf dem Tresen stand ein kleines Schildchen mit der Aufschrift »H. Stringfellow, Geschf. Bitte läuten« neben einem altertümlichen Klingelknopf. Ich bimmelte, was mir einen herzhaften Lacher seitens des unsichtbaren Publikums eintrug. Mr. Stringfellow kam durch die Tür geschlurft und zog sie hinter sich zu. Er hatte schneeweißes Haar und ein hageres, glatt rasiertes Gesicht mit rosiger Haut und einem markanten Kinn, das aussah, als sei es chirurgisch vergrößert worden. Er trug ausgebeulte braune Hosen und ein kackbraunes Nylonhemd mit einem gelben Schlips. »Alles voll«, sagte er. »Probieren Sie’s ein Stück weiter die Straße hinunter.«
»Ich suche kein Zimmer. Ich suche Curtis McIntyre. Haben Sie eine Ahnung, wann er wiederkommt?«
»Keine Ahnung. Jemand kam und hat ihn abgeholt. Ich glaube jedenfalls, es war ein Mann. Der Wagen fuhr vor, und weg war er.«
»Sie haben den Fahrer nicht gesehen?«
»Nö. Hab auch den Wagen nicht gesehen. Ich war gerade hinten am Arbeiten und hab es nur hupen hören. Gleich darauf hab ich Curtis am Fenster langgehen sehen. Nur, weil ich zufällig durch die Tür geguckt hab. Dann hat eine Autotür geknallt, und der Wagen ist weggefahren.«
»Wann war das?«
»Eben gerade. Ist vielleicht fünf oder zehn Minuten her.«
»Gehen seine Anrufe hier über den Hauptapparat?«
»Gibt keinen Hauptapparat. Er hat ein Telefon auf seinem Zimmer. So wird alles extra gezählt, und ich brauch mich nicht damit zu befassen. Ich will nicht so tun, wie wenn ich’s mit einer erstklassigen Kundschaft zu tun hätt’. Lumpengesindel, die allermeisten, aber das geht mich nichts an. Solang wie sie das Geld ordnungsgemäß im Voraus zahlen.«
»Ist er da gewissenhaft?«
»Besser als die meisten. Sind Sie seine Bewährungshelferin?«
»Nur eine Bekannte«, sagte ich. »Wenn Sie ihn sehen — könnten Sie ihm ausrichten, er soll mich anrufen?« Ich nahm noch eine Karte heraus und kringelte meine Telefonnummer ein.
Ich schloss meine Wagentür auf und wollte gerade einsteigen, als mich ein kleines Teufelchen stupste und darauf aufmerksam machte, dass das da genau vor meiner Nase Curtis McIntyres Tür war. Das Schloss wirkte ganz solide, aber das Fenster gleich daneben war offen. Der Spalt war zwar nur eine Hand breit, aber der Holzrahmen des Fliegengitters war unten verzogen und so weit abgewölbt, dass ich meine zarten Fingerchen hineinzwängen konnte. Ich brauchte nur das Fliegengitter herauszudrücken, das Fenster ein Stückchen hochzuschieben, hineinzugreifen und die Türverriegelung zu lösen. Auf dem Parkplatz war niemand, und der Fernsehlärm würde jedes Geräusch übertönen. Ich war die ganze Woche über eine mustergültige Staatsbürgerin gewesen, und was hatte es mir eingebracht? Die Sache würde sowieso nie vor Gericht kommen, was machte es da schon aus, wenn ich ein bisschen gegen die Gesetzte verstieß? So eine große Sache ist ein simpler Einbruch ja nun auch wieder nicht. Ich wollte ja nichts stehlen. Ich wollte nur einen klitzekleinen Blick hineinwerfen. Das ist die Art von Gedanke, mit der mir mein kleines Teufelchen zu kommen pflegt. Schäbige Argumente, aber schrecklich verlockend. Ich schämte mich, aber bevor ich es mir noch einmal überlegen konnte, war ich schon dabei, das Fliegengitter herauszulösen und meine unartigen kleinen Finger durch die Öffnung zu schieben. Und ehe ich mich’s versah, war ich in seinem Zimmer. Ich machte das Licht an. Ich konnte nur hoffen, dass Curtis nicht hereinspaziert kam. Ich war mir nicht sicher, ob es ihn stören würde, wenn ich sein Zimmer filzte. Ich hatte vor allem Angst, er könne auf die Idee kommen, ich stellte ihm nach.
Seine Mutter wäre sicher vor Scham in den Boden versunken, wenn sie gesehen hätte, wie er hauste. »Heb deine Kleider auf«, kam in seinem Sprachschatz nicht vor. Der Raum war ohnehin schon nicht sonderlich groß, etwa drei Mal drei Meter, mit einer winzigen Kochnische — einer Kombi-Kühlschrank-Koch-Spüle, die vor Dreck starrte. Das Bett war ungemacht und barg weiter keine großen Überraschungen. Ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher stand auf einem der Nachttischchen, das er, der besseren Sicht wegen, von der Wand abgerückt hatte. Elektrokabel schlängelten sich als Stolperfallen über den Fußboden. Das Bad war klein und mit muffigen Handtüchern drapiert. Er schien auf Seife mit eingebackenen Schamhaaren zu stehen.
Aber mir konnte es schließlich egal sein, wie es bei ihm aussah. Was mich interessierte, war der wackelige Holzschreibtisch. Ich machte mich daran, ihn zu durchsuchen. Curtis hielt wohl nichts von Banken. Er bewahrte sein Geld lose in der obersten Schublade auf. Ein ganz hübsches Sümmchen. Wahrscheinlich dachte er sich, marodierende Räuberbanden würden sich nicht unbedingt das Zimmer 9 im Thrifty Motel vornehmen. Zwischen dem Geld lagen, kunterbunt dazwischengestopft, diverse Rechnungen: Gas, Telefon, Sears, wo er ein paar Klamotten erstanden hatte. Unter den Sichtfenster-Kuverts entdeckte ich einen dickeren Selbstklebe-Umschlag, der für die Versendung von Schecks bestimmt war. Name und Adresse des Absenders waren auf der Verschlussklappe vorgedruckt: Mr. und Mrs. Peter Weidmann. Aha, das war interessant. Ich stellte das kleine Lämpchen schräg und hielt den Umschlag so dicht an die Birne, dass das Papier fast ankokelte. Das Kuvert hatte ein blödes Sternchenfutter, so dass ich den Inhalt nicht erkennen konnte. Glücklicherweise weichte die Hitze der Glühbirne jedoch den Kleber auf, und durch vorsichtiges Pulen gelang es mir, die Klappe zu öffnen.
Drinnen steckte ein Scheck über vierhundert Dollar, auf Curtis ausgestellt und von Yolanda Weidmann unterzeichnet. In der Zeile »Verwendungszweck« stand nichts, und der Umschlag enthielt auch keinerlei persönliche Mitteilung. Woher kannte sie Curtis, und weshalb schickte sie ihm Geld? Bei wie vielen Leuten kassierte dieser Mensch noch ab? Von Kenneth und Yolanda zusammen strich er fünfhundert Dollar im Monat ein. Noch ein paar edle Spender, und das war besser als ein regulärer Job. Ich steckte den Scheck zurück und verschloss den Umschlag wieder. Sonst enthielten die Schubladen nichts Besonderes. Noch ein letzter Rundum-Kontrollblick, und ich knipste das Licht wieder aus. Ich linste um die Vorhangkante. Auf dem Parkplatz war kein Mensch zu sehen. Ich entriegelte die Tür, schlüpfte hinaus und zog sie hinter mir wieder zu.
Ich umging den Freeway und fuhr auf kleinen Straßen zurück nach Horton Ravine. Die Lower Road war dunkel, da die wenigen Laternen zu weit auseinander standen, um sie ausreichend zu beleuchten. Das Licht, das bei den Weidmanns brannte, wirkte wie eine Art Minimal-Beleuchtung, die man anlässt, damit Einbrecher woanders hingehen. Die Lampe über der Tür brannte, aber in der Einfahrt stand kein Wagen. Ich ließ den Motor laufen, während ich klingelte. Als ich überzeugt war, dass niemand zu Hause war, stieß ich rückwärts wieder aus der Einfahrt und stellte den Wagen um die Ecke in der Esmeralda Street ab. Der Wachdienst von Horton Ravine würde in regelmäßigen Abständen vorbeikommen, aber ich dachte, dass ich doch ein Weilchen unbemerkt bleiben würde. Ich öffnete das Handschuhfach und nahm die Stablampe heraus. Soweit ich wusste, hatten die Weidmanns weder einen Elektrozaun noch einen großen, geifernden Dobermann. Ich zog meine Jacke aus einem Haufen Krempel auf dem Rücksitz, schlüpfte hinein und schloss den vorderen Reißverschluss. Auf zu einer kleinen Giftpilz-Pirsch.
Ich näherte mich dem Haus zu Fuß und leuchtete den Weg vor mir mit der Taschenlampe ab. Das Licht über der Tür gab einen sanftgelben Schein, der am Rande des Gartens allmählich in tiefes Dunkel überging. Ich schlich um das Haus herum zu der hinteren Terrasse, wo zwei grelle Scheinwerfer ungebetene Gäste abschreckten. Ich überquerte die Terrasse und stieg die vier flachen Stufen zum Ziergarten hinunter. Das Polster auf Peters Liegesessel war zusammengefaltet, wohl um es vor weiterem Verwittern zu schützen. Im Laufe der Jahre hatte die Sonne den Markisenstoff zu einem Craquelé-artigen Grau gebleicht. Ich sah, dass die Oberseite derzeit Schnecken als Tummelplatz diente.
Das Gras war frisch gemäht. Ich konnte die überlappenden Längsbahnen erkennen. Wo ich die Pilze gesehen hatte, war nichts. Ich überquerte den hinteren Grundstücksteil und versuchte, mich an die Anordnung der Hexenringe zu erinnern. Einige Pilze hatten einzeln gestanden, andere in Gruppen. Jetzt hatten die rotierenden Messer des Rasenmähers alles eingeebnet. Ich hockte mich hin und ertastete zerhäckselte, fleischige Materie, weißlich auf dem dunklen Gras. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung... ein Schatten auf der hellen Fläche. Yolanda war da, kam durch das nasse Gras auf die Stelle zugestapft, wo ich kauerte. Sie trug wieder einen zweiteiligen Velours-Jogginganzug, diesmal in Magentarot. Ihre Laufschuhe schienen von lauter kleinen Reflektorstreifen zu blitzen — auf dem makellosen Oberleder klebte abgemähtes Gras.
»Was haben Sie hier zu suchen?« Ihre Stimme war leise, und in dem Schummerlicht wirkte ihr Gesicht grau und matt. Ihr platinblondes Haar war steif wie eine Perücke.
»Ich suche die Pilze, die neulich hier standen.«
»Der Gärtner war gestern da. Ich habe ihn das ganze Stück mähen lassen.«
»Was hat er mit dem abgemähten Zeug gemacht?«
»Wieso fragen Sie?«
»Morley Shine ist ermordet worden.«
»Das tut mir Leid.« Es klang formell.
»Ach, wirklich?«, fragte ich. »Ich dachte, Sie konnten ihn nicht besonders leiden.«
»Ich konnte ihn überhaupt nicht leiden. Er roch wie jemand, der trinkt und raucht, was ich gar nicht billige. Aber Sie haben mir immer noch nicht erklärt, was Sie auf meinem Grund und Boden wollen?«
»Sagt Ihnen Amanita phalloides etwas?«
»Eine Art Giftpilz, nehme ich an.«
»Die Sorte Giftpilz, an der Morley gestorben ist.«
»Der Gärtner wirft die Abfälle dort drüben auf einen großen Haufen. Wenn er groß genug ist, lädt er ihn auf seinen Lastwagen und bringt ihn zur Müllkippe. Wenn Sie wollen, können Sie gern das kriminaltechnische Labor bitten, das Zeug abzufahren.«
»Morley war ein guter Detektiv.«
»Das bezweifele ich nicht. Was hat das damit zu tun?«
»Ich habe den Verdacht, dass er ermordet wurde, weil er hinter die Wahrheit gekommen ist.«
»Die Wahrheit über Isabelles Tod?«
»Unter anderem. Würden Sie mir vielleicht sagen, wieso Sie Curtis McIntyre einen Vierhundert-Dollar-Scheck geschickt haben?« Sie schien verdattert. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Ich habe den Scheck gesehen.«
Sie schwieg volle dreißig Sekunden, in einem normalen Gespräch eine sehr lange Zeit. Dann sagte sie zögernd: »Er ist mein Enkel. Auch wenn Sie das gar nichts angeht.«
»Curtis?«, sagte ich so fassungslos, dass es sie offenbar kränkte. »Sie brauchen das gar nicht in diesem Ton zu sagen. Dass der Junge kein Engel ist, weiß ich wahrscheinlich besser als Sie.«
»Entschuldigung, aber ich wäre nie und nimmer darauf gekommen, dass Sie mit ihm verwandt sein könnten«, sagte ich.
»Unsere einzige Tochter starb, als er zehn war. Wir hatten ihr versprochen, ihn nach besten Kräften zu erziehen. Curtis’ Vater war leider ein hoffnungslos verkommener Mensch, kriminell und asozial. Er hat sich aus dem Staub gemacht, als Curtis acht war, und seither haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wenn Natur gegen Erziehung steht, ist die Natur eben einfach stärker. Oder aber wir haben in irgendeinem entscheidenden Punkt versagt...« Ihre Stimme verlor sich.
»Ist er so in die ganze Sache hineingeraten?«
»Welche Sache?«
»Er soll doch als Zeuge in dem Zivilprozess gegen David Barney aufgefahren werden. Haben Sie je mit ihm über den Mord gesprochen?«
Sie rieb sich die Stirn. »Ich glaube schon.«
»Können Sie mir sagen, ob er zu der Zeit bei Ihnen gewohnt hat?«
»Ich sehe nicht, wofür das wichtig sein sollte.«
»Wissen Sie zufällig, wo er im Moment ist?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Irgendjemand hat ihn vorhin in seinem Motel abgeholt.«
Sie sah mich starr an. »Bitte, sagen Sie mir, was Sie wollen, und lassen Sie mich dann in Frieden.«
»Wo ist Peter? Ist er da?«
»Er wurde heute am späten Nachmittag ins Krankenhaus eingeliefert. Er hatte wieder einen Herzinfarkt. Er liegt auf der kardiologischen Intensivstation. Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich jetzt gerne hineingehen. Ich bin nur kurz nach Hause gekommen, um einen Bissen zu essen. Ich muss noch ein paar Anrufe erledigen und dann wieder zurück ins Krankenhaus. Diesmal sind sie nicht sicher, ob er’s schafft.«
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Das habe ich nicht geahnt.«
»Das ist jetzt nicht von Belang. Gar nichts ist von Belang.«
Ich sah verlegen zu, wie sie über den Rasen zurückstapfte und ihre Schuhe drüben auf der Terrasse feuchte Abdrücke hinterließen. Sie wirkte zusammengeschrumpft und alt. Ich hatte die dumpfe Vorahnung, dass sie zu den Frauen gehörte, die ihrem Lebenspartner binnen weniger Monate in den Tod folgten. Sie schloss die Hintertür auf und trat ins Haus. Das Küchenlicht ging an. Sobald sie verschwunden war, überquerte ich meinerseits den Rasen. Meine Taschenlampe erfasste hier und da ein paar weiße Schnipsel. Ich hockte mich hin und fegte mit der Hand einen Klumpen Gras beiseite. Darunter lag eine Mini-Portion Pilzhäcksel — wahrscheinlich noch nicht einmal ein Teelöffel voll. Dass es sich um A. phalloides handelte, schien nicht gerade wahrscheinlich, aber im Namen der Gründlichkeit zog ich ein gefaltetes Papiertaschentuch aus meiner Jackentasche, um die Probe sorgsam einzupacken.
Ich ging zu meinem Auto zurück. Ich war irgendwie aufgewühlt. Ich glaubte, jetzt einigermaßen sicher zu wissen, wie Curtis in die Sache hineingeraten war. Entweder hatte er irgendwelchen Knastklatsch aufgeschnappt und sich nach dem Freispruch an Kenneth Voigt herangemacht, oder aber Ken hatte von den Weidmanns erfahren, dass Curtis mit David Barney in der Zelle gesessen hatte. Vielleicht hatte er selbst Curtis den Vorschlag mit der Aussage gemacht. Ich bezweifelte, dass Curtis selbst schlau genug war, einen solchen Plan auszuhecken.
Ich saß in meinem Auto in der dunklen Seitenstraße. Ich kurbelte das Fenster herunter, damit ich die Grillen hören konnte. Die feuchte Luft an meinem Gesicht war belebend. Die Vegetation am Straßenrand verströmte dort, wo ich sie zertreten hatte, einen würzigen Geruch. Im Sommer vor meinem zweiten High-School-Jahr hatte ich (wenn auch nur kurz) als Betreuerin in einem Ferienlager gearbeitet. Ich war damals fünfzehn gewesen — voller Optimismus, noch nicht im Stadium des Herumhängens, Rebellierens und Kiffens. Wir waren losgezogen, um ein »Nachtlager« zu veranstalten, das ganze Team vom Tagescamp, ich mit den neunjährigen Mädchen im Schlepptau. Es lief alles ziemlich gut, bis wir uns schlafen legten. Da stellte sich heraus, dass der Baum, unter dem wir unsere Schlafsäcke ausgerollt hatten, ein einziges Nest von Weberknechten war, die sich jetzt auf uns herunterfallen ließen. Plopp, plopp. Plopp, plopp. So ein Gekreische hatte die Welt noch nicht gehört. Bestimmt hatte ich den armen kleinen Mädchen einen Todesschrecken eingejagt...
Ich sah in den Rückspiegel. Hinter mir bog ein Wagen um die Ecke, bremste ab und hielt neben mir. Er trug das Zeichen des Wachdiensts von Horton Ravine. Vorne saßen zwei Männer, von denen der eine jetzt eine helle Leuchte auf mein Gesicht richtete. »Haben Sie Schwierigkeiten?«
»Alles bestens«, sagte ich. »Ich wollte gerade losfahren.« Ich ließ den Wagen an, legte den Gang ein und rollte langsam auf dem Randstreifen vorwärts, bis ich vor ihnen auf den Asphalt hinüberziehen konnte. Ich fuhr in gemächlichem Tempo zum Ausgang von Horton Ravine, wobei mir die beiden Typen in ihrem Streifenwagen demonstrativ folgten. Ich nahm wieder den Freeway, mehr aus Verzweiflung als in irgendeiner konkreten Absicht. Was sollte ich tun? Von den Spuren, denen ich nachgegangen war, hatten sich die meisten im Sand verloren, und bevor ich nicht mit Curtis geredet hatte, konnte ich nicht sicher sein, was wirklich los war. Ich hatte ihm hinterlassen, er solle mich anrufen. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren, damit ich wenigstens erreichbar war, falls eine meiner Botschaften zu ihm durchdrang.
Es war viertel nach acht, als ich bei mir zu Hause ankam. Ich schloss hinter mir ab und knipste im unteren Raum das Licht an. Dann verfrachtete ich die Pilzschnipsel aus dem Papiertaschentuch in einen Gefrierbeutel. Ich suchte in der Küchenschublade nach einem dicken Filzstift, kennzeichnete den Beutel mit einem nicht sehr kunstvollen Totenkopfemblem und packte ihn in den Kühlschrank. Ich schälte mich aus meiner Jacke, setzte mich auf einen Hocker und studierte das Pinnbrett mit der orange-grün-weißen Karteikartenlandschaft.
Es war ein bedrückender Gedanke, dass sich da womöglich genau vor meiner Nase etwas Wichtiges verbarg — etwas, das Morley das Leben gekostet hatte, weil er darauf gekommen war. Was konnte es sein? Ich ließ meinen Blick die eine Kärtchenreihe hinaufwandern und die nächste wieder hinunter, versuchte, mir den mutmaßlichen Gang der Ereignisse zu vergegenwärtigen. Ich stand auf, wanderte im Zimmer auf und ab, kam wieder zurück und musterte erneut das Brett. Ich ging zur Couch, legte mich rücklings darauf und starrte an die Decke. Denken ist harte Arbeit, deshalb sieht man so selten Leute, die es tun. Die Unruhe packte mich wieder, und ich stand auf, ging an den Essplatz zurück und überflog, auf die Ellbogen gestützt, noch einmal das Pinnbrett.
»Bitte, Morley, komm schon, hilf mir«, murmelte ich.
Oh.
Ha, da war eine kleine Unstimmigkeit, der ich bisher weiter keine Beachtung geschenkt hatte. Laut Regina Turner vom Gipsy Motel war Noah McKell um 1 Uhr 11 nachts angefahren worden. Aber Tippy war erst um circa 1 Uhr 40 an der Kreuzung San Vicente und 101 aufgetaucht, eine halbe Stunde später. Wieso hatte sie bis dorthin so lange gebraucht? Es waren doch sicher nur vier oder fünf Minuten vom Gipsy bis zu der Abfahrt. Hatte sie erst noch einen Kaffee getrunken? Getankt? Sie hatte gerade einen Menschen totgefahren, und nach Davids Aussage war sie sichtlich verstört gewesen. Es war schwer vorstellbar, was sie eine halbe Stunde lang getrieben haben sollte. War sie einfach nur ziellos durch die Gegend gefahren? Ich konnte mir zwar nicht denken, wofür die Antwort wichtig sein sollte, aber sie herauszubekommen war sicher nicht weiter schwierig.
Ich griff zum Telefon und drückte die Parsonssche Nummer. Ich starrte auf mein Pinnbrett, während es am anderen Ende läutete. Acht, neun. Oh, klar, Freitagabend. Das hatte ich ganz vergessen: Rhes Ausstellungseröffnung in der Axminster-Galerie. Ich holte das Telefonbuch hervor und suchte die Nummer heraus. Diesmal nahm schon beim zweiten Läuten jemand ab, aber im Hintergrund war so ein Krach, dass ich kaum etwas verstand. Ich presste die andere Hand auf mein freies Ohr und konzentrierte mich ganz auf das, was aus dem Hörer kam. Ich fragte nach Tippy, erzielte jedoch erst eine Reaktion, als ich mein Ansinnen mit doppelter Lautstärke und Frequenz wiederholte. Der Typ am anderen Ende meinte, er würde sie holen. Ich wartete, hörte Gelächter und Gläserklirren. Hörte sich an, als hätten sie dort weit mehr Spaß als ich...
»Hallo?«
»Hallo, Tippy? Hier ist Kinsey. Hören Sie, ich weiß, es ist ein ungünstiger Moment, aber ich habe gerade noch einmal darüber nachgedacht, was in der Nacht geschah, als Ihre Tante ermordet wurde. Kann ich Ihnen kurz ein paar Fragen stellen?«
»Jetzt?«
»Wenn irgend möglich. Mich interessiert die Zeit zwischen Ihrem Unfall und dem Moment, als Sie David gesehen haben. Was war da?«
Schweigen. »Ich weiß nicht. Na ja, ich bin zu meiner Tante gefahren, aber sonst nichts.«
»Sie waren bei Isabelle?«
»Ja. Ich bin hingefahren. Ich war so durcheinander und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte ihr erzählen, was passiert war, und sie bitten, mir zu helfen. Wenn sie gesagt hätte, ich soll zurückfahren, hätte ich’s getan. Ich schwör’s.«
»Könnten Sie bitte lauter sprechen? Wann war das?«
»Gleich nach dem Unfall. Ich wusste, ich hatte den Mann erwischt. Da bin ich davongerast und direkt zu ihr gefahren.«
»War sie da?«
»Ich glaube schon. Das Licht brannte...«
»Das Licht über der Tür war an?«
»Ja, klar. Ich habe geklopft und geklopft, aber sie ist nicht heruntergekommen.«
»War der Spion noch heil?«
»Ich habe nicht darauf geachtet. Nachdem ich geklopft hatte, bin ich ums Haus herumgegangen, aber es war alles zu. Also bin ich wieder in meinen Wagen gestiegen und nach Hause gefahren.
»Über den Freeway?«
»Klar. Ich bin an der Little Pony Road draufgefahren.«
»Und am San Vicente wieder runter.«
»Ja, genau«, sagte sie. »Wieso, ist etwas?«
»Nein, nichts weiter. Es grenzt den Todeszeitpunkt genauer ein, aber ich wüsste nicht, was das ausmachen sollte. Jedenfalls vielen Dank. Und wenn Ihnen noch was einfällt, rufen Sie mich doch bitte an.«
»Klar. War’s das?«
»Vorerst ja«, sagte ich. »Sind Sie schon bei der Polizei gewesen?«
»Nein, aber ich habe mit der Anwältin geredet, und sie geht gleich morgen Früh mit mir hin.«
»Gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Wie ist die Eröffnung?«
»Ganz toll«, sagte sie. »Die Leute sind total begeistert. Sie flippen richtig aus. Mom hat schon sechs Objekte verkauft.«
»Großartig. Freut mich für sie. Ich hoffe, sie verkauft ihre Sachen tonnenweise.«
»Ich muss jetzt gehen. Ich rufe Sie morgen an.«
Mein Abschiedsgruß ging bereits ins Leere.
Das Telefon klingelte, ehe ich die Hand zurückgezogen hatte. Ich schnappte den Hörer, in der Annahme, Tippy sei noch etwas eingefallen. »Hallo?«
Ein seltsames, atmendes Schweigen, dann eine Männerstimme: »Hey, Kinsey?« Dann wieder das Geatme.
»Ja.« Ich kniff die Augen zusammen, presste wieder die Finger auf das andere Ohr und horchte jetzt so angestrengt auf die Stille wie eben auf das fröhliche Getöse. Der Typ weinte. Nicht laut. Es war die Sorte Weinen, die herauskommt, wenn man die Tränen zu unterdrücken versucht. Die Luft suchte sich einen Umweg um seine Stimmbänder herum. »Kinsey?«
»Curtis?«
»Mm-hmm. Ja.«
»Was ist los? Ist da jemand bei Ihnen?«
»Mir geht’s gut. Wie geht’s Ihnen?«
»Curtis, was ist? Ist da jemand bei Ihnen?«
»Ganz recht. Hören Sie, weswegen ich anruf — können wir uns treffen und über etwas reden?«
»Wer ist es? Sind Sie okay?«
»Können wir uns treffen? Ich muss Ihnen was sagen.«
»Was ist los? Können Sie mir sagen, wer bei Ihnen ist?«
»Kommen Sie zum Vogelschutzgebiet, dann erklär ich’s Ihnen.«
»Wann?«
»Gleich, wenn’s geht.«
Ich musste mich rasch entscheiden. Ich konnte ihn nicht mehr länger hinhalten. Der Mithörer würde unleidlich werden. »Okay. Wird aber ein Weilchen dauern. Ich liege schon im Bett und muss mich erst anziehen. Ich komme so schnell wie möglich hin. Kann aber zwanzig Minuten dauern.«
Die Leitung erstarb.
Es war noch nicht neun, aber das Vogelschutzgebiet war abends ziemlich gottverlassen. Es lag in einer Süßwasserlagune an einer wenig frequentierten Stichstraße zwischen Freeway und Strand. Der Parkplatz für zwanzig Wagen wurde in der Regel von Touristen benutzt, die auf der Jagd nach einem »Motiv« waren. Auf der anderen Straßenseite stand ein Gasthaus, das aber im Moment nicht bewirtschaftet war. Allein und unbewaffnet würde ich da nicht hingehen. Ich griff wieder zum Telefon, rief beim Polizeirevier an und verlangte Sergeant Cordero.
»Bedaure, aber die kommt erst morgen Früh um sieben wieder.«
»Können Sie mir sagen, wer bei der Mordkommission Dienst hat?«
»Ist das ein Notfall?«
»Noch nicht«, sagte ich schnippisch.
»Ich kann Sie mit dem Dienst habenden Einsatzleiter verbinden.«
»Vergessen Sie’s. Schon gut. Ich versuch’s woanders.« Ich drückte auf die Gabel und klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter, während ich in meinem privaten Adressbuch blätterte. »Woanders« war bei Sergeant Jonah Robb, einem Beamten der Vermisstenabteilung der Stadtpolizei von Santa Teresa. Wir hatten ein sporadisches Verhältnis gehabt, das von den Launen seiner Frau diktiert worden war. Die beiden lebten in einer hoch dramatischen Uralt-Ehe. Sie hatten sich mit dreizehn in der siebten Klasse kennen gelernt und seither, meiner persönlichen Meinung nach, nicht viel dazugelernt. Camilla pflegte ihn in Abständen zu verlassen — gewöhnlich ohne Vorankündigung oder Erklärung und unter Mitnahme beider Töchter sowie des gesamten Betrages auf dem gemeinsamen Bankkonto worauf Jonah schwor, dies sei endgültig das letzte Mal. Während einer dieser ehelichen Turbulenzen hatte ich die verwaiste Bühne betreten. Ich war die zweite Besetzung, eine Rolle, die mir, wie ich bald feststellte, überhaupt nicht lag. Schließlich hatte ich den Kontakt abgebrochen. Ich hatte fast ein Jahr nicht mehr mit Jonah gesprochen, aber er war immer noch jemand, von dem ich glaubte, dass ich in der Not auf ihn zählen konnte.
Es meldete sich eine Frau mit einer Schlafzimmerstimme, vermutlich Camilla oder ihre derzeitige Vertretung. Ich fragte nach Jonah und hörte, wie der Hörer weitergereicht wurde. Sein »Hallo« klang ziemlich groggy. Mein Gott, diese Leute gingen noch früher ins Bett als ich. Ich nannte meinen Namen, was ihn etwas wacher zu machen schien.
»Was ist los?«, fragte er.
»Ich störe dich wirklich ungern, Babe, aber ein kleiner Ganove namens Curtis McIntyre hat gerade bei mir angerufen und mich gebeten, so schnell wie möglich ins Vogelschutzgebiet zu kommen, um mit ihm zu reden. Ich vermute, jemand hat ihm eine Pistole an die Schläfe gehalten. Ich brauche Rückendeckung.«
»Hast du eine Ahnung, wer bei ihm ist?«
»Das weiß ich noch nicht, und die Sache ist zu kompliziert, um sie dir am Telefon zu erklären.«
»Hast du eine Waffe?«
»Die liegt in meinem Büro in Lonnie Kingmans Kanzlei. Ich will noch schnell hinüberfahren, um sie zu holen. Das dauert höchstens fünfzehn Minuten, dann sause ich hinunter zum Strand. Kannst du mir beistehen?«
»Na ja, ich glaube schon.«
»Ich würde ja jemand anderen bitten, aber mir fällt niemand ein.«
»Schon gut«, sagte er. »Ich bin in fünfzehn Minuten da. Ich fahre ein Stück weiter und komme dann zu Fuß zurück. Dort unten gibt es jede Menge Deckung.«
»Das ist es ja gerade, was mir Sorgen macht«, sagte ich. »Pass auf, dass du nicht über die Kerle stolperst.«
»Keine Bange. Ich kann solche Typen riechen. Bis gleich.«
»Danke«, sagte ich. Dann legte ich auf.
Ich schnappte mir meine Umhängetasche und meine Jacke mit den Wagenschlüsseln und klopfte mir innerlich auf die Schulter, weil ich so umsichtig gewesen war, den VW noch voll zu tanken. Das bisschen Zeit, das mir blieb, würde ich brauchen, um zuerst zum Büro und von dort aus wieder zurück zum Vogelschutzgebiet zu fahren. Wer immer bei Curtis war — er würde sehr gereizt reagieren, wenn ich nicht pünktlich auftauchte. Ich fuhr schneller, als es das Gesetz erlaubte, hielt aber mit einem Auge im Rückspiegel Ausschau nach getarnten Polizeiwagen. Ich konnte nur hoffen, dass ich die Pistole gleich finden würde. Ich war schließlich erst vor fünf Wochen umgezogen und hatte meinen Kram in hastig gepackten Kartons von der California Fidelity zu Lonnie Kingmans Kanzlei geschleppt. Die Pistole hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich sie im Mai erstanden hatte. Ich hatte die Notwendigkeit zuerst nicht einsehen wollen, aber ich wusste, dass jemand meinen Namen ganz oben auf seiner Abschussliste stehen hatte. Als ich dann kapiert hatte, dass ich Hilfe brauchte, war ein Privatdetektiv namens Robert Dietz in mein Leben getreten. Nachdem ich mich erst einmal der Tatsache gestellt hatte, dass mein Leben in akuter Gefahr war, hatte ich endgültig jeden gut-staatsbürgerlichen Ehrgeiz fallen lassen. Dietz hatte darauf bestanden, dass ich mir statt meiner 32er Davis eine Heckler & Koch zulegte. Das verdammte Ding hatte mich ein Vermögen gekostet. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war ich mir auch gar nicht mehr sicher, wo die Davis steckte.
Ich ließ den Wagen vor der Kanzlei auf der Straße stehen und verstaute meine Umhängetasche unter dem Fahrersitz. Es war so gut wie niemand unterwegs, und alle umhegenden Bürogebäude waren schon dunkel, verrammelt und verriegelt. Ich ging durch die dunkle Toreinfahrt nach hinten zu dem kleinen Parkplatz. Lonnies Mercedes war nicht zu sehen, aber aus seinem Büro oben im dritten Stock fiel Licht auf den Asphalt. Na, wunderbar. Er war wieder da. Ich hatte zwar jetzt nicht die Zeit, ihm alles zu erklären, aber es würde sicher nicht schwer sein, ihn dazu zu bringen, mich zu begleiten. Trotz seines ganzen professionellen Habitus ist Lonnie im Grunde seines Herzens ein Draufgänger. Die Aussicht, im Dunkeln durch die Büsche zu schleichen, würde ihn sicher begeistern.
Ich arbeitete mich mit Hilfe des kleinen Taschenlämpchens an meinem Schlüsselbund das stockfinstere Treppenhaus hinauf. Im dritten Stock schien das Licht, das Lonnie vorne in der Anmeldung angemacht hatte, auf den Flur hinaus. Ich ging am Vordereingang vorbei und nahm die Abkürzung durch die nicht beschilderte Tür. Ich sah kurz nach rechts zu Lonnies Tür, die gleich neben meiner lag.
»Hey, Lonnie? Geh nicht weg. Ich brauche deine Hilfe. Ich komm gleich rüber und erzähl’s dir.«
Ich öffnete, ohne auf Antwort zu warten, meine Tür und knipste das Licht an. Mein Büro hatte früher einmal als Teeküche für das Personal gedient, und die ehemalige Speisekammer war jetzt mein Wandschrank. An der hinteren Wand standen fünf Kartons übereinander, alles Dinge, die ich hier offensichtlich noch nicht gebraucht hatte. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, was da drin war. Es gibt Leute, die sagen, wenn man zwei Jahre nach einem Umzug noch eine unausgepackte Kiste hat, sollte man am besten die Heilsarmee anrufen und das verdammte Ding abschleppen lassen. Ich hatte ganz umsichtig auf jeden der Kartons »Bürokram« geschrieben. Ich zerrte jetzt einen hervor, riss das breite braune Klebeband ab und fummelte die Deckelklappen auf. Diese Kiste enthielt meine sämtlichen Einkommenssteuerunterlagen. Ich versuchte es mit der nächsten und stieß auf Rechnungskram. Ah, da. Die Heckler & Koch lag ganz obenauf, noch in ihrem Kästchen, die zwei Schächtelchen mit Winchester Silvertips gleich darunter.
Ich setzte mich auf den Boden und packte die Pistole aus. Ich nahm ein Munitionsschächtelchen heraus, öffnete es und entfernte das kleine, weiße Styroporpolster. Dann lud ich eine Patrone nach der anderen ins Magazin. Als Dietz und ich endlich im Waffengeschäft gestanden hatten, war der nächste erbitterte Streit um die Frage entbrannt, welches Modell ich nehmen sollte: die P7 mit neun Schuss oder die P9S mit zehn. Jeder darf drei Mal raten, welche teurer war. Ich war sowieso schlechter Stimmung gewesen, unkooperativ und stur. Die P7 sollte schon über dreizehnhundert Dollar kosten. Ich hatte an der P9S bekrittelt, sie sei mir viel zu sehr Kanone. Damit meinte ich natürlich, zu teuer, was Dietz auch gleich haarscharf erriet.
Ich hatte gesagt: »Verdammt. Manchmal kann ich doch wohl auch meinen Kopf durchsetzen.«
»Du setzt deinen Kopf sowieso öfter durch, als gut ist«, hatte er gesagt. Jetzt wünschte ich, er hätte ein paar Mal mehr die Oberhand behalten, vor allem in der Frage, ob ich mit nach Deutschland gehen sollte...
Das Licht in meinem Büro ging plötzlich aus, und ich saß im Stockdunkeln. Das Büro hatte kein Außenfenster, und ich sah daher nicht mehr die Hand vor Augen. War Lonnie einfach gegangen? Vielleicht hatte er mich ja nicht kommen hören, dachte ich. Ich schob das Magazin in die Waffe und schlug es mit der flachen Hand hinein. Wenn man sich im Dunkeln zurechtfinden muss, gilt das Gleiche wie bei der Flucht aus einem brennenden Gebäude: Man halte sich möglichst in Bodennähe. Ich steckte die Knarre in meinen Hosengurt und krabbelte ohne Rücksicht auf meine Würde zur Tür. Das war allemal besser, als gegen die Möbel zu rumpeln, aber es würde nicht sehr beeindruckend aussehen, wenn das Licht plötzlich wieder anginge. Meine Bürotür stand offen, und ich spähte in den Flur hinaus. Sämtliche Lichter in der Kanzlei waren erloschen. Was zum Teufel hatte er gemacht, mit einer Gabel in der Steckdose gebohrt? Alles lag in tiefem Dunkel. Ich sagte: »Lonnie?«
Stille. Wie hatte er nur so schnell verschwinden können?
Ich hätte schwören können, dass da eben ein leises Geräusch in der Gegend von Lonnies Büro gewesen war. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht allein war. Es war so ruhig in der Kanzlei, dass die Stille von sonst nicht hörbaren Geräuschen zu schwirren schien. Trotz der nachtschwarzen Finsternis schloss ich die Augen, in der Hoffnung, besser hören zu können, wenn ich meinen Gesichtssinn ausschaltete. Ich ging in die Hocke und kauerte in meiner Tür, genau gegenüber von den beiden Schreibtischen, wo tagsüber Ida Ruth und eine weitere Sekretärin namens Jill ihren Platz hatten.
Wer war noch da? Und wo? Nachdem ich nun schon zwei Mal meine glockenhelle Stimme hatte erschallen lassen, wussten mit Sicherheit alle Beteiligten, wo ich mich befand. Ich duckte mich tief und robbte los, in Richtung der Lücke zwischen den beiden Schreibtischen jenseits des drei Meter breiten Flures.
Jemand schoss. Der Knall war so laut, dass ich einen Satz machte wie eine Katze, eine dieser wundersamen Bewegungen, bei denen sich alle vier Gliedmaßen gleichzeitig vom Boden zu lösen scheinen. Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich merkte nicht, dass ich schrie, bis ich es hörte. Das Herz hämmerte mir im Hals, und meine Hände kribbelten von der plötzlichen Blutwallung. Ich musste mich nach vorne geworfen haben, denn ich fand mich genau da wieder, wo ich hingewollt hatte, zusammengeduckt, die eine Schulter gegen Ida Ruths Schubladenuntersatz gelehnt. Ich presste die Hand auf den Mund, um das Atemgeräusch zu ersticken. Ich horchte. Der Schütze feuerte offenbar aus Lonnies Büro, ein strategisch günstiger Punkt, weil er mir von dort den Weg zur Anmeldung und zum Vordereingang abschneiden konnte. Es blieb mir nichts als der Rückzug nach hinten, den breiten Flur hinunter, der jetzt links von mir lag. Bis zu dem unbeschilderten Ausgang zum Treppenhausflur waren es etwa fünf Meter. Wenn ich diese Tür erreichte, konnte ich mich dort hinducken, probieren, ob sie offen war, und dann... nichts wie raus. Prima Plan. Ausgezeichnet. Ich musste nur bis dorthin kommen. Das Problem war, dass ich Angst hatte, die Strecke ohne irgendeine Art von Deckung zu riskieren. Wo war Ida Ruths Rollen-Schreibtischstuhl? Das könnte gehen...
Ich streckte vorsichtig die Hand aus und grabbelte auf dem Fußboden nach dem Stuhl. Ich berührte ein Gesicht. Meine Hand zuckte zurück, und meiner Kehle entfuhr ein Laut, als ich nach Luft schnappte. Da lag jemand auf dem Fußboden, gleich neben mir. Ich erwartete schon, dass eine Hand auf mich zuschießen und mich packen würde, aber nichts passierte. Ich streckte den Arm wieder aus und tastete. Fleisch. Ein schlaffer Mund. Ich fühlte das Gesicht ab. Glatte Haut, kräftiges Kinn. Ein Mann. Für Lonnie war er zu dünn, und dass es John Ives oder der dritte Anwalt Martin Cheltenham war, glaubte ich nicht. Es konnte eigentlich nur Curtis sein, aber was zum Teufel machte er hier? Er war noch warm, aber seine Wange klebte vor Blut. Ich legte meine Hand auf seinen Hals. Kein Puls. Ich befühlte seinen Brustkorb. Er regte sich nicht. Sein Hemd war vorne nass. Er musste von hier aus angerufen haben. Wahrscheinlich hatte ihn jemand gleich danach erschossen, in Erwartung meines Kommens. Dieser Jemand kannte mich besser, als ich gedacht hatte... gut genug, um zu wissen, wo ich meine Pistole liegen hatte... gut genug, um zu wissen, dass ich mich niemals zu einem abgelegenen Treffpunkt begeben würde, ohne vorher hier vorbeizukommen.
Ich tastete hinter mich und stieß auf eine der robusten Rollen von Ida Ruths Stuhl. Ich blinzelte angestrengt ins Dunkel, als mir plötzlich ein anderer Gedanke kam. Wenn ich ein funktionierendes Telefon fand, konnte ich 911 wählen und es einfach nur bei der Notrufzentrale klingeln lassen. Auch wenn ich nichts sagte, würde der Computer meine Adresse anzeigen, und sie würden jemanden schicken, um nachzusehen. Hoffte ich.
Ich richtete mich so weit auf, dass ich auf Knien über die Schreibtischplatte neben mir linsen konnte. Jetzt, da meine Augen sich allmählich an das Dunkel gewöhnten, konnte ich verschiedene Abtönungen unterscheiden: das dunkelanthrazitfarbene Rechteck eines Türrahmens, die Quaderform eines Aktenschranks. Ich tastete mit der Hand über die Tischplatte, ganz, ganz behutsam, um nur ja nirgends anzustoßen, bloß nichts umzuwerfen. Ich fand das Telefon. Ich hob vorsichtig den ganzen Apparat an und bugsierte ihn über die Schreibtischkante auf den Boden. Ich hob den Hörer ein bisschen an und tastete mit dem Zeigefinger nach der Gabeltaste. Ich führte den Hörer ans Ohr und ließ die Taste langsam los. Nichts. Kein Freizeichen. Kein Lämpchen.
Ich spähte wieder über den Tisch und versuchte, das Dunkel zu durchdringen. Keine Bewegung, keine schamhafte Silhouette in Lonnies Tür.
Ich zog langsam die Pistole aus dem Hosengurt. Ich hatte die H&K noch nie in einem geschlossenen Raum abgefeuert. Ich war mit Dietz noch ein paar Mal auf dem Schießstand gewesen, ehe er abgereist war. Er hatte mich in allen möglichen Schusspositionen gedrillt, bis ich mich geweigert hatte, mich noch länger von ihm herumkommandieren zu lassen. Normalerweise achtete ich ziemlich gewissenhaft darauf, im Training zu bleiben, aber in letzter Zeit war ich schlampig gewesen. Zum ersten Mal ließ ich an mich heran, wie sehr mich die Trennung deprimiert hatte. Vergiss es, Kinsey, reiß dich zusammen. Es war beruhigend, die Pistole in der Hand zu spüren. Zumindest war ich meinem Gegner nicht wehrlos ausgeliefert. Ich entsicherte.
Ich hörte jetzt Atemgeräusche, aber es konnten auch meine eigenen sein.
Ich bereute, dass ich nicht in meinem vergleichsweise sicheren Büro geblieben war. Mein Telefon hing an einem eigenen Anschluss und funktionierte vielleicht noch. Wenn ich es schaffte, über den Flur in mein Büro zurückzukommen, konnte ich wenigstens die Tür zuschließen und den Schreibtisch davor schieben. Dann brauchte ich nur noch bis zum Morgen durchzuhalten. Die Putzkolonne würde bestimmt schon früh kommen. Vielleicht würde ich ja auch schon eher gerettet werden, wenn jemand auf die Idee kam, dass ich hier war. Ich dachte an Jonah. Er würde beim Vogelschutzgebiet warten und sich fragen, was los war. Was würde er tun, wenn ich nicht auftauchte? Wahrscheinlich würde er denken, er hätte mich missverstanden und sei am falschen Ort. Aber die Angabe Vogelschutzgebiet war doch wohl unmissverständlich. Es gab dort nur einen Parkplatz. Ich hatte ihm gesagt, ich würde erst noch hier vorbeifahren, um meine Pistole zu holen, aber er hatte sich so verschlafen angehört. Wer wusste schon, was bei ihm hängen geblieben war und ob es ihm einfallen würde, nach mir zu suchen.
Ich zog Ida Ruths Stuhl näher heran und duckte mich dahinter. Den Stuhl als Schutzschild mitschleppend, kroch ich in Richtung der unbeschilderten Tür. Es krachte ein zweites Mal. Die Kugel schlug mit solcher Wucht in das Polster, dass es mir die Plastiklehne genau ins Gesicht schlug. Ich konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als mir das Blut aus der Nase schoss. Den Stuhl mit mir ziehend, krabbelte ich rückwärts auf die Ausgangstür zu. Ich tastete mich die Türfüllung hinauf, bis ich den Knauf berührte. Abgeschlossen. Wieder krachte ein Schuss. Ein Holzsplitter flog an meinem Gesicht vorbei. Ich drückte mich an die Wand und kroch, die Fußleiste als Bahnmarkierung nehmend, den Fußboden entlang. Ich betete, der Teppichboden möge sich auftun und mich schlucken. Der nächste Schuss schrammte meine rechte Hüfte. Es fühlte sich an, als ob jemand ein riesiges Streichholz an mir anzündete. Ich machte wieder einen Satz, und vor Pein und Verblüffung entfuhr mir ein kurzer Schrei. Der stechende Schmerz sagte mir, dass ich getroffen war.
Ich wälzte mich auf die andere Seite des Flures. Mein einziger Schutz war jetzt das Dunkel. Aber wenn meine Augen sich daran gewöhnten, taten es die meines Gegners auch. Ich feuerte auf Lonnies Tür. Ich vernahm einen kurzen Überraschungslaut. Ich feuerte noch mal und robbte hastig rückwärts den Flur hinunter in Richtung Küche. Meine rechte Hinterbacke brannte, und glühende Funken schossen mein rechtes Bein und meine rechte Flanke hinauf. Ich krabbelte unbeholfener als ein sechs Monate altes Baby. Ich klammerte mich an die Wand und fühlte, wie mir die Tränen kamen, nicht vor Trauer, sondern vor Schmerz.
Ich maße mir gar nicht erst an, die Abläufe im menschlichen Gehirn erklären zu wollen. Ich weiß natürlich, dass die linke Gehirnhälfte verbal, linear und analytisch operiert und die kleinen Probleme des Lebens durch logisches Denken löst. Die rechte Hälfte dagegen arbeitet eher intuitiv, bildhaft, sprunghaft und spontan und liefert die plötzlichen Aha-Erlebnisse und die Antworten auf Fragen, die man sich vielleicht drei Tage vorher gestellt hat. Dafür gibt es keine Erklärung. Wie ich jetzt so im Dunkeln an der Wand kauerte, die Pistole in der Hand, die Lippen fest aufeinander gepresst, um nicht loszuschreien wie ein kleines Mädchen, wusste ich plötzlich mit absoluter Sicherheit, wer da auf mich schoss. Und es machte mich stinksauer. Als der nächste Schuss fiel, drückte ich mich flach auf den Boden. Ich brachte die Pistole mit beiden Händen in den Anschlag und schoss zurück. Vielleicht war es ja Zeit, mich zu offenbaren. »Hey, David?«
Stille.
»Ich weiß, dass Sie’s sind«, sagte ich.
Er lachte. »Ich habe mich schon gefragt, ob Sie’s rauskriegen.«
»Es hat ein bisschen gedauert, aber ich bin draufgekommen«, sagte ich. Es war gespenstisch, so im Dunkeln mit ihm zu reden. Ich konnte mir sein Gesicht nicht recht vorstellen, und das irritierte mich.
»Wie denn?«
»Mir ist aufgefallen, dass da eine Lücke war, zwischen dem Moment, als Tippy den Fußgänger angefahren hat, und ihrer Begegnung mit Ihnen.«
»Ergo?«
»Ergo habe ich sie angerufen und gefragt, wo sie in dieser halben Stunde war. Es stellte sich raus, dass sie zu Isabelles Haus gefahren war.«
Wieder herrschte Schweigen.
Ich fuhr fort: »Sie hatten Isabelle gerade erschossen, als Sie Tippy die Einfahrt entlangkommen hörten. Während sie an der Tür klopfte, sind Sie hinten auf die Ladepritsche gestiegen. Tippy hat Sie mitgenommen, als sie wieder losfuhr. Sie brauchten weiter nichts zu tun als zu warten, bis sie abbremste. Sie springen auf der Beifahrerseite ab und schlagen dabei mit der Faust gegen den Wagen. Tippy biegt links ab, und Sie liegen da auf der Straße, unter den Augen des Reparaturtrupps drüben auf der anderen Seite.«
»Genau. Und Mr. Durchschnittsbürger höchstpersönlich ist mein Zeuge«, ergänzte er jetzt.
»Und Morley? Warum mussten Sie ihn umbringen?«
»Soll das eine Scherzfrage sein? Der alte Schnüffler saß mir im Nacken. Als ich am Mittwoch mit ihm gesprochen habe, war er kurz davor, zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich wusste, wenn ich ihn nicht schleunigst aus dem Weg räumte, war ich geliefert. Die Unterlagen beiseite zu schaffen, war dann ein Klacks. Was den Papierkram anging, war er ja ziemlich schlampig.«
»Woher hatten Sie die Knollenblätterpilze?«
»Aus dem Weidmannschen Garten. Die Dinger haben mich überhaupt erst auf die Idee gebracht. Ich bin nachts zu ihnen rübergegangen und habe ein Dutzend davon gepflückt und meiner Köchin eine kleine Zulage bezahlt, damit sie eine schöne Pastete daraus macht. Sie kann doch Amanita nicht von ihrem Arsch unterscheiden. Ein Glück für sie, dass sie das Zeug nicht erst abgeschmeckt hat.«
»Das muss ich Ihnen lassen: Sie sind ganz schön clever«, sagte ich, während mein Gehirn fieberhaft arbeitete. Hinter mir endete der Flur links um die Ecke in einem kleinen Wurmfortsatz, an dem auf der einen Seite der Kopierraum und auf der anderen die Teeküche lag. Wenn ich bis hinter die Ecke kam, war ich zwar aus der Schusslinie, aber dafür würden sich ein paar andere Probleme stellen, von denen ich nicht wusste, ob ich sie lösen konnte. Erstens würde ich selbst kein übersichtliches Schussfeld mehr haben, und zweitens würde ich in der Falle sitzen. Aber in der Falle saß ich so auch. Die Küche hatte ein kleines Fenster. Wenn ich bis dorthin kam, würde ich mit etwas Glück die Scheibe herausschlagen und um Hilfe schreien können. Vielleicht hatte ja keiner unser kleines Duett für zwei Pistolen gehört. Wenn ich ihn dazu bringen konnte weiterzureden, würde er es vielleicht nicht mitkriegen, wenn ich meine Position wechselte. »Ich finde es erstaunlich, dass Ihnen nicht irgendwann unterwegs ein Fehler unterlaufen ist«, sagte ich. Solange ich hier in der Klemme saß, konnte ich ebenso gut versuchen, ihn ein bisschen auszuhorchen.
Zögernd sagte er: »Einer ist mir unterlaufen.«
»Echt? Wann?«
»Einen Abend habe ich mich mit Curtis besoffen und dann mein großes Maul nicht halten können. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass mir das passiert ist. Sobald es raus war, wusste ich, dass ich ihn irgendwann beseitigen musste.«
»Großer Gott«, sagte ich. »Soll das etwa heißen, dass er tatsächlich einmal die Wahrheit gesagt hat?«
Barney lachte im Dunkeln. »Ganz und gar. Er dachte, das müsste sich doch irgendwie zu Geld machen lassen. Er ist direkt zu Ken Voigt marschiert und hat es weitergetratscht. Und Voigt hat prompt angefangen, ihm Geld zu geben, um ihn sich als Zeugen zu sichern. Dieser Idiot.«
Ich schloss die Augen. Voigt war ein Idiot. So wild entschlossen, seinen Prozess zu gewinnen, dass er seine eigene Glaubwürdigkeit riskierte. »Und was ist mit mir? Steckt hinter dieser ganzen Sache hier irgendeine Absicht, oder tun Sie das alles nur aus Jux?«
»Wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich will Sie dazu bringen, Ihre Munition zu verschießen, damit ich Sie dann erledigen kann. Ich habe Curtis mit einer H&K erschossen, so einer wie die, die Sie da haben. Für Sie werde ich die Achtunddreißiger nehmen, die ich bei Isabelle benutzt habe, und die werde ich ihm dann in die Hand drücken. Auf diese Weise wird es aussehen, als hätte er Sie erschossen...«
»Und ich ihn«, vollendete ich seinen Satz. »Schon mal was von Ballistik gehört? Sie werden herauskriegen, dass die Kugel nicht aus meiner Waffe stammt.«
»Bis dahin bin ich weg.«
»Schlau.«
»Sehr schlau«, sagte er, »was man von den meisten Leuten nicht behaupten kann. Die Menschen sind wie Ameisen. So eifrig, so vollauf mit ihrer kleinen Welt beschäftigt. Gucken Sie sich einmal einen Ameisenhaufen an. So ein Gekrabbel. Man sieht genau, dass das aus der Ameisenperspektive alles furchtbar wichtig scheint. Ist es aber nicht. In Wirklichkeit ist es völlig schnuppe. Sind Sie schon einmal auf eine Ameise getreten? Haben Sie schon einmal eine mit dem Daumen zerquetscht? Da leidet man doch nicht weiter unter Gewissensbissen. Man denkt, ha, erwischt. Und genauso ist das bei Menschen auch.«
»Du meine Güte. Das ist ja wirklich tiefsinnig. Ich schreibe mit.«
Das brachte ihn auf die Palme, und er feuerte zwei Kugeln ab, die sich rechts von mir in den Teppichboden bohrten. Ich zahlte sie ihm beide heim, einfach nur aus Daffke.
»Sie sind so naiv«, sagte er. »Sie halten sich für ungeheuer abgebrüht, aber Sie haben sich so leicht übertölpeln lassen.«
»Keine voreiligen Schlüsse«, sagte ich. Ich glaubte, seinen Kopf in Lonnies Tür auftauchen zu sehen. Ich schoss noch zwei Mal.
Er verschwand. »Daneben.«
»Sehr bedauerlich.« Ich zog das Magazin heraus und zählte die Patronen per Fingerspitzengefühl. Die ganze schöne Munition drüben in meinem Büro.
»Irgendwelche Probleme da drüben?«
»Ich habe mir einen Fingernagel abgebrochen.«
Er schwieg einen Moment. »Seien Sie sparsam mit Ihrer Munition. Sie haben nur noch einen Schuss.«
»Quatsch. Ich habe noch zwei.«
Er lachte ins Dunkel. »Na, klar. Nichts da.«
Ich schwieg. Dann sagte ich: »Was macht Sie da so sicher?«
»Ich kann doch zählen.«
Ich ließ kurz den Kopf auf den Boden sinken und sammelte meine letzten Kräfte. Zeit, in die Gänge zu kommen, dachte ich. Ich streifte meinen linken Schuh ab und stellte ihn vorsichtig vor mir auf den Boden. Dann streifte ich den rechten ab, wobei mir vor brennendem Schmerz in der Hüfte die Augen wegkippten. Ich fühlte, wie sich eine seltsame Taubheit über meiner einen Seite ausbreitete, und bekam es nicht auf die Reihe, wie sich Schmerz und Garnichts ein und dieselbe Nervenbahn teilen können. »Es waren erst sieben«, sagte ich.
»Es waren acht.«
»Meine ist zehnschüssig«, sagte ich bedächtig. Ich begann, vorsichtig auf die Flurecke zuzurobben.
»Zehnschüssig. So ein Schwachsinn. Sie sind ein verlogenes Stück«, sagte er.
»Ach, ja? Was für eine Waffe haben Sie denn?«
»Eine Walther. Achtschüssig. Ich habe noch zwei.«
»Nein, haben Sie nicht. Sie haben noch einen. Ich kann auch zählen, Mr. Maulheld.« Ich schob mich, mit dem Fuß nach hinten tastend, zentimeterweise rückwärts, immer näher an die Ecke heran. David Barney schien meine Positionsveränderung nicht zu bemerken.
»Mich können Sie nicht verarschen. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Ich weiß alles über Sie.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich. Ich erreichte die Ecke und schob mich um sie herum, bis nur noch ein Stück von meinem Oberkörper auf der Flurseite war. David Barney war jetzt etwa zehn Schritt von mir entfernt. Ich lag auf der rechten Seite, und meine Jeans waren blutdurchtränkt. Ich sah an mir herunter. Meine Hüfte glühte. Ich stemmte mich auf den einen Ellbogen hoch. Ich hatte mit meinem vollen Gewicht auf meinem Schlüsselbund gelegen und dadurch die kleine Taschenlampe aktiviert, die wie ein abgeplattetes Oval geformt war und auf Druck reagierte. Ich zog vorsichtig die Schlüssel aus meiner Jeanstasche und fummelte das Lämpchen vom Ring. Dann schob ich die Schlüssel seitwärts von mir, voller Angst, sie könnten klimpern.
»Zum Beispiel Ihre Lügerei. Da sind Sie doch mächtig stolz drauf.«
»Woher wissen Sie das?«
»Man kommt eben herum. Es ist wirklich erstaunlich, was man im Gefängnis so alles aufschnappt.«
»Ich wette, Sie sind auch kein Waisenknabe, was das Lügen angeht«, sagte ich. »Wahrscheinlich haben Sie neun Schuss.«
Er schien tatsächlich geschmeichelt. »Wer weiß?«, sagte er.
»Wieso wussten Sie so genau, dass ich hierher kommen würde?« Ich stemmte mich auf Hände und Knie hoch.
»Wissen Sie das noch nicht? Sie haben Curtis doch selbst gesagt, dass Sie Ihre Pistole hier liegen haben. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass er Sie zum Vogelschutzgebiet bestellt. Ich wusste, dass Sie da niemals ohne Ihre Knarre hingehen würden.«
Bring es hinter dich, sagte ich mir. Ich richtete mich in eine halbe Hockposition auf, wie ein Läufer am Start. In meinem Hintern zuckte Schmerz.
Ich hörte ihn hinter mir sagen: »Sind Sie noch da?«
Ich antwortete nicht.
»Wo sind Sie?«
Ich hinkte auf meinen bestrumpften Füßen, so schnell ich konnte, zum Eingang der Teeküche. Von dem Licht draußen war der Raum dumpfgrau erhellt. Ein Blick sagte mir, dass es hier kein Versteck gab. Ich machte kehrt und hastete zum Kopierraum gegenüber. Ich schlich mich in die entfernteste Ecke und kauerte mich neben den Kopierer, den Rücken zur Wand. Das rechte Bein zu beugen tat so weh, dass ich die Zähne fest zusammenbeißen musste. Ich schaffte es, mich hinzusetzen, die Pistole in der rechten Hand und das Taschenlämpchen in der linken. Meine Hände waren glitschig vor Schweiß und meine Finger kalt.
»Kinsey?« Aus dem Flur. Gleich würde er dahinter kommen, wo ich war, und mir nachsetzen.
Ich saß zwischen Kopierer und Wand gequetscht, die Knie angezogen. Ich wollte so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten, aber hier in diesem Eckchen zu hocken war vielleicht doch nicht die beste Idee. Eine Kugel, und es würde mich gleich ganz erwischen.
»Hey!«, sagte er. »Ich rede mit Ihnen.« Ich hörte, dass er sich noch immer in der Gegend von Lonnies Büro befand. Der Mann war eindeutig sauer.
Ich versuchte, leiser zu atmen.
Er schoss.
Trotz des Flures und der Ecke zwischen uns fuhr ich zusammen. Nummer acht. Wenn er wirklich nur acht Schuss hatte, war ich fein raus. Hatte er neun, war ich geliefert. Wenn er erst einmal dahinter kam, wo ich steckte, war ich eine leichte Beute. Es war zu spät, anderswohin zu flüchten. Ich merkte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach, dieses flaue Gefühl, das einen überkommt, bevor man ohnmächtig wird. Ich rieb meine Wange an meinem Ärmel. Angst legte sich über mich in eisigen Schwaden, strich mein Rückgrat entlang.
Das Gefühl, gleich zu sterben, ist gleichzeitig trivial und schrecklich, absurd und unendlich schmerzlich. Das Ich klammert sich ans Leben. Das Selbst lässt los, bereit zum freien Fall, bereit, sich davonzuschwingen. Wenn ich etwas bedauerte, dann die schlichte Tatsache, dass ich nicht mehr mitbekommen würde, wie alles ausging. Würden William und Rosie sich wirklich ineinander verlieben? Würde Henry neunzig werden? Würde Lonnie das ganze Blut je wieder aus seinem Teppich kriegen?
So vieles, was ich nicht gemacht hatte. So vieles, was ich nie mehr würde machen können. Blöd, einfach so zu sterben, aber auf der anderen Seite, warum nicht?
Ich holte zwei Mal tief Luft, versuchte mit aller Kraft, klar im Kopf zu bleiben. Draußen in der kleinen Diele, ziemlich nah, hörte ich David Barneys Stimme. »Kinsey?« Er sah in die Küche, genau wie ich es eben getan hatte, und sah, dass es dort kein Versteck gab. Wahrscheinlich hatte er die Räumlichkeiten schon erkundet, während er auf mich gewartet hatte. Ihm musste klar sein, dass nur noch der Kopierraum blieb. Ich hörte sein flaches Atmen.
»Hey. Sind Sie da drin? Jetzt wird sich zeigen, wer von uns der größere Lügner ist. Habe ich noch einen Schuss, oder habe ich keinen mehr?«
Ich sagte nichts.
»Und wie steht’s mit der Dame? Sie behauptet, sie hat noch zwei. Lügt sie, oder sagt sie die Wahrheit?«
Meine Hände zitterten so heftig, dass ich die Pistole nicht ruhig halten konnte. Ich zielte in Generalrichtung Tür und schoss.
Sein »Oh« war schmerzerfüllt. Er gab einen Summlaut von sich, der mir sagte, dass ich ihn getroffen hatte und dass es wehtat. Gut. Jetzt waren wir zu zweit. Er schlurfte in den Raum. »Macht neun«, sagte er. Seine Stimme klang grimmig und lächerlich und theatralisch. Er veralberte mich. »Sind Sie bereit, aus diesem Leben zu scheiden?«
»Bereit ist übertrieben, aber überrascht wäre ich auch nicht.« Ich hielt die kleine Taschenlampe in der linken Hand und drückte fest darauf. Sie gab nur ein klitzekleines Licht, aber es reichte, dass ich ihn sehen konnte. »Und Sie?«, sagte ich. »Überrascht?« Ich feuerte aus nächster Nähe auf ihn und studierte dann den Effekt.
Es war sehr lehrreich. Wenn im Film auf jemanden geschossen wird, haut es ihn entweder einen halben Meter zurück oder er kommt weiter auf einen zu, als wäre nichts, raus aus der Badewanne, hoch vom Fußboden, manchmal schon so durchsiebt, dass das Hemd rot gesprenkelt ist. In Wirklichkeit ist es so: Wenn jemand getroffen wird, tut es höllisch weh. Das konnte ich jetzt mit eigenen Augen verfolgen. David Barney blieb keine andere Wahl, als mit dem Rücken an der Wand hinunterzugleiten und dazusitzen und über das Leben nachzudenken. Auf seiner linken Brustseite bildete sich ein nassroter Fleck, der sein Hemd ruinierte und seine Miene von blasierter Selbstgefälligkeit in konsterniertes Starren umschlagen ließ.
Ich musterte ihn einen Moment und sagte dann: »Ich habe ja gesagt, ich habe zehn.«
Aber es schien ihn nicht zu interessieren. Ich rappelte mich auf die Füße, wobei ich einen klebrigen Handabdruck auf dem Kopierer hinterließ. Ich ging hinüber zu der Wand, an der er lehnte. Ich beugte mich hinunter und nahm ihm die Pistole ab, die er mir widerstandslos überließ. Ich prüfte das Magazin. Eine Patrone steckte noch darin. Sein Blick war jetzt leer, und seine Finger öffneten sich langsam, als er sein Leben fahren ließ. Etwas, das mir vorkam wie eine Motte, flatterte ins Dunkel davon. Ich humpelte hinaus auf den Flur und leuchtete mit meinem Taschenlämpchen die Wand ab, bis ich den Feuermelder fand. Ich schlug die Glasscheibe ein und zog den Hebel.