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Ich versuchte Sergeant Cordero bei der Mordkommission zu erreichen. Sie war nicht da, und Lieutenant Becker war am Apparat. »Hi, hier ist Kinsey. Ich brauche eine Information und hatte gehofft, Sheri könnte mir helfen.«
»Sie kommt erst nach drei wieder, aber vielleicht kann ich ja was für Sie tun. Worum geht’s?«
»Ich wollte sie bitten, im Bezirksgefängnis anzurufen und zu veranlassen, dass sich mal jemand die Entlassungsformulare eines Burschen namens Curtis McIntyre anguckt.«
»Augenblick. Ich brauche nur einen Stift. McIntyre war der Name?«
»Genau. Das ist ein Informant, den Lonnie Kingman vor Gericht als Zeugen befragen will. Ich muss wissen, ob er am einundzwanzigsten Mai vor fünf Jahren im Gefängnis saß. Das ist der Tag, an dem er angeblich mit dem Beklagten gesprochen haben will. Ich kann mir die Information auch auf dem offiziellen Weg beschaffen, aber es ist wahrscheinlich nur ein Schlag ins Wasser, und ich habe keine Lust, den ganzen Aufwand auf mich zu nehmen.«
»Kann nicht so schwer sein, das rauszukriegen. Ich rufe Sie wieder an, wenn ich es habe, wird aber vielleicht ein Weilchen dauern. Ich hoffe, es ist nicht brandeilig.«
»Je schneller, desto besser.«
»Ist das nicht immer so?«, meinte Lieutenant Becker.
Als ich wieder aufgelegt hatte, dachte ich über die Situation nach. Ich überlegte, ob es keinen schnelleren Weg gab, die Sache nachzuprüfen. Natürlich konnte ich bis zum Nachmittag warten, aber die Sache würde mir ständig im Kopf herumspuken. David Barneys Anruf hatte mich beunruhigt und aus dem Konzept gebracht. Ich hatte keine Lust, meine Zeit damit zu verschwenden, etwas zu überprüfen, was er sich vermutlich nur ausgedacht hatte. Aber auf der anderen Seite baute Lonnie auf Curtis McIntyres Zeugenaussage. Wenn Curtis McIntyre log, waren wir aufgeschmissen, vor allem, wenn sich gleichzeitig auch noch Morleys Recherchen in Luft auflösten. Das war mein erster Job für Lonnie. Ich konnte es mir nicht gut leisten, schon wieder gefeuert zu werden.
Ich ließ noch einmal mein Gespräch mit Curtis im Gefängnis Revue passieren. Seiner Darstellung nach hatte er David Barney am Tag des Freispruchs unmittelbar vor der Tür des Gerichtssaals abgefangen. Auf David Barneys Anwalt Herb Foss könnte ich wohl kaum zählen, wenn es darum ging, Curtis Aussage zu untermauern, aber vielleicht gab es einen anderen Zeugen für diese Begegnung? All die vielen Journalisten mit ihren Kameras und Mikrofonen.
Ich schnappte mir meine Jacke und meine Umhängetasche, verließ die Kanzlei und trabte zwei Ecken weiter zu der Nebenstraße, wo es mir schließlich gelungen war, mein Auto in eine freie Parklücke zu quetschen. Ich nahm den Capilla Boulevard zur anderen Seite der Stadt, mitten durch das Geschäftsviertel, und fuhr den Berg jenseits des Freeway hinauf.
KEST-TV lag noch auf dieser Bergseite. Von dem Steilabhang, auf dem das Sendergebäude thronte, hatte man ein halbkreisförmiges Panorama über Santa Teresa vor sich: auf der einen Seite Berge, auf der anderen den Pazifik. Es gab Stellplätze für etwa fünfzig Autos, und ich parkte meinen Wagen auf einer als Besucherparkplatz ausgewiesenen Stellfläche. Ich stieg aus und blieb kurz stehen, um den Blick zu genießen. Der Wind strich durch das trockene Gras auf dem Hang. In der Ferne erstreckte sich das helle Meer bis zum Horizont. Es sah glatt aus und seltsam flach.
Ich musste an die Geschichte denken, die mir einmal ein Meeresarchäologe erzählt hatte. Er hatte gesagt, es gebe Hinweise auf primitive menschliche Siedlungen dort draußen, die jetzt unter Wasser lagen, ursprünglich aber an sumpfigen Flussmündungen oder Arroyos errichtet worden waren. Im Lauf der Zeit hatte das Meer immer wieder Gefäßscherben, Mörser, Muschelschmuck und andere Gegenstände angespült, wahrscheinlich von alten Friedhöfen und Mülldeponien entlang der mittlerweile versunkenen Küste. Die Legenden der Chumash-Indianer berichten, dass einmal das Meer zurückgewichen und über Stunden draußen geblieben sei. Ein Haus sei an der Wasserlinie aufgetaucht... ein, zwei Meilen weit draußen... eine wundersame Hütte. Die Leute seien am Strand zusammengelaufen, unter staunendem Gemurmel. Dann sei das Wasser noch weiter zurückgewichen und ein zweites Haus aufgetaucht, aber die Augenzeugen hätten sich zu sehr gefürchtet, um näher heranzugehen. Nach und nach sei das Wasser wiedergekommen, und die beiden Gebäude seien in der langsam steigenden Flut verschwunden.
Die Geschichte hatte etwas Gespenstisches — Geister des Holozän, die für einen Moment eine längst allen Blicken entzogene Wohnstätte freilegten. Ich hatte mich schon manches Mal gefragt, ob ich mich wohl über das freigelegte Stück Meeresboden dort hinausgetraut hätte. Etwa eine halbe Meile weit draußen fiel der Grund ab wie die Flanke eines Gebirges, und unterseeische Felsenkliffs stürzten steil ab zu einem Canyon. Ich stellte mir die Sedimentschicht auf dem Grund des Ozeans vor, dumpfgrau wegen des fehlenden Lichts, uneben und pockennarbig von all den stumpfen, steinigen Schätzen. Die Zeit deckt die Wahrheit zu, und an der Oberfläche weist nicht einmal mehr ein leichtes Gekräusel auf all die Ebenen und Täler in der Tiefe hin. Auch jetzt, nur sechs Jahre nach diesem Mord, war vieles verschüttet und versunken. An mir war es, die Fundstücke aufzusammeln, die an die Gestade der Gegenwart gespült wurden, beunruhigt bei dem Gedanken an die unentdeckten Schätze dort unten, wo man sie gerade nicht mehr erreichen konnte.
Ich drehte mich um und ging ins Sendergebäude, einen einstöckigen Steinbau, unscheinbar sandfarben verputzt und strotzend von Antennen aller Art. In der Eingangshalle empfingen mich ein hellblauer Teppichboden und die Sorte »Schwedenmöbel«, wie man sie in einem gehobenen Studentenzimmer findet. Die Weihnachtsdekoration wurde gerade angebracht: ein künstlicher Baum in der einen Ecke, auf einem Stuhl ein Stapel Kartons mit Schmuck. An der Wand zu meiner Rechten waren diverse Fernsehpreise ausgestellt wie Bowling-Trophäen. In einem Farbfernseher lief eine Vormittags-Spielshow, bei der es offenbar darum ging, eine Reihe prominenter Persönlichkeiten zu erraten, die mit Vornamen allesamt Andy hießen.
An der Anmeldung saß ein hübsches Mädchen mit langem dunklen Haar und lebhaftem Make-up. Auf ihrem Namensschildchen stand »Tanya Alvarez«. »Rooney!«, rief sie, die Augen auf den Fernseher geheftet. Ich wandte mich um und sah auf den Bildschirm. »Andy Rooney« war richtig, und das Publikum applaudierte. Jetzt kam der nächste Hinweis, und sie sagte: »Ach, verflixt, wer ist das? Wie heißt er doch gleich? Andy Warhol!« Wieder richtig, und sie errötete vor Befriedigung. Sie sah zu mir herüber. »Ich könnte bei dieser Show ein Vermögen machen, aber wahrscheinlich käme gerade an dem Tag irgendein Gebiet, von dem ich keine Ahnung habe. Kugelfische oder exotische Pflanzen. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht. Ich würde mir gern altes Nachrichtenmaterial von vor fünf Jahren ansehen, falls Sie so etwas haben.«
»Aus unserem Archiv?«
»So hatte ich es mir gedacht. Es geht um das Urteil in einem Mordprozess hier in Santa Teresa, und ich nehme ziemlich sicher an, dass Sie darüber berichtet haben.«
»Augenblick. Ich werde mal nachsehen, ob Ihnen jemand dahinten weiterhelfen kann.« Sie wählte ins Innere des Gebäudes durch und schilderte dem Jemand am Apparat mein Anliegen. »Leland kommt in fünf Minuten«, sagte sie.
Ich dankte ihr und vertrieb mir die Wartezeit, indem ich ein wenig herumwanderte, vom Vordereingang, der zum Parkplatz hinausging, zu der automatischen Glastür am anderen Ende der Empfangshalle, die den Blick auf eine große Terrasse mit weißen Gussplastik-Stühlen freigab. Um die Terrasse zog sich wie im 30-Kino das Panorama der Stadt. Ich konnte mir vorstellen, wie die Beschäftigten des Senders dort draußen in der heißen Sonne Mittagspause machten — die Frauen mit dezent hochgezogenem Rock, die Männer ohne Hemd. Eine große Antennenschüssel beherrschte das Blickfeld. Die Luft sah von hier oben dunstig aus...
»Ich bin Leland. Was kann ich für Sie tun?«
Der Typ, der durch die Tür hinter mir aufgetaucht war, musste Ende zwanzig sein und hatte bestimmt einen Zentner Übergewicht. Ein Mopp aus braunen Locken umrahmte ein Baby-Face mit Drahtbrille, klaren, blauen Augen und roten Backen ohne jeden Bartwuchs. Mit einem Namen wie Leland war er wirklich geschlagen. Er sah aus wie jene Sorte kleiner Jungen, die vom ersten Schultag an von den Mitschülern gepiesackt werden: zu intelligent und zu dick, um von den unbedachten Grausamkeiten der anderen Mittelschichtskinder verschont zu bleiben.
Ich stellte mich vor, und wir gaben uns die Hand. Ich erklärte so kurz und bündig wie möglich, warum ich hier war. »Und da dachte ich mir, wenn am Tag des Freispruchs Reporter der lokalen Medien anwesend waren, müsste doch vermutlich auch gefilmt worden sein, wie Barney aus dem Gerichtssaal kam.«
»Okay«, sagte er.
»>Okay<, war eigentlich nicht die Antwort, die ich hören wollte, Leland. Ich hatte gehofft, es gäbe eine Möglichkeit, die alten Nachrichtenspots durchzusehen.«
Leland sah mich verständnislos an. Ich wünschte, die Arbeit eines Privatdetektivs wäre so einfach, wie es im Fernsehen immer dargestellt wird. Ich habe noch nie ein Sicherheitsschloss mit meiner Kreditkarte geöffnet. Ich schaffe es noch nicht einmal, sie in die Türritze zu zwängen, ohne dass sie kaputtgeht. Und was sollte sie bewirken, wenn man sie drinnen hat? Bei den meisten Schlössern, die ich in meinem Leben gesehen habe, ist die schräge Seite des Schnappers innen, so dass es gar nicht möglich ist, eine Kreditkarte daran entlangzuschieben und das Ding zurückzudrücken. Und wenn die schräge Seite schon mal außen ist, macht das Schließblech das Einführen selbst des flexibelsten Instruments einfach unmöglich. Genauso unerbittlich schien sich auch Leland zu sperren.
»Wo liegt das Problem? Heben Sie das Zeug nicht auf?«
»Das schon. Ich bin mir sicher, dass wir eine Kopie des Spots haben, den Sie suchen. Die Bänder sind nach Thema und Datum katalogisiert und mit Querverweisen auf Karteikarten erfasst.«
»Sie haben sie nicht im Computer?«
In seinem Kopfschütteln schwang ein Hauch von Befriedigung. »Die Logistik der Archivierung spielt keine Rolle, weil ich Ihnen das Band ohne offizielle gerichtliche Anordnung sowieso nicht zeigen darf.«
»Ich arbeite für einen Anwalt. Ich kann eine gerichtliche Anordnung beschaffen. Gar kein Problem.«
»Dann tun Sie’s. Ich kann warten.«
»Das glaube ich, aber ich nicht. Ich brauche die Information so schnell wie möglich.«
»Das ist Ihr Problem. Ich kann Ihnen das Band nicht zeigen, solange Sie keine gerichtliche Anordnung haben.«
»Aber wenn ich sie doch später beschaffen kann, wo liegt denn da der Unterschied? Ich bin zur Einsichtnahme berechtigt. Das ist doch der Punkt, oder?«
»Kein Wisch, keine Einsicht. Das ist der Punkt«, sagte er.
Ich kapierte allmählich, warum ihn seine imaginären Klassenkameraden so gerne peinigten. »Vielleicht versuchen wir’s mal so?« Ich zog ein Karteifoto von Curtis McIntyre hervor. »Sie könnten sich doch das Band ansehen und mir sagen, ob dieser Mann da drauf ist. Das ist alles, was ich wissen will.«
Er starrte mich mit jener ausdruckslosen Miene an, die alle erbsenzählenden Bürokraten aufsetzen, während sie sich überlegen, wie wahrscheinlich es ist, dass sie gefeuert werden, wenn sie Ja sagen. »Warum wollen Sie das wissen? Ich habe vorhin nicht richtig zugehört.«
»Dieser Mensch behauptet, er hätte kurz nach der Urteilsverkündung in einem Mordprozess mit dem Freigesprochenen geredet. Er sagt, es sei gefilmt worden, als der Mann aus dem Gerichtssaal kam. Das heißt, wenn er die Wahrheit sagt, müsste er auf den Aufnahmen deutlich zu erkennen sein, nicht wahr?«
»Jaaa«, sagte er langsam. Ich merkte, dass er dachte, da sei irgendein Trick dabei.
»Das ist keine Verletzung irgendwelcher Grundrechte«, sagte ich sachlich-argumentativ. »Könnten Sie nicht mal kurz nachsehen?« Er streckte mir die Hand hin. Ich gab ihm das Karteifoto von Curtis. Er hielt die Hand noch immer ausgestreckt.
Ich starrte ihn einen Moment lang an. »Oh«, sagte ich. Ich öffnete meine Handtasche und zückte meine Brieftasche. Ich fischte einen Zwanziger heraus und drückte ihn ihm in die Hand. Seine Miene veränderte sich nicht merklich, aber mir war klar, dass er beleidigt war. Den gleichen Blick würde man von einem New Yorker Taxifahrer ernten, wenn man ihm ein Zehn-Cent-Stück als Trinkgeld anböte.
Ich blätterte einen weiteren Zwanziger hin. Keine Reaktion. Ich sagte: »So jung und schon so korrupt.«
»Eine Schande, nicht wahr?«, erwiderte er.
Ich legte noch einen Schein drauf.
Er schloss die Hand. »Kommen Sie mit.«
Er wandte sich um und verschwand durch den Durchgang in einen schmalen Korridor. Ich folgte ihm wortlos. Rechts und links gingen Büroräume ab. Gelegentlich passierten wir andere Mitarbeiter in Jeans und Reeboks, aber niemand schien sonderlich beschäftigt. Die Räume wirkten voll gepfropft und verwinkelt, mit zu viel knorzigem Kiefernfurnier an den Wänden und zu vielen billig gerahmten Fotos und Urkunden. Das gesamte Gebäude schien einer Do-it-yourself-Heimverschönerung anheim gefallen, die es später unmöglich macht, es wieder zu verkaufen.
Am jenseitigen Ende des Ganges gelangten wir in einen kleinen Beton-Blinddarmfortsatz mit einer Treppe, die nach oben ins Dachgeschoss führte. In dem Kabuff stand rechterhand ein altmodischer hölzerner Aktenschrank mit einem kleineren Kartei-Aufsatz. Er zog das Schubfach für das fragliche Jahr heraus und begann, die Karteikarten durchzublättern, wobei er zunächst von dem Namen Barney ausging. »Die Field-Tapes haben wir nicht«, bemerkte er, während er weitersuchte.
»Was sind Field-Tapes?«
»Das wären die ganzen zwanzig Minuten Rohmaterial, die unser Mann gefilmt hat. Wir heben nur die anderthalb bis zwei Minuten Endfassung auf, die tatsächlich über den Äther gehen.«
»Ach. Na ja, das würde mir auch schon helfen.«
»Es sei denn, der Typ, den Sie suchen, hätte sich erst dann an den Verdächtigen rangemacht und mit ihm gesprochen, als die Kameras nicht mehr liefen.«
»Leider wahr«, sagte ich.
»Nee. Nichts«, sagte er. »Na gut, sehen wir mal weiter. Unter was könnte es noch stehen?« Er probierte es unter »Mord«, »Prozesse« und »Gerichtsnotizen«, aber Isabelle Barney war nirgends aufgeführt.
»Versuchen Sie’s mal unter >Tötungsdelikte<«, schlug ich vor.
»Oh, heißer Tipp.« Er suchte unter T. Da war es, mit einer Nummer daneben, die sich wohl auf das zugehörige Videoband bezog. Wir stiegen die schmale Treppe hinauf und traten durch eine Tür, die so niedrig war, dass wir die Köpfe einziehen mussten. Drinnen erwartete uns ein Labyrinth aus kleinen, mannshohen Kämmerchen, deren Wände mit säuberlich beschrifteten, senkrecht eingeordneten Videokassetten vollgestellt waren. Leland suchte und fand die Bänder, die wir wollten. Dann führte er mich wieder nach unten und rechts um die Ecke, wo sich vier Kabinen mit Video-Apparaten befanden. Er schaltete das erste Gerät an und legte das Band ein. Der erste Spot erschien auf dem Schirm vor uns. Leland drückte die Schnellvorlauf-Taste. Ich sah die Nachrichten des betreffenden Jahres vorbeirauschen wie die Geschichte der menschlichen Zivilisation in zwei Minuten, alles putzmunter und zackig. Ich erspähte eine Standaufnahme von Isabelle Barney. »Das ist sie«, rief ich.
Leland spulte das Band ein Stück zurück und ließ es dann mit Normalgeschwindigkeit ablaufen. Ein Nachrichtensprecher, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, kommentierte jetzt auf einmal eine Serie zusammenmontierter Filmschnipsel, die schlaglichtartig Isabelles Tod, David Barneys Verhaftung und den anschließenden Prozess illustrierten. Der Freispruch wirkte in dieser kondensierten Form als ein Ergebnis prompter und reibungslos funktionierender Wahrheitsfindung — wohl formuliert, flüssig vorgetragen, im Namen von Recht und Freiheit. David Barney war zu sehen, wie er aus dem Gerichtssaal kam, offenbar etwas benommen.
»Stopp. Das will ich sehen.«
Leland hielt das Band an und ließ mich das Bild eingehend studieren. Barney war in den Vierzigern, mit zurückgekämmtem, hellbraunem, welligem Haar. Er hatte Falten auf der Stirn und um die Augenwinkel, eine gerade Nase und ein verkrampftes Grinsen über künstlich ebenmäßigen Zähnen, ein energisches Kinn und kräftige Hände mit stumpf geschnittenen Fingernägeln. Er war etwas mehr als mittelgroß. Sein Anwalt wirkte im Vergleich zu ihm sehr groß, grau und düster.
»Danke«, sagte ich. Ich merkte erst jetzt, dass ich den Atem angehalten hatte. Leland drückte auf die Abspieltaste, und die Nachrichten wechselten gleich darauf zu einem völlig anderen Thema über. Er gab mir Curtis McIntyres Karteifoto wieder. »Nichts von ihm zu sehen.«
Für das Geld, das ich ihm gegeben hatte, hätte er wenigstens Enttäuschung heucheln können. »Kann es am Kamerawinkel liegen?«, fragte ich.
»Wir haben die Totale und die Nahaufnahme. Sie haben ja gesehen, wie sie allein durch die Tür kommen. Nach dem, was wir hier drauf haben, ist niemand zu ihm hingegangen. Aber wie gesagt, der Typ kann ihn ja angesprochen haben, als nicht mehr gefilmt wurde.«
»Na gut, vielen Dank«, sagte ich. »Dann muss ich mich wohl auf meine andere Quelle stützen.«
Ich ging zu meinem Wagen zurück, ohne recht zu wissen, was ich jetzt tun sollte. Falls sich bestätigte, dass Curtis McIntyre gesessen hatte, wollte ich ihn zur Rede stellen, aber noch war es nicht so weit. Theoretisch hatte ich noch etliche Leute zu befragen, aber David Barneys Anruf hatte mich aus der Bahn geworfen. Ich wollte meine Zeit nicht darauf verwenden, sein Alibi zu untermauern, aber wenn das, was er sagte, stimmte, würden wir ziemlich dumm dastehen.
Ich fuhr die gewundene Straße auf der anderen Bergseite hinunter, bog nach rechts in den Promontory Drive ein, folgte der Küstenstraße und gelangte von hinten wieder nach Horton Ravine. Die nächsten anderthalb Stunden benutzte ich dazu, die Nachbarschaft abzuklappern, um herauszufinden, ob jemand in der Mordnacht zufällig draußen gewesen war. Es war nicht gerade ein berauschendes Gefühl, mich in David Barneys unmittelbarer Nähe zu tummeln, aber ich sah keine andere Möglichkeit, mir Informationen zu beschaffen. So etwas telefonisch anzugehen kann man gleich bleiben lassen. Damit gibt man den Leuten nur die Möglichkeit, einfach einzuhängen, Geschichten zu erfinden oder sich aufzuspielen.
Ein Nachbar war weggezogen, ein anderer gestorben. Eine Frau, die auf einem Nachbargrundstück wohnte, meinte, einen Knall gehört zu haben, hatte sich damals aber nicht weiter darum gekümmert und später Zweifel bekommen, ob es nicht doch etwas anderes gewesen sei. Was zum Beispiel, dachte ich. Vielleicht bin ich ja besonders paranoid, aber wenn ich etwas höre, das wie ein Schuss klingt, sehe ich immer auf die Uhr, um den genauen Zeitpunkt festzuhalten.
Von den Bewohnern der übrigen acht an diesem Straßenstück verstreut liegenden Häuser war niemand in der fraglichen Nacht draußen gewesen, und keiner hatte etwas gesehen. Ich hatte den Eindruck, dass das alles viel zu lange her war, um noch einen Gedanken wert zu sein. Ein Mord, der sechs Jahre zurückliegt, beschäftigt die Fantasie nicht mehr. Sie hatten alle ihre Version der Geschichte schon zu oft erzählt.
Ich fuhr zum Mittagessen nach Hause und ging zuerst kurz in meine Wohnung, um den Anrufbeantworter abzuhören. Es war nichts drauf. Dann ging ich nach nebenan zu Henry. Ich war gespannt auf William.
Henry stand in der Küche, die Arme bis zu den Ellbogen mit Vollweizenmehl bepudert. Er knetete Brotteig. Kleine Klümpchen klebten an seinen Fingern wie Holzkitt. Normalerweise hatten Henrys Backvorbereitungen etwas Meditatives — methodisch, routiniert, beruhigend für den Betrachter. Heute dagegen wirkte sein Geknete grimmig, und in seinem Blick lag etwas Gehetztes. Neben ihm an der Arbeitsplatte stand ein Mann, der sein Zwillingsbruder hätte sein können: groß und schlank, mit dem gleichen schneeweißen Haar, den gleichen blauen Augen, den gleichen aristokratischen Zügen. Die Ähnlichkeit sprang sofort ins Auge. Doch die Unterschiede waren fundamental, fielen aber erst beim zweiten Hinsehen auf.
Henry trug ein Hawaii-Hemd, weiße Shorts und Sandalen, und seine langen Gliedmaßen waren so sehnig und sonnengebräunt wie die eines Langstreckenläufers. William trug einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug, ein gestärktes weißes Hemd und eine Krawatte. Seine Haltung war sehr aufrecht, fast steif, als müsste er damit eine allgemeine Schwäche kompensieren, von der ich bei Henry nie etwas gemerkt hatte. William hielt eine Broschüre in der leicht zittrigen Hand und tippte mit einer Gabel auf einen Längsschnitt des menschlichen Herzens. Er hielt inne, damit wir einander vorgestellt werden konnten, und wir tauschten die üblichen Floskeln aus. »Also, wo war ich?«, fragte er.
Henry sah mich ausdruckslos an. »William hat mir gerade die medizinischen Prozeduren nach seinem Herzinfarkt erläutert.«
»Ganz recht. Das wird Sie interessieren«, sagte William zu mir. »Ich nehme an, Ihre Anatomiekenntnisse sind genauso rudimentär wie seine.«
»Eine Prüfung würde ich sicher nicht bestehen«, sagte ich.
»Das war bei mir genauso« erwiderte William, »bis zu diesem Vorfall. Schau her, Henry, das wirst du dir bestimmt genauer ansehen wollen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Henry.
»Siehst du, die rechte Herzkammer nimmt das Blut auf, das aus dem Körper kommt, und pumpt es durch die Lunge, wo das Kohlendioxid und andere Abfallstoffe gegen Sauerstoff ausgetauscht werden. Die linke Kammer nimmt das sauerstoffreiche Blut aus der Lunge auf und pumpt es durch die Aorta wieder hinaus in den Körper...« Das Schaubild sah aus wie der Plan einer Parkanlage mit durch schraffierte Pfeile markierten Einbahnstraßen. »Wenn diese Arterien verstopfen, wird es problematisch.« William tippte nachdrücklich mit seiner Gabel auf das Diagramm. »Das ist so, wie wenn ein Felsrutsch eine Straße blockiert. Der Verkehr wird aufgehalten, und es entsteht ein böser Stau.« Er blätterte eine Seite weiter, das Heftchen vor der Brust wie ein Vorschullehrer, der den Kindern etwas vorliest. Das nächste Schaubild war ein Querschnitt durch ein Herzkranzgefäß, das aussah wie ein mit Flusen verstopfter Staubsaugerschlauch.
Henry unterbrach ihn. »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«
»Deshalb bin ich hergekommen.«
»Im Kühlschrank ist Tunfisch. Sie können uns ein paar Sandwiches machen. Isst du Tunfisch, William?«
»Ich musste es aufgeben. Thun ist sowieso schon ein sehr fetter Fisch, und dann noch Mayonnaise...« Er schüttelte den Kopf. »Für mich nicht, danke. Ich werde mir eine von den natriumarmen Suppen warm machen, die ich mitgebracht habe. Ich möchte ihm keine Mühe machen, das habe ich ihm auch gesagt. Es gibt nichts Schlimmeres, als den eigenen Angehörigen zur Last zu fallen. Ein krankes Herz ist noch lange kein Todesurteil. Mäßigung heißt das Schlüsselwort. Körperliche Betätigung in Maßen, richtige Ernährung, ausreichend Ruhe... es gibt keinen Grund, weshalb ich nicht neunzig werden sollte.«
»In unserer Familie werden alle über neunzig«, sagte Henry schroff. Er patschte die Brotlaibe zurecht und legte sie nacheinander in eine Reihe gefetteter Backformen.
Ich hörte ein leises Ping.
William nahm seine Taschenuhr heraus und schnippte den Deckel auf. »Zeit für meine Pillen«, sagte er. »Ich denke, ich werde jetzt meine Medikamente nehmen und mich dann in meinem Zimmer ein wenig ausruhen, um den Stress durch den Jet-Lag auszugleichen. Ich hoffe, Sie entschuldigen mich, Miss Millhone. Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Ganz meinerseits, William.«
Wir gaben uns wieder die Hand. Der Vortrag über die Risiken fettreicher Ernährung schien seine Kräfte ein wenig gestärkt zu haben.
Während ich die Sandwiches zubereitete, schob Henry sechs Laibe Brot in den Ofen. Wir trauten uns nicht, etwas zu sagen, da wir hörten, wie William sich im Bad ein Glas Wasser holte und dann wieder in sein Zimmer zurückging. Wir setzten uns zum Essen.
»Man darf wohl davon ausgehen, dass das zwei sehr lange Wochen werden«, murmelte Henry.
Ich ging zum Kühlschrank, nahm zwei Pepsi light heraus und brachte sie mit an den Tisch. Henry öffnete beide und schob mir dann eines wieder hin. Während wir aßen, informierte ich ihn über den Stand meiner Ermittlungen, zum einen, weil er es gern hatte, wenn ich ihm von meiner Arbeit erzählte, und zum andern, weil ich immer wieder feststelle, dass es mir hilft, meine Gedanken zu ordnen, wenn ich höre, was ich zu sagen habe.
»Und wie ist Ihr Gefühl, was diesen Barney anbelangt?«, fragte er. Ich zuckte die Achseln. »Der Mann ist ein Widerling, aber von Kenneth Voigt bin ich auch nicht gerade angetan. Ein unangenehmer Mensch. Na ja, zum Glück richtet sich die Justiz nicht nach meiner persönlichen Meinung.«
»Glauben Sie, dass dieser Informant die Wahrheit sagt?«
»Ich werde schon viel mehr wissen, wenn klar ist, wo er am einundzwanzigsten Mai war«, sagte ich.
»Warum sollte er lügen? Zumal, wenn es sich so leicht überprüfen lässt? Wenn er wirklich im Gefängnis gesessen hat, brauchen Sie doch, wenn ich es richtig sehe, nur hinzugehen und in seinen Akten nachzusehen.«
»Aber warum sollte David Barney lügen, wenn da doch genau das Gleiche gilt? Anscheinend ist bisher niemand auf den Gedanken gekommen, diese Datumsgeschichte zu überprüfen.«
»Es sei denn, Morley Shine hätte es getan, ehe er starb.« Henry imitierte die Achtung-bedeutsamer-Moment-Musik eines Radiohörspiels: »Da-da-da.«
Ich lächelte, den Mund zu voll mit Tunfisch-Sandwich, um eine Antwort herauszubringen. »Na, großartig. Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte ich, sobald ich dazu in der Lage war. »Ich mache meinen Job ordentlich und segne ebenfalls das Zeitliche.« Ich wischte mir den Mund mit einer Papierserviette ab und nahm einen Schluck Pepsi.
Henry machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das war sicher nur ein Vernebelungsmanöver von Barney.«
»Ich hoffe sehr, dass es so ist. Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll, wenn sich herausstellt, dass an diesem ganzen Zeug etwas dran ist.«
Berühmte letzte Worte. Ehe ich aufbrach, rief ich Lieutenant Becker an, um nachzufragen, ob er schon etwas vom Gefängnisregister gehört hatte.
»Ich habe eben mit ihnen telefoniert. Der Mann hat Recht. Curtis McIntyre ist an dem Tag wegen eines Einbruchsdelikts zur Anklagevernehmung vorgeführt worden. Er könnte natürlich auf dem Weg zum Haftrichter im Gang an Barney vorbeigekommen sein, aber dann wäre er mit den anderen Gefangenen zusammengekettet gewesen. Er hätte unmöglich mit ihm reden können.«
»Ich sollte wohl herausfinden, was hier gespielt wird«, sagte ich. »Dann tun Sie’s besser schnell. McIntyre ist heute Früh um sechs aus der Haft entlassen worden.«