17

 

Ich schlief schlecht in dieser Nacht und joggte am Freitagmorgen nur halbherzig. Morleys Trauerfeier war um io Uhr, und ich fürchtete mich davor. Es hingen immer noch zu viele unbeantwortete Fragen in der Luft, und ich fühlte mich irgendwie für die meisten verantwortlich. Lonnie würde aus Santa Maria zurückkommen, sobald die Verhandlung vorbei war. Ich hatte noch einen Stapel Zeugenvorladungen, die Morley nicht zugestellt hatte, aber es war unsinnig, mich damit auf die Socken zu machen, ehe nicht klar war, was eigentlich los war. Vielleicht würde Lonnie ja gar nicht vor Gericht gehen. Ich duschte und wühlte dann in meiner Unterwäscheschublade, auf der Suche nach einer Strumpfhose, die nicht aussah, als seien junge Katzen die Beine hochgeklettert. Die Schublade war ein einziges Geknäule aus alten T-Shirts und einzelnen Socken. Irgendwann musste ich mich wirklich daranmachen, hier Ordnung zu schaffen. Ich zog mein Universal-Kleid an, das für Beerdigungen perfekt geeignet ist: schwarz und langärmlig und aus irgendeinem exotischen Polyestergemisch, das man ein Jahr lang irgendwo verbuddeln könnte, ohne dass es eine Knitterfalte bekäme. Ich schlüpfte in ein Paar schwarze, flache Schuhe, damit ich laufen konnte ohne zu humpeln. Ich habe Freundinnen, die auf hohe Absätze stehen, aber ich kann das nicht nachvollziehen. Ich denke mir, wenn hohe Absätze so etwas Tolles wären, würden alle Männer welche tragen. Ich beschloss, das Frühstück ausfallen zu lassen und frühzeitig ins Büro zu fahren.

Es war sieben Uhr achtundzwanzig, und mein Wagen war der erste auf dem Parkplatz. Da in das Treppenhaus kein Tageslicht hereinfiel, war es stockfinster. Das Licht der kleinen Taschenlampe an meinem Schlüsselring reichte gerade aus, um zu verhindern, dass ich stolperte und auf die Nase fiel. Im dritten Stock ließ ich mich durch die Vordertür ein. Alles war düster und kalt. Ich brachte ein paar Minuten damit zu, Lichter anzuknipsen und die Illusion zu erzeugen, dass der Arbeitstag begonnen hatte. Ich warf die Kaffeemaschine an. Als ich mein Büro aufgeschlossen hatte, verbreitete sich bereits der Duft von frischem Kaffee.

Ich warf einen Blick auf meinen Anrufbeantworter und sah, dass das Lämpchen beharrlich blinkte. Ich drückte die Abhörtaste und wurde von einem ärgerlich klingenden Kenneth Voigt begrüßt. »Miss Millhone. Ken Voigt. Es ist jetzt Donnerstagabend... äh... Mitternacht. Ich bekam eben einen Anruf von Rhe Parsons, die völlig außer sich ist wegen dieser Geschichte mit Tippy. Ich habe versucht, Lonnie in Santa Maria zu erreichen, aber die Vermittlung im Motel ist nicht mehr besetzt. Ich bin morgen Früh ab acht im Büro, und ich wünsche, dass diese Angelegenheit bereinigt wird. Rufen Sie mich an, sobald Sie da sind.« Er nannte noch die Telefonnummer von Voigt Motors und verabschiedete sich dann mit einem Klicken.

Ich sah auf die Uhr. Sieben Uhr dreiundvierzig. Ich wählte die Nummer, die er hinterlassen hatte, bekam aber nur ein Tonband, das mir in höflichem Ton erklärte, die Niederlassung sei leider derzeit geschlossen, und mir eine Nummer für dringende Notfälle gab, weil es ja immerhin sein konnte, dass ich anrief, um mitzuteilen, das Gebäude gehe gerade in Flammen auf. Ich hatte die Jacke noch an, und es hatte wenig Sinn, mich an den Schreibtisch zu setzen. Ich konnte mich ebenso gut gleich dem Donnerwetter stellen. Ida Ruth kam gerade, und ich sagte ihr, wo ich hinwollte, und überließ ihr das Feld. Ich ging wieder hinunter auf den Parkplatz und stieg in mein Auto. Ich hatte Kenneth Voigt erst ein einziges Mal gesehen, aber er war mir als jemand erschienen, der anderen gern die Meinung sagt. Mir war überhaupt nicht danach, die jüngsten Entwicklungen mit ihm zu diskutieren. Schon allein deshalb nicht, weil ich Lonnie noch nichts erzählt hatte und weil ich fand, es sei sein Job, die schlechten Nachrichten zu übermitteln. Zumindest konnte er Voigt auch gleich hinsichtlich der rechtlichen Konsequenzen beraten.

Auf dem Freeway floss noch mäßiger Verkehr, und ich war um fünf nach acht bei der Ausfahrt Cutter Road. Voigt Motors war autorisierter Vertragshändler für Mercedes-Benz, Porsche, Jaguar, Rolls-Royce, Bentley, BMW und Aston Martin. Ich parkte meinen VW und marschierte zum Eingang. Das Gebäude sah aus wie eine Südstaaten-Plantage, ein Tribut aus Glas und Beton an Stil, Eleganz und aristokratische Lebensart. Ein diskretes, handgefertigtes Schild verkündete in goldenen Lettern die Geschäftszeiten: Montag-Freitag 8.30 - 20 Uhr, Samstag 9 - 18 Uhr und Sonntag 10 - 16 Uhr. Ich legte die gewölbte Hand an die Rauchglasscheibe und spähte nach irgendeinem Lebenszeichen in den dunklen Räumen. Ich erkannte sechs oder sieben glänzende Automobile, und irgendwo ganz hinten brannte Licht. Rechterhand schwang sich eine Treppe nach oben. Ich klopfte mit einem Schlüssel gegen die Scheibe und hoffte, das leise Klicken würde weit genug tragen, um etwas zu bewirken.

Kurz darauf erschien Kenneth Voigt oben auf der Treppe. Er lugte über das Geländer, kam dann herunter und über den schimmernden Marmorboden auf mich zu. Er trug einen dunklen Nadelstreifenanzug, ein frisch gestärktes, blaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Er sah aus wie ein Mann, der es geschafft hat, eines der prosperierendsten Nobel-Autohäuser im ganzen Bezirk von Santa Teresa aufzubauen. Er machte einen Schlenker und knipste erst noch die Raumbeleuchtung an, die eine Flotte jungfräulicher Automobile illuminierte. Er schloss auf und ließ mich ein. »Demnach haben Sie meine Nachricht bekommen.«

»Ich war heute schon früh im Büro. Ich dachte mir, wir könnten uns auch gleich persönlich unterhalten.«

»Da werden Sie sich einen Moment gedulden müssen. Ich wollte gerade ein Telefonat nach New York machen.« Er ging quer durch den Ausstellungsraum zu einer Reihe identischer, an der Frontseite verglaster Bürozellen, wo während der Arbeitszeit die Geschäfte abgewickelt wurden. Ich sah, wie er sich in irgendjemandes Drehsessel niederließ. Er drückte eine Nummer, lehnte sich zurück und behielt mich im Auge, während er wartete. Offenbar nahm am anderen Ende jemand ab, denn er merkte plötzlich auf und begann gestikulierend zu reden. Er schaffte es, auch aus der Ferne noch zugeknöpft und unerbittlich zu wirken.

Vermassle bloß nichts, ermahnte ich mich. Halt dein Mundwerk im Zaum. Der Mann war Lonnies Klient, nicht meiner, und ich konnte es mir nicht erlauben, ihn gegen mich aufzubringen. Ich spazierte im Ausstellungsraum herum, in der Hoffnung, so meinen natürlichen Impuls zu bezwingen, mich aus dem Staub zu machen. Gefeuert zu werden hatte mir einigen Schneid abgekauft. Ich konzentrierte mich auf meine Umgebung, sog die Aura der Eleganz in mich auf.

Es roch ansprechend nach Leder und Autowachs. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, genügend Kohle auf dem Konto zu haben, um mehr als zweihunderttausend Dollar für einen Wagen hinzublättern. Ich stellte mir vor, dass die Transaktion mit viel Schmunzeln und wenig Schachern vor sich ging. Wer sich einen Rolls-Royce leisten konnte, musste ja wissen, dass es ihn eine hübsche Stange Geld kosten würde, den Fuß durch diese Tür zu setzen. Was gab es da groß zu handeln? Für welche Summe der alte Bentley in Zahlung genommen würde?

Mein Blick blieb an einem Corniche III hängen — ein zweitüriges, rotes Kabriolett. Das Verdeck war offen. Die Sitze und Polsterteile waren mit rot gepaspeltem, cremeweißen Leder bezogen. Ich sah zu Voigt hinüber. Er war von seinem Telefonat völlig in Anspruch genommen. Ich öffnete die Fahrertür des Rolls und stieg ein. Nicht übel. Eine Liste der technischen Daten steckte, auf Pergament gedruckt und in Leder gebunden, im Handschuhfach. Sie sah aus wie die Weinkarte eines teuren Restaurants. So etwas Vulgäres wie ein Preis war nirgends aufgeführt, aber ich erfuhr, dass das Leergewicht des Fahrzeugs 2430 kg betrug und das Kofferraumvolumen 0,27 m3. Ich studierte die Instrumente und Schalter am Armaturenbrett und bewunderte die Walnuss-Intarsien. Ich fuhr los, indem ich das Steuerrad hin- und herdrehte und dazu Reifenquietsch-Geräusche machte. James Bond im Tunten-Dress. Ich war gerade im Begriff, eine Haarnadelkurve in einer Bergstraße oberhalb von Monte Carlo zu nehmen, als ich plötzlich Voigt neben dem Wagen stehen sah. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. »Wirklich schön«, murmelte ich. Ich wusste, ich sagte es nur, um mich bei ihm einzuschleimen, aber ich konnte nicht dagegen an.

Er öffnete die Tür und schlüpfte auf den Beifahrersitz. Er betrachtete liebevoll das Armaturenbrett und strich dann über das geschmeidige Leder des Notsitzes. »Vierzehn Häute für jeden Corniche. Nach Geschäftsschluss setze ich mich auch manchmal hier rein.«

»Sie sind der Inhaber dieses Ladens und fahren selbst keinen Rolls?«

»Noch kann ich es mir nicht ganz leisten«, sagte er. »Ich hatte vor, mir einen zu kaufen, wenn wir diesen Prozess gewinnen, einfach nur aus Spaß.« Sein Gesichtsausdruck war gequält. »Nach dem, was Rhe mir gesagt hat, haben Sie da in einem Hornissennest gestochert. Sie spricht davon, Sie und Lonnie zu verklagen, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht.«

»Weswegen?«

»Keine Ahnung. Heutzutage braucht man doch keinen Grund, um jemanden zu verklagen. Weiß der Himmel, welche Folgen das für meinen Prozess haben wird. Ihr Auftrag ist es, Zeugen heranzuschaffen. Sie hatten keine Weisung, irgendwelchen anderen Dingen nachzugehen.«

»Ich kann den juristischen Aspekt der Situation nicht beurteilen — das ist wirklich Lonnies Job...«

»Wie ist es bloß dazu gekommen? Das verstehe ich nicht.«

Bemüht, nicht in einen defensiven Ton zu verfallen, erzählte ich ihm von meinem Gespräch mit Barney und von all dem, was ich seither herausgefunden hatte. Ich setzte an, ihm die Sache mit Tippy und dem Tod des alten Mannes näher zu erläutern. Voigt ließ mich nicht weiterreden.

»Das ist doch einfach lächerlich. Völlig absurd! Morley hat monatelang an dieser Sache gearbeitet, und er ist nie auf die Idee gekommen, Tippy diese Fahrerfluchtgeschichte anzuhängen.«

»Das stimmt nicht. Er war auf der gleichen Spur wie ich. Er hatte sogar schon Fotos von dem Lieferwagen ihres Vaters gemacht, was für mich der nächste Schritt gewesen wäre. Ich habe dieses Foto der Zeugin vorgelegt, und sie hat den Wagen als das Unfallfahrzeug identifiziert.«

Er runzelte die Stirn. »Ach, Herrgott, und wenn? Nach all den Jahren hat das doch keine Beweiskraft mehr. Sie setzen Millionen aufs Spiel, und warum das alles?«

»Darum, weil ich mit Tippy gesprochen habe und sie mir gesagt hat, dass sie es war.«

»Ich sehe nicht, wieso das von Belang sein sollte. Nur, weil David Barney behauptet, er hätte sie in der Mordnacht gesehen? Das ist doch Quatsch.«

»Sie sind daran vielleicht nicht interessiert, aber das Gericht wird es mit Sicherheit interessieren. Warten Sie nur, bis Herb Foss dahinter kommt. Er wird auf dem Zeitpunkt herumreiten, was das Zeug hält.«

»Aber wenn es doch früher war? Sie wissen doch gar nicht, ob der Zeitpunkt stimmt.«

»Doch, das weiß ich. Es gibt einen Zeugen, und ich habe mit ihm gesprochen.«

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und legte sie einen Moment vor den Mund. Dann sagte er: »Auch das noch. Das wird Lonnie gar nicht gefallen. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«

»Er kommt heute Abend wieder. Dann werde ich mit ihm reden.«

»Sie wissen ja gar nicht, was für mich in der Sache drinsteckt. Ich habe Tausende von Dollars investiert, von alldem Schmerz und Leid gar nicht zu reden. Und das alles haben Sie zunichte gemacht. Und weshalb? Wegen irgendeiner alten Fahrerflucht-Geschichte, die sechs Jahre zurückliegt?«

»Augenblick mal. Dieser Fußgänger ist genauso tot wie Isabelle. Denken Sie vielleicht, sein Leben zählt nicht, nur weil er schon zweiundneunzig war? Sprechen Sie mit seinem Sohn, wenn Sie etwas von Schmerz und Leid hören wollen.«

Ungeduld huschte über sein Gesicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei die Sache an die Staatsanwaltschaft weiterleitet. Tippy war damals noch Jugendliche, und sie hat sich seither mustergültig geführt. Ich möchte wirklich nicht hartherzig erscheinen, aber was geschehen ist, ist geschehen. In Isabelles Fall geht es dagegen um kaltblütigen Mord.«

»Ich möchte darüber nicht diskutieren. Warten wir ab, was Lonnie sagt. Vielleicht sieht er das Ganze völlig anders. Vielleicht hat er ja eine ganz neue Strategie parat.«

»Darauf würde ich an Ihrer Stelle hoffen. Sonst kommt David Barney nämlich mit einem Mord davon.«

»Man kann nicht gut mit etwas >davonkommen<, was man gar nicht getan hat.«

In einem der Büros begann ein Telefon zu klingeln. Wir hielten beide unwillkürlich inne, sahen in die Richtung und warteten, dass der Anrufbeantworter in Aktion trat. Beim fünften Läuten warf Voigt einen irritierten Blick nach hinten. »O verflixt, ich muss das Ding abgestellt haben.« Er stieg aus, durchquerte hastigen Schrittes den Ausstellungsraum und riss den Hörer beim siebten oder achten Läuten ans Ohr. Als ich merkte, dass er wieder in ein längeres Gespräch verwickelt war, stieg ich aus dem Rolls und verschwand durch den Seitenausgang.

Die nächste Stunde verbrachte ich in einem Café in Colgate. Nach außen hin frühstückte ich, aber in Wirklichkeit verkroch ich mich nur. Ich wollte wieder die alte Kinsey sein... große Klappe und einen Tritt für jeden, der ihr dumm kam. Duckmäuserisch und unsicher zu sein war einfach ätzend.

 

Die Wynington-Blake-Einsegnungshalle in Colgate ist ein Allzweck-Sanktuarium, darauf angelegt, so gut wie jeder denkbaren religiösen Veranstaltung gerecht zu werden. Beim Eintreten wurde mir ein gedrucktes Programm überreicht. Ich setzte mich auf einen Platz ganz hinten und brachte ein paar Minuten damit zu, meine Umgebung zu studieren. Der Bau war entfernt kirchenähnlich: eine Pseudo-Apsis, ein Pseudo-Kirchenschiff mit einem großen, bunten Fenster aus sattfarbenen Glasziegeln. Morleys geschlossener Sarg stand vorn, flankiert von Trauerkränzen. Es gab nirgends ein religiöses Symbol — keine Engel, keine Kreuze, keine Heiligen, kein Bildnis von Gott, Jesus, Mohammed, Brahma oder sonst irgendeinem höchsten Wesen. An Stelle eines Altars stand da ein länglicher Tisch, an Stelle einer Kanzel ein Rednerpult mit Mikrofon.

Wir saßen auf Kirchenbänken, aber es gab keine Orgelmusik. Das sakrale Äquivalent einer Kaufhaus-Musikberieselungsanlage umspülte uns mit gedämpften Akkorden, die vage an eine Sonntagsschule erinnerten. Trotz des weltlichen Tenors der Veranstaltung waren alle Leute feierlich dunkel gekleidet und angemessen still und in sich gekehrt. Der Saal war voll, und die meisten Anwesenden hatte ich noch nie gesehen. Ich fragte mich, ob die Etikette wohl die gleiche war wie bei einer Hochzeit — die Freunde des Verstorbenen auf der einen Seite, die der Witwe auf der anderen. Wenn Dorothy Shine und ihre Schwester da waren, saßen sie sicher in dem kleinen Angehörigen-Alkoven vorne rechts, den Blicken der Öffentlichkeit durch eine Trennwand aus Glasziegeln entzogen.

Ich registrierte links von mir gedämpfte Unruhe und bemerkte, dass zwei ältere Herren sich vom Seitengang her in die Bank zwängten. Sobald sie sich gesetzt hatten, spürte ich einen sanften Stoß von einem Ellbogen. Ich sah zur Seite und war kurz desorientiert, als ich William und Henry neben mir erblickte. William trug einen düster-anthrazitfarbenen Anzug. Henry hatte auf seinen üblichen Shorts-und-T-Shirt-Dress verzichtet und prangte in einem ganz reputierlichen Outfit, bestehend aus weißem Hemd, Schlips, dunklem Sportsakko und etwas helleren Hosen. Und Tennis-Schuhen.

»William fand, Sie sollten in dieser schweren Stunde Beistand haben«, flüsterte Henry mir zu.

Ich beugte mich vor. Tatsächlich, William fixierte mich mit trauerschwerem Blick. »Den kann ich allerdings brauchen, aber wie kommt er darauf?«

»Er liebt Trauerfeiern«, flüsterte Henry. »Das ist für ihn wie Weihnachten. Er ist schon ganz früh aufgewacht, vor lauter Aufregung.«

William neigte sich herüber und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

Ich stieß Henry in die Rippen.

»Tatsache«, sagte er. »Ich konnte ihn nicht davon abbringen. Er bestand darauf, dass ich mich in diese lächerliche Verkleidung werfen sollte. Ich glaube, er hofft auf eine richtig tragische Friedhofsszene, mit einer Witwe, die sich ins offene Grab stürzt.«

Etwas raschelte. Vorne war jetzt ein gesetzter Herr in einem weißen Chorgewand an das Rednerpult getreten. Unter dem Gewand blitzte ein metallic-blauer Anzug hervor, der ihn wie einen Fernsehprediger aussehen ließ. Er ordnete offenbar seine Notizen für die Trauerrede. Das Mikrofon war an, und man hörte lautes Geknister.

Henry verschränkte die Arme. »Bei den Katholiken würde das anders laufen. Da hätten sie einen Knaben in einem Kleid, der einen Weihrauchkessel schwenkt, als ließe er eine Katze am Schwanz baumeln.«

William ermahnte Henry mit einem beredten Stirnrunzeln zur Ruhe. Henry schaffte es, sich die nächsten zwanzig Minuten zu benehmen, während der kommissarische Pastor die einschlägigen Worte von sich gab. Es war offensichtlich, dass er eine Art Miet-Geistlicher war, den man für diesen Anlass angeheuert hatte. Zwei Mal sprach er von Morley als »Marlon«, und einige Tugenden, die er ihm attestierte, hatten mit dem Menschen, den ich gekannt hatte, nichts zu tun. Aber wir bemühten uns alle, gute Miene zu machen. Wenn man tot ist, ist man tot, und es kann einem eigentlich egal sein, ob ein paar Lügen über einen verbreitet werden. Wir standen auf und setzten uns wieder hin. Wir sangen Choräle und beugten die Köpfe, während Gebete gesprochen wurden. Es wurden Passagen aus einer neuen Bibel-Ausgabe gelesen, in der jedes lyrische Bild und jede poetische Formulierung in banales Alltagsenglisch übersetzt war.

»Der Herr ist mein Berater. Er lädt mich ein, mich im Grünen zu erholen. Er führt mich an stille Teiche. Er baut mich seelisch auf und führt mich die rechten Wege. Und auch wenn ich durch den finsteren Wald des Todes muss, werde ich mich nicht fürchten...«

Henry sah mich konsterniert an.

Als wir endlich entlassen waren, nahm mich Henry am Ellbogen, und wir gingen zur Tür. William blieb noch zurück und stellte sich mit einer Reihe anderer Leute vor dem Sarg an, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Ehe wir auf den Korridor hinaustraten, drehte ich mich noch einmal kurz um. Ich sah William im ernsten Gespräch mit dem Geistlichen. Wir gingen durch den Vorderausgang hinaus auf die überdachte Treppe, die die ganze Breite des Gebäudes einnahm. Die Leute hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt. Die einen verweilten noch in der Einsegnungshalle, während die anderen sich draußen auf dem Parkplatz Zigaretten anzündeten. Schwefliger Streichholzgeruch wehte herüber. Es war richtiges Begräbniswetter, kalt und grau. Bis zum frühen Nachmittag würden sich die Wolken sicher verziehen, aber vorerst war der Himmel noch trübe.

Als ich nach rechts sah, fiel mir eine Frau ins Auge, die leicht hinkend davoneilte. »Simone?«

Sie drehte sich um und sah mich an. Ich bin zwar, was Haute Couture angeht, eine absolute Ignorantin, aber was sie da trug, konnte sogar ich identifizieren. Das zweiteilige »Ensemble« war die Kreation eines Mode-Designers, der ein Vermögen damit verdiente, Frauen unförmig, aufgetakelt und dumm aussehen zu lassen. Sie wandte sich ab und humpelte so rasch auf ihren Wagen zu, dass ihr Körper schaukelte.

Ich zupfte Henry am Arm. »Bin sofort wieder da.«

Simone rannte zwar nicht direkt, aber es war ganz offensichtlich, dass sie nicht mit mir sprechen wollte. Ich verfolgte sie strammen Schrittes und holte auf. »Simone, könnten Sie bitte einen Moment warten?«

Sie blieb stehen und ließ mich herankommen.

»Warum so eilig?«

Sie wandte sich mir zu, kalte Wut in der Stimme. »Rhe Parsons hat mich angerufen. Sie sind im Begriff, Tippys Leben zu ruinieren. In meinen Augen sind Sie eine miese Person, und ich will nicht mit Ihnen reden.«

»Hey, warten Sie. Ich habe Neuigkeiten für Sie. Ich sauge mir die Dinge doch nicht aus den Fingern. Ich werde dafür bezahlt, dass ich Ermittlungen...«

Sie fiel mir ins Wort. »Ach, ja? Was Sie nicht sagen. Und wer hat Sie bezahlt? David Barney vielleicht? Er sieht gut aus und ist wieder zu haben. Bestimmt ist er gern zu einem kleinen Handel bereit.«

»Selbstverständlich hat er nichts damit zu tun. Was haben Sie denn? Wenn sie eine Straftat begangen hat...«

»Das Mädchen war sechzehn Jahre alt!«

»Das Mädchen war betrunken«, sagte ich. »Es ist mir egal, wie alt sie war. Sie muss die Verantwortung...«

»Kommen Sie mir nicht mit diesem moralischen Geschwätz. Dafür habe ich keine Zeit«, sagte sie, schon wieder im Gehen. Sie erreichte ihren Wagen und fummelte mit dem Schlüssel herum. Sie stieg ein und knallte die Tür zu.

»Sie sind sauer, weil David Barney dadurch aus dem Schneider ist.«

»Ich bin sauer, weil David Barney ein grässlicher Kerl ist. Ein verachtenswerter Mensch. Weil anständige Leute leiden müssen, während die übelsten Typen mit allem davonkommen.«

»Denken Sie wirklich, nur weil man jemanden nicht leiden kann, darf man getrost zusehen, wie er zu Unrecht wegen Mordes verurteilt wird?«

»Er hat Iz gehasst.« Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, ließ den Motor an und löste die Handbremse.

»Das heißt noch lange nicht, dass er sie ermordet hat. Ihnen hätte es schließlich auch nicht an einem Motiv gefehlt.«

»Mir?«

»Der Unfall, bei dem Sie verletzt wurden, war doch Isabelles Schuld, oder nicht? Soviel ich gehört habe, hat sie in betrunkenem Zustand den Wagen in der Einfahrt stehen lassen, ohne die Handbremse anzuziehen. Ihretwegen mussten Sie die Hoffnung begraben, jemals Kinder zu bekommen. Das ist ein hoher Preis, wenn man sowieso die meiste Zeit hinter jemandem den Dreck weggeräumt hat. Das kann doch nicht spurlos an Ihnen vorüber...«

»Das ist ja lächerlich. Wegen so etwas ermordet man doch niemanden.«

»Und ob. Gucken Sie nur mal an einem x-beliebigen Tag in die Zeitung.«

»David Barney ist ein Dreckskerl. Er würde alles tun, um die Schuld von sich abzuwälzen.«

»Das weiß ich nicht von ihm. Ich weiß es von jemand anderem.«

»Von wem?«

»Dazu möchte ich mich lieber nicht äußern...«

»Jedenfalls ist es Ihre eigene Dummheit, wenn Sie das glauben.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich es glaube, aber der Grundgedanke ist entscheidend.«

»Und der wäre?«

»Auch andere Leute hätten ein Motiv gehabt, Isabelle den Tod zu wünschen. Wir waren alle so fixiert darauf, dass es David Barney war, dass wir in anderen Richtungen gar nicht mehr gesucht haben.«

Sie schien einen Moment sprachlos. Dann trat etwas Hintergründiges in ihren Blick. »Na gut. Wieso suchen Sie dann nicht in der richtigen Richtung?«

»Was meinen Sie?«

»Ich meine Yolanda Weidmann. Isabelle hat Peters Firma ruiniert, als sie ausgestiegen ist. Er hat ihr ihre Karriere überhaupt erst ermöglicht. Er hat einen Haufen Zeit und Geld investiert, als niemand sonst einen Finger für sie rühren wollte. Sie müssen sich klar machen, was für eine verrückte Person Isabelle war. Sprunghaft, selbstzerstörerisch, dazu der viele Alkohol und die Drogen. Sie hatte keinen Abschluss. Sie hatte nichts vorzuweisen, ehe Peter sich ihrer angenommen hat. Er war ihr Lehrmeister, und sie hat ihn nach Strich und Faden verschaukelt. Sie hat ihn einfach sitzen lassen, nach allem, was er für sie getan hatte. Und dann noch die Geschichte mit seinem Herzinfarkt. Das war die Krönung. Offiziell kam es vom Stress und der Überarbeitung. Aber die Wahrheit ist, dass sie ihm das Herz gebrochen hat. Darauf läuft es hinaus.«

»Aber als ich mit ihm gesprochen habe, schien er nicht sonderlich verbittert.«

»Ich habe auch nicht gesagt, dass er verbittert ist. Yolanda ist diejenige, welche. Sie ist eine richtige Giftspinne, eine Frau, mit der man sich nicht streiten möchte.«

»Ich höre.«

»Sie haben sie doch kennen gelernt. Sagen Sie selbst.«

Ich zuckte die Achseln. »Persönlich kann ich sie nicht ausstehen. Ich war eine halbe Stunde dort, und sie hat ihn die ganze Zeit heruntergemacht. Tausend kleine Spitzen und Sticheleien, lauter Witzchen auf seine Kosten. Dann schon lieber einen offenen, handfesten Krach. Das ist wenigstens ehrlich. Sie erschien mir so... wie soll ich sagen... hinterlistig.«

Simone lächelte leise. »O ja, sie ist sehr raffiniert. Aber ich versichere Ihnen, unter alledem ist sie eine wahre Glucke. Sie darf ihn behandeln, wie immer sie möchte, aber wehe, jemand anderes besitzt die Frechheit! Ich finde, sie ist eine sehr plausible Kandidatin.«

»Aber die Frau muss doch mindestens fünfundsechzig sein. Es ist schwer vorstellbar, dass sie sich plötzlich aufs Morden verlegt.«

»Sie kennen Yolanda nicht. Mich erstaunt nur, dass sie’s nicht schon früher getan hat. Und was ihr Alter angeht, sie ist allemal besser in Form als ich.« Sie wandte den Blick ab und straffte sich. »Ich muss los. Entschuldigen Sie, dass mir die Pferde durchgegangen sind.« Sie legte den Rückwärtsgang ein und parkte aus. Ich sah ihr interessiert nach, als sie davonfuhr.