18

 

Ich kehrte um und ging wieder zum Ausgang zurück. Ich sah Henry über den Parkplatz auf seinen Wagen zusteuern. Der erste Schwung der Trauergäste hatte sich bereits weitgehend zerstreut, und die, die noch drinnen geblieben waren, kamen jetzt nach und nach auch heraus. William tauchte aus den kühlen Tiefen der Einsegnungshalle auf. Er wirkte irgendwie beleidigt und verwirrt. Er stülpte sich den Hut auf den Kopf und justierte ihn so, dass er gerade saß. »Ich kapiere nicht, welche Konfession das war.«

»Ich glaube, der Gottesdienst sollte alle Optionen abdecken«, sagte ich.

Er sah über seine Schulter und musterte indigniert die Fassade. »Dieser Bau sieht aus wie ein Restaurant.«

»Na ja, wissen Sie, essen gehen ist heutzutage auch eine Art Religion«, sagte ich trocken. »Früher haben die Leute den Zehnten an die Kirche abgeführt. Heute gibt man dem Kellner zehn Prozent.«

»Ich muss sagen, das war eine stillose Trauerfeier. Bei uns in Michigan werden noch richtige Gottesdienste abgehalten. Wenn ich es recht verstehe, gibt es noch nicht einmal eine Beisetzungszeremonie am Grab. Höchst respektlos, wenn Sie mich fragen.«

»Das macht nichts«, sagte ich. »Morley hatte keine sonderlich entwickelte religiöse Ader, und er hätte wahrscheinlich nicht gewollt, dass um seinen Tod irgendein Zirkus veranstaltet wird. Außerdem ist seine Frau krank, und sie konnte vielleicht einfach nicht noch mehr verkraften.« Ich sagte nicht, dass der Leichnam vermutlich gleich zur Gerichtsmedizin geschafft wurde.

»Wo ist Henry?«, fragte William.

»Ich glaube, er ist den Wagen holen gegangen.«

»Möchten Sie noch mit uns kommen? Wir werden zu Hause ein leichtes Mittagessen auf der Veranda einnehmen und würden uns freuen, wenn Sie uns die Ehre geben würden. Wir haben auch Rose eingeladen, um uns auf diese Weise für ihre Freundlichkeit zu revanchieren.«

»Ich würde gerne mitkommen, aber ich habe noch etwas zu erledigen. Ich werde etwas später vorbeischauen.«

Henry kam in seinem fünffenstrigen Coupé angerollt. Er fährt einen 1932er Chevrolet, den er als Neu wagen erworben hat. Das Auto ist akribisch gepflegt und instand gehalten, und Lackierung, Stoßstangen und Sitzbezüge sind noch original. Wenn es Williams Wagen gewesen wäre, hätte er sicher affig gewirkt. Mit Henry am Steuer wirkte er nur verwegen und sexy. Auf Henry muss man ein Auge halten, da er immer noch eine große Anziehungskraft auf Frauen aller Altersstufen ausübt, mich eingeschlossen. Ich sah, wie die Leute zuerst den Wagen und dann Henry musterten, um herauszufinden, ob er irgendein Prominenter war. Da Santa Teresa keine zwei Stunden von Hollywood entfernt liegt, leben hier etliche Filmstars. Jeder weiß das, aber es haut einen doch um, wenn man merkt, dass der Typ bei der Wagenwaschanlage, der aussieht wie John Travolta, tatsächlich John Travolta ist. Einmal wäre ich fast gegen einen Baum gefahren, weil ich Steve Martin durch Montebello fahren sah und ihn mir unbedingt ganz genau angucken wollte. Er sieht auch in Natur aus wie in Technicolor, falls es jemanden interessiert.

William stieg zu Henry ins Auto, und sie schaukelten davon. Es war immer noch nicht abzusehen, was Rosie vorhatte. Was immer sie im Schilde führte, sie war noch beim Vorgeplänkel. Aber William war mir heute schon weniger selbstfixiert vorgekommen. Wir hatten immerhin ein dreiminütiges Gespräch über die Bühne gekriegt, ohne dass auch nur ein einziges Mal von seiner Gesundheit die Rede gewesen wäre.

Ich fuhr wieder zurück in die Stadt, über den 101-Süd. Ich nahm die Abfahrt Missile und hielt mich ostwärts bis zur State Street und dann rechts. Die Axminster-Galerie, wo an diesem Abend Rhe Parsons Ausstellung eröffnet werden sollte, befand sich in einem Komplex, der außerdem das Axminster-Theater und eine Reihe kleinerer Geschäfte beherbergte. Die Galerie selbst lag an einem Fußgängerweg, der hinter den Läden entlangführte. Ich stellte meinen Wagen in einer Seitenstraße ab und nahm die Diretissima über einen öffentlichen Parkplatz. Der Eingang war durch ein handgeschmiedetes Eisenschild gekennzeichnet. Ein Kastenwagen stand mit dem Heck dicht an der Tür, und ich sah, wie zwei Männer quaderförmige Blöcke ausluden, die in dicke Umzugsdecken gehüllt waren. Die Tür stand offen, und ich folgte den Trägern ins Innere.

Der Eingang war schmal, vermutlich aus Effektgründen absichtlich verkleinert, denn ich gelangte gleich darauf in einen riesigen Raum mit fast zehn Meter Deckenhöhe. Die Wände waren knallweiß, und Lichtfluten ergossen sich durch große Oberlichter, die man geöffnet hatte, um frische Luft hereinzulassen. Eine komplizierte Konstruktion aus Zeltleinen, Schnüren und Rollen unmittelbar unter der Decke gestattete es, den Raum im Bedarfsfall abzudunkeln. Auf dem grauen Zementboden lagen Orientteppiche, und an den Wänden hingen Batiken und gerahmte abstrakte Gouachen.

Rhe Parsons beriet sich gerade mit einer Frau in einem Arbeitskittel. Offenbar ging es um die Platzierung der beiden letzten Stücke, die die Träger gerade hereinbrachten. Ich sah mich ein bisschen um, während die beiden weiter diskutierten. Tippy thronte auf einem Hocker an der hinteren Wand und begutachtete die Gesamtwirkung aus ihrer Perspektive. Rhes Ausstellung bestand aus sechzehn Stücken, die auf unterschiedlich hohen Podesten arrangiert waren. Sie arbeitete mit Gießharz und produzierte große, glatte Blöcke von einem halben Meter Kantenlänge, die auf den ersten Blick alle gleich aussahen. Ich inspizierte die fünf nächststehenden. Ich sah, dass das durchscheinende Material aus fein getönten Schichten bestand, von denen manche ein Objekt einschlossen — ein perfekt konserviertes Insekt, eine Sicherheitsnadel, ein Medaillon an einer Kette, einen Bund goldener Schlüssel. Das durchscheinende Licht erzeugte den Effekt von Eisblöcken, nur dass das Harz solide und unvergänglich wirkte. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie diese Totems irgendwann einmal ausgegraben würden, zusammen mit Putzmittelflaschen, Getränkedosenlaschen und Wegwerfwindeln.

Rhe musste mich gesehen haben, zeigte jedoch keine Reaktion. Sie trug Blue Jeans und einen dicken Mohairpullover in hellen Blau- und Mauvetönen. Ihr dunkles Haar war im Nacken zusammengenommen und mit einem Band umschnürt, eine lange seidige Troddel, die ihr fast bis zur Taille hing. Tippy trug einen Overall aus leichtem Baumwollköper. Hinter dem Rücken ihrer Mutter begrüßte sie mich mit einem kurzen Fingerwedeln, das ich als »Hi« interpretierte. Es war sehr tröstlich, dass die Person, deren Leben ich angeblich ruiniert hatte, am Leben und wohlauf war und noch mit mir kommunizierte.

Rhe murmelte ihrer Mitstreiterin leise etwas zu, und die Frau drehte sich um und starrte zu mir herüber. Sie nahm ein Schreib-Board an sich und klackerte auf ihren Klotzabsätzen über den Zementboden davon.

»Hallo, Rhe.«

»Was zum Teufel wollen Sie hier?«

»Ich dachte, wir sollten uns unterhalten. Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Wunderbar. Ausgezeichnet. Ich werde es meinem Anwalt weitersagen.«

Aus dem Augenwinkel sah ich Tippy von ihrem Hocker hüpfen und auf uns zukommen. Rhe machte eine Handbewegung, wie man sie von Hundebesitzern kennt. Sie schnippte mit den Fingern und zeigte mit der ausgestreckten Hand in Tippys Richtung, was so viel hieß wie »Bleib da« oder »Platz«.

Aber Tippy war nicht so gut abgerichtet. Sie sagte »Mom...« in einem Ton, der Empörung und Gekränktheit zugleich ausdrückte.

»Das geht dich nichts an.«

»Es betrifft mich doch auch!«

»Warte im Wagen auf mich, Kleines. Ich komme sofort.«

»Darf ich nicht mal zuhören?«

»Tu, was ich dir sage!«

»O Mann!«, sagte Tippy. Sie verdrehte die Augen und seufzte laut, tat aber, wie ihr geheißen.

Sobald sie weg war, zischte mich Rhe eisig an: »Ahnen Sie überhaupt, was Sie da angerichtet haben?«

»Hey, ich bin hierher gekommen, um mit Ihnen zu sprechen, nicht, um mich beschimpfen zu lassen. Was habe ich denn getan?«

»Tippy hat sich gerade gefangen. Sie ist endlich auf dem richtigen Gleis, und da kommen Sie mit dieser aberwitzigen Behauptung.«

»Aberwitzig würde ich es nicht nennen...«

»Lassen wir die Wortklauberei. Der Punkt ist doch, selbst wenn es stimmt, was ich sehr bezweifeln möchte, brauchten Sie es doch nicht an die große Glocke zu hängen.«

»Welche große Glocke?«

»Und außerdem — wenn Sie so fest davon überzeugt sind, dass Tippy eine Straftat begangen hat, hat sie Anspruch auf einen Anwalt. Sie hatten kein Recht, sie in die Enge zu treiben, ohne dass ich dabei war.«

»Sie ist zweiundzwanzig, Rhe. Vor dem Gesetz ist sie erwachsen. Ich will ihr nichts anhängen. Ich dachte, es gäbe vielleicht eine einfache Erklärung, und in dem Fall wollte ich sie hören. Ich habe nichts weiter getan, als mit ihr zu reden, um die Fakten in Erfahrung zu bringen, und ich habe es getan, ohne vorher zur Polizei zu gehen, was ich ohne weiteres gekonnt hätte. Wenn ich weiß, dass eine Straftat vorliegt, kann ich doch nicht einfach weggucken. Sobald ich sie decke, mache ich mich mitschuldig.«

»Sie haben sie eingeschüchtert. Sie haben ihr gedroht und sie manipuliert. Als ich nach Hause kam, war sie völlig hysterisch. Ich weiß zwar nichts über Ihr Leben, aber Sie täten sicher besser daran, sich an Ihre eigene Nase zu fassen. Sie brauchen sich hier nicht zur Richterin aufzuschwingen —«

Ich hob die Hände. »Augenblick mal. Einen Moment. Hier geht es nicht um mich. Hier geht es um Tippy, die im Übrigen mit den Realitäten wesentlich besser fertig zu werden scheint als Sie. Ich verstehe ja, dass Sie sie beschützen wollen. Das ginge mir auch so, aber wir sollten doch nicht die Fakten aus den Augen verlieren.«

»Welche Fakten? Da gibt es keine Fakten!«

»Schon gut. Fassen wir das. Ein vernünftiges Gespräch ist offenbar nicht möglich. Ich sehe das jetzt. Ich werde dafür sorgen, dass Lonnie sich mit Ihrem Anwalt in Verbindung setzt, sobald er wieder da ist.«

»Gut. Tun Sie das. Aber machen Sie sich auf alles gefasst.«

Der Drang, das letzte Wort behalten zu wollen, war nahezu unwiderstehlich, aber ich hielt die Klappe und ging, bevor ich noch etwas sagte, was ich später womöglich bereuen würde. Als ich aus der Galerie ins Freie trat, kam Tippy auf mich zu. Sie ging neben mir her und passte sich meinem Schritt an. »An Ihrer Stelle würde ich es lieber vermeiden, dass Ihre Mutter uns zusammen sieht.«

»Was hat sie gesagt?«

»In etwa das, was zu erwarten war.«

»Machen Sie sich nichts daraus, ja? Ich weiß, sie ist auf hundertachtzig, aber sie wird es schon packen. Sie hatte in letzter Zeit eine Menge Stress, aber das legt sich schon wieder.«

»Hoffen wir’s um ihretwillen«, sagte ich. »Hören Sie, Tipp, es tut mir wirklich Leid, dass das passieren musste. Ich fühle mich beschissen, aber ich wüsste nicht, wie ich es hätte umgehen können.«

»Ist doch nicht Ihre Schuld. Ich bin diejenige, die Mist gebaut hat. Ich sollte mich beschissen fühlen, nicht Sie.«

»Wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut«, sagte sie. »Ich habe gestern Abend mit einer von meinen AA-Betreuerinnen gesprochen, und sie war einfach toll. Sobald wir hier fertig sind, gehe ich noch einmal zu ihr, um mit ihr zu reden, und später am Nachmittag gehe ich dann zur Polizei.«

»Ihre Mutter hat schon Recht. Es ist wahrscheinlich besser, vorher mit einem Anwalt zu reden. Er wird Sie beraten, wie Sie die Sache am besten präsentieren.«

»Das ist mir egal. Ich will es nur hinter mich bringen.«

»Trotzdem ist es sicher klüger. Außerdem wird die Polizei ohnehin wollen, dass Ihr Anwalt hinzugezogen wird, ehe Sie eine Aussage zu Protokoll geben. Möchten Sie, dass ich mitkomme?«

Sie schüttelte den Kopf. »Danke, aber das schaffe ich schon.«

»Alles Gute.«

»Ihnen auch.« Sie sah zögernd zu der Galerie hinüber. »Dann gehe ich mal besser wieder. Wir werden uns wohl heute Abend bei der Vernissage nicht sehen.«

»Vermutlich nicht, aber was Ihre Mutter macht, gefällt mir gut«, sagte ich. »Rufen Sie an, wenn Sie mich brauchen.«

Sie lächelte und winkte mir im Rückwärtsgehen zu, ehe sie sich umwandte und zur Galerie zurückmarschierte.

Ich stieg in mein Auto und blieb erst einmal reglos sitzen. Mir war schwer ums Herz. Tippy war ein nettes Mädchen. Ich hätte ihr so gerne erspart, was sie jetzt durchstehen musste. Letzten Endes würde sie es schaffen, da war ich zuversichtlich, aber mir war nicht gerade wohl dabei, sie in diese ganze Qual gestürzt zu haben. Natürlich konnte ich mir sagen, dass sie es sich selbst eingebrockt hatte, aber die Wahrheit war, dass sie immerhin sechs Jahre lang einen Weg gefunden hatte, damit zu leben. Ich konnte nur vermuten, dass Reue und Gewissensbisse sie geplagt hatten. Vielleicht gab es ja einfach keinen anderen Weg, als öffentlich Sühne zu leisten. Aber im Moment saß ich erst einmal da mit meinen Gefühlen. Ich konnte nicht noch mehr wütende Menschen verkraften. Ich hatte die Nase voll von Vorwürfen, Drohungen und Einschüchterungsversuchen. Mein Job war es, herauszufinden, was Sache war, und genau das würde ich tun.

Ich ließ den VW an, jagte ihn auf Touren und wendete verkehrswidrig. Eine Ecke weiter war ein Drugstore. Ich hielt auf dem winzigen Vorplatz und flitzte hinein, um drei Packen Karteikarten zu erstehen — einer weiß, einer grün und der dritte orange. Dann fuhr ich nach Hause. Ich hatte immer noch einen Stapel Akten aus Morleys Büro in meinem Wagen. Ich fand einen Parkplatz gleich gegenüber meiner Wohnung. Ich raffte zusammen, was auf dem Rücksitz lag, und schwankte durchs Gartentor, bepackt wie ein Maulesel. Ich schleppte alles nach hinten in den Hof und fummelte meinen Schlüssel heraus.

In dem verglasten Verbindungsgang zwischen Henrys Haus und meinem konnte ich die kleine Lunchgesellschaft sehen. Die Dezembersonne war nur schwach, aber durch das viele Glas speicherte der Wintergarten die Wärme wie ein Treibhaus. William und Rosie steckten die Köpfe zusammen und waren offenbar in ein angeregtes Gespräch vertieft. Vermutlich ging es um Perikarditis, Kolitis oder die Gefahren der Laktose-Intoleranz. Henrys Gesicht war düster, und ich hätte schwören können, dass er schmollte — ein Verhalten, das dem Henry, den ich kannte, äußerst wenig ähnlich sah. Ich quetschte die Akten mit der Hüfte gegen den Türrahmen, während ich meine Wohnung aufschloss. Drinnen warf ich alles auf die Küchenbar. Ich drehte mich um und sah Henry hinter mir hereinkommen, in der Hand einen voll gehäuften Teller — Zitronenhuhn, Ratatouille, grünen Salat und selbst gebackene Brötchen.

»Hi, wie geht’s? Ist das für mich? Sieht ja toll aus. Na, wie stehen die Aktien?«

Er setzte den Teller auf der Küchenbar ab. »Es ist nicht zu fassen«, sagte er.

»Was ist? Hat Rosie noch keinen Weg gefunden, William ein bisschen aufzumöbeln?«

Henry kniff die Augen zusammen und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Sehr witzige Frage. Endlich dämmert es mir. Wissen Sie, was sie macht? Sie flirtet mit ihm!«

»Rosie flirtet doch immer.«

»Aber William flirtet zurück.« Er zog eine Küchenschublade auf, nahm ein Messer und eine Gabel heraus und reichte sie mir, zusammen mit einer Papierserviette.

»Aber da ist doch nichts dabei«, sagte ich. Dann sah ich sein Gesicht. »Oder doch?«

»Sie essen, ich rede. Was ist, wenn etwas Ernsthaftes daraus wird? Was stellen Sie sich vor, was dann passiert?«

»Ach, hören Sie auf. Die beiden kennen sich einen Tag.« Ich kostete zuerst ein Brötchen — butterzart.

»Er bleibt zwei Wochen hier. Ich mag gar nicht daran denken, wie das die nächsten dreizehn Tage weitergehen wird, bei dem Tempo, das die beiden vorlegen«, sagte er.

»Sie sind eifersüchtig.«

»Ich bin gar nicht eifersüchtig. Ich fürchte Schlimmes. Heute Morgen war er noch ganz normal. Hat einen Riesenheckmeck um seinen Stuhlgang gemacht. Und zwei Mal seinen Blutdruck gemessen. Er hatte irgendwelche mysteriösen Symptome, die ihn eine Stunde lang beschäftigt haben. Dann sind wir zu der Trauerfeier gegangen, und da wirkte er immer noch normal. Wir sind heimgekommen, und er musste sich erst einmal eine Weile hinlegen. Ganz der alte William. Kein Problem, damit kann ich umgehen. Ich habe das Mittagessen gekocht, und dann erschien Rosie mit Rouge auf den Wangen. Und das nächste, was ich sehe, sind die beiden, wie sie die Köpfe zusammenstecken und kichern und sich in die Rippen stupsen wie zwei Halbwüchsige!«

»Aber das ist doch süß. Ich mag Rosie.« Ich hatte mich jetzt dem Huhn zugewandt und aß drauflos. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie hungrig ich war, bis ich den ersten Bissen im Mund hatte.

»Ich mag sie auch. Rosie ist prima. Sie ist großartig. Aber als Schwägerin?«

»So weit wird es nicht kommen.«

»Ach, nein? Sie sollten mal da rübergehen und die beiden reden hören. Es dreht einem den Magen um.«

»Ach, Henry, Sie übertreiben wirklich. William ist fünfundachtzig. Sie ist bestimmt fünfundsechzig, auch wenn sie es niemals zugeben würde.«

»Genau das ist es ja. Sie ist zu jung für ihn.«

Ich musste lachen. »Das ist doch nicht Ihr Ernst.«

»Es ist mein voller Ernst, und es wundert mich, dass Sie es so locker nehmen. Wenn sie sich nun in eine heiße Liebesaffäre stürzen? Können Sie sich das vorstellen, die beiden in meinem Gästezimmer?«

»Ist es das, was Sie stört? Das William womöglich ein Sexualleben haben könnte? Sie erstaunen mich, Henry. Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich.«

»Ich finde das höchst vulgär«, sagte er.

»Er hat doch noch gar nichts gemacht! Und außerdem dachte ich, Sie wollten, dass er aufhört, dauernd um seine Gesundheit zu kreisen. Was könnte denn Besseres passieren? Dann hat er etwas anderes, worum er kreisen kann.«

Henry starrte mich an, und in seinen Gesichtsausdruck mischte sich Unsicherheit. »Sie finden das nicht anstößig? Eine Liebesaffäre in seinem Alter?«

»Ich finde das ganz wunderbar. Sie haben doch selbst noch vor gar nicht langer Zeit eine Liebesaffäre gehabt.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«

»Sie haben es überlebt.«

»Aber er, wird er es auch überleben? Ich sehe schon vor mir, wie Rosie zu Weihnachten nach Michigan fliegt. Ich will ja nicht überheblich klingen, aber diese Frau hat keinen Stil. Sie pult sich mit einer Haarnadel in den Zähnen!«

»Ach, hören Sie doch auf, sich Sorgen zu machen.«

Sein Mund war ein verkniffener Strich, während er die Sache überdachte. »Es würde wahrscheinlich sowieso nichts nützen, etwas zu sagen. Sie würden einfach so tun, als wüssten sie gar nicht, wovon ich rede.«

Ich hielt den Mund und konzentrierte mich auf mein Essen. »Schmeckt einfach toll«, lobte ich.

»Ist noch mehr da, falls Sie noch etwas möchten«, sagte er. Er zeigte auf die Karteikarten. »Haben Sie noch zu tun?«

Ich nickte. »Sobald ich aufgegessen habe.«

Er seufzte. »Tja dann, Schluss mit dem Quatsch. Ich lasse Sie besser an Ihre Arbeit gehen.«

»Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Aber sicher«, sagte er.

Wir machten die üblichen Abschieds-Lippengeräusche, und er verschwand. Ich schloss die Tür hinter ihm und flitzte dann nach oben, wo ich die Schuhe von mir schleuderte und mich aus meinem Allzweck-Kleid und der Strumpfhose pellte. Ich schlüpfte in meine Jeans, den Rollkragenpullover, Socken und Nikes. Uff.

Ich ging wieder nach unten, öffnete eine Dose Pepsi light und machte mich ans Werk. Ich breitete das ganze Material auf der Küchenplatte aus: Morleys Akten, seinen Merkkalender, seinen Terminkalender und die Rohentwürfe für seine Berichte. Ich erstellte eine Liste aller Personen, mit denen er geredet hatte, nebst Datum und Inhalt des Gesprächs, soweit aus den Notizen ersichtlich. Ich riss den ersten Packen Karteikarten auf und begann, mir selbst Notizen zu machen und die Geschichte Stück um Stück so zu skizzieren, wie sie sich mir darstellte. Diese Methode benutzte ich immer, wenn ich an einem Fall arbeitete. Die Karten würde ich dann an mein Pinnbrett heften, damit ich sehen konnte, wie sich das Ganze ausnahm. Das hatte ich von Ben Byrd gelernt, der mir dieses Handwerk beigebracht hatte. Ich dachte, dass Ben es wohl wiederum von Morley gelernt haben musste, der ja bis zu ihrem Zerwürfnis sein Partner gewesen war. Ich lächelte vor mich hin. Sie hatten ihre Agentur Byrd-Shine genannt — zwei Detektive von altem Schrot und Korn, mit Whiskeyflaschen im Schreibtisch und einer nie erlahmenden Leidenschaft für endlose Gin-Romme-Partien. Ihre Spezialität waren »Ermittlungen in Eheangelegenheiten« gewesen, d. h. Seitensprünge. Damals galt Ehebruch noch als ein schockierender Verstoß gegen Moral, gute Erziehung, Anstand und Geschmack. Heute reichten solche Banalitäten nicht einmal mehr für einen Talk-Show-Auftritt.

Die Karteikarten gestatteten mir vielfältige Ansätze: Zeittafeln, Beziehungsdiagramme, Bekanntes und Unbekanntes, Motive, Spekulationen. Manchmal mischte ich den Packen durch, um dann die Karten wie eine Patience auszulegen. Aus irgendeinem Grund hatte ich diese Methode schon länger nicht mehr angewandt. Es tat gut, wieder darauf zurückzugreifen. Es war entspannend und beruhigend, eine willkommene Erholungspause, in der es nur darum ging, die Fakten zu registrieren.

Ich stieg von meinem Hocker und ging zum Abstellschrank. Ich zerrte mein Pinnbrett heraus und baute es auf der Küchenplatte auf. In diesem Stadium bemühe ich mich noch nicht, die Karten irgendwie zu ordnen. Ich zensiere nicht. Ich halte mich an keinen Plan. Ich versuche einfach nur, alle Informationen festzuhalten, alles aufzuschreiben, was mir einfällt. Alles, was den Mord an Isabelle betraf, kam auf grüne Karten, Tippys Unfall auf die orangefarbenen und die beteiligten Personen auf die weißen. Ich suchte das Schächtelchen mit den Nadeln und begann, die Karten an das Brett zu heften. Als ich damit fertig war, war es Viertel vor fünf. Ich saß auf einem Küchenhocker, die Ellbogen auf die Platte und das Kinn in die Hände gestützt. Ich musterte das Gesamtbild. Es schien nicht viel herzugeben... ein wahlloses Durcheinander von Farben, ohne ersichtliches Muster.

Was erhoffte ich mir? Das fehlende Bindeglied. Den augenfälligen Widerspruch. Irgendetwas, was nicht zusammenpasste; Bekanntes, das plötzlich in einem neuen Licht erschien, Unbekanntes, das Gestalt annahm. In Abständen nahm ich alle Karten ab, um sie dann wieder neu aufzuhängen, in einer bestimmten Reihenfolge oder wie sie kamen, mal nach diesem, mal nach jenem Prinzip gruppiert. Ich dachte an Isabelles Ermordung, ließ meine Gedanken ziellos schweifen. Wie ergötzlich musste es für den Mörder gewesen sein, den Fortgang dieses ganzen Dramas zu verfolgen. Vielleicht hatte ja David Barneys Psychoterror diese Person überhaupt erst auf die Idee gebracht. Wenn Isabelle jetzt erschossen würde, wer geriete dann automatisch in Verdacht? Der Mörder musste jemand gewesen sein, der David Barneys Gewohnheiten kannte, jemand, der nahe genug dabei war, um das Geschehen mitzubekommen. Aber das galt ja wohl für die meisten Leute, die Isabelle gekannt hatten. Die Weidmanns wohnten nur einen Katzensprung entfernt und ihre Schwester Simone sogar auf demselben Grundstück. Laura Barney war ebenfalls eine interessante Möglichkeit. Sie kannte sicher David Barneys Hang zu nächtlichen Jogging-Exerzitien. Auf den ersten Blick schien es, als hätte sie wenig oder nichts zu gewinnen. Ich war bisher davon ausgegangen, dass Habsucht das Motiv gewesen war, aber es gab sicher neben Geld noch andere Formen von Gewinn, die man aus einem Mord ziehen konnte. Welche perfektere Rache ließe sich denken, als die Frau umzubringen, die einem den Mann weggenommen hat, und dann noch zuzusehen, wie diesem Mann der Mord angehängt wird?

Da war irgendetwas. Ich war mir so gut wie sicher. Vielleicht ein bestimmter Blickwinkel, irgendeine bisher übersehene kleine Information, eine neue Interpretation der bereits bekannten Fakten.

Als das Telefon läutete, schreckte ich so zusammen, dass mir fast das Herz stehen blieb.

Es war Ida Ruth. »Kinsey. Ich hoffe, ich störe nicht, aber eben hat jemand von der Gerichtsmedizin für Sie angerufen, ein Mr. Walker. Ich nehme an, er hat Ihnen eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen und es dann hier versucht. Er möchte, dass Sie ihn so schnell wie möglich zurückrufen.«

Ich klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter, während ich einen Stift nahm und nach einem Block angelte. »Hat Burt Ihnen eine Nummer gesagt?«

Sie gab mir die Nummer. Sobald sie aufgelegt hatte, rief ich sein Büro an.