16

 

Auch wenn ich es selbst nicht glauben konnte — ich war schon wieder auf dem Weg zu den Shines. Burt Walker hatte mich beauftragt, ihm sämtliche Haushaltsprodukte zu bringen, die potenziell als Gift fungieren konnten. Louise stand draußen beim Briefkasten, als ich anhielt. Wenn sie erstaunt war, mich zu sehen, ließ sie sich nichts anmerken. Sie wartete geduldig, bis ich geparkt hatte und ausgestiegen war. Wir schlenderten wie alte Freundinnen zum Haus.

»Wo ist Dorothy?«, fragte ich.

»Sie hat sich hingelegt.«

»Hat es ihr sehr zugesetzt?«

Ihr Blick war offen und ehrlich. »Meine Schwester ist ein realistischer Mensch. Morley ist tot. Wenn ihn jemand vergiftet hat, will sie es wissen. Natürlich setzt einem das zu. Wie sollte es auch nicht?«

»Es tut mir wirklich sehr Leid, dass ich sie noch zusätzlich belasten muss, aber ich sehe keinen Weg, es zu vermeiden.«

»Daran können wir wohl nichts ändern. Was führt Sie wieder her?«

Ich erzählte ihr von meinem Gespräch mit dem Gerichtsmediziner. »Er scheint nicht besonders optimistisch, aber immerhin ist er willens, der Sache nachzugehen, wenn ich ihm ein paar Sachen bringe, mit denen er vergiftet worden sein könnte. Ich brauche irgendein Behältnis für das Zeug, das wir finden.«

»Wie wär’s mit einem Müllbeutel? Wir nehmen immer die kleinen mit der Schnur zum Zuziehen.«

»Perfekt«, sagte ich.

Ich folgte ihr in die Küche, und wir sammelten gemeinsam alles ein, was im Entferntesten in Frage kam. Der Putzmittelschrank unter der Spüle entpuppte sich als eine wahre Fundgrube an toxischen Substanzen. Es war ernüchternd, sich klar machen zu müssen, dass die Durchschnitts-Hausfrau tagtäglich knietief im Gift watet. Manche Artikel verwarf ich gleich, zum Beispiel den Abflussreiniger, weil ich mir sagte, dass er wohl kaum eine tödliche Dosis von diesem haarknäuelzersetzenden Teufelszeug zu sich genommen haben konnte, ohne es zu merken.

Louise hatte einen scharfen Blick und wies mich auf Produkte hin, die ich sonst womöglich übersehen hätte. In unseren Sack wanderten Backofenspray, WC-Reiniger, Silberputzmittel, Salmiak, Spiritus und ein Päckchen Ameisen-Fallen. Einen Moment lang stand mir das schiefe Bild vor Augen, wie Morley mit zurückgelegtem Kopf Ameisen-Fallen hinunterschlürfte wie eine Prozession lebender Goldfische. Etliche seiner Medikamente standen auf dem Küchenfensterbrett aufgereiht, und wir warfen auch sie in meine Halloween-Tüte.

Im Bad entnahmen wir dem Medizinschränkchen alles, was mit Morleys Namen gekennzeichnet war, sowie ein paar freiverkäufliche Arzneimittel, die in großen Mengen möglicherweise tödlich sein konnten. Aspirin, Beruhigungsdragees, Natron-Brausetabletten, ein Antihistamin-Präparat. Nichts davon wirkte besonders unheilvoll oder gefährlich. Wir inspizierten sämtliche Papierkörbe, fanden aber nichts, was auch nur im Entferntesten verdächtig schien. Die Durchsuchung der Garage erbrachte ein paar Dosen und Flaschen, aber längst nicht so viele, wie ich erwartet hatte. »Er hatte es wohl nicht so mit Insektenvertilger und Düngemitteln«, sagte ich beiläufig. Louise packte gerade Terpentin und Verdünner in meinen Sack.

»Morley hat Gartenarbeit gehasst. Das war Dorothys Sache.« Sie trat von den Borden zurück und drehte sich langsam um ihre Achse, um noch einmal das Terrain zu überprüfen. »Sieht aus, als wär’s das. Ach, das Motoröl«, sagte sie. Sie wandte sich mir zu und sah mich an.

»Stecken Sie’s ruhig mit hinein«, sagte ich. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass er sich eine Überdosis Sears-Extra einverleibt hat, aber möglich ist alles. Was ist mit seinem Büro? Hatte er dort im Bad auch einen Medizinschrank?«

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Bestimmt. Warten Sie, ich suche am besten gleich die Schlüssel, wo wir schon dabei sind.«

»Bemühen Sie sich nicht. Ich kann die Frau vom Schönheitssalon bitten, mich von ihrer Seite aus reinzulassen.«

Wir gingen wieder vor das Haus, und ich nahm meine Autoschlüssel heraus. »Danke für Ihre Hilfe, Louise.«

»Lassen Sie uns wissen, was diese Leute finden«, sagte sie.

»Das wird ein Weilchen dauern. Die toxikologische Auswertung zieht sich manchmal einen Monat hin.«

»Aber die Autopsie selbst? Da müssten sie doch auch schon etwas sagen können.«

»Vor der Trauerfeier passiert sowieso nichts.«

»Sehen wir Sie dort?«

»Soweit ich es absehen kann, ja.«

Auf der Fahrt zu Morleys Büro wurde ich von Zweifeln übermannt. Das war doch einfach albern. Morley hätte niemals irgendetwas gegessen, was mit Silberputzmittel oder Entroster versetzt war. Er war zwar nicht gerade ein Epikuräer gewesen, aber er hätte es sicher gemerkt, sobald er nur den ersten Löffel Entkalker oder Möbelpolitur zu sich genommen hätte. Das mit den Medikamenten konnte ich nicht beurteilen. Keines der Fläschchen war auch nur annähernd leer gewesen, was nicht dafür sprach, dass er sich versehentlich oder auf andere Weise eine Überdosis zugeführt hatte. Zwei Mittel waren Kapseln. Daran konnte natürlich jemand herummanipuliert haben. Ich wusste ja, dass die Hintertür meistens unverschlossen oder sogar offen war. Da konnte jeder hineinspaziert sein und die Kügelchen gegen irgendetwas Tödliches ausgetauscht haben.

Ich war jetzt bei Morleys Büro angelangt und parkte in der Einfahrt. Ich ging um den Bungalow herum zur Vordertür, meinen Plastiksack mit mir schleppend wie ein verirrter Weihnachtsmann. Beim zweiten Hinsehen wirkte das Etablissement noch trostloser als beim ersten Mal. Die Außenwände waren in leuchtendem Ostereier-Türkis gestrichen, die Fensterrahmen und Dachverzierungen rauchweiß. Diverse Reklameschilder zwischen den Schaufenster-Schneewehen verkündeten, dass dieser Salon nunmehr Jhirmack und Redken führte. Ich trat ein.

Diesmal war der Laden leer, und Betty, die wohl die Inhaberin sein musste, saß hinten bei einem Kaffee und einer Zigarette über ihren Abrechnungsbüchern. »Wo sind dann die anderen?«

»Sie sind essen gegangen. Jeannie hat heute Geburtstag, und ich habe gesagt, ich hüte das Telefon. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich muss noch mal in Morleys Büro.«

»Nur zu«, sagte sie achselzuckend.

Jemand hatte die Rouleaus heruntergelassen. Das Licht im Raum war gelbbraun, trübe Sonne, durch rissiges Papier gefiltert. An meine Nase drang neben dem Flair von Schimmel und Hausstaub der Geruch von alten Zigarettenkippen, vermischt mit dem Aroma von dampfendem Kaffee und frischem Rauch, das vom Salon nebenan durch das Heizgebläse herüberdrang.

Eine kursorische Durchsuchung der Schreibtisch-Schubladen und Aktenschränke erbrachte in Sachen toxische Substanzen rein gar nichts. Im Bad fand ich eine Dose Scheuerpulver, deren ganzer Inhalt aus ein paar kleinen Klümpchen bestand, die beim Schütteln wie Trockenerbsen rasselten. Im Medizinschrank war nichts außer einem halb leeren Fläschchen Verdauungspillen. Ich steckte auch diese in meinen Sack, für den Fall, dass sie mit Rattengift, zerstoßenem Glas oder Mottenkugeln versetzt waren. Nachdem ich dieses kleine Melodram nun einmal inszeniert hatte, fühlte ich mich verpflichtet, es bis zum Ende durchzuspielen. Der Mülleimer im Bad war leer. Ich ging wieder in das Büro zurück, um den Papierkorb unter Morleys Schreibtisch zu überprüfen, aber er war spurlos verschwunden. Ich sah mich verdutzt um. Ich hatte ihn doch bei meinem ersten Besuch hier gesehen.

Ich öffnete die Verbindungstür und steckte den Kopf hindurch. »Wo ist denn Morleys Papierkorb abgeblieben?«

»Draußen auf der Treppe.«

»Danke. Könnten Sie mir noch einen Gefallen tun?«

»Ich kann’s versuchen«, sagte sie.

»Es könnte sich herausstellen, dass Morleys Büro Schauplatz eines Verbrechens war. Aber sicher wissen wir das erst in ein paar Tagen. Könnten Sie solange aufpassen, dass nichts verändert wird?«

»Was heißt das? Keinen reinlassen?«

»Ganz recht. Nichts anfassen und nichts wegwerfen.«

»Das hat Morley immer schon so gehalten«, sagte sie.

Ich schloss die Tür wieder und barg den Papierkorb von der Vordertreppe, wo sich jetzt ein Ameisen-Ho-Chi-Minh-Pfad über den Beton schlängelte. Mit spitzen Fingern pulte ich darin herum, während ich gleichzeitig Ameisen wegschnippte. Ich setzte mich auf die oberste Stufe und machte mich daran, den Korb auszukippen. Papier, Kataloge, gebrauchte Kleenex-Tücher, Styropor-Kaffeebecher. Die Pappschachtel mit dem halbaufgegessenen Backwerk war inzwischen zur Hauptnahrungsquelle der wimmelnden Ameisenkolonie geworden. Ich stellte den Karton neben mich auf die Treppe und inspizierte rasch den Inhalt. Morley musste auf dem Weg noch eben beim Bäcker vorbeigefahren sein, sich ein kleines Nasch-Häppchen geholt und es mit hierher genommen haben. Er hatte die Hälfte gegessen und dann den Rest weggeworfen, wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen, weil er gegen seinen Diätplan verstoßen hatte. Ich musterte das verbliebene Stück genauer, kam aber nicht dahinter, was es war. Obst schien es nicht zu sein, aber womit sonst machte man Strudel? Ich sammelte die Überbleibsel sorgfältig ein und wickelte sie in das Papier, in das die Pappschachtel ursprünglich eingepackt gewesen war.

Sonst war nichts Interessantes zu finden. Ich stopfte alles wieder in den Papierkorb zurück und stellte diesen gleich innen hinter die Tür, die ich von außen abschloss. Ich ging zu meinem Wagen und brachte meine ganze Müllsammlung zur Gerichtsmedizin, wo ich sie der Sekretärin aushändigte, damit sie sie an Burt weitergab.

Mir war nur danach, Schluss zu machen und nach Hause zu fahren. Dieser ganze Fall schlug mir auf den Magen. Ich war kaputt und deprimiert. Das Einzige, was ich bisher erreicht hatte, war, Lonnies Prozess zu demontieren. Dank meiner Bemühungen war die Aussage unseres Informanten inzwischen unsicher, und der Angeklagte selbst hatte ein Alibi. Noch mehr solcher illustren Beiträge meinerseits, und Barneys Anwalt würde die Niederschlagung des Verfahrens erwirken können. Beklemmung schnürte mir die Brust zu, und ich fühlte eine Angst tief im Bauch, wie ich sie seit meiner Grundschulzeit nicht mehr gekannt hatte. Ich wollte ja nicht jammern, aber ich merkte immer mehr, wie der Rausschmiss durch die CF mein Selbstbewusstsein unterminiert hatte. Früher hatte ich immer aus dem Instinkt heraus gehandelt. Ich war zwar während meiner Ermittlungen immer wieder mal frustriert gewesen, aber ich hatte mit einer schon fast arroganten Selbstsicherheit operiert, getragen von der festen Überzeugung, dass ich diesen Job letztlich so gut machte wie jeder andere. So verunsichert wie jetzt hatte ich mich nie gefühlt. Was sollte werden, wenn ich mich zum zweiten Mal innerhalb von sechs Wochen auf der Straße wieder fand?

Ich fuhr nach Hause und putzte wie Aschenputtel unter Amphetaminen. Das war das Einzige, was meine Anspannung lösen konnte. Ich griff mir ein paar Putzschwämme und den Haushaltsreiniger und nahm das Bad oben unterm Dach in Angriff. Ich weiß nicht, wie Männer mit den Stresssituationen des Lebens umgehen. Sie spielen vielleicht Golf oder reparieren Autos oder trinken Bier und sehen fern. Die Frauen, die ich kenne (die, die nicht fress- oder kaufsüchtig sind) suchen ihr Heil im Putzen. Ich legte mit Putzlappen und Wischmopp los und mähte die Keime mit üppigen Desinfektionsmittel-Dosen nieder, indem ich sämtliche sichtbaren Flächen je nachdem besprühte oder einschäumte. Was mir entkam, schlug ich zumindest kampfunfähig.

Um sechs machte ich Pause. Meine Hände rochen nach Scheuerflüssigkeit. Ich hatte nicht nur das gesamte obere Bad in einen hygienisch einwandfreien Zustand versetzt, sondern auch noch den Dachraum staubgewischt und gesaugt und die Bettwäsche gewechselt. Ich wollte mich gerade an meine Kommodenschubladen machen, als ich merkte, dass es an der Zeit war, einen Happen zu essen. Vielleicht war es sogar Zeit, ganz Feierabend zu machen. Ich nahm eine kurze Dusche und zog dann frische Jeans und einen sauberen Rollkragenpullover an. Bis zum Seiberkochen ging mein Häuslichkeitsanfall dann doch nicht. Ich schnappte mir meine Umhängetasche und eine Jacke und marschierte zu Rosie.

Es bestürzte mich etwas, feststellen zu müssen, dass es genauso voll war wie am Vorabend. Diesmal war statt der Keglerinnen offenbar ein Softball-Team da — Typen in Trainingshosen und einheitlichen, kurzärmligen Trikots, die hintendrauf den Namen einer örtlichen Elektro-Firma trugen. Jede Menge Zigarettenqualm, erhobene Bierkrüge und kehlige Lachsalven, wie sie der Alkohol entfesselt. Das Lokal wirkte wie einer dieser Bier-Werbespots, wo die Leute sich so höllisch gut amüsieren wie im wirklichen Leben nie. Aus der Juke-Box dröhnte ein Song-Cut, der so entstellt war, dass man ihn kaum identifizieren konnte. In dem Lernseher am einen Ende der Bar liefen die Sportnachrichten, und man sah immer neue Runden irgendeines endlosen, staubigen Stock-Car-Rennens. Niemand schenkte dem Spektakel auch nur die geringste Aufmerksamkeit, aber der Ton war laut aufgedreht, damit er gegen das allgemeine Getöse ankam.

Rosie sah alldem mit einem zufriedenen Strahlen zu. Was war nur mit dieser Frau passiert? Sonst hatte sie niemals Lärm geduldet, sich nie als Sportler-Stammkneipe zu profilieren versucht. Ich hatte immer befürchtet, das Lokal könnte irgendwann von den Yuppies entdeckt und in einen schicken Treff für Manager und Anwälte umfunktioniert werden. Aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass ich mich hier einmal Ellbogen an Ellbogen mit einer Horde Sportschau-Süchtiger drängeln würde.

Ich entdeckte Henry und seinen Bruder William. Henry trug Bermudas, ein weißes T-Shirt und Leinenschuhe, und seine langen, braunen Beine wirkten muskulös und kräftig. William steckte immer noch in seinem Anzug, hatte aber die zugehörige Weste abgelegt. Während Henry lässig auf seinem Stuhl lümmelte, ein Bier vor sich, saß William kerzengerade vor einem Mineralwasser mit Zitronenschnitz. Ich winkte Henry zu und steuerte meine Lieblingsnische ganz hinten an. Auf halbem Weg blieb ich stehen. Henry sah mich mit einem solchen Ausdruck stummen Flehens an, dass ich mich doch für seinen Tisch entschied.

William erhob sich.

Henry schob mir mit dem Fuß einen Stuhl hin. »Möchten Sie ein Bier? Ich spendiere Ihnen eines.«

»Ich hätte lieber Weißwein, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte ich.

»Aber sicher. Kein Problem. Also Weißwein.«

Ich hätte schwören können, dass die beiden seit dem Vortag, als ich sie zuletzt gesehen hatte, einen Regressionsprozess durchgemacht hatten. Ich sah sie förmlich mit acht und zehn vor mir. Henry bestand nur aus Ellbogen und Knien und hatte eine mürrisch-kampflustige Kleine-Bruder-Haltung am Leib. Wahrscheinlich hatte er seine ganze Kindheit hindurch unter Williams heikler und besserwisserischer Art gelitten. Vielleicht hatte ihre Mutter Henry der Obhut seines Bruders anvertraut und ihnen so eine ungewollte Nähe aufgezwungen. William schien durchaus der Typ, der seinen kleinen Bruder unter der Knute hielt und ihn piesackte, wenn er ihn nicht gerade verpetzte. Jetzt, mit dreiundachtzig, wirkte Henry gleichzeitig nervös und rebellisch, unfähig, sich anders zu behaupten als durch Clownerien und Seitenhiebe.

Er hielt Ausschau nach Rosie, während William sich wieder setzte. Ich wandte mich William zu und erhob meine Stimme, damit er mich bei dem ganzen Krach hören konnte. »Wie war Ihr erster Tag in Santa Teresa?«

»Ich würde sagen, der Tag war ganz nett. Ich hatte einen kleinen Anfall von Herzrasen...« Williams Stimme war schwach und brüchig.

Ich legte die Hand ans Ohr, um zu signalisieren, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Henry beugte sich zu mir.

»Wir haben den Nachmittag in der Not-Ambulanz verbracht«, schrie Henry. »War sehr lustig. So eine Art Zirkus für gratisversicherte Rentner.«

William sagte: »Ich hatte ein Problem mit meinem Herzen. Der Doktor hat ein EKG machen lassen. Ich weiß nicht mehr, wie er diese spezielle Störung nannte...«

»Luft im Bauch«, brüllte Henry. »Du brauchtest weiter nichts zu tun als zu rülpsen.«

William schien von Henrys Witzen nicht weiter beeindruckt. »Meinem Bruder ist jeder Hinweis auf die Vergänglichkeit des Menschen nicht geheuer.«

»Nachdem ich dich mein Leben lang vor Augen hatte, sollte ich eigentlich daran gewöhnt sein.«

Ich konzentrierte mich immer noch auf William. »Fühlen Sie sich jetzt okay?«

»Ja, danke«, erwiderte er.

»Also, ich fühle mich so«, sagte Henry. Er verdrehte die Augen, ließ die Zunge aus dem Mundwinkel hängen und umkrallte seine Brust.

William war kein Lächeln zu entlocken. »Möchten Sie mal sehen?«

Ich wusste nicht recht, was er meinte, bis er den Papierstreifen mit seinem EKG herauszog. »Das haben sie Ihnen mitgegeben?«, fragte ich.

»Nur diesen Teil. Der Rest liegt bei meiner Karte. Ich habe meine Kranken-Unterlagen mitgebracht, für den Fall, dass ich sie brauche.«

Wie starrten alle drei auf die Borte aus Tintenlinien mit den Zacken in regelmäßigen Intervallen. Es sah aus wie ein Ozean-Querschnitt mit vier Haifischflossen.

William beugte sich dichter zu mir. »Der Arzt will mich genauestem im Auge behalten.«

»Versteht sich«, sagte ich.

»Schade, dass Sie sich nicht einen Tag freinehmen können«, sagte Henry zu mir. »Sonst könnten wir immer abwechselnd Williams Puls kontrollieren.«

»Spotte nur, so viel du willst, aber letztlich muss jeder mit der eigenen Sterblichkeit zu Rande kommen«, sagte William ganz ruhig. »Tja, hm, morgen muss ich erst mal mit der Sterblichkeit anderer Leute zu Rande kommen«, sagte ich. Und zu Henry gewandt, setzte ich hinzu: »Morley Shines Trauerfeier.«

»Ein Freund von Ihnen?«

»Ein Detektiv-Kollege hier aus der Stadt«, sagte ich. »Er war früher mit dem Mann befreundet, der mich ausgebildet hat, daher kannte ich ihn seit vielen Jahren.«

»Starb er in Ausübung seiner Pflicht?«, fragte William.

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Er hatte am Sonntagabend einen tödlichen Herzinfarkt.« Sobald es draußen war, wünschte ich, ich hätte die Klappe gehalten. Ich sah Williams Hand an seine Brust fahren.

Er sagte: »Und wie alt war der Mann?«

»Achgottchen, ich weiß gar nicht.« Natürlich log ich. Morley war gut zwanzig Jahre jünger gewesen als William. »Oho, da ist ja Rosie.« Wenn es sein muss, kann ich Munterkeit verbreiten, dass es kracht.

Rosie war gerade aus der Küche aufgetaucht und schaute quer durch die Gaststube zu uns herüber. Sie näherte sich mit entschlossener Miene. Als sie an der Bar vorbeikam, stellte sie den Fernseher leise. Henry und ich wechselten bedeutsame Blicke. Sicher dachte er das Gleiche wie ich: Sie würde sich um William kümmern, und zwar ohne Pardon. Er tat mir fast schon Leid. Die Juke-Box verstummte, und der Lärmpegel sank. Die Stille war eine Wohltat.

William schob seinen Stuhl zurück und erhob sich höflich. »Miss Rosie. Welch eine Freude. Ich hoffe, wir können Sie überreden, sich zu uns zu setzen.«

Ich sah vom einen zum anderen. »Sie kennen sich schon?«

Henry sagte: »Sie war vorhin schon mal an unserem Tisch, als wir gekommen sind.«

Rosies Blick wanderte zu William und senkte sich dann bescheiden. »Aber Sie sind vielleicht gerade in Unterhaltung«, sagte sie, wie immer eine Extra-Bestätigung heischend. Und das von dieser Frau, die jeden gnadenlos tyrannisierte.

»Ach, kommen Sie. Setzen Sie sich«, bekräftigte ich Williams Einladung. Er stand noch immer und wartete offensichtlich ab, dass sie sich setzte, wozu sie jedoch keine Anstalten machte.

Henry und mich nahm Rosie kaum zur Kenntnis. Die Blicke, mit denen sie William bedachte, schwankten zwischen kokett und forschend. Jetzt musterte sie das EKG. Sie steckte die Hände unter die Schürze. »Sinus-Tachykardie«, verkündete sie. »Herz schlägt plötzlich hundert Mal in Minute. Ist schreckliches Gefühl.«

William sah sie überrascht an. »Genauso ist es«, sagte er. »Ich habe erst heute Nachmittag einen solchen Anfall gehabt. Ich musste die Not-Ambulanz aufsuchen. Der Arzt dort hat diese Untersuchung gemacht.«

»Ist nichts zu machen«, sagte sie mit Genugtuung. »Habe ich gleiche Krankheit. Vielleicht ein paar Pillen. Aber sonst ist hoffnungslos.« Sie hockte sich zierlich auf die Stuhlkante. »Sitzen Sie.«

William setzte sich. »Das ist viel schlimmer als Kammerflimmern«, sagte er.

»Ist viel, viel schlimmer als Flimmern und Herzrasen zusammen«, sagte Rosie. »Zeigen Sie her.« Sie nahm den Papierstreifen an sich, rückte ihre Brille auf die Nasenspitze und beugte sich zurück, um besser sehen zu können. »Da, sehen Sie. Ist das Möglichkeit!«

William beäugte den Papierstreifen, als hätte er plötzlich eine ganz neue Bedeutung angenommen. »Ist es so ernst?«

»Schlimm. Nicht so schlimm wie meine, aber sehr ernst. Sehen Sie da? Die Wellen und die spitze Dinger?« Sie schüttelte den Kopf, die Mundwinkel abschätzig verzogen. Abrupt gab sie ihm das EKG wieder. »Werd ich Ihnen bringen einen Sherry.«

»Nein, nein. Kommt nicht in Frage. Ich nehme keine Spirituosen zu mir«, sagte er.

»Das hier Sherry ungarisches. Ist ganz was andres. Ich trinke immer selbst bei erste Zeichen von Anfall. Zack! Weg ist. Einfach so. Nix mehr Wellen. Nix mehr spitze Dinger.«

»Von Sherry hat der Arzt nichts gesagt«, wandte William skeptisch ein.

»Wollen Sie wissen, warum hat nicht gesagt? Wie viel Sie haben bezahlt für Doktor-Besuch heute? Viel Geld, wette ich. Sechzig, achtzig Dollar. Glauben Sie, er nicht scharf drauf, dass Sie wieder kommen gelaufen? Sie haben so viel Geld? Ich sage, hören auf mich, dann werden Sie sein wie neu in Handumdrehen. Probieren Sie. Wenn Sie nicht fühlen besser, Sie nicht zahlen. Gebe ich Garantie. Ich spendiere erste Sherry. Auf Kosten von Haus. Ganz umsonst.«

Er schien mit sich zu ringen, bis Rosie ihn mit stählernem Blick fixierte. Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger etwa zwei Zentimeter an. »Vielleicht ein ganz klein wenig.«

»Schenke ich selbst ein«, sagte sie, schon am Aufstehen.

Ich hob die Hand. »Könnte ich bitte ein Glas Weißwein haben? Geht auf Henrys Rechnung.«

»Eine Runde Blutdruck-Medizin für alle«, sagte er.

Rosie ignorierte seinen Scherz-Versuch und entschwand in Richtung Bar. Ich wagte es nicht, Henry anzusehen, weil ich wusste, dass er grinsen würde. Rosie hatte es geschafft — William fraß ihr aus der Hand. Während Henry mit Spott auf ihn reagierte und ich mit Höflichkeit, behandelte Rosie den guten William mit absolutem Ernst. Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte, aber jedenfalls schien William durch ihre Strategie restlos entwaffnet.

»Von Spirituosen hat der Arzt nichts gesagt«, wiederholte er standhaft.

»Es wird schon nichts schaden«, steuerte ich bei, um den Ball im Spiel zu halten. Vielleicht wollte sie ihn ja betrunken machen und seine Abwehr schwächen, um ihm dann die Wahrheit zu sagen — dass er für einen Mann seines Alters gesund war wie ein Pferd.

»Ich möchte nichts tun, was der langfristigen Behandlung zuwiderläuft«, sagte er.

»Ach, Hergott noch mal. Nun trink schon«, knurrte Henry.

Ich setzte unter dem Tisch meinen Fuß auf Henrys Fuß und drückte leicht zu. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig. »Tja, hm, da fällt mir etwas ein. Großvater Pitts hat sich gelegentlich auch ein Gläschen genehmigt. Du erinnerst dich doch, William? Ich sehe ihn noch genau vor mir, auf der Vorderveranda, in seinem Schaukelstuhl, mit seinem Glas Black Jack.«

»Aber dann ist er gestorben«, sagte William.

»Natürlich ist er gestorben! Der Mann war hunderteins!«

Williams Miene verdüsterte sich. »Du brauchst nicht so zu schreien.«

»Ach, verdammt! Nicht einmal die biblischen Patriarchen sind so alt geworden wie er. Es ging ihm großartig. Er war gesund und munter. Alle in unserer Familie...«

»Hennnrrry, halt an dich«, sang ich.

Er war auf der Stelle still. Rosie kam jetzt wieder an den Tisch, ein Tablett in den Händen. Sie brachte ein Glas Weißwein für mich, ein Bier für Henry sowie zwei Likörgläser und eine kleine, dekorative Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. William hatte sich wohlerzogen wieder erhoben. Er zog einen Stuhl für sie ab. Sie stellte das Tablett hin und schenkte ihm ein affektiertes Lächeln. »Ein echter Gentleman«, sagte sie, während sie ihn regelrecht anplinkerte. »Reizend.« Sie reichte mir den Wein und Henry das Bier und setzte sich dann. »Sie erlauben, bitteschön.«

»Nur eine ganz kleine Menge«, sagte er.

»Sage ich Menge«, verkündete sie. »Zeige ich Ihnen, wie man trinkt. So.« Sie goss das eine Gläschen randvoll mit Sherry, führte es an die Lippen, legte den Kopf in den Nacken und kippte den Inhalt hinunter. Dann tupfte sie sich zierlich die Mundwinkel mit dem Zeigefingerknöchel. »Jetzt Sie«, sagte sie. Sie füllte das zweite Likörglas und gab es William.

Er zögerte.

»Tun Sie, was sich sage«, kommandierte sie.

William tat, was sie sagte. Sobald der Alkohol seine Kehle netzte, überkam ihn ein Schauer... ein köstlicher, unwillkürlicher Spasmus, der in den Schultern begann und rasch seine Wirbelsäule hinunterlief. »Donnerschlag!«

»Ist richtige Wort, >Donnerschlag<«, sagte sie. Sie musterte ihn verschlagen, und ihr Lachen war eindeutig lasziv. Sie goss sich und ihm erneut ein und kippte ihre Dosis wie ein alter Cowboy in einem John-Wayne-Film. William, offenbar auf den Geschmack gekommen, tat es ihr nach. Auf seine Wangen war jetzt ein wenig Farbe getreten. Henry und ich sahen mit großen Augen zu.

»So!« Rosie klatschte mit der Hand auf den Tisch und gab sich einen Ruck. Sie stand auf und stellte die Sherry-Flasche und die beiden Gläser sorgsam wieder auf das Tablett zurück. »Morgen. Zwei Uhr. Genau wie Medizin. Ganz pünktlich. Jetzt werd ich bringen Essen. Weiß ich genau, was gut. Kein Wort.«

Ich fühlte, wie mir das Herz in die Hose rutschte. Ich wusste, das Essen würde aus irgendeinem fantastischen Gebräu aus ungarischen Gewürzen und gesättigten Fettsäuren bestehen, aber ich hatte nicht die Kraft zu flüchten.

William sah ihr nach. »In der Tat bemerkenswert«, sagte er. »Ich glaube, ich spüre schon, wie mein Blutdruck sinkt.«