8

 

Ich fuhr sie nach dem Kurs um halb elf nach Hause. Die meisten Teilnehmer waren schon um fünf nach zehn verschwunden, und von dem dunklen Parkplatz ergoss sich ein Schwall von Autos mit schwenkenden Scheinwerferlichtern und brummenden Motoren. Ich erbot mich, ihr beim Aufräumen zu helfen, aber sie meinte, es ginge schneller, wenn sie es alleine mache. Ich wanderte durch den Raum und sah mich um, während sie die Kaffeekanne leerte und ausspülte, das Zeichenzubehör wegräumte und schließlich die Lichter ausknipste. Sie schloss hinter uns ab, und wir steuerten auf meinen VW zu, der jetzt ganz allein auf dem Parkplatz stand.

Als wir durch den Torbogen hinausfuhren, sagte sie: »Ich wohne in Montebello. Ich hoffe, das ist kein allzu großer Umweg für Sie.«

»Keine Sorge. Ich wohne am Albanil, nicht weit vom Strand. Ich kann über den Cabana zurückfahren, das ist keine große Sache.«

Ich bog rechts ein, auf den Bay Boulevard, und dann noch mal rechts, auf den Missile, und zwei Straßen weiter auf den Freeway. Sie gab mir noch ein paar genauere Direktiven. Dann plauderten wir über zwei Meilen zwanglos miteinander, während ich mir überlegte, was ich wohl aus ihr herausbekommen könnte. »Wie haben Sie damals von Isabelles Tod erfahren?«

»Die Bullen haben mich um halb drei in der Nacht angerufen und es mir gesagt. Sie haben mich gefragt, ob ich kommen könnte, um bei Simone zu bleiben. Ich habe mir etwas übergeworfen und mich ins Auto gesetzt und bin hingerast. Ich stand total unter Schock. Beim Fahren habe ich die ganze Zeit vor mich hin geredet wie eine Verrückte. Geweint habe ich erst, als ich dort war und Simones Gesicht gesehen habe. Die Seegers waren völlig am Ende. Sie haben immer wieder dasselbe erzählt. Ich weiß nicht, wer von uns am schlimmsten dran war. Ich glaube, ich. Simone war wie betäubt und gar nicht richtig da, bis David auftauchte. Da war es dann ganz aus. Sie geriet völlig außer sich.«

»Ach ja, richtig. Er hat behauptet, er sei joggen gewesen, mitten in der Nacht. Haben Sie ihm das abgenommen?«

»Ach Gott, ich weiß nicht. Ja und nein. Er ging seit Jahren nachts laufen. Er meinte, dann sei es ruhiger und man habe nicht das Problem mit dem vielen Verkehr und den Abgasen. Ich glaube, er litt an Schlaflosigkeit und geisterte immer im Hause herum.«

»Und wenn er nicht schlafen konnte, ging er joggen, um zur Ruhe zu kommen?«

»Ja, schon, aber andererseits — in der Mordnacht klang es doch sehr an den Haaren herbeigezogen.« Sie bohrte mit einem Finger in einem imaginären Grübchen in ihrer Wange. »So ein Zufall. Ich bin gerade auf meiner Zwei-Uhr-Runde hier vorbeigejoggt.«

»Simone hat mir gesagt, dass er damals ein Stück weiter die Straße runter wohnte.«

Sie zog eine Grimasse. »In diesem grässlichen Haus. Der Polizei hat er erzählt, er sei gerade auf dem Heimweg gewesen und habe das Licht bei Isabelle gesehen und nachsehen wollen, was los sei.«

»Schien er sehr betroffen?«

»Na ja, das würde ich nicht sagen, aber ihn schien ja sowieso nichts zu berühren. Das war eine ihrer Hauptklagen. Er sei ein Roboter ohne Emotionen.«

»Sie sagten, Simone geriet außer sich. Was meinen Sie damit?«

»Sie wurde hysterisch, als er auftauchte. Sie war fest davon überzeugt, dass er Isabelle umgebracht hatte. Sie hatte die ganze Zeit schon gesagt, diese Geschichte mit der geklauten Pistole sei Quatsch. Wir waren alle schon unzählige Male bei den Barneys im Haus gewesen. Warum um Himmels willen hätte einer von uns plötzlich nach oben schleichen und Davids Achtunddreißiger klauen sollen? Sie war der Meinung, es sei ein Manöver gewesen. Und da hatte sie ja wohl auch Recht.«

»Sie waren also auch bei dem Essen am Labor-Day-Wochenende, als die Pistole verschwand?«

»Klar. Ich war da und alle anderen auch. Peter und Yolanda Weidmann, die Seegers, die Voigts.«

»Kenneth war dort? Isabelles Ex-Mann mit seiner Frau?«

»Aber ja. Die Etikette von heute. Alle eine große, glückliche Familie, außer Francesca natürlich. Das ist Kenneths Frau, die große Dulderin. Eine richtige Märtyrerin. Ich denke manchmal, Isabelle hat sie nur eingeladen, um sie zu piesacken. Dabei hätte sich Francesca ja auch einfach weigern können.«

»Was war das Problem?«

»Sie wusste, dass Ken immer noch an Isabelle hing. Schließlich war Iz diejenige, die Schluss gemacht hatte. Um darüber wegzukommen, hat er dann Francesca geheiratet.«

»Klingt wie eine Seifenoper.«

»Es kommt noch schlimmer«, sagte Rhe. »Francesca ist wunderschön. Haben Sie sie schon gesehen?« Ich schüttelte den Kopf, und sie fuhr fort: »Wie ein Model, ein perfektes Gesicht und ein Körper, für den man alles drangeben würde. Aber sie ist wahnsinnig unsicher, sucht sich immer Männer, die auf Distanz bleiben. Verstehen Sie, was ich meine? Ken war ideal, weil sie wusste, dass sie ihn nie wirklich ganz für sich haben würde.«

Ich sagte: »Eine Frage: Gestern Abend habe ich seine Version gehört, und er behauptet, Isabelle sei so unsicher gewesen. Stimmt das?«

»Nicht aus meiner Sicht, aber vielleicht hat sie sich Männern gegenüber von einer anderen Seite gezeigt«, antwortete sie. Sie zeigte auf eine Reihe von Einfahrten vor uns auf der linken Seite. »Die erste«, sagte sie.

Wir waren in dem Teil von Montebello, der auch »die Slums« genannt wird und wo ein Haus nur 280 000 Dollar kostet. Ich hielt vor einem kleinen, weiß verputzten Steinhäuschen. Rhe öffnete die Wagentür und stieg aus. »Ich würde Sie ja noch auf ein Glas Wein hereinbitten, aber ich muss wirklich an die Arbeit. Ich werde wohl die halbe Nacht arbeiten müssen.«

»Schon gut. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich bin todmüde. Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte ich. »Ach, übrigens, wo ist denn die Ausstellung?«

»In der Axminster Gallery. Freitagabend um sieben ist ein Sektempfang. Schauen Sie doch vorbei, wenn Sie können.«

»Das werde ich tun.«

»Und danke fürs Nachhausebringen. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich ja an mich wenden.«

 

Bei Henry war alles dunkel, als ich nach Hause kam. Auf meinem Anrufbeantworter war keine Nachricht. Zur Entspannung ging ich daran, das Wohnzimmer aufzuräumen und das untere Bad sauber zu machen. Putzen hat eine therapeutische Wirkung — die ganze Aktivität der rechten Gehirnhälfte, abstauben und saugen, abwaschen, Betten beziehen. Mir sind schon viele wichtige Erkenntnisse gekommen, während ich mit der Klobürste in der Hand dastand und zusah, wie der Reiniger in der Schüssel kreiselte. Morgen Abend würde ich mich staubwischenderweise die Wendeltreppe hinaufarbeiten und dann das Zimmer unter dem Dach und das obere Bad in Angriff nehmen.

Ich schlief gut, stand um sechs auf, drehte meine übliche Laufrunde und absolvierte fast automatisch meine Morgenroutine. Auf dem Weg ins Büro hielt ich bei der Bäckerei und holte mir einen Riesen-Styroporbecher Caffé latte mit Deckel. Ich musste mein Auto zwei Straßen entfernt abstellen, und bis ich bei meinem Schreibtisch anlangte, hatte der Kaffee gerade die richtige Trinktemperatur. Während ich ihn schlürfte, starrte ich von meinem Stuhl aus auf die überall herumliegenden Aktenordner. Ich musste System in die Sache bringen, um überhaupt dahinter zu kommen, was Sache war. Ich kippte den halben Kaffee hinunter und stellte den Becher weg.

Ich schob die Ärmel hoch und machte mich an mein Ordnungswerk. Ich packte die beiden Kartons aus sowie die braune Einkaufstüte mit Unterlagen, die ich bei Morley zu Hause eingesammelt hatte, und legte die Akten aus seinem Büro noch dazu. Ich ordnete alles alphabetisch und rekonstruierte dann mühsam die Reihenfolge der Berichte, wobei ich mich hauptsächlich an Morleys Rechnungen hielt. Ein paar Mal (so auch bei Rhe Parsons) stand ein Name auf seiner Rechnung, ohne dass eine zugehörige Akte existierte. Zu »Francesca V«, worunter ich die jetzige Mrs. Voigt vermutete, fand ich zwar eine säuberlich gekennzeichnete Mappe, jedoch ohne Bericht. Das Gleiche galt auch für eine gewisse Laura Barney, wohl Davids Ex-Frau. Hatte Morley mit ihnen gesprochen oder nicht? Die ehemalige Mrs. Barney war offenbar in irgendeiner Funktion an der Santa Teresa Medical Clinic beschäftigt. Morley hatte eine Telefonnummer notiert, aber nichts verriet, ob er sie erreicht hatte. Er hatte sechzig Stunden Befragungstätigkeit abgerechnet, in einigen Fällen auch noch mit Spesenquittungen, aber an Material war nicht viel dabei herausgekommen. Ich schrieb mir alle Namen auf, zu denen weder weitere Notizen noch ein schriftlicher Bericht existierten.

Um halb elf hatte ich siebzehn Namen auf meiner Liste. Zwei nahm ich mir als erste Stichprobe vor. Zuerst rief ich Francesca an, die sofort abnahm und kühl und reserviert klang.

Ich stellte mich vor und vergewisserte mich zunächst, dass sie wirklich Kenneth Voigts Frau war. »Ich ordne gerade ein paar Unterlagen und habe mir gedacht, Sie könnten sich vielleicht erinnern, wann Sie mit Morley Shine gesprochen haben.«

»Ich habe gar nicht mit ihm gesprochen.«

»Überhaupt nicht?«

»Ich fürchte nein. Er hat vor drei Wochen bei mir angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Ich rief zurück, und wir haben einen Termin ausgemacht, aber dann war er aus irgendeinem Grund verhindert. Ich habe gerade gestern Kenneth deswegen gefragt. Es kam mir irgendwie merkwürdig vor. Nachdem ich beim ersten Prozess ausgesagt habe, bin ich davon ausgegangen, dass ich auch beim zweiten Mal vorgeladen würde.«

Ich sah auf Morleys Vermerk, der doch augenscheinlich besagte, dass ein Gespräch stattgefunden hatte. »Am besten, wir treffen uns so bald wie möglich.«

»Bleiben Sie einen Moment dran. Ich hole eben meinen Kalender.« Sie legte den Hörer hin, und ich hörte das Klacken von Absätzen auf Hartholz. Dann kam sie wieder, und es raschelte durchs Telefon. »Heute Nachmittag habe ich keine Zeit. Wie wäre es mit heute Abend?«

»Von mir aus gem. Wann?«

»Ginge es um sieben? Kenneth kommt normalerweise nicht vor neun nach Hause, aber er muss ja nicht unbedingt dabei sein.«

»Es wäre mir sogar lieber, mit Ihnen allein zu sprechen.«

»Gut. Dann sehen wir uns um sieben.«

Als Nächstes probierte ich die Klinik, wo ich an die Anmeldung geriet. Die Stimme, die sich meldete, klang jung.

»Santa Teresa Medical Clinic, Schwester Ursa. Was kann ich für Sie tun?«

Ich sagte: »Ich hätte gern gewusst, ob bei Ihnen in der Klinik eine gewisse Laura Barney arbeitet?«

»Mrs. Barney? Klar. Einen Moment, ich hole sie.«

Ich wurde kurz auf die Warteleitung gelegt.

»Hier ist Mrs Barney.«

Ich nannte meinen Namen und erklärte, wie schon bei meinem Telefonat mit Francesca, wer ich war und warum ich anrief. »Können Sie mir sagen, ob Sie in den letzten Wochen mit Morley Shine gesprochen haben?«

»Es war so, dass wir für letzten Samstag verabredet waren, aber er ist nicht erschienen. Ich war sehr ärgerlich, weil ich extra meine Pläne umgeworfen hatte, um ihn zu treffen.«

»Hat er angedeutet, was er von Ihnen wissen wollte?«

»Nicht konkret, aber ich bin davon ausgegangen, dass es mit diesem anstehenden Prozess zu tun hat. Ich war mit dem Mann verheiratet, der im Strafrechtsverfahren freigesprochen wurde.«

»David Barney.«

»Genau. Wir waren drei Jahre verheiratet.«

»Ich würde gern mit Ihnen reden. Könnten wir noch für diese Woche etwas ausmachen?« Im Hintergrund klingelte eindringlich ein anderes Telefon.

»Ich bin gewöhnlich bis fünf hier. Wenn Sie morgen um diese Zeit vorbeikommen, müsste es möglich sein.«

»Halb fünf oder fünf?«

»Geht beides.«

»Prima. Ich versuche, um halb fünf da zu sein. Jetzt lasse ich Sie aber an Ihr anderes Telefon gehen.«

Sie bedankte sich und legte auf.

Ich nahm mir meine Liste wieder vor und rief weitere neun willkürlich herausgepickte Personen an. Niemand hatte irgendetwas mit Morley Shine zu tun gehabt. Das sah nicht gut aus. Ich rief Ida Ruth im Vorzimmer an. »Ist Lonnie noch auf dem Gericht?«

»So weit ich weiß, ja.«

»Wann kommt er wieder?«

»Zu Mittag, hat er gesagt, aber manchmal stürzt er ja statt mittagzuessen auch gleich in die juristische Bibliothek. Wieso, was ist? Soll ich ihm etwas ausrichten?«

In meiner Brust verdichtete sich ein ungutes Gefühl. »Ich geh besser selbst rüber und rede mit ihm. Welcher Saal, hat er das gesagt?«

»Richter Whitty, Abteilung fünf. Was ist los, Kinsey? Sie klingen so seltsam.«

»Erzähl ich Ihnen später. Ich bin noch nicht ganz so weit.«

Ich ging die zwei Straßen hinüber zum Gericht. Es war ein klarer, sonniger Tag, und ein leichter Wind zauste den Rasen um das Gerichtsgebäude. Das Gebäude ist im mediterranen Stil errichtet, mit Türmchen, Sandsteinbögen und offenen Galerien. Die Anlagen ringsherum bestehen aus einer bunten Mischung aus magentaroten Bougainvillea, roten Flaschenputzern, Zederzypressen und importierten Palmen. Ein Saum von Bodendeckern am Rand des Gehwegs verströmte einen schweren Duft.

Ich ging die breiten Betonstufen hinauf, durch die dekorative Holztür. Der Flur war leer, der Boden mit glänzenden, unregelmäßigen Steinfliesen in der Farbe von geronnenem Blut ausgelegt. Die hohen Decken waren von Hand mit einem Schablonenmuster verziert und von dunklen Balken durchzogen. Die Beleuchtung bestand aus imitierten schmiedeeisernen spanischen Laternen, und die Fenster waren mit stabilen Gittern gesichert. Das Ganze hätte ein ehemaliges Kloster sein können, überall kühle, schmucklose Flächen. Als ich vorbeiging, öffnete sich die Tür zum Geschworenenzimmer, und die Laienrichter strömten hinaus auf den Flur und erfüllten ihn mit Fußgetrappel und Stimmengemurmel. Gleich darauf hörte ich das Quietschen der Klotüren in den Toiletten auf der anderen Seite des Flurs. Abteilung fünf lag zwei Türen weiter auf der rechten Seite, und das Leuchtschild über der Tür zeigte an, dass die Sitzung noch im Gange war. Ich öffnete leise die Tür und schlüpfte auf einen Platz ganz hinten.

Lonnie und der gegnerische Anwalt waren gerade bei einem Vorverfahrenstermin, und ihre Stimmen klangen in der warmen Luft wie das Gebrumm dicker, fetter Hummeln. Der Richter war damit beschäftigt, ein Schiedsverfahren anzuberaumen und den Termin für den Schiedsvorschlag und einen weiteren Einigungsversuch festzulegen. Wie gewöhnlich staunte ich darüber, dass menschliche Schicksale durch ein Verfahren entschieden werden konnten, das von außen gesehen so langweilig wirkte. Als der Richter die Mittagspause verkündete, wartete ich an der Tür. Ich lenkte Lonnies Aufmerksamkeit auf mich, als er sich umdrehte und auf die kleine Schwingtür zusteuerte, die den Zuschauerraum vom Gericht abtrennte. Er musterte kurz mein Gesicht und sagte dann: »Was ist los?«

»Lassen Sie uns nach draußen gehen, wo wir ungestört reden können. Sie werden nicht erfreut sein.«

Wir marschierten wortlos nebeneinander her, mit klackenden Schritten den Flur entlang, die Betonstufen hinunter und zum Vorderausgang hinaus auf die Straße. Wir zogen uns gerade so weit auf den Rasen zurück, dass uns niemand hören konnte. Er wandte sich mir zu und sah mich an, und ich legte los.

»Mir fällt kein Weg ein, es Ihnen schonend beizubringen, also komme ich gleich zur Sache. Es hat sich herausgestellt, dass Morleys Akten mehr als chaotisch sind. Die Hälfte der Berichte fehlt, und was da ist, ist auch suspekt.«

»Was heißt das?«

Ich holte tief Luft. »Ich glaube, er hat Ihnen Arbeit berechnet, die er nie geleistet hat.«

Lonnie guckte verdutzt, während der Sinn meiner Worte zu ihm durchsickerte. »Sie nehmen mich auf den Arm.«

»Lonnie, er war herzkrank, und seine Frau hat Krebs. Wie ich es sehe, brauchte er dringend Geld, aber er hatte wohl weder die Zeit noch die Kraft, viel zu arbeiten.«

»Wie hat er sich gedacht, dass er damit durchkommen würde? Wir haben in nicht mal vier Wochen einen Gerichtstermin. Hat er im Ernst geglaubt, ich würde nichts merken?«, fragte er. »Ach, Teufel noch mal, was rede ich da? Ich habe nichts gemerkt, oder?«

Ich zuckte die Achseln. »Sonst hat er ja, soweit ich gehört habe, immer ausgezeichnete Arbeit geleistet.« Ein schwacher Trost für einen Anwalt, der Gefahr lief, bei der Verhandlung dazustehen und nichts Nennenswertes in der Hand zu haben.

Lonnie wurde blass. Offenbar stand ihm dasselbe Bild vor Augen. »Herrgott, was hat er sich dabei gedacht?«

»Wer weiß, was er gedacht hat. Vielleicht hat er ja gehofft, dass es auffliegt.«

»Wie schlimm ist es?«

»Na ja, Sie haben immer noch die Zeugen aus dem Strafprozess. Offenbar hat er die meisten von ihnen vorgeladen, in der Hinsicht gibt es also keinen Grund zur Aufregung. Aber ich fürchte, etwa die Hälfte der Zeugen auf der neuen Liste haben nie etwas von ihm gehört. Ich kann mich natürlich täuschen. Ich habe nur ein paar Stichproben gemacht. Ich gehe lediglich von der Zahl der Berichte aus, die ich nirgends finde.«

Lonnie schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Verschonen Sie mich...«

»Hören Sie, wir haben noch etwas Zeit. Ich kann mich an die Arbeit machen und besorgen, was fehlt, aber wenn irgendeine Komplikation auftaucht, sieht es böse aus. Vielleicht kommt man ja an manche von diesen Leuten gar nicht mehr ran.«

»Herrgott, das ist alles meine Schuld. Ich war mit dieser anderen Sache völlig ausgelastet und bin gar nicht auf die Idee gekommen, an seiner Arbeit zu zweifeln. Was ich gesehen habe, schien in Ordnung zu sein. Ich wusste, dass er hinterherhing, aber was er mir gegeben hat, sah prima aus.«

»Ja, was da ist, ist auch prima. Das Problem ist das, was nicht da ist.«

»Wie lange werden Sie brauchen?«

»Zwei Wochen mindestens. Ich wollte nur, dass Sie wissen, was los ist. Über die Feiertage werden sicher viele Leute beschäftigt oder verreist sein.«

»Tun Sie Ihr Möglichstes. Um zwei muss ich nach Santa Maria, zu einer zweitägigen Verhandlung. Ich bin Freitag spät wieder da, komme aber erst am Montagmorgen wieder ins Büro. Dann können wir alles besprechen.«

»Wollen Sie über Nacht dort bleiben?«

»Ich denke, ja. Ich könnte abends zurückkommen, wenn es sein müsste, aber es stinkt mir, jedes Mal die Stunde Fahrzeit dranzuhängen. Nach einem ganzen Tag am Gericht habe ich nur den einen Wunsch, irgendwo einen Happen zu essen und mich aufs Ohr zu legen. Für den Notfall hat Ida Ruth die Motel-Nummer. Tun Sie in der Zwischenzeit, was Sie können, ja?«

»Klar.«

Ich ging in die Kanzlei zurück. Als ich an Lonnies Bürotür vorbeikam, sah ich Ida Ruth telefonieren. Sie erspähte mich und winkte mich zu sich. Sie legte den Anrufer auf die Warteleitung und bedeckte dann die Sprechmuschel mit der Hand, als wollte sie noch zusätzlich dämpfen, was sich auf dieser Seite der Leitung tat. »Ich weiß nicht, wer dieser Mensch ist, aber er will Sie sprechen.«

»Was will er?«

»Er hat gerade den Nachruf auf Morley in der Zeitung gelesen. Er sagt, er muss dringend mit demjenigen sprechen, der seine Arbeit übernommen hat.«

»Ich gehe eben rüber an meinen Schreibtisch und nehme dort ab. Vielleicht hat er irgendwelche Informationen für uns. Welche Leitung?«

Sie streckte zwei Finger hoch.

Ich trabte den Flur entlang, zog meine Bürotür hinter mir zu, legte meine Handtasche ab, angelte nach dem Apparat und drückte Leitung zwei, die hektisch blinkte. »Hier Kinsey Millhone. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Morley Shine tot ist. Was ist denn passiert?« Die Stimme war wohlmoduliert, der Ton vorsichtig.

»Er hatte einen Herzinfarkt. Wer spricht denn bitte?«

Pause. »Ich weiß nicht, ob das wichtig ist.«

»Wenn Sie mit mir reden wollen, schon«, sagte ich.

Erneute Pause. »Mein Name ist David Barney.«

Mein Herz tat einen jähen Bummerschlag. »Tut mir Leid, aber ich bin die falsche Person, wenn Sie etwas über Morley Shine wissen wollen...«

Er fiel mir ins Wort: »Hören Sie. Hören Sie mich an. Da ist irgendetwas Komisches im Gang. Ich habe letzten Mittwoch mit ihm gesprochen...«

»Morley hat Sie angerufen?«

»Nein, Ma’am. Ich habe ihn angerufen. Ich hatte gehört, dass irgendein Knastbruder namens Curtis McIntyre gegen mich aussagen will. Er behauptet, ich hätte zu ihm gesagt, dass ich meine Frau getötet habe, aber das ist kompletter Blödsinn, und ich kann es auch beweisen.«

»Ich denke, wir sollten dieses Gespräch auf der Stelle beenden.«

»Aber ich sage Ihnen...«

»Sagen Sie es Ihrem Anwalt. Wir haben nichts miteinander zu besprechen.«

»Ich habe es meinem Anwalt gesagt. Ich habe es auch Morley Shine gesagt, und Sie sehen ja, was mit ihm passiert ist.«

Ich verstummte für eine halbe Sekunde. »Was soll das heißen?«

»Vielleicht war der Bursche ja zu dicht an der Wahrheit dran.«

Ich verdrehte die Augen. »Wollen Sie damit sagen, er sei ermordet worden?«

»Ist doch möglich.«

»Das ist Leben auf dem Mars auch, aber es ist nicht wahrscheinlich. Warum sollte irgendjemand Morley Shine ermorden wollen?«

»Vielleicht hat er ja etwas gefunden, das mich entlastet hätte.«

»Ach, tatsächlich? Was denn zum Beispiel?«

»McIntyre behauptet doch, er hätte an dem Tag, als ich freigesprochen wurde, vor dem Gerichtssaal mit mir gesprochen, richtig?«

Ich sagte nichts.

»Richtig?«, fragte er wieder. Ich hasse Leute, die nach jedem Satz auf einer Reaktion bestehen.

»Schießen Sie los«, sagte ich.

»Der Wichser war zu dem Zeitpunkt im Knast. Das war am einundzwanzigsten Mai. Schauen Sie mal ins Strafregister. Da werden Sie’s schwarz auf weiß finden. Genau das habe ich Mor-ley Shine am Mittwochvormittag auch gesagt, und er hat gemeint, er würde mal nachsehen.«

»Mr. Barney, ich halte es nicht für richtig, wenn wir beide in dieser Weise miteinander reden. Ich arbeite für die Gegenseite. Ich bin der Feind, ist Ihnen das klar?«

»Ich will Ihnen ja nur meine Seite darlegen.«

Ich hielt den Hörer von mir weg und plinkerte ihn ungläubig an. »Weiß Ihr Anwalt, was Sie hier machen?«

»Zum Teufel damit. Zum Teufel mit ihm. Anwälte stehen mir bis obenhin, mein eigener eingeschlossen. Wir hätten das alles schon vor Jahren klären können, wenn irgendjemand den Anstand besessen hätte, mir zuzuhören.« Und das von einem Mann, der seiner Frau ins Auge geschossen hatte.

»Aber Sie haben doch die Justiz, wenn Sie wollen, dass Ihnen jemand zuhört. Genau darum geht es doch. Sie sagen dies, und Kenneth Voigt sagt etwas anderes. Der Richter hört beide Seiten an und die Geschworenen ebenfalls.«

»Aber Sie nicht.«

»Nein, ich nicht, weil es nicht meine Aufgabe ist«, sagte ich gereizt.

»Selbst wenn ich die Wahrheit sage?«

»Darüber hat das Gericht zu befinden. Das ist nicht mein Job. Mein Job ist es, Informationen zu sammeln. Lonnie Kingmans Job ist es, die Fakten dem Gericht zu unterbreiten. Was sollte es Ihnen bringen, mir irgendetwas zu erzählen? Das ist blödsinnig.«

»Herrgott! Jemand muss mir doch helfen.« Seine Stimme brach vor Erregung. Ich hörte, wie meine noch frostiger wurde.

»Reden Sie mit Ihrem Anwalt. Er hat Sie von einer Mordanklage freigekriegt... bis jetzt jedenfalls. Ich an Ihrer Stelle würde mir da nicht alles verpfuschen.«

»Könnten wir uns treffen... nur ganz kurz?«

»Nein, ich kann mich nicht mit Ihnen treffen!«

»Lady, ich flehe Sie an. Nur fünf Minuten.«

»Ich werde jetzt einhängen, Mr. Barney. Das geht so nicht.«

»Ich brauche Hilfe.«

»Dann beschaffen Sie sich welche. Meine Dienste sind schon gebucht.«

Ich legte den Hörer auf und zog ruckartig die Hand zurück. War der Mann übergeschnappt? Das hatte ich noch nie gehört: dass ein Beklagter versuchte, die Gegenseite für sich zu gewinnen. Angenommen, der Kerl rückte mir in seiner Verzweiflung auf die Pelle? Ich griff wieder zum Telefon und rief Ida Ruth an. »Was gibt’s?«

»Der Kerl, der eben angerufen hat — haben Sie ihm meinen Namen gesagt?«

»Natürlich nicht. So etwas würde ich nie tun«, sagte sie.

»O Scheiße, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich habe ihn selbst gesagt.«