11

 

»Hören Sie, ich weiß, es glaubt mir keiner, dass ich joggen war, als Isabelle umgebracht wurde, aber ich kann Ihnen genau sagen, wo ich gewesen bin. Um ein Uhr vierzig war ich an der Süd-Abfahrt eins-null-eins San Vicente, etwa acht Meilen von ihrem Haus entfernt. Wenn Iz zwischen ein und zwei Uhr erschossen wurde, kann ich unmöglich den Mord begangen und trotzdem zu der Zeit dort an der Kreuzung gewesen sein. Ich meine, ich jogge zwar seit Jahren und bin ziemlich gut in Form, aber so gut dann doch nicht.«

»Wieso wissen Sie die Uhrzeit so genau?«

»Ich bin auf Zeit gelaufen. Das mache ich trainingshalber. Und ich will Ihnen sagen, wer noch dort war: Tippy Parsons, Rhes Tochter. Sie fuhr einen kleinen Transporter und war sichtlich durchgedreht. Sie kam die Ausfahrt runtergebrettert und bog links ab, in den San Vicente.«

»Hat sie Sie gesehen?«

»Ich weiß nicht, ob sie es gemerkt hat, aber sie hätte mich beinahe überfahren, als sie aus der Ausfahrt kam. Ich habe auf die Uhr geguckt, weil ich wusste, dass meine Zeit beim Teufel war, und das hat mich geärgert.«

»Hat Sie irgendjemand gesehen?«

»Jawohl. Ein Mann, der an einer kaputten Rohrleitung gearbeitet hat. Ein ganzer Reparaturtrupp war dort draußen. Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr, aber in dem Jahr hatten wir über Weihnachten schwere Unwetter. Weil der Boden nichts mehr aufnehmen konnte, wurde das Erdreich weggespült, und diese alten Rohre haben sich überall in Wohlgefallen aufgelöst.«

»Sie sagten, Ihr Alibi sei nicht hundertprozentig wasserdicht. Was soll das heißen?«

Er lächelte leise. »Wenn man tot ist oder hinter Gittern sitzt, dann ist das wasserdicht. Ein Fuchs wie Kingman findet doch immer eine Möglichkeit, die Tatsachen zu verdrehen. Ich kann nur sagen: Ich war meilenweit weg, und ich habe einen Zeugen. Und zwar einen ehrlichen, rechtschaffenen Mann, nicht so ein Stück Dreck wie dieser dahergelaufene McIntyre.«

»Und was ist mit Tippy? Meines Wissens hat sie nie ein Wort darüber verloren. Warum haben Sie sie nicht zur Rede gestellt?«

»Wozu zum Teufel? Ich dachte, wenn sie mich gesehen hätte, hätte sie wohl inzwischen etwas gesagt. Und selbst wenn sie mich bemerkt hat, stünde doch mein Wort gegen ihres. Sie war damals sechzehn und völlig durch den Wind. Vielleicht hatte sie gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht, oder ihre Katze war gestorben. Entscheidend ist doch wohl nur eines: Ich war meilenweit weg, als Isabelle umgebracht wurde. Ich wusste gar nicht, was passiert war, bis ich eine Stunde später wieder an ihrem Haus vorbeikam. Da stand alles voller Polizeiautos, und alles war hell erleuchtet.«

»Und die Leute von dem Reparaturtrupp? Werden die Ihre Aussage bestätigen?«

»Ich wüsste nicht, wieso nicht. Der eine hat ja schon ausgesagt. Ein gewisser Angeloni. Er steht auf der Zeugenliste, wahrscheinlich ganz oben. Er hat mich auf jeden Fall gesehen, und ich weiß, dass er das mit dem Lieferwagen mitgekriegt hat. Sie hat mir einen solchen Schrecken eingejagt, dass ich mich erst mal auf den Bordstein setzen musste, bis sich mein Herzschlag wieder normalisiert hatte. Es hat fünf oder sechs Minuten gedauert, bis ich wieder okay war. Dann habe ich mir gesagt, zum Teufel damit, und bin weitergelaufen, Richtung Heimat.«

»Und das haben Sie der Polizei auch erzählt?«

»Lesen Sie den Bericht. Die Bullen hatten sich nun mal in den Kopf gesetzt, dass ich der Mörder war, und sind dem nicht weiter nachgegangen.«

Ich schwieg einen Moment und fragte mich, was ich davon halten sollte. Noch vor zwei Tagen hätte ich seine Geschichte als schlichten Schwindel abgetan, aber jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. »Ich werde es weitergeben, wenn ich Lonnie das nächste Mal spreche. Das ist alles, was ich tun kann.« Du lieber Himmel, würde ich am Ende noch sein Alibi untermauern müssen?

Er setzte an, noch etwas zu sagen, schien sich dann aber eines Besseren zu besinnen. »Prima. Tun Sie das. Mehr will ich gar nicht. Ich bin froh, dass Sie mich angehört haben«, sagte er. Sein Blick streifte meinen. »Vielen Dank.«

»Schon gut«, sagte ich.

Er ging zu seinem Auto zurück. Ich beobachtete im Rückspiegel, wie er den Motor anließ und rückwärts aus der Einfahrt setzte. Er fuhr los, und ich horchte auf die Geräusche seines Getriebes, als er schaltete. Seltsame Geschichte. Irgendetwas ließ eine kleine Alarmglocke in mir klingeln, aber ich kam nicht dahinter, was es war. War Tippy Parsons wirklich dort an der Kreuzung gewesen? Das musste sich doch überprüfen lassen. Mir fiel wieder ein, was ich über das Unwetter damals gelesen hatte.

Ich ließ den VW an, parkte aus und fuhr zu meinem Termin mit seiner Ex-Frau.

Die Santa Teresa Medical Clinic, wo Laura Barney arbeitete, war ein kleiner Holzbau im Schatten des zwei Grundstücke weiter gelegenen St.-Terry-Krankenhauses. Von außen war sie unscheinbar — fast ein bisschen schäbig — , innen dagegen freundlich, aber man merkte die Finanzknappheit. Die Stühle im Wartezimmer hatten blaue Hartplastiksitze und Metallbeine und waren zu Sechser-Einheiten zusammengeschraubt. Die Wände waren gelb, der Fußboden aus marmorierten PVC-Fliesen, gelbbraun mit weißen Schlieren. Am einen Ende des Raums befand sich ein breiter Anmeldetresen, durch den bogenförmigen Durchbruch auf der anderen Seite sah ich vier Schreibtische, steiflehnige Bürostühle, Telefone, Schreibmaschinen... keine Spur von High Tech, Stromliniendesign oder Farbkodierung. Die rückwärtige Wand wurde gesäumt von gelbbraunen Metall-Aktenschränken. Aus dem versprengten Häuflein von Kleinkindern, Schwangeren und weinenden Säuglingen schloss ich, dass es sich um eine Kombination aus Schwangeren- und Säuglingsvorsorge-Einrichtung handeln musste. Die Sprechstunde war fast zu Ende, und die Patienten, die jetzt noch warteten, wurden wahrscheinlich schon seit einer Stunde vertröstet. Spielzeug und zerlesene Zeitschriften lagen über den Fußboden verstreut.

Ich trat an den Anmeldetresen und erkannte Laura Barney an ihrem Namensschildchen mit der Aufschrift: »Schwester L. Barney«. Sie trug eine weiße Schwesternuniform und weiße Schuhe mit Kreppsohlen. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig. Sie war in einem Alter, wo sie immer noch das Gleiche frische, ansprechende Äußere präsentieren konnte wie vor zehn Jahren — nur dass es sehr viel mehr Make-up erforderte und der Effekt vermutlich nach ein, zwei Stunden nachließ. Zu dieser Tageszeit waren die verschiedenen Schichten aus Make-up und Puder schon fast durchsichtig, und darunter kam von roten Äderchen durchsetzte Raucherinnen-Haut zum Vorschein. Sie sah aus wie eine Frau, die von den Umständen zur Berufstätigkeit gezwungen wird und die darüber gar nicht glücklich ist.

Sie war gerade dabei, eine neue Kraft einzuweisen, vermutlich das junge Mädchen, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte. Laura zählte Geld auf den Tisch wie ein Bankkassierer, indem sie die Scheine so rasch hinblätterte, dass das Auge kaum mitkam, und sie dabei so drehte, dass sie richtig herum lagen. Wenn einer dazwischen war, der aus der Reihe tanzte, steckte sie ihn rasch an den richtigen Platz. »Alle Scheine müssen mit der gleichen Seite nach oben liegen und der Größe nach sortiert, die kleinsten vorn. Einer, Fünfer, Zehner, Zwanziger«, erklärte sie. »Auf diese Weise passiert es Ihnen nicht, dass Sie versehentlich einen Zehner statt eines Einers herausgeben. Schauen Sie her...« Sie fächerte die Noten auseinander wie ein Zauberer das Blatt bei einem Kartentrick. Ich erwartete schon, dass sie sagen würde: »Ziehen Sie einen beliebigen Schein...« Aber sie sagte statt dessen: »Hören Sie zu?«

»Ja, Ma’am.« Die junge Frau war vielleicht neunzehn, mit fünfzehn Pfund Übergewicht, dunklem, lockigem Haar, rot angelaufenen Wangen und dunklen Augen, die von unterdrückten Tränen glitzerten.

Schwester L. Barney öffnete die Kassenschublade wieder und entnahm ihr ein unordentliches Bündel Banknoten, das sie dem Mädchen wortlos hinhielt. Die junge Nachwuchskraft nahm es und begann schüchtern, die Hand voll Scheine durchzublättern, und drehte einen, in einer unbeholfenen Imitation der routinierten Eleganz ihrer Lehrmeisterin, auf die richtige Seite. Mehrere Noten steckten an der verkehrten Stelle, und sie klemmte das Bündel an ihre Brust, während sie sich bemühte, sie in die korrekte Reihenfolge zu bringen. Zwei Fünfer fielen ihr herunter. Sie stammelte eine Entschuldigung und bückte sich rasch, um sie wieder aufzuheben. Laura Barney sah ihr leise lächelnd zu, und aus ihren Augen funkelte der Drang, das Geld an sich zu reißen und es selbst zu machen. Es musste sie in allen Fingern jucken, zu demonstrieren, wie flink und flüssig eine erfahrene Kassiererin eine so elementare Tätigkeit verrichtete. Unter ihrem gebannten Blick schien das Mädchen noch ungeschickter zu werden.

Sie selbst wirkte energisch und tüchtig. Sie hatte einen Kugelschreiber in der Hand, mit dem sie ungeduldig klickte. Sie verschwendete bestimmt nicht viel Zeit oder Mitgefühl an die Patienten. Rein damit, raus damit. Leistung nur gegen Barzahlung. Ihr Lächeln war freundlich, aber starr und hielt wahrscheinlich gerade die paar Sekunden, die man brauchte, um die Kälte dahinter zu erkennen. Wenn man sich später beim Arzt über sie beschweren wollte, würde man es schwer haben, konkret zu benennen, was man an ihr auszusetzen hatte. Ich hatte schon öfter mit solchen Leuten zu tun gehabt. Sie war ganz Form ohne Inhalt, eine Pedantin in Kleinigkeiten, eine eifrige Hüterin der Vorschriften und Bestimmungen. Sie war eine Schwester, die einem versicherte, die Tetanusspritze würde sich anfühlen wie ein kleiner Bienenstich, während sie einem in Wirklichkeit einen Knubbel von der Größe eines Türknaufs am Arm verpasste.

Sie sah mich an und setzte sofort wieder das starre Lächeln auf. »Ja?«

»Ich bin Kinsey Millhone«, sagte ich. Ihr Verhalten suggerierte, dass ich mich in ungebührlicher Weise vorgedrängelt hatte. Sie beendete ihre Geldsortier-Lektion und rief dann unmittelbar nacheinander zwei Patientinnen auf. »Mrs. Gonzales? Mrs. Russo?«

Zwei Frauen erhoben sich von ihren jeweiligen Stühlen. Die eine trug einen in Tücher gewickelten Säugling im Arm, die andere ein Kleinkind auf der Hüfte. Beide hatten außerdem noch Kinder im Vorschulalter dabei. Laura Barney hielt die hölzerne Schwingtür auf, die den Warteraum von dem Gang trennte, der zu den Sprechzimmern führte. Die beiden Frauen und die zugehörigen Kinder traten an ihr vorbei durch den Durchgang. Das Wartezimmer war nun leer. Sie hielt die Tür noch immer auf. »Würden Sie mir bitte folgen?«

»O ja, natürlich.«

Sie griff sich zwei Patientenkarten, als wollte sie uns mit Speisekarten versehen, und bugsierte uns alle nach hinten, während sie in rasantem Spanisch Instruktionen erteilte. Als alle auf irgendwelche Sprechzimmer verteilt waren, ging sie weiter den Flur hinunter, wobei ihre Kreppsohlen auf den PVC-Fliesen quietschten. Der Raum, in den sie mich führte, war ein drei mal drei Meter großes Gelass mit einem Fenster, einem schartigen Holzschreibtisch, zwei Stühlen und einer Gegensprechanlage — , die Umgebung, in der einem mitgeteilt wird, was die eben durchgeführten Laboruntersuchungen Schreckliches ergeben haben. Sie schloss die Tür und verwies mich auf den einen Stuhl, während sie das Fenster öffnete und sich dann selbst setzte. Sie zog ein Päckchen Virginia Slims und eine Schachtel Streichhölzer aus ihrer Kitteltasche und steckte sich eine Zigarette an. Sie sah verstohlen auf ihre Uhr, während sie so tat, als rückte sie das Armband zurecht. »Sie sind gekommen, um mir Fragen wegen David zu stellen. Was genau wollen Sie denn wissen?«

»Ich nehme an, Sie stehen nicht sonderlich gut mit ihm?«

»Wir kommen prima aus. Ich sehe ihn so gut wie nie.«

»Sie haben auch bei dem Mordprozess ausgesagt, nicht wahr?«

»Ganz allgemein. Sie brauchten mich, um zu demonstrieren, was für ein skrupelloser Schweinehund er ist. Haben Sie die Protokolle gelesen?«

»Ich bin noch dabei, den ganzen Papierkram durchzugehen. Ich bin erst am Sonntagabend mit der Sache betraut worden. Ich muss noch eine Menge aufarbeiten. Es würde mir sehr helfen, wenn Sie mir vielleicht aus Ihrer Sicht kurz die Fakten darstellen könnten.«

»Fakten. Hmm, mal sehen. Ich habe David bei einer Party kennen gelernt... ja, das war auf den Monat genau vor neun Jahren. Macht sich das nicht gut? Ich habe mich in ihn verliebt, und sechs Wochen später haben wir geheiratet. Wir waren etwa zwei Jahre verheiratet, als ihm eine Stelle in Peter Weidmanns Firma angeboten wurde. Natürlich waren wir begeistert.«

Ich unterbrach sie. »Wie kam das zu Stande?«

»Über einen Freund von einem Freund. Wir wohnten damals in Los Angeles und wollten gern dort weg. David hörte, dass Peter jemanden suchte, und bewarb sich. Wir waren gerade zwei Monate in Santa Teresa, als Isabelle in den Laden eintrat. David konnte sie anfangs gar nicht leiden. Ich hielt sie für enorm gescheit und begabt. Ich war diejenige, die es betrieben hat, dass wir uns anfreundeten. Ziemlich bald wurde sie Peters Augenstern. Er war sozusagen ihr Mentor. Es hätte David nichts gebracht, mit ihr zu konkurrieren, da sie doch alle renommeeträchtigen Projekte zugeschanzt bekam. Ich habe David empfohlen, sich privat und beruflich gut mit ihr zu stellen. Man kann sagen, ich habe die Beziehung überhaupt erst initiiert.«

»Wie haben Sie herausgefunden, dass die beiden ein Verhältnis hatten?«

»Simone ist irgendeine Bemerkung herausgerutscht. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber auf einmal fügte sich alles zusammen. Ich hatte schon seit längerer Zeit gemerkt, dass David sich mir gegenüber distanzierte. Und es war allgemein bekannt, dass Isabelle und Kenneth Probleme hatten. Ich habe nur ein Weilchen gebraucht, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Liebe macht blind, Sie wissen ja. Ich habe ihn zur Rede gestellt, ich dumme Gans. Heute wünschte ich, ich hätte den Mund gehalten.«

»Wieso das?«

»Ich habe ihn erst recht in die Sache reingetrieben. Die Beziehung lief nicht lange gut. Wenn ich so schlau gewesen wäre, das Ganze zu ignorieren, wäre es vielleicht einfach von selbst im Sand verlaufen.«

»Glauben Sie, er hat sie umgebracht?«

»Es muss jemand gewesen sein, der sie ziemlich gut kannte.« Die Sprechanlage summte abrupt los. Sie drückte auf den Knopf. »Ja, Doktor?«

Der Doktor klang, als riefe er aus einer öffentlichen Telefonzelle an. »Ich möchte Mrs. Russo untersuchen. Könnten Sie bitte reinkommen?«

Sie sagte »Ja, Sir« zu ihm und dann zu mir: »Ich muss gehen. Wenn sonst noch was ist, muss es warten.«

Sie hielt mir die Tür auf, und ich ging hinaus.

Sie war im Nu verschwunden, und ich musste selbst nach draußen finden. Ich ging zu meinem Auto zurück und setzte mich hinein. Als Erstes fischte ich in den Tiefen meiner ledernen Umhängetasche nach meiner Geldbörse. Ich nahm das ganze Papiergeld heraus und ordnete die Scheine sorgfältig so, dass sie alle mit der gleichen Seite zu mir lagen, die Einer vorn und ein Zwanziger hinten als Schlusslicht.

Ich fuhr zurück zur Kanzlei und parkte meinen Wagen auf Lonnies Platz. Dann erklomm ich, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum dritten Stock. Wenn Ida Ruth erstaunt war, mich schon wieder zu sehen, ließ sie es sich nicht anmerken. Ich schloss mein Büro auf und begann, die Akten durchzugehen, die zwar inzwischen etwas besser geordnet waren, aber immer noch überall herumlagen. Ich fand den Ordner, den ich suchte, und nahm ihn mit an meinen Schreibtisch, wo ich das Licht anknipste und mich auf meinem Drehstuhl niederließ.

Was ich herauszog, waren die Fotokopien der sechs Jahre alten Zeitungsseiten, die ich gemacht hatte, ehe ich losgezogen war, um die Barneysche Nachbarschaft abzuklappern. Ja, da war ausführlich die Rede von den schweren Regenfällen, die über fast ganz Kalifornien niedergegangen waren. Und es wurde auch erwähnt, dass Einsatztrupps der Stadtwerke Überstunden machen mussten, um der vielen geborstenen Wasserrohre Herr zu werden. Die Wetterverhältnisse hatten auch eine kleine Verbrechenswelle mit sich gebracht — Kriminelle, die wohl infolge des atmosphärischen Umschwungs ein bisschen Amok liefen. Ich blätterte die Seiten durch, überflog Meldung um Meldung. Ich wusste selbst nicht genau, was ich suchte... ein Bindeglied, irgendeine Verbindung zu damals.

Die Fragen lagen auf der Hand. Wenn Tippy Parsons David Barneys Alibi stützen konnte, warum war sie dann nicht schon vor Jahren mit ihrer Aussage herausgerückt? Natürlich konnte es sein, dass sie gar nicht dort gewesen war. Vielleicht hatte er jemand anderen gesehen, oder er hatte sich die ganze Sache nur ausgedacht, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Und falls sie wirklich dort gewesen war, bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie ihn nicht gesehen hatte, aber ihre Anwesenheit würde seiner Darstellung immerhin eine gewisse Glaubhaftigkeit verleihen. Und was war mit diesem Mann, von dem Barney behauptete, er habe die Szene mitbekommen? Welche Rolle spielte er bei alledem?

Ich griff zum Telefon und wählte Rhe Parsons Nummer, in der Hoffnung, sie in ihrem Atelier zu erwischen. Beim siebten Klingeln nahm sie ab, hörbar außer Atem. »Ja?«

»Rhe, hier ist Kinsey Millhone. Tut mir Leid, wenn ich Sie störe. Sie klingen, als hätte ich Sie schon wieder mitten aus der Arbeit gerissen.«

»Oh, hi. Machen Sie sich nichts draus. Ist wohl meine eigene Schuld. Ich sollte mir ein schnurloses Telefon zulegen und es mit ins Atelier nehmen. Entschuldigen Sie mein Geschnaufe. Ich bin wirklich nicht in Form. Wie geht es Ihnen?«

»Mir geht es gut, danke. Ist Tippy zufällig da?«

»Nein. Sie arbeitet heute bis sechs. Bei der Langustenbude unten am Pier. Worum geht es denn? Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«

»Vielleicht«, sagte ich. »Ich wollte gern wissen, wo sie in der Nacht war, als Isabelle ermordet wurde.«

»Sie war zu Hause, da bin ich mir ganz sicher. Warum?«

»Ach, es ist wahrscheinlich nichts dran, aber jemand meint, sie in einem Lieferwagen herumfahren gesehen zu haben.«

»Einem Lieferwagen? Tippy hat nie einen Lieferwagen gehabt.«

»Dann muss es wohl ein Irrtum sein. War sie bei Ihnen, als die Polizei angerufen hat?«

»Sie meinen, wegen Isabelles Tod?« Für einen Moment war da ein Zögern in ihrer Stimme, das mir eine Warnung hätte sein sollen, aber vor lauter Konzentration auf meine Frage vergaß ich völlig, dass ich es mit einer Mutter zu tun hatte. »Sie wohnte damals bei ihrem Vater«, sagte sie zurückhaltend.

»Richtig. Das sagten Sie ja schon. Jetzt fällt’s mir wieder ein. Hatte er vielleicht einen Lieferwagen?«

Totenstille. Dann: »Hören Sie, Ihre Andeutungen missfallen mir sehr.«

»Welche Andeutungen? Ich frage doch nur.«

»Ihre Fragen klingen sehr pointiert. Ich hoffe, Sie wollen nicht unterstellen, dass Tippy irgendetwas mit der Sache mit Iz zu tun hatte.«

»Seien Sie nicht albern, Rhe. Ich würde nie und nimmer so etwas unterstellen. Ich versuche lediglich, eine Aussage zu entkräften. Das ist alles.«

»Was für eine Aussage?«

»Hören Sie, es ist wahrscheinlich nichts dran, und ich möchte mich lieber nicht weiter dazu äußern. Ich kann ja später mit Tippy selbst reden. Das hätte ich gleich tun sollen.«

»Kinsey, wenn irgendjemand irgendwelche Behauptungen über meine Tochter in die Welt setzt, habe ich ein Recht darauf, es zu erfahren. Wer sagt, sie sei unterwegs gewesen? Das ist eine unverschämte Anschuldigung.«

»Anschuldigung? Moment mal. Es ist doch wohl kaum eine Anschuldigung, wenn jemand sagt, er habe sie in einem Lieferwagen herumfahren sehen.«

»Wer hat das gesagt?«

»Rhe, es ist mir wirklich nicht möglich, meine Quellen offen zu legen. Ich arbeite für Lonnie Kingman, und diese Information fällt unter das Anwaltsgeheimnis...« Das stimmte zwar nicht, klang aber gut. Das Anwaltsgeheimnis galt nicht für mich und meinen Umgang mit irgendwelchen Zeugen. Ich konnte hören, wie sie sich zu zügeln versuchte.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen würden, was hier gespielt wird. Ich verspreche, Sie nicht nach Ihren Quellen zu fragen, wenn das wirklich so ein Staatsgeheimnis ist.«

Ich ging kurz mit mir zu Rate und befand, dass es keinen Grund gab, ihr die Information selbst vorzuenthalten. »Jemand behauptet, sie in der betreffenden Nacht draußen gesehen zu haben. Ich will nicht behaupten, dass das im Zusammenhang mit Isabelles Tod irgendwie relevant wäre, aber es kam mir merkwürdig vor, dass sie nie etwas davon gesagt hat. Ich dachte, sie hätte Ihnen vielleicht etwas erzählt.«

Rhes Stimme war kontrolliert. »Sie hat nie etwas davon gesagt, weil sie nicht draußen war.«

»Wunderbar. Mehr will ich ja gar nicht wissen.«

»Und selbst wenn, geht Sie das gar nichts an.«

Ich legte im Geist die Hand hinters Ohr. »Was heißt, >selbst wenn<?«

»Nichts. Nur so eine Redewendung.«

»Würden Sie ihr sagen, sie möchte mich bitte anrufen?«

»Ich werde ihr nicht sagen, dass sie Sie anrufen soll!«

»Wie Sie wollen, Rhe. Entschuldigen Sie die Störung.« Ich knallte den Hörer auf und spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Was hatte diese Frau? Ich machte mir eine Notiz wegen einer Vorladung für Tippy, falls das nicht schon passiert war. Ich hatte Barneys Geschichte nicht sonderlich viel Glauben geschenkt, bis ich Rhes Reaktion erlebte.

Ich bat Ruth, mir die kompletten Protokolle des Mordprozesses zu beschaffen. Dann lümmelte ich mich in meinen Drehstuhl, die Füße auf dem Schreibtisch, die Hände vor dem Bauch gefaltet, um über die ganze Entwicklung nachzudenken. Durch Morleys Schlampigkeit und seinen plötzlichen Tod saßen wir ganz schön in der Klemme. Lonnies Hauptzeuge entpuppte sich als windig, und jetzt sah es auch noch so aus, als hätte der Angeklagte tatsächlich ein Alibi. Das würde Lonnie gar nicht gerne hören. Immer noch besser, er erfuhr es jetzt als am ersten Verhandlungstag, wenn Herb Foss seine Eröffnungsrede an die Geschworenen hielt, aber es würde ihm trotzdem nicht gefallen. Er würde Freitagabend nach Hause kommen und ein schönes Wochenende mit seiner Frau verbringen wollen. Er war seit achtzehn Monaten mit einer Kewpo-Karatelehrerin verheiratet, die er erfolgreich in einem Verfahren wegen schwerer Körperverletzung verteidigt hatte. Ich versuche immer noch dahinter zu kommen, was Maria eigentlich getan hatte, aber bisher konnte ich nur aus ihm herausholen, dass die strittige Handlung aus einem Vergewaltigungsversuch resultierte und der Mann sich in der Folge aus dem aktiven Leben zurückziehen musste. Ich zwang meine abschweifenden Gedanken zu der aktuellen Sachlage zurück. Wenn Lonnie am Montagmorgen ins Büro spaziert kam, würde die Hölle losbrechen. Und ein Teil des Ärgers würde zwangsläufig mich treffen.

Ich ging noch einmal die Zeugenliste durch, die Lonnie im Zuge der Offenlegung der Prozessunterlagen erhalten hatte. Ein William Angeloni war dort aufgeführt, obgleich seine Aussage nicht schriftlich niedergelegt worden war. Ich schrieb mir seine Adresse auf, sah im Telefonbuch nach und notierte seine Nummer. Ich nahm den Telefonhörer ab und legte ihn dann wieder auf. Besser, ich ging persönlich hin, dann konnte ich ihn mir gleich anschauen. Vielleicht war er ja irgendein Windhund, den David Barney angeheuert hatte, damit er für ihn log. Ich stopfte ein paar Papiere in meine Aktenmappe und rannte wieder los.

 

Die besagte Straße lag drüben auf der Westseite, und das Haus war ein kleiner Steinbungalow, der gerade umfassenden Umbaumaßnahmen unterzogen wurde. Teile des Dachs waren abgedeckt, die Außenmauern auf der einen Seite herausgebrochen. Große, milchige Plastikfolien über den Dachsparren schützten die noch intakten Räume. An der einen Außenwand lagerten säuberlich gestapelt Holz und Hohlblocksteine. Ein großer, dunkelblauer Container stand in der Einfahrt, voll mit Steinschutt und alten, von rostigen Nägeln starrenden Dachlatten. Es schien, als hätten die Arbeiter für heute schon Feierabend gemacht, aber im Hof stand noch ein Mann mit einer Bierdose in der Hand. Ich parkte meinen Wagen auf der anderen Straßenseite, stieg aus und ging hinüber an den Rand des ramponierten Rasens. »Ich suche Bill Angeloni. Sind Sie das zufällig?«

»Das bin ich«, sagte er. Er war Mitte dreißig und extrem gut aussehend — dunkles, glattes Haar, etwas länger und zur Seite gekämmt, dunkle Augen, ausgeprägte Nase, Grübchen und ein männliches Kinn, dessen Bartwuchs beizukommen bestimmt sechs Bahnen mit dem Rasierapparat erforderte. Er trug Jeans, dreckverkrustete Arbeitsstiefel und ein blaues Jeanshemd mit aufgerollten Ärmeln. Die Haare auf seinen Unterarmen waren dunkel und seidig. Er roch nach feuchter Erde und Metall. Er sah aus wie der Hauptdarsteller in einem Film über die tragische Liebe zwischen einer Millionenerbin und einem Wildhüter. Ich mahnte mich, dass es wahrscheinlich ungebührlich wäre, mich an seine Brust zu werfen und meine Nase dortselbst zu vergraben.

»Kinsey Millhone«, stellte ich mich vor. Wir schüttelten uns kurz die Hand, und ich erklärte ihm, in welchem Auftrag ich kam. »Ich hatte gerade eine kleine Unterhaltung mit David Barney, und er erwähnte Ihren Namen.«

Angeloni schüttelte den Kopf. »Ich kann’s nicht fassen, dass das arme Schwein schon wieder vor Gericht muss.« Er leerte sein Bier vollends, zerdrückte die Dose und beförderte sie mit einem gekonnten Sprungwurf in den Container, wo sie mit einem Plong landete. Er sagte: »zwei Punkte« und imitierte, die Faust vor dem Mund, eine johlende Menge. Er hatte ein sympathisches, offenes Lächeln.

»Diesmal geht’s um Mord«, sagte ich.

»Herrje. Aber ich dachte immer, sie könnten einen nicht zwei Mal wegen derselben Sache drankriegen.«

»Das gilt für Strafverfahren. Das ist jetzt ein Zivilprozess.«

»Ich bin froh, dass ich nicht an seiner Stelle bin. Möchten Sie ein Bier? Ich bin gerade von der Arbeit gekommen, und dann brauche ich immer erst ein paar. Dieses Haus ist ein einziger Trümmerhaufen. Vorsicht, hier liegen überall Nägel herum.«

»Klar, ich nehme gern eins«, sagte ich. Ich folgte ihm in Richtung Küche, die durch das Plastik eindeutig zu identifizieren war. Sein Hintern war auch sehr niedlich. »Wie lange geht das schon?«

»Der Umbau? Einen Monat etwa. Wir bauen ein großes Wohnzimmer an und ein paar Schlafzimmer für die Kinder.«

Vergiss es, dachte ich, während wir uns den Weg in die Küche bahnten. Er nahm zwei Bier aus einem Sechserpack und machte sie beide auf. »Ich muss den Grill anwerfen, bevor Julianna mit der ganzen Kinderschar nach Hause kommt. Mein Koch-Tag heute«, sagte er mit seinem Grübchen-Lächeln.

»Wie viele Kinder haben Sie?«

Er hielt eine Hand hoch und wackelte mit den Fingern.

»Fünf.«

»Und eines in Arbeit. Alles Jungen. Diesmal hätten wir gern ein kleines Mädchen.«

»Sind Sie noch bei den Stadtwerken?«

»Zehn Jahre im Mai«, sagte er. »Und Sie sind Privatdetektivin. Wie ist das denn so?«

Ich plauderte ein wenig über meine Arbeit, während er die Asche aus dem Grill räumte. Er hatte einen kleinen elektrischen Anzünder, den er in ein Verlängerungskabel stöpselte. Dann häufte er Holzkohlenbriketts darauf, die er mit einer langen Zange zurechtrückte. Ich wusste, ich hätte die Sache straffen sollen. Ich brauchte ja weiter nichts als die Bestätigung, dass er Barney in der Mordnacht gesehen hatte — und vielleicht auch noch Tippy Parsons — , aber irgendwie hatten diese häuslichen Tätigkeiten etwas Hypnotisches. Ich war noch nie mit einem Mann zusammen gewesen, der meinetwegen einen Grill angeworfen hätte. Glückliche Julianna.

»Könnten Sie mir von der Nacht erzählen, als Sie David Barney gesehen haben?«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Wir waren draußen und haben die Straße aufgebuddelt, um ein kaputtes Rohr zu finden. Es hatte tagelang geschüttet, aber inzwischen hatte es aufgehört. Ich hörte einen dumpfen Schlag, und als ich hochguckte, sah ich einen Mann im Jogginganzug auf der Straße liegen. Ein kleiner Lieferwagen schoss gerade links um die Ecke in den San Vicente und hatte ihn wohl leicht erwischt. Er rappelte sich auf, humpelte zu uns herüber und setzte sich auf den Bordstein. Er war ein bisschen zittrig, aber nicht verletzt. Vor allem sauer, wie das eben so ist. Wir haben ihm angeboten, einen Krankenwagen zu rufen, aber er wollte nichts davon wissen. Er blieb sitzen, bis er sich einigermaßen gefangen hatte, und lief dann wieder los, langsam und ein bisschen humpelnd. Die ganze Sache hat vielleicht zehn Minuten gedauert.«

»Haben Sie den Fahrer des Lieferwagens gesehen?«

»Nicht so genau. Es war ein junges Mädchen, aber ihr Gesicht habe ich nicht richtig gesehen.«

»Und die Nummer? Haben Sie sich die gemerkt?«

Er zuckte bedauernd die Achseln. »Ich hab gar nicht dran gedacht. Aber der Lieferwagen war weiß, so viel ist sicher.«

»Wissen Sie die Marke?«

»Ford oder Chevy. Jedenfalls ein Amerikaner.«

»Woher wussten Sie, dass der Mann David Barney war? Hat er sich vorgestellt?«

»In dem Moment nicht. Er hat sich später mit uns in Verbindung gesetzt.«

»Woher wusste er, wer Sie waren?«

»Er hat uns über die Stadtwerke ausfindig gemacht. Mich und meinen Kumpel James. Er wusste ja Datum, Zeit und Ort, deshalb war das nicht weiter schwer.«

»Kann James das alles bestätigen?«

»Klar. Wir haben ja beide mit dem Mann geredet.«

»Und als Mr. Barney sich dann mit Ihnen in Verbindung setzte — wussten Sie da schon von der Ermordung seiner Frau?«

»Ich hatte es in der Zeitung gelesen. Aber der Zusammenhang war mir nicht klar, bis er uns gesagt hat, wer er war. Mein Gott, grässliche Sache. Haben Sie davon gehört?«

»Deswegen bin ich hier. Der Mann schwört nach wie vor, dass er’s nicht war.«

»Na ja, ich seh auch nicht, wie er’s hätte tun sollen. Er war ja meilenweit weg.«

»Erinnern Sie sich noch an die genaue Uhrzeit?«

»Ziemlich genau ein Uhr fünfundvierzig. Vielleicht ein kleines bisschen früher, aber später auf keinen Fall, weil ich noch auf die Uhr geguckt habe, als er wieder losgelaufen ist.«

»Fanden Sie es nicht merkwürdig, dass jemand um halb zwei in der Nacht draußen herumjoggt?«

»Überhaupt nicht. Ich hatte ihn ja schon in der Nacht zuvor die gleiche Strecke laufen sehen. Bei Nachteinsätzen sieht man die seltsamsten Sachen.«

»Sie haben bei dem Mordprozess ausgesagt?«

»Klar.«

»Und diesmal? Werden Sie wieder aussagen?«

»Aber sicher. Man muss dem armen Kerl doch helfen.«

Ich ging im Stillen noch einmal Barneys Geschichte durch und versuchte, mich genau zu erinnern, was er gesagt hatte. »Und die Polizei? Haben die Sie auch befragt?«

»Irgendein Beamter vom Morddezernat hat mich angerufen, und ich habe ihm alles erzählt, was ich wusste. Er hat sich bedankt, und das war das Letzte, was ich von ihm gehört habe. Ich will Ihnen was sagen — die konnten ihn nicht leiden. Für sie war er schon schuldig, ehe er vor Gericht stand.«

»Vielen Dank. Das war sehr freundlich von Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen. Ich werde mich vielleicht wieder bei Ihnen melden, falls ich noch Fragen habe.« Ich gab ihm meine Karte, für den Fall, dass ihm noch etwas einfiel. Ich setzte mich in mein Auto und machte mir erst mal Notizen, solange ich seine Aussage noch frisch im Gedächtnis hatte.

Ich dachte über Tippy nach, gründelte in meinem Gedächtnis. Nach dem, was Rhe gesagt hatte, musste das die Zeit ihres Jugendalkoholismus gewesen sein. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Rhe sie zu ihrem Vater geschickt, weil sie nicht mehr miteinander klargekommen waren. Woher wollte Rhe dann wissen, ob Tippy in der fraglichen Nacht zu Hause gewesen war oder nicht? Vielleicht sollte ich einfach Tippy fragen und basta. »Das Nächstliegende tun« war schon immer eine meiner zentralen Arbeits-Maximen.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war fünf nach halb sechs. Die Langusten-Bude lag draußen auf dem Pier — etwa zwei Blocks von meiner Wohnung und nicht sehr weit von Bill Angelonis Haus. Ich fuhr über die Rückseite des Capillo Hill heimwärts. Wenn Tippy in der betreffenden Nacht wirklich unterwegs gewesen war, sah ich keinen Grund, weshalb sie es sechs Jahre später nicht zugeben sollte. Vielleicht hatte sie nur nie jemand danach gefragt. Welch ein aufmunternder Gedanke.