7
Ich fuhr noch beim Büro vorbei, um meine Notizen abzutippen. Das Lämpchen an meinem Anrufbeantworter blinkte fröhlich. Ich drückte die Abhörtaste. Es war Isabelles Freundin Rhe Par-sons. Sie klang gehetzt und mechanisch, wie jemand, der einen Anruf tätigt, nur um ihn hinter sich zu bringen. Ich wählte ihre Nummer und blätterte in einer der Akten auf meinem Schreibtisch, während das Telefon bei ihr klingelte. Wo sollte ich einen Zeugen hernehmen, der David Barney etwas anhängen konnte? Lonnie war ein Witzbold, aber andererseits — das wäre wirklich ein Coup. Das vierte Klingeln... das fünfte. Ich wollte gerade einhängen, als sich am anderen Ende abrupt jemand meldete. »Ja?«
»Oh, hi. Hier ist Kinsey Millhone. Könnte ich bitte mit Rhe Parsons sprechen?«
»Am Apparat. Wer ist dran?«
»Kinsey Millhone. Ich habe Ihnen eine Nachricht...«
»Ach ja, richtig«, fiel sie mir ins Wort. »Wegen Isabelle.«
»Ich wende mich an Sie, weil ich weiß, dass Sie vor ein paar Wochen mit Morley Shine gesprochen haben.«
»Mit wem?«
»Dem Privatdetektiv, der die Sache bearbeitet hat. Leider ist er an einem Herz...«
»Ich habe nie mit irgendjemandem über Isabelle geredet.«
»Sie haben nicht mit Morley gesprochen? Er arbeitete für einen Anwalt, der Kenneth Voigt in seinem Prozess vertritt.«
»Ich weiß von nichts.«
»Tut mir Leid. Dann war das wohl eine Fehlinformation. Vielleicht sollte ich Ihnen einfach erklären, worum es geht«, sagte ich. Ich setzte ihr kurz auseinander, was es mit dem Prozess auf sich hatte und was mein Job bei der Sache war. »Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen als unbedingt nötig, aber ich würde mich gern kurz mit Ihnen unterhalten.«
»Ich bin völlig gestresst. Sie hätten wirklich keinen ungünstigeren Zeitpunkt erwischen können«, sagte sie. »Ich bin Bildhauerin und habe in zwei Tagen eine Ausstellung. Dafür geht im Moment jede freie Minute drauf.«
»Wie wär’s mit einem Kaffee oder einem Gläschen Wein irgendwann später am Tag? Von mir aus ruhig nach Feierabend. Ich kann mich ganz nach Ihnen richten.«
»Aber muss es denn heute sein? Hat das nicht bis nächste Woche Zeit?«
»Der Gerichtstermin ist bald.« Andere Leute haben auch zu tun, dachte ich.
»Hören Sie, ich will ja nicht gemein sein, aber sie ist seit sechs Jahren tot. Was immer mit David Barney passiert — es macht sie auch nicht wieder lebendig. Was hat das denn für einen Sinn?«
Ich sagte: »Wenn man genau hinsieht, hat überhaupt nichts Sinn. Wir könnten uns alle gegenseitig das Gehirn aus dem Schädel pusten, aber wir tun es nicht. Natürlich bringt es sie nicht wieder zurück, aber sinnlos muss es deswegen noch lange nicht sein.«
Schweigen. Ich wusste, sie wollte nicht, und es widerstrebte mir, sie zu drängen, aber es musste sein.
Tatsächlich, sie rührte sich, unwillig, aber doch immerhin bereit, mir entgegenzukommen. »Meinetwegen. Ich halte heute Abend von sieben bis zehn meinen Zeichenkurs beim Erwachsenen-Bildungswerk. Wenn Sie dort vorbeikommen, können wir reden, während die Teilnehmer arbeiten. Das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.«
»Wunderbar. Das reicht völlig. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Sie erklärte mir, wo ich sie finden würde. »Raum zehn, ganz hinten.«
»Bis dann.«
Ich kam um 17 Uhr 3 5 nach Hause und sah, dass in Henrys Küche Licht brannte. Ich ging von meiner Hintertür zu seiner hinüber und linste durch das Fliegengitter. Er saß in seinem Schaukelstuhl bei seinem abendlichen Jack Daniels und las die Zeitung, während das Essen vor sich hin kochte. Der Duft von Bratwurst und Zwiebeln wehte mir entgegen. Henry legte die Zeitung weg. »Kommen Sie rein.«
Ich öffnete die Fliegentür und trat in die Küche. Ein großer Topf mit Wasser begann gerade zu sieden, und ich sah Tomatensoße auf der hinteren Platte köcheln. »Hi, Henry, wie geht’s? Was immer da kocht, es riecht göttlich.«
Er hatte bestimmt sein Leben lang gut ausgesehen, aber jetzt, mit dreiundachtzig, war er eine elegante Erscheinung — groß, schlank, mit schneeweißem Haar und blauen Augen, die in seinem gebräunten Gesicht zu leuchten schienen. »Ich will Lasagne machen. William kommt heute Abend.« Henrys zwei Jahre älterer Bruder William hatte im August einen Herzinfarkt gehabt und sich immer noch nicht richtig erholt. Henry hatte erwogen, zu ihm nach Michigan zu fahren, dann aber doch beschlossen, den Besuch zu verschieben, bis sich sein Zustand gebessert hatte. Das war nun offenbar eingetreten, denn William hatte ihn angerufen, um sich anzukündigen.
»Stimmt ja. Das hatte ich ganz vergessen. Na, das wird ja spannend. Wie lange will er bleiben?«
»Zwei Wochen. Wenn ich ihn ertragen kann, auch länger. Er wird mir schrecklich auf die Nerven gehen. Körperlich ist er zwar wieder fit, aber er ist seit Monaten total deprimiert. Hängt völlig durch. Lewis sagt, er kreist nur noch um sich selbst. Ich bin sicher, Lewis schickt ihn nur hierher, um sich an mir zu rächen.«
»Was haben Sie ihm denn getan?«
»Keine Ahnung. Das sagt er nicht. Sie wissen ja, wie väterlich Lewis sich manchmal aufspielt. Er will mich immer dazu bringen, in mich zu gehen und über meine Sünden nachzudenken, für den Fall, dass da eine war, von der er nichts weiß. Ich habe ihm 1926 ein Mädchen ausgespannt. Ich vermute, das will er mir jetzt heimzahlen, aber vielleicht ist es auch etwas anderes. Er hat ein Gedächtnis wie ein Elefant und kein Fünkchen Großmut.« Henrys Bruder Lewis war sechsundachtzig. Sein dritter Bruder Charlie war einundneunzig, und seine einzige Schwester würde am einunddreißigsten Dezember vierundneunzig werden. »Aber ich wette, es war gar nicht seine Idee. Wahrscheinlich hat Nell William rausgeworfen. Sie konnte ihn noch nie besonders gut leiden, und jetzt sagt sie, er redet nur noch vom Sterben. Das will sie nicht hören, wo sie doch bald Geburtstag hat. Sie sagt, er macht sie fix und fertig.«
»Wann kommt sein Flugzeug an?«
»Viertel nach acht, falls es nicht vorher abstürzt. Ich dachte, ich mache uns Salat und Lasagne, und danach gehen wir vielleicht noch auf ein Bier zu Rosie. Möchten Sie mit uns essen? Ich habe einen Kirschkuchen zum Nachtisch gebacken. Das heißt, eigentlich habe ich sechs gemacht. Die übrigen fünf kriegt Rosie, für meine Getränkerechnung.« Rosie ist die Wirtin der Kneipe in unserem Viertel, eine Ungarin mit einem unaussprechlichen Nachnamen. Seit Henry sich als Konditor zur Ruhe gesetzt hat, tauscht er seine Produkte gegen alles Mögliche ein. Außerdem beliefert er die Teekränzchen in der Nachbarschaft, und die Nachfrage ist rege.
»Geht nicht«, sagte ich. »Ich habe um sieben einen Termin, und es kann später werden. Ich dachte, ich esse noch einen Happen bei Rosie, ehe ich mich aufmache.«
»Vielleicht sehen wir uns ja morgen mal. Ich weiß nicht, wie wir den Tag verbringen werden. Depressive Menschen tun ja nicht viel. Wahrscheinlich werde ich hier herumsitzen und Zusehen, wie er sein Elavil schluckt.«
Das Haus, in dem Rosie ihre Kneipe betreibt, sieht aus, als wäre früher dort mal ein Lebensmittelgeschäft gewesen. Von außen ist es schmal und unscheinbar, und der Blick durch die Scheiben wird behindert von abblätternden Reklameaufklebern für Bier und von summenden Neonschildern. Die Kneipe liegt eingezwängt zwischen einer Elektrowerkstatt und einem schummrigen Waschsalon, dessen Kunden bei Rosie unterschlüpfen, um bei einem Bier und einer Zigarette das Ende des Waschgangs abzuwarten. Der Fußboden besteht aus Holzdielen, die Wände aus dunkelmahagoni gebeiztem Furnierholz. Die Sitznischen entlang der Wände sind roh gezimmert und ganz darauf angelegt, dass man sich Splitter holt, wenn man zu schnell hineinrutscht. Es gibt etwa zehn wacklige Tische mit schwarzen Resopalplatten. Während des Essens ist man nicht selten damit beschäftigt, das Wackeln mit Hilfe diverser Streichholzbriefchen und gefalteter Papierservietten abzustellen. Die Beleuchtung ist von der Art, die einen aussehen lässt, als hätte man zu viel Bräunungscreme benutzt.
Das Essen selbst verlief in der Regel ohne Zwischenfälle, wenn man sich erst gefügt hatte und bestellte, was Rosie empfahl. Sie ist eine imposante Erscheinung: in den Sechzigern, Ungarin, mit einem riesigen Busen, eine gnadenlose Handlangerin der Food-Mafia. Das Tagesgericht war diesmal Gulyás.
»Ich dachte eigentlich eher an einen Salat. Ich brauche was Gesundes, nach all dem vielen Junk-Food.«
»Salat für hinterher. Erst gibt Gulyás. Ich mache ganz original. Sie werden mögen«, sagte sie. Sie trug bereits die Bestellung in das kleine Notizbuch ein, das sie seit einiger Zeit immer mit sich herumtrug. Ich fragte mich, ob sie dort wohl über alles Buch führte, was ich je bei ihr gegessen hatte. Ich hatte einmal hineinzulinsen versucht, aber sie hatte mir mit ihrem Bleistift eins übergezogen.
»Rosie, ich weiß noch nicht mal, was Gulyás ist.«
»Schscht! Ich werde Ihnen sagen.«
»Dann sagen Sie’s mir. Ich bin sehr neugierig.«
Sie musste sich erst in Positur stellen wie eine Konzert-Violinistin. Sie spricht gern ein betont holpriges Englisch, wohl, weil sie denkt, dass es ihr noch mehr Autorität verleiht. »In Ungarn Gulyás bedeutet >Hirt<. Hirt von Schafe. Diese Gericht stammt aus neunte Jahrhundert. Ist serr gutt. Die Schafhirte kochen die Würfel von Fleisch mit Zwiebel, wenig Flüssigkeit dabei. Keine Paprika, so ich benutze auch nicht. Wenn Flüssigkeit ist verkocht, Fleisch wird an Sonne getrocknet und dann gesteckt in Beutel, was ist gemacht aus runde Ding von Schaf... Wie sagt man...«
»Hoden?«
»Magen.«
»Hmm, vorverdaut. Sehr schmackhaft. Ich nehme es. Den Rest will ich lieber nicht hören.«
»Gutt«, sagte sie zufrieden.
Das Gericht, das sie mir brachte, war das, was meine Tante »Galoschen« zu nennen pflegte: Rindfleischwürfel, mit Zwiebeln geschmort und mit Sauerrahm angedickt. Es war wirklich köstlich, und der saure Salat hinterher der perfekte Kontrast. Rosie gestattete mir ein Glas mittelmäßigen Rotwein, ein paar Brötchen mit Butter und einen Käseteller zum Nachtisch. Das Essen kostete nur neun Dollar, also konnte ich mich nicht beschweren. Ich fragte mich nur dunkel, ob ich vielleicht zu schnell kapituliert hatte.
Während ich meinen Kaffee trank, baute sie sich neben mir auf, um mir ihr Leid zu klagen. Ihr Hilfskellner Miguel, ein mürrischer Bursche von fünfundvierzig, drohte zu gehen, wenn sie nicht seinen Lohn erhöhte. »Ist doch lächerlich. Warum sollte er kriegen mehr? Nur weil er hat gelernt Geschirrwaschen, wie ich ihm habe gezeigt? Er sollte bezahlen mich.«
»Rosie!«, sagte ich. »Der Mann hat die Spülerei übernommen, als Ralph vor sechs Monaten gegangen ist. Jetzt macht er zwei Jobs, und dafür sollte er auch bezahlt werden. Außerdem ist bald Weihnachten.«
»Ist leichte Arbeit«, erklärte sie, unbelastet von Idealen wie Fairness, Gerechtigkeit oder festtäglicher Großzügigkeit.
»Seine letzte Lohnerhöhung ist zwei Jahre her. Das hat er mir selbst erzählt.«
»Sie sind seine Partei, ich sehe schon.«
»Natürlich bin ich das. Er ist eine prima Kraft. Ohne ihn wären Sie doch aufgeschmissen.«
Ihre Miene war stur. »Ich nicht mag Männer, die immer ziehen Flunsch.«
Die Bildungsstätte, wo Rhe Parsons unterrichtete, lag an der Bay Street, jenseits des Freeway, etwa zwei Querstraßen vom St.-Terry-Krankenhaus. Der Komplex, der früher eine Grundschule gewesen war, enthielt ein paar Büroräume, eine kleine Aula und zahllose mobile Klassenräume. Raum zehn war gleich hinter dem Parkplatz, ein überdimensionales Malatelier mit einer Tür an jedem Ende. Licht fiel von drinnen über den Fußweg. Ich habe eine natürliche Abneigung gegen Bildungsinstitutionen, aber Zeichnen schien mir harmlos — anders als Mathematik oder Chemie. Ich linste hinein.
Der Raum war fast leer, bis auf einige Staffeleien und ein paar hölzerne Stühle mit geraden Lehnen. In der Mitte befand sich ein niedriges Podest, auf dem eine Frau in einem Morgenmantel, offenbar das Modell, auf einem hohen, hölzernen Höcker thronte und in einer Illustrierten las. Überall standen Kursteilnehmer herum. Sie waren zwischen Ende dreißig und über siebzig. In Santa Teresa sind die meisten Erwachsenenbildungskurse kostenlos. Bei einer praktischen Veranstaltung wie dieser werden vielleicht zwei Dollar für Material kassiert, aber der Unterricht ist in der Regel gratis und für jedermann offen. Ich blieb am Ende des Raumes stehen. Hinter mir fuhren weitere Autos auf den Parkplatz. Es war 18 Uhr 52, und immer noch kamen Leute schwatzend hereinspaziert. Ich beobachtete, wie ein paar Frauen zusätzliche Staffeleien aus einem kleinen Materialraum heranschleppten. Jemand hatte eine Kaffeemaschine in Gang gesetzt, und ich sah eine große, rosafarbene Konditorei-Schachtel, wahrscheinlich voller Plätzchen, für die Pause zum Kaffee. Aus einem Kassettenrecorder erklang Kitaros Silk Road, leise und verführerisch. Es roch nach Ölfarbe und Kreidestaub und frisch gebrühtem, starken Kaffee.
Das dort musste Rhe Parsons sein. Sie kam mit einer großen Papierrolle und einer Schachtel Stifte aus einem Kämmerchen: Jeans und ein Arbeitshemd aus Baumwollköper mit aufgerollten Ärmeln, ein Päckchen Zigaretten in der linken Brusttasche. Kein Make-up, kein BH. Sie trug solide Ledersandalen und einen handgemachten Ledergürtel. Ihr Haar war dunkel und hinten zu einem Zopf geflochten, der ihr über den halben Rücken hing. Ich schätzte sie auf Ende dreißig und fragte mich, ob sie wohl damals in Woodstock dabei gewesen war. Ich hatte Videos von dem Konzert gesehen und konnte sie mir gut vorstellen, wie sie barfuß durch den Matsch tanzte, splitternackt, mit einem Joint, hüftlangem, offenen Haar und aufgemalten Gänseblümchen auf den Wangen. Mit den Jahren war eine gewisse Genervtheit über sie gekommen, was den Besten unter uns passiert. Sie deponierte die Pinsel auf einer Ablage und trug die Papierrolle zu einem großen Arbeitstisch, wo sie sich daran machte, mit einem Riesen-Papierschneider gleich große Stücke abzutrennen. Etliche Kursteilnehmer ohne eigene Zeichenblöcke stellten sich in einer Zickzack-Schlange an. Rhe musste meinen Blick gespürt haben. Sie sah auf, sichtete mich und machte dann weiter. Ich ging quer durch den Raum auf sie zu und stellte mich vor. Sie hätte nicht freundlicher sein können. Vielleicht ging es ihr wie so vielen notorisch missgelaunten Leuten, und ihre Gereiztheit verflog von einer Sekunde auf die andere und machte einer sonnigeren Seite ihres Wesens Platz.
»Tut mir Leid, wenn ich am Telefon etwas kurz angebunden war. Ich muss nur eben noch dies hier in Gang bringen, dann können wir uns draußen vor der Tür unterhalten.« Sie sah auf ihre Uhr. Es war Punkt sieben. Sie klatschte einmal in die Hände. »Okay, Leute. Fangen wir an. Wir bezahlen Linda schließlich nach Stunden. Als Erstes machen wir heute ein paar rasche Skizzen, jeweils eine Minute. Das Ganze ist eine Lockerungs-Übung, also kümmern Sie sich nicht um Kleinigkeiten. Erfassen Sie das Ganze. Nutzen Sie das Blatt aus. Ich will keine klitzekleinen pedantischen Bildchen sehen. Betsy wird auf die Zeit achten. Wenn es klingelt, das nächste Blatt nehmen und neu anfangen. Noch Fragen? Okay. Viel Spaß.«
Es gab ein kurzes Hin und Her, bis die Spätankömmlinge freie Staffeleien gefunden hatten. Das Modell hüpfte vom Hocker, ließ den Morgenmantel fallen und nahm eine Pose ein: vornüber gebeugt, die Hände auf den Hocker gestützt, der Rücken eine anmutige Kurve. Es war tröstlich, dass sie aussah wie eine gewöhnliche Sterbliche — rund und missproportioniert, Bauch und Brust vom Kinderkriegen erschlafft. Die Frau neben mir musterte das Modell kurz und begann dann zu zeichnen. Fasziniert sah ich zu, wie sie die Linie der Schulter einfing, den Bogen der Wirbelsäule. Die Stille im Raum war ein Kontrast für das lyrische Plätschern der Musik.
Rhe beobachtete mich. Ihre Augen waren kakigrün, ihre Brauen ungezupft. Sie steuerte auf den Hinterausgang zu, und ich folgte ihr. Die Nachtluft war fünf Grad kühler als der Raum. Sie lehnte sich an eine der Dachstützen, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Zeichnen Sie? Sie haben so interessiert geguckt.«
»Können Sie den Leuten wirklich beibringen, wie man das macht?«
»Natürlich. Möchten Sie’s lernen?«
Ich lachte. »Ich weiß nicht. Es macht mich kribbelig. Ich habe noch nie irgendwas Künstlerisches gemacht.«
»Sie sollten es mal probieren. Ich wette, es würde Ihnen gefallen. Im Herbstsemester mache ich einen Grundkurs. Das hier ist Aktzeichnen, für Leute mit einigen Vorkenntnissen. Glauben Sie mir. Sie könnten es im Nu lernen.« Ihr Blick schweifte über den Parkplatz.
»Erwarten Sie jemanden?«
Sie sah mich wieder an. »Meine Tochter kommt gleich vorbei. Sie will sich meinen Wagen leihen. Wenn Sie solange dableiben, könnten Sie mich vielleicht nachher nach Hause bringen.«
»Klar. Kann ich machen.«
Sie kam wieder auf ihr Thema zurück, vielleicht, um das Gespräch über Isabelle noch hinauszuschieben. »Ich zeichne, seit ich zwölf war. Ich erinnere mich noch genau, wie es angefangen hat. In der sechsten Klasse. Wir haben eine Exkursion gemacht, in einen kleinen Park mit einem Bassin. Alle anderen malten den Springbrunnen mit diesen kleinen Strichmännchen drumherum. Ich habe die Zwischenräume des Stacheldrahtzauns gezeichnet. Mein Bild sah wirklich naturgetreu aus. Die anderen Bilder sahen alle aus wie von Sechstklässlern gemalt. Es war wie eine optische Täuschung... irgendwas hat sich verschoben. Ich merkte, wie mein Gehirn plötzlich einen anderen Gang einlegte, und ich musste lachen. Von da an war ich so eine Art Wunderkind, der Star in meiner Klasse. Ich konnte alles zeichnen.«
»Darum beneide ich Sie. Ich stelle mir das immer wunderbar vor. Kann ich Sie jetzt wegen Isabelle fragen? Sie sagten, Ihre Zeit sei knapp.«
Sie sah jetzt weg, und ihre Stimme sackte ein bisschen ab. »Von mir aus. Wieso nicht? Ich habe heute Nachmittag mit Simone gesprochen, und sie hat mir gesagt, worum es geht.«
»Tut mir Leid, dass ich wegen Morley Shine nicht richtig informiert war. Seinen Akten zufolge müsste er mit Ihnen geredet haben. Ich wollte nur noch ein paar Dinge ergänzen.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe nie von ihm gehört, was nur gut ist. Es wäre mir wirklich sehr lästig gewesen, zwei Mal das Gleiche zu erzählen. Aber was möchten Sie denn von mir wissen?«
»Wie haben Sie Isabelle kennen gelernt?«
»An der Uni. Wir haben einen Kurs in Drucktechniken absolviert. Ich war damals achtzehn, unverheiratet, mit einem kleinen Kind am Hals. Tippy war zwei. Ich wusste, wer ihr Vater war. Er ist immer mal eingesprungen und hat mir auch finanziell geholfen, aber er war nicht der Typ, den ich je geheiratet hätte...«
Ich sah einen Dope-Dealer vor mir, auf dem einen Nasenflügel einen kleinen Rubin, der aussah wie ein billiges Glitzersteinchen, das wallende, ungewaschene Haar schulterlang.
»...Isabelle war gerade neunzehn geworden und verlobt, mit diesem Burschen, der später bei dem Bootsunfall umgekommen ist. Wir waren beide viel zu jung für den ganzen Schlamassel, aber es hat uns zusammengeschweißt. Wir waren vierzehn Jahre lang Freundinnen. Sie fehlt mir sehr.«
»Sind Sie mit Simone auch befreundet?«
»In gewisser Weise schon, aber nicht so wie mit Isabelle. Für Schwestern waren sie ganz schön verschieden... extrem sogar. Iz war ein besonderer Mensch. Das war sie wirklich. Enorm begabt.« Sie hielt inne, um ein letztes Mal an ihrem Zigarettenstummel zu ziehen, ehe sie ihn auf den Parkplatz schnippte. »Tipp hat Isabelle vergöttert. Sie war für sie eine Art zweite Mutter. Sie hat Iz Sachen erzählt, die sie mir nicht erzählen wollte. Ist auch gut so, wenn Sie mich fragen. Ich glaube, es gibt Dinge, die Mütter über ihre Kinder nicht unbedingt wissen sollten.« Sie unterbrach sich und hob den einen Zeigefinger. »Augenblick, ich will mal kurz nachsehen, was meine Leute machen.«
Sie trat an die Tür und schaute in den Kursraum. Ich sah, wie ihr einer der Teilnehmer, ein etwa sechzigjähriger Mann, sein verwirrtes Gesicht zuwandte. Er hob schüchtern die Hand. »Kleinen Moment«, sagte sie. »Ich muss wohl was tun für mein Geld.«
Der Mann, der sie zu sich gerufen hatte, ließ eine umständliche Frage vom Stapel. Rhe begleitete ihre Antwort mit Gesten, die an Taubstummensprache erinnerten. Was immer sie erklärte — er schien es erst mal nicht zu kapieren. Das Modell hatte die Pose gewechselt und saß jetzt auf dem Hocker, den einen nackten Fuß auf der oberen Quersprosse. Ich sah den Winkel ihrer Hüfte und die Linie, wo die Sitzfläche ihren Hintern plattdrückte. Rhe war weitergegangen. Ich wartete, dass sie ihre Runde von Staffelei zu Staffelei beendete.
Ich hörte Schritte hinter mir und drehte mich um. Eine junge Frau in engen Jeans und hochhackigen Cowboystiefeln kam auf mich zu. Sie trug ein Westernhemd und eine große Ledertasche über der Schulter wie eine Postbotin. Sie sah aus wie eine plumpere Ausgabe von Rhe, obgleich sich ihre Züge mit fortschreitender Reife wahrscheinlich verfeinern würden. Im Augenblick wirkte sie wie eine grobe Bleistiftskizze für ein Ölporträt. Ihr Gesicht war breit, die Wangen noch vom letzten Babyspeck gerundet, aber sie hatte die gleichen grünen Augen, den gleichen langen, dunklen Zopf. Ich schätzte sie auf etwa zwanzig. Aufgeweckt und voller Energie. Sie lächelte mich an.
»Ist meine Mutter da drin?«
»Sie kommt gleich wieder. Sind Sie Tippy?«
»Ja«, sagte sie überrascht. »Kennen wir uns?«
»Ich habe mich gerade mit Ihrer Mutter unterhalten, und sie sagte, dass Sie kommen würden. Ich heiße Kinsey.«
»Unterrichten Sie auch hier?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin Privatdetektivin.«
Sie verzog den Mund zu einem halben Lächeln und wartete offenbar auf die Pointe. »Echt?«
»Echt.«
»Cool. Und was machen Sie als Privatdetektivin?«
»Ich arbeite für einen Anwalt in einer Gerichtssache.«
Ihr Lächeln verschwand. »Geht es um meine Tante Isabelle?«
»Ja.«
»Ich dachte, der Prozess sei schon gewesen, und der Typ sei freigesprochen worden?«
»Wir versuchen es noch einmal. Diesmal von einer anderen Seite. Wenn wir Glück haben, kriegen wir ihn dran.«
Tippys Miene war düster. »Ich konnte ihn nie leiden. Dieser Fiesling.«
»Woran erinnern Sie sich noch?«
Sie verzog das Gesicht... Zögern, Widerstreben, vielleicht ein Hauch von Trauer. »Nicht viel, nur dass wir alle geheult haben. Wochenlang. Es war schrecklich. Ich war sechzehn, als es passierte. Sie war nicht meine richtige Tante, aber ich hatte sie sehr gern.«
Rhe kam wieder aus dem Kursraum, ihren Schlüsselbund in der Hand. »Hi, Baby. Ich dachte mir schon, dass du’s bist. Wie ich sehe, hast du mit Miss Millhone schon Bekanntschaft geschlossen.«
Tippy küsste ihre Mutter auf die Wange. »Wir haben nur auf dich gewartet. Du siehst müde aus.«
»Es geht mir gut. Wie war’s bei der Arbeit?«
»Gut. Corey sagt, ich kriege vielleicht eine Lohnerhöhung, aber nur so was wie drei Prozent.«
»Ubertreib’s mal nicht. Das ist doch toll«, sagte Rhe. »Wann sollst du Karen abholen?«
»Vor einer Viertelstunde. Ich bin schon zu spät dran.«
Tippy und ich sahen zu, wie Rhe den Wagenschlüssel vom Ring abmachte. Dann zeigte sie auf den Parkplatz. »Dritte Reihe links. Ich will den Wagen um Mitternacht wiederhaben.«
»Aber es ist erst um viertel vor zu Ende!«, protestierte Tippy.
»Also so bald wie möglich danach. Und verfahr nicht wieder das ganze Benzin, so wie letztes Mal.«
»Da war er schon leer, als du ihn mir gegeben hast!«
»Könntest du bitte tun, was ich sage?«
»Wieso? Hast du noch eine Verabredung?«, fragte Tippy schelmisch.
»Tippy...«
»Ich hab ja nur Spaß gemacht«, sagte sie. Sie schnappte sich den Schlüssel aus der Hand ihrer Mutter und marschierte mit klackenden Absätzen über den Parkplatz davon.
»Nett von dir, Mom. Ich hoffe, es ist dir nicht allzu lästig«, rief Rhe der davonstrebenden Gestalt hinterher. »Vielen Dank, liebe Mutter.«
»Gern geschehen«, rief Tippy zurück.
Rhe schüttelte den Kopf mit jenem gespielten Unmut, den nur zutiefst entzückte Eltern an den Tag legen. »Zwanzig Jahre lang sind sie egoistische Monster, und dann gehen sie weg und heiraten.«
»Sie hören das bestimmt ständig, aber Sie sehen wirklich nicht aus wie ihre Mutter.«
Rhe lächelte. »Ich war sechzehn, als ich sie bekam.«
»Sie scheint sehr gut drauf zu sein.«
»Das ist sie auch, dank AA. Da ist sie mit sechzehn hingegangen.«
»Zu den Anonymen Alkoholikern? Im Ernst?«
»Sie hat mit dem Trinken angefangen, als sie zehn war. Ich musste arbeiten, um uns zu ernähren, und die Frau, die sie betreut hat, war Alkoholikerin. Tipp ist immer nach der Schule hingegangen und hat sich bei jeder Gelegenheit über ihr Bier hergemacht. Ich hatte keine Ahnung! Ich Schaf denke, es ist alles prima, weil mein Kind so brav und fügsam ist. Sie hat sich nie beklagt. Sie hat nie gemault, wenn ich zu spät kam oder sie über Nacht dalassen musste. Ich hatte Freundinnen, die auch allein erziehend waren. Bei ihnen war immer die Hölle los. Aber meine kleine Tippy nicht. Sie war so problemlos. Sie kam in der Schule nicht gut mit und war dauernd >krank<, aber sonst schien alles bestens. Ich glaube, ich habe es nicht wahrhaben wollen, denn inzwischen weiß ich, dass sie die Hälfte der Zeit blau oder verkatert war.«
»Ein Glück, dass sie die Kurve gekriegt hat.«
»Das hatte auch mit Izzys Tod zu tun. Es war ein schlimmer Schlag für uns. Dadurch sind wir uns näher gekommen. Wir haben beide unsere beste Freundin verloren, aber wenigstens hat es uns wieder zusammengebracht.«
»Wie haben Sie gemerkt, was los war?«
»Sie war an dem Punkt, wo sie so viel trank, dass es mir gar nicht entgehen konnte. Als sie auf die High School kam, war sie völlig hinüber. Sie nahm Tabletten. Rauchte Dope. Sie hatte seit einem halben Jahr den Führerschein und schon zwei Unfälle gebaut. Außerdem hat sie alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war. Das war in dem Herbst, ehe Isabelle dann nach Weihnachten umgebracht wurde. Tippy hatte gerade ihr Junior-Jahr begonnen und schwänzte dauernd den Unterricht und versiebte sämtliche Klassenarbeiten. Ich kam damit nicht klar. Ich habe sie rausgeworfen, und sie ist zu ihrem Vater gezogen. Als Iz tot war, kam sie wieder zurück.« Sie hielt inne, um sich eine neue Zigarette anzuzünden. »Herrje, wieso erzähle ich Ihnen das alles? Hören Sie, ich muss wieder in meinen Kurs. Würde es Ihnen viel ausmachen, auf mich zu warten? Ich würde wirklich gern mitfahren, wenn sich das machen ließe.«
»Sicher. Gern.«