15

Es nieselte. Über dem Rheintal lag Nebel. Aber Janna-Berta brauchte an der Autobahnauffahrt nicht lange zu warten. Schon der zweite Wagen, der anhielt, fuhr in Richtung Kassel. Eine Frau saß am Steuer. Mit einem Blick auf Janna-Bertas Kopf begann sie sogleich die Leidensgeschichte ihrer Schwester zu erzählen, die in Bad Neustadt an der Saale gelebt und alles verloren hatte.

»Alles!« rief die Frau.

»Aber sie lebt doch noch«, sagte Janna-Berta.

Die Frau hörte gar nicht zu, sondern erzählte weiter. Janna-Berta brauchte nicht zu antworten. Sie döste vor sich hin.

Die Fahrt ging nur bis zur Abfahrt Gießen Ost. Dort pflückte Janna-Berta einen großen Strauß aus einem Sonnenblumenfeld, bis sie ein bärtiger Student in einem uralten Fiat mitnahm. Sie hatte Glück: Der Student wollte nach Berlin. Als er hörte, daß sie in die ehemalige Sperrzone DREI wollte, machte er ein bedenkliches Gesicht.

»Ich hab dort noch was zu erledigen«, sagte sie und bat ihn, sie bei Bad Hersfeld abzusetzen.

»Überleg dir's noch mal«, meinte er. »So wichtig kann das, was du dort zu tun hast, doch nicht sein.«

Aber sie war entschlossen. Als er hielt, bedankte sie sich und stieg aus. Dabei rutschte ihr der Klappspaten aus der Tasche. Der Student starrte auf den Spaten, dann auf sie.

»Willst du etwas ausgraben?« fragte er.

»Ich will jemanden begraben«, antwortete sie.

»Die Toten sind alle begraben«, sagte er. »Sogar die Tierkadaver. Dafür haben sie gleich Spezialtrupps hineingeschickt.«

»Ich glaube nicht«, sagte Janna-Berta, »daß die auch in den Rapsfeldern gesucht haben.«

»Wer ist es?«

»Mein kleiner Bruder.«

»Steig wieder ein«, sagte der Student. »Ich fahr dich hin.«

Er fuhr mit geschlossenen Fenstern. Sie verstummten beide während der Fahrt. Kurz vor Asbach bat sie ihn zu halten, bedankte sich, reichte ihm eine Sonnenblume aus ihrem Strauß und stieg aus. Er wendete und machte, daß er davonkam. Auf der breiten Bundesstraße 62 war fast kein Verkehr. Sie machte nicht den Umweg über das Dorf, sondern stapfte quer über die Felder. Zwischen hoch aufgeschossenem Unkraut entdeckte sie verkümmerte Kartoffelstauden. Sie erreichte den Bahndamm und blieb stehen. Lange sah sie zum Dorf hinüber. Die ganze sanfte Tallandschaft hatte einen bräunlichen Schimmer. Im Dorf drüben standen schon ein paar Bäume entlaubt. Sie holte tief Luft und kletterte über die Böschung auf den Damm.

Da lag noch ihr Rad neben den Schienen, verrostet, und auf dem Gepäckträger klemmte die Schultasche. Dahinter aber, den halben Horizont füllend, lag das unabgeerntete Rapsfeld und ließ sich nichts anmerken.

Sie kletterte langsam den Damm hinunter, auf Ulis verbogenes Fahrrad zu, das auf der Böschung lag. Die Plastiktüte war zerfetzt. Tiere hatten wohl daran gezerrt, um an den Proviant zu kommen. Auf dem unkrautüberwucherten Schotterweg entdeckte sie den Teddybär. Er war plattgefahren und verstaubt. Seine sattbraune Farbe war verblaßt.

Sie hob den Sonnenblumenstrauß hoch über den Kopf und watete in das Feld hinein. Vorsichtig tastete sie sich mit den Füßen voran und bog die Stengel auseinander. Sie mußte eine Weile suchen, bis sie Uli fand. Melde und wilde Kamille hatten das, was von ihm übrig war, fast ganz bedeckt. Es stank nicht mehr. Der Hausschlüssel hing noch an dem roten Lederband. Als sie daran zog, gab es nach, ohne daß sie es zerreißen mußte. Der Schlüssel fiel ihr in die Hand. Sie steckte ihn ein und nahm den Klappspaten aus der Jutetasche.

Sie brauchte keine große Grube auszuheben. Als ihr das Loch tief genug erschien, legte sie die Sonnenblumen hinein, die jetzt schon welk waren, und bettete das armselige Bißchen, das von Uli geblieben war, darauf. Sie holte den Teddybär und legte ihn dazu. Dann schaufelte sie Erde darauf und trat sie fest. Mehrmals überkam sie ein starker Brechreiz. Aber sie gab ihm nicht nach.

Kaum hatte sie ihre Arbeit beendet, klappte sie den Spaten zusammen und hastete, ohne sich umzusehen, durch den Raps zurück und auf den Damm wie jemand, der sich, von der Flut verfolgt, auf einen Deich rettet. Außer Atem schaute sie zurück auf das Rapsfeld. Ihre Spuren waren kaum zu erkennen, und wo das Grab lag, erriet sie nicht mehr.

Sie spürte, wie ihre Knie zitterten. Nun brauchte sie sich nicht mehr zusammenzunehmen. Sie ließ sich fallen, lag lange auf dem Rücken und ließ die Wolken über sich hinziehen, friedliche, gutartige Wolken, bauschig wie Watte.

Es mußte schön sein, auf Sonnenblumen zu liegen, von Stille, Dunkelheit und Kühle umgeben, ohne Angst.

Die Schläuche ihres Fahrrads waren platt, aber die Pumpe funktionierte noch. Sie pumpte die Schläuche auf, nahm die Schultasche vom Gepäckträger und warf sie weg, ohne sie noch mal zu öffnen. Dann klemmte sie den Spaten auf den Gepäckträger und schob das Rad die Böschung hinunter. Es ließ sich nur mühsam treten und quietschte. Aber sie kam voran.

Im Dorf rührte sich nichts. Auf den Straßen lag noch das trockene Laub und der von den letzten Regengüssen angeschwemmte Sand. Eine Ratte huschte über die Fahrbahn. Vor einer Haustür lag ein bis auf die Knochen abgemagerter Hund. Es war nicht zu erkennen, ob er tot war oder schlief. Als Janna-Berta an die Kreuzung kam, fand sie den ausgebrannten Bus und die Wracks mehrerer Wagen zusammengedrückt in dem Vorgarten, durch den damals der Mercedes geschaukelt war. Eine Planierraupe hatte wohl die Fahrbahn geräumt.

Sie bog in die Bundesstraße 62 ein. Ein paar Häuser weiter lud eine Familie einen Wagen aus und trug Koffer und verschnürte Schachteln ins Haus. Im Oberstock stieß eine Frau ein Fenster auf. Janna-Berta hörte sie rufen: »Gott sei Dank, es ist alles noch da. Aber die Mäuse –!«

Dann war das Dorf zu Ende. Wohin man sah, reihten sich ungeerntete, verwahrloste Felder aneinander, und an den Straßenrändern standen und lagen Autowracks. Aus dem halb herabgekurbelten Fenster eines Golfs huschte, als Janna-Berta auf ihrem Fahrrad vorüberquietschte, eine struppige Katze. Der Golf trug einen Dachgepäckträger. Neben dem Wagen lag ein Nachtstuhl.

Auch in Beiershausen und Niederaula regte sich schon wieder Leben. Janna-Berta sah eine Frau Fenster putzen, sah einen Mann vor einem Feld stehen und den graubraunen Weizen betrachten, den der Regen zusammengeschlagen hatte. Ein alter Mann und ein etwa zwölfjähriger Junge schleiften ein totes Schwein aus einem Stallgebäude. Das hatten wohl die Aasbeseitiger übersehen.

Ein Hund kläffte Janna-Berta an, als sie die Schläuche frisch aufpumpte. Immer wieder und immer öfter mußte sie anhalten, um zu pumpen. Die Schläuche waren während der heißen Sommermonate brüchig geworden.

Es hatte aufgehört zu nieseln. Schemenhaft wuchs die Autobahnbrücke aus dem Nebel. Es herrschte nur mäßiger Verkehr und fast nur nach Süden: Lastwagen und hochbepackte Personenwagen. Den Hang neben der Autobahnauffahrt bedeckte ein ganzer Autofriedhof. Eine Schar Krähen hockte auf den Wracks und flatterte auf, als Janna-Berta vorbeikam.

Sie bog von der Bundesstraße in die Landstraße ein. Hier begann das Schlitzer Ländchen. Unterwegfurth, Oberwegfurth. Eine Frau fegte den Bürgersteig, zwei Kinder spielten quer über die Straße Fußball, auf dem Pflaster eines Bauernhofs lag ein Mann unter einem Traktor und hämmerte. Es roch nach Kohlsuppe. Hinter Oberwegfurth hielt Janna-Berta unter einem Baum am Straßenrand an: An diesem Baum hatte sie gelehnt, als Uli das Brot und den Schnittkäse hinuntergewürgt hatte. Zu dieser Zeit hatten die Mutter und Kai noch gelebt, sicher auch Jo. Der Vater war vielleicht schon tot gewesen. Und Oma Berta und Opa Hans-Georg hatten ahnungslos auf ihrer Terrasse auf Mallorca gesessen und Kaffee getrunken.

Sie griff nach dem Schlüssel in ihrer Hosentasche. Dann pumpte sie die Schläuche wieder auf und radelte weiter. Rimbach, Queck. Hier war sie oft mit Eltern und Geschwistern gewandert. Wandern: Vatis und Opa Hans-Georgs Hobby. Darin waren die beiden ein Herz und eine Seele gewesen. Wie oft waren sie unterwegs in Streit geraten über Politik! Aber über einem schönen Steinpilz hatten sie den Grund ihres Zankes vergessen können.

In einem Garten lag ein umgestürzter Baum. Er hatte einen Zaun zerquetscht. Ein alter Mann hackte die Äste vom Stamm. In einer anderen Ecke des Gartens sammelte eine Frau Falläpfel ein. Sie hielt Janna-Berta an und fragte sie, wo sie hinwolle.

»Nach Schlitz?« fragte sie erstaunt. »Du allein?«

»Meine Eltern sind tot«, sagte Janna-Berta. »Aber in Schlitz steht noch das Haus von uns.«

»Wer waren deine Eltern?« fragte die Frau und band sich ihr Kopftuch fester.

»Die Meineckes«, sagte Janna-Berta.

»O mein Gott«, sagte die Frau und starrte Janna-Berta an, »die Meineckes. Was ist das für eine Welt? Womit haben wir das verdient?«

»Was fragst du, Marta«, knurrte der Alte. »Die Menschheit ist übermütig geworden. Hat alles besser wissen und besser können wollen als unser Herrgott. Sie hat einen Dämpfer nötig gehabt, den hat sie jetzt bekommen.«

»Genau dasselbe hast du nach dem Krieg auch gesagt«, rief die Frau.

»Eben«, sagte der Alte. »Aber der hat noch nicht genügt. Der war schon wieder vergessen. Das hab ich euch damals schon gesagt, wie der Ralf und die Leni auf Urlaub nach Marokko geflogen sind – Bauern, im Juni! Das kann nicht gutgehen, hab ich gesagt, das ist Frevel. Und wie sie das Vieh nicht mehr auf die Weide getrieben haben, hab ich's ihnen auch gesagt. Das läßt sich unser Herrgott nicht bieten.«

»Jaja«, sagte die Frau ärgerlich, »du hast immer alles schon vorher gewußt. Du bist ja mit unserem Herrgott verschwägert.«

Dann wandte sie sich wieder Janna-Berta zu. »Es werden noch nicht viele Leute in Schlitz sein«, sagte sie. »Wir sind auch erst seit vorgestern wieder hier. Manche kommen nur, um sich anzugucken, wie's aussieht, dann fahren sie wieder ab. Wenn du heute niemand antriffst, der sich um dich kümmert, dann komm erst mal hierher. Danach kannst du weitersehen.«

Janna-Berta dankte, stieg wieder aufs Rad und fuhr auf Hutzdorf zu. Sie kam an dem Graben vorbei, aus dem sie und Uli damals getrunken hatten. Sie stieg ab und wusch sich die Hände, die noch schmutzig von der Erde waren. Drüben lag der Tempelberg, davor mündete die Schlitz in die Fulda. Der Nebel hatte sich gehoben. Über dem Wald erschien ein Fetzen blauen Himmels.

Früher hatte hier Jungvieh geweidet. Jetzt gab es kein Vieh mehr im Schlitzerland. Hatte es Sinn, das Land zu bearbeiten? Würde man die neuen Ernten verzehren können? Auch kehrten nicht alle ins Schlitzerland zurück, die einmal hier zu Hause gewesen waren. Hier gab's ja keine Zukunft. Das Ländchen würde arm sein und krank.

Janna-Berta trat heftiger in die Pedalen, obwohl sie schon fast auf den Felgen fuhr. Sie passierte die ersten Häuser von Hutzdorf, sah vor sich den Stadtberg mit den Silhouetten der Vorderburg und der Türme liegen und dachte an das Haus am Hang. Jemand rief sie an, rief hinter ihr her. War das nicht die Stimme der freundlichen Verkäuferin aus dem Metzgerladen gewesen?

Aber sie wollte jetzt nicht aufgehalten werden. Erst mußte es durchgestanden sein, das Heimkommen, das Wiedersehen mit dem Haus, in dem niemand auf sie wartete.

Sie holperte an den letzten Häusern von Hutzdorf, an den ersten Häusern von Schlitz vorbei, blind für alles, was sich da schon wieder bewegte, und für die Sonne, die sich in den Pfützen spiegelte. Sie bog gegenüber dem alten Bahnhof ein und keuchte den Hang hinauf. Aber das rostige Fahrrad schaffte ihn nicht. Janna-Berta sprang ab, lehnte es an die Hangmauer und ging zu Fuß weiter. Soltaus Bungalow lag still da. Die Rolläden waren herabgelassen. Auf den Stufen vor der Haustür häuften sich angewehte Zweige, raschelte dürres Laub. Die Geranien vor den Fenstern waren vertrocknet.

Janna-Berta starrte auf die andere, die Hangseite. Dort tauchte jetzt das spitzgiebelige Haus auf, eingerahmt von Obstbäumen und Fliedergebüsch, von Ginster und Goldrute. Janna-Bertas Herz schlug schneller: Außer Oma Bertas herrlichen Geranien, die verschwunden waren, schien alles so wie immer. Sie brauchte nur die einundfünfzig Stufen den Hang hinaufzuspringen und so stürmisch zu schellen, wie sie es immer getan hatte. Dann würde die Tür aufgehen, und Mutti stünde im Türrahmen und sagte: »Da bist du ja.« Kai käme angesprungen, ließe sich von Janna-Berta auf den Arm nehmen und abküssen, und Uli erschiene mit breibeschmierten Fingern und einer Reibe und riefe: »Noch drei Kartoffeln, dann bin ich fertig!« Aus dem offenen Wohnzimmer käme der Duft von Vatis Pfeifenrauch.

Janna-Berta hatte Mühe mit den Stufen. Auf halber Höhe mußte sie stehen bleiben und sich auf die steinerne Balustrade stützen. So hatte sie Oma Berta oft stehen sehen, wenn sie vom Einkauf heimgekehrt war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihre Knie waren weich. Sie erinnerte sich, wie sie manchmal vor Oma Berta die Stufen hinaufgehüpft war und ihr von oben lachend zugerufen hatte: »Ich bin schon da!«

Dann hatte Oma Berta dort unten auf halber Höhe, auf die Balustrade gestützt, den Kopf gehoben und matt hinaufgerufen: »Warte nur, bis du alt bist. Du kommst auch einmal dahin.«

Langsam stieg sie weiter. Unter dem Balkon lag ein Haufen vertrockneter Geranien. Sie wunderte sich. Gewiß, niemand hatte die Geranien gegossen, nachdem sie und Uli das Haus verlassen hatten. Wer aber hatte die dürren Stauden aus den Blumenkästen entfernt, wenn das Haus leerstand?

Eine Hoffnung flackerte in Janna-Berta auf, wurde groß, nahm ihr den Atem. Wie, wenn das alles ein Mißverständnis gewesen war? Eine unglückliche Verkettung von Falschinformationen und Irrtümern? Wenn Vati und Mutti und Kai –?

Sie nahm den Schlüssel aus der Tasche und schloß leise auf.