14
Am ersten Oktober, einem Donnerstag, drängten sich im zukünftigen Hibakusha-Zentrum die Helfer, die mit den letzten Vorbereitungen für die Einweihung beschäftigt waren, vor dem Fernseher, der in der Eingangshalle stand. Das Programm war voll von Berichten über die Heimkehrer. Man sah rührende Bilder aus Fulda, aus Schlüchtern, aus kleinen Rhön-Ortschaften, aus Coburg und Bamberg. Hausbesitzer sperrten ihre Haustüren auf, Frauen warfen prüfende Blicke in ihre Küchen, kleine Mädchen liefen mit Freudenschreien auf ihre Puppenecke zu. Zwischendurch wurde auch ein verwilderter Garten gezeigt, sogar ein Kaninchenstall mit den Überresten verendeter Tiere. Aber gleich darauf folgte die friedliche und unversehrte Silhouette eines Dorfes am Main.
Janna-Berta stand auf den Zehenspitzen und versuchte, ab und zu einen Blick auf die Bilder zu erhaschen. Ob sie auch Schlitz zeigen würden? Eine alte Frau aus dem Sinntal erschien auf dem Bildschirm. Sie wurde gefilmt, wie sie auf ihr Fachwerkhäuschen zulief. Mit zitternden Händen öffnete sie das Gartentor. In Großaufnahme sah man ihr Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ein Reporter fragte sie, wie ihr zumute sei. »Jetzt wird alles wieder gut«, schluchzte sie.
Da lachte Janna-Berta so laut und schrill, daß sich die Leute verwundert nach ihr umdrehten.
Noch auf der Heimfahrt im Bus dachte Janna-Berta an Schlitz. Vor ihr saßen zwei Männer. Sie unterhielten sich über ihre Kinder. Sie schienen Arbeitskollegen zu sein. Von der Konfirmationsfeier einer Tochter war die Rede und vom Abitur eines Sohnes. Janna-Berta interessierte sich nicht für ihr Geplauder. Aber es war so laut und so nahe, daß sie es mithören mußte.
Noch ein anderer Sohn war im Gespräch, ein Student der Germanistik. Er machte seinen Eltern offenbar Kummer.
»Er ist mit einem Mädchen aus Fulda befreundet«, berichtete der Mann. »Ausgerechnet. Die hat doch garantiert was abgekriegt!«
»Sieht man ihr was an?« fragte der andere.
»Das nicht«, hörte Janna-Berta den ersten antworten. »Sie ist auch nicht krank. Aber ob die irgendwelche Erbschäden haben, weiß kein Mensch. Das stellt sich erst raus, wenn's zu spät ist. Ich versuch das dem Jungen klarzumachen. Aber er ist stur, da machst du dir keine Vorstellung.«
»Wo die Liebe hinfällt ...«, sagte der andere. »Aber du hast recht. Meiner hat mit Mädchen ja noch nichts am Hut.«
Als Janna-Berta heimkam, lief ihr Ruth entgegen und klammerte sich an sie. »Laß das«, sagte Janna-Berta und löste Ruths Hände von ihrem Bein. Ruth kicherte und klammerte sich an das andere. Janna-Berta riß das Kind so heftig los, daß es hinfiel und zu plärren begann.
»Was war denn das?« fragte Paps und sah Janna-Berta erschrocken an.
Da lief sie die Treppe zum Dachboden hinauf und warf sich auf ihre Matratze.
Am nächsten Tag, dem Tag vor der Einweihung, waren sie alle im Zentrum, auch die Kinder und die Großmutter. Es gab noch so vieles zu tun! Janna-Berta half beim Stühleschleppen. Vor der Rednertribüne sollten mehrere Stuhlreihen stehen, für die Kranken und ihre Begleiter. Im Hintergrund waren lange Tische mit Bänken geplant. Dort sollten sich die Bewohner der einzelnen Orte oder Kreise treffen können. Es hatten sich auf einen Appell in der Zeitung hin so viele Helfer eingefunden, daß sie sich fast im Weg waren.
Janna-Berta stand plötzlich vor Meike, ihrer Freundin aus Fulda. Meike fiel ihr um den Hals, aber ihr Vater stand auf dem Parkplatz und winkte.
»Ich muß gehen«, sagte sie hastig, »er ist jetzt immer so unleidlich, wenn nicht alles gleich klappt, wie er sich's gedacht hat.«
»Elmar ist tot«, sagte Janna-Berta.
»Elmar?« rief Meike bestürzt. »Weißt du, daß auch Ingrid –? Nein? Morgen komm ich wieder, dann erzähl ich dir alles!«
Janna-Berta ließ den Stuhl stehen, den sie gerade zur Tribüne hatte tragen wollen, und ging auf das Gebäude zu, das die Stadt als Hibakusha-Zentrum zur Verfügung gestellt hatte. Sie brauchte jetzt einen leeren Raum, in dem sie in Ruhe nachdenken konnte.
»Janna-Berta! Janna-Berta!« hörte sie Irmelas piepsige Stimme aus der Ferne rufen. Aber sie drehte sich nicht um.
»Der Bürgermeister wird als Schirmherr der Veranstaltung sprechen!« hörte sie Almuts Stimme aus einem der offenen Fenster hallen.
Als sie sich dem Eingang näherte, der gerade mit Girlanden geschmückt wurde, hörte sie ihren Namen rufen. Sie stellte sich taub. Sie wollte jetzt in Ruhe gelassen werden. Ingrid war tot! Sie sah ihr lachendes Gesicht vor sich. Und dann fiel ihr das Pausenbrot ein, das sie fast jeden Tag getauscht hatten. Auf Ingrids Brot hatte immer eine dicke Scheibe Räucherfleisch oder Leberkäs gelegen. So was gab's daheim bei Janna-Berta nie. Sie hatte Käse zu bieten – feine Käsesorten. Einmal war sie auch bei Ingrid in der Rhön gewesen, auf dem kleinen Bauernhof.
»Janna-Berta!« rief die Männerstimme noch einmal.
Es half nichts, sie mußte sich umdrehen. Es war Lars, Lars aus Schlitz, in dessen Wagen sie am Unglückstag heimgekommen war.
Er übersah ihren Kahlkopf. Lange schüttelte er ihre Hand. »Komm mit«, sagte er. »Meine Eltern sitzen dort am Tisch. Miltners sind auch da. Ihn kennst du – der Tischtennistrainer.«
»Ich hab keine Zeit«, sagte sie zögernd. »Ich helfe hier meiner Tante.«
»Interessiert dich nicht, was ich von Schlitz zu erzählen habe?« fragte er. »Ich war gestern dort.«
Sie sah ihn groß an. Dann ging sie mit. Lars' Mutter lächelte verlegen, als sie Janna-Bertas kahlen Kopf sah, und konnte den Blick nicht von ihm wenden.
»Ich hab eine Perücke«, sagte Janna-Berta, »aber ich setze sie nicht auf.«
Lars' Mutter starrte sie verständnislos an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich hätte nicht den Mut, so herumzulaufen«, sagte sie zu Frau Miltner, die Janna-Bertas Hand nahm und »Herzliches Beileid« murmelte.
»Mama!« rief Lars.
Er drückte Janna-Berta auf die Bank und begann hastig zu erzählen. Daß sie jetzt in Mainz lebten. Daß der Zahnarzt mit seiner Familie in Venezuela bei Verwandten und Soltaus in ihrer Ferienwohnung in Marbella seien. Und Trettners in Kanada.
»Die Trettners hatten das meiste Glück«, sagte Lars' Mutter vorwurfsvoll. »Weiß der Himmel, was für Beziehungen die hatten. Wir haben dreimal in der kanadischen Botschaft vorgesprochen. Berge von Formularen haben wir ausgefüllt. Alles umsonst. Verseuchte lassen die nicht rein. Dabei sind wir gar nicht verseucht. Aber wie soll man das denen beweisen?«
»Und wie sieht's in Schlitz aus?« fragte Janna-Berta.
»Jetzt gehen wir nach Südafrika«, sagte Lars' Mutter. »Die sind noch menschlich. Die lassen jeden Deutschen rein, verseucht oder nicht. Miltners gehen auch mit. In drei Wochen ist es soweit.«
»Und wie sieht's in Schlitz aus?« fragte Janna-Berta noch einmal.
»Jordans sind vorgestern schon hin«, antwortete Lars' Mutter. »Und die Heimbachs sind heute morgen abgefahren. Manche wollen erst noch das Treffen hier abwarten, bevor sie zurückgehen. Aber so, wie's mal war, wird's wohl nie wieder. Viele werden dort nicht mehr wohnen wollen.«
Sie redete und redete und ließ sich nicht mehr unterbrechen: Aus der ganzen Bundesrepublik werde in Scharen ausgewandert. Nicht nur die Evakuierten flüchteten. Die ausländischen Konsulate würden regelrecht bestürmt. Sie könne ein Lied davon singen! Erst hätten sie in die Staaten gewollt. Nichts zu machen. Dann nach Kanada. Auch nichts. Auf dem türkischen Konsulat hätte man sie ausgelacht.
Sie kam immer mehr in Fahrt: »Die meisten wollen nach Südamerika. Dort kommt man nur rein, wenn man Geld hat. Je mehr Geld man hat, um so mehr Türen stehen einem offen. Unser Hausarzt ist nach Kenia gegangen. Als Arzt hat der natürlich mehr Chancen als unsereiner. Auch die Nepalesen sollen großzügig sein. Aber wer will schon ans Ende der Welt? Gott sei Dank hat uns jemand den Tip Südafrika gegeben. Ich wundere mich, warum nicht mehr Deutsche dort hingehen. Ein ideales Klima! Und man ist dort auch ohne Vermögen willkommen.«
»Schlitz«, sagte Janna-Berta. »Wie ist es in Schlitz?«
»Leer«, sagte Lars' Vater. »Was sollen wir dort noch mit unserem Geschäft, wenn keine Kundschaft mehr da ist? Und auf eine Entschädigung können wir lange warten.«
Janna-Berta saß still und antwortete nicht.
Aber Lars sprang auf.
»Seid ihr noch bei Trost!« schrie er. »Wen interessiert denn jetzt noch euer Scheißladen? Wen, außer euch? Und wer entschädigt sie?« Er zeigte auf Janna-Berta. »Habt ihr euch das da mal überlegt? Was meint ihr: Was sind Eltern wert? Und Geschwister? Was beklagt ihr euch überhaupt? Wer war denn immer für die Kernenergie? ›Damit hier nicht die Lichter ausgehen.‹ Erinnert ihr euch? Nein?«
Die Eltern starrten ihn sprachlos an. Er faßte Janna-Berta am Arm und zog sie fort.
»Fahrt nach Südafrika, da gehört ihr hin!« rief er über die Schulter zurück. »Von einem Wahnsinn in den anderen!«
Sie blieben unter einer Baumreihe stehen.
»Das war's dann wohl«, sagte er. »Mir war schon lange danach. Danke fürs Stichwort!«
»Erzähl mir von Schlitz«, sagte Janna-Berta.
Schatten spielten auf seinem Gesicht. Er hob und senkte die Schultern.
»Gespenstisch«, sagte er. »Von weitem sieht alles aus wie heile Welt: der Stadtberg, die Fachwerkgiebel, die Türme. Aber wenn du durchgehst, hallen die Schritte, und vor den Haustüren liegt dürres Laub. Die meisten Rolläden sind geschlossen. Und in den Gärten wuchert das Unkraut, auch zwischen den Pflastersteinen auf dem Marktplatz, und hier und dort sieht man Mäuse huschen.«
Janna-Berta wollte nach ihrem Haus fragen. Aber es lag ja auf dem Hang über der Stadt, fern von der Durchgangsstraße. Dort konnte er nicht vorbeigekommen sein. Und wenn auch – was konnte man einem Haus von außen schon ansehen?
»Meine Eltern«, sagte Lars, »wollten nur wissen, ob im Haus oder im Geschäft geplündert worden war. Aber es hat nichts gefehlt. Als sie feststellten, daß die Stromversorgung schon wieder funktionierte, konnten sie die deutsche Ordnung nicht genug loben.«
Er dachte nach.
»Das Unheimlichste dort«, sagte er, »ist das Laub. Es ist schon ganz gelb, wie sonst so Ende Oktober, und manche Bäume sind schon kahl.«
Janna-Berta sah nach oben in die Baumkronen.
»Fahr hin«, sagte er. »Eher kriegst du doch keine Ruhe.« Und er fügte hinzu: »Ich hätte nie geglaubt, daß ich an dem Kaff so hänge.«
»Danke«, sagte Janna-Berta.
Mit einem Kopfnicken nahmen sie voneinander Abschied. Janna-Berta sah noch, wie Lars zu seiner Familie hinüberging.
Sie selber kehrte auf die Wiese zurück. Sie fand die Großmutter auf den Stühlen vor der Rednertribüne und nahm ihr die Kleinen ab. Erleichtert widmete sich die Großmutter wieder ihrem Strickzeug, das sich auf ihrem Schoß flauschig bauschte. Ihre Nadeln klapperten. Sie kettelte ab.
Janna-Berta entdeckte Paps hinter der Tribüne. Er bastelte an Elektrokabeln herum. Sie sah ihm eine Weile zu, bis die Kinder zu quengeln begannen. Seine Nähe konnte sie ertragen. Manchmal hob er den Kopf und lächelte ihr zu. Dann lächelte sie zurück. Sie wechselten kein Wort.
Am Abend, als sie wieder zu Hause waren, eröffnete Janna-Berta den anderen, daß sie am nächsten Morgen nach Schlitz aufbrechen wollte.
Almut reagierte bestürzt.
»Dort hinein?« rief sie. »Ins verseuchte Gebiet? Warum denn so plötzlich? Laß doch noch ein paar Wochen oder Monate vergehn. Du versäumst ja nichts. Niemand erwartet dich dort.«
»Die Wohnung ist sowieso verstaubt«, sagte Reinhard, »und das viele Unkraut im Garten erledigt der Winter.«
Sie hatten recht. Und trotzdem: Sie konnte einfach nicht mehr warten.
»Morgen ist doch die Einweihung«, sagte Almut. »Möchtest du die versäumen, nachdem du so viel dafür getan hast?«
»Laßt sie gehen«, sagte Paps. »Wenn sie's hinzieht, könnt ihr sie nicht halten.«
»Aber du kommst doch wieder?« fragte die Großmutter mit ängstlichen Augen.
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Janna-Berta. »Ich will euch nichts versprechen. Es ist alles noch offen.«
»Es sieht so aus«, meinte Paps, »als ob du genau das Richtige tust. Wir wünschen dir eine gute Reise – und nicht mehr Trauer, als du ertragen kannst.«
Almut übergab ihr eine Geldbörse mit einem Hundertmarkschein und ein bißchen Kleingeld.
»Du bist ja nicht aus der Welt«, sagte sie.
Janna-Berta bat sie, ihr die große Jutetasche zu borgen.
Noch am späten Abend ging sie hinaus, ohne daß es die anderen merkten, und tat den kleinen Klappspaten, den sie ein paar Tage zuvor im Geräteschuppen entdeckt hatte, in die Jutetasche.
Am nächsten Morgen brach sie sehr früh auf, aber doch nicht so früh, daß die Großmutter sie nicht gehört hätte. Sie kam aus dem Kinderzimmer geschlichen und drückte ihr das flauschige, weiße Gestrick in die Hand.
»Eine Mütze«, flüsterte sie. »Die Oktobermorgen können schon kalt sein. Und du hast mir erzählt, daß im Herbst oft Nebel im Fuldatal liegt. Du wirst sie brauchen können.«
Janna-Berta schob sie in die Jutetasche, umarmte die Großmutter, küßte sie auf die flaumige Wange und dankte ihr für die schöne Mütze. Dann lief sie zur Bushaltestelle hinunter. Sie trug dieselbe Hose, dasselbe T-Shirt, mit dem sie nach Wiesbaden gekommen war. Nur der Anorak war neu. Der hatte Irmelas und Ruths Mutter gehört. Die Großmutter hatte ihn ihr geschenkt, gleich nachdem sie bei ihnen eingezogen war.