Sie haben versagt

 

Was tun? H-Milch kaufen oder Büchsenmilch?

Wir wissen es nicht. Verfallsdaten beachten oder Halbwertszeiten?

Wir wissen es nicht. Regenschirm oder Abduschen?

Wir wissen es nicht.

Sind Kinder 23mal oder nur 17mal so gefährdet wie Erwachsene?

Wir wissen es nicht.

 

Es geht um mehr als um Tiefkühlkost

und um die Frage

nach dem unbedenklichen Verzehr von Blattspinat

in den richtigen Bundesländern.

 

Unsere Politiker haben sich totgestellt.

Kein Ton von den Herren, die so gerne reden.

 

Als Lastwagenfahrer einst

gegen schleppende Abfertigung

an der Grenze protestierten,

fuhr Herr Strauß ins Krisengebiet.

Im geländegängigen Fahrzeug.

 

Wenn jetzt Frauen ihre Kinder nicht mehr

auf den Spielplatz lassen können,

wenn die Landwirte ihr Blattgemüse umpflügen müssen,

wenn Menschen der Strahlengefahr direkt ausgeliefert sind,

entfaltet sich administrative Funkstille.

Der Staat ist untergetaucht.

 

Warum?

 

Ruhe bewahren,

nur keine Aufregung,

Gras darüber wachsen lassen:

Die Atompolitik darf nicht gefährdet werden.

 

Nur einer meldet sich zu Wort: Herr Zimmermann.

Er beschimpft die Russen,

sie würden eine unmenschliche Informationspolitik

betreiben, eine verantwortungslose,

weil sie nichts anderes im Sinn hätten als

 

Ruhe bewahren,

nur keine Aufregung,

Gras darüber wachsen lassen:

Die Atompolitik darf nicht gefährdet werden.

 

Der Kanzler gab aus dem Fernen Osten Anweisungen.

Die Behörden hielten Strahlenwerte geheim.

 

Heute sind 350 Kernreaktoren in rund 30 Ländern in Betrieb.

Zwei haben schrecklich versagt.

Einer in Harrisburg, einer in Tschernobyl.

 

Nun werden noch mehr Menschen an Krebs sterben.

Das Erbgut vieler Menschen ist seitdem

krankhaft verändert, ohne daß sie es wissen.

Es wird noch mehr Sozialfälle und Krüppel geben.

Die Schadstoffe werden in der Lebensmittelkette bleiben.

Wir reichern uns an.

 

Versagen gehört zu unserer Welt.

Es gibt keine absolute Sicherheit.

Jede Technik hat Schwachstellen.

Versagen ist menschlich.

Mit Versagen nicht zu rechnen,

ist verantwortungslos und unmenschlich.

Die Atomwirtschaft setzt auf technische Wunderwerke,

die nicht versagen.

 

Aber sie haben versagt.

 

Mag sein, die deutschen Atomkraftwerke

sind doppelt so sicher wie die russischen.

Dann passiert es in acht Jahren statt in vier.

 

Und Brokdorf liegt nur 60 km von Hamburg,

Wackersdorf nur 130 km von München,

Biblis nur 50 von Frankfurt.

 

Wer evakuiert die Hamburger wohin?

Werden die Münchner nach Capri evakuiert?

Die Frankfurter auf die Kanarischen Inseln?

 

Jeder wird allein gelassen sein.

Wie schon dieses Mal.

Die Politiker werden wieder unfähig sein,

etwas zu tun.

Sie werden abwiegeln und beschwichtigen.

 

Nur keine Panik, sagen sie.

Unsere Sorge sei verständlich, sagen sie,

aber völlig überflüssig.

Vor allem soll alles so weitergehen, sagen sie.

Nur jetzt noch sicherer.

Atomstrom schafft Arbeitsplätze, sagen sie.

 

Beschwichtigung von Ignoranten.

Sie sehen nichts,

sie hören nichts,

sie lernen nichts.

Sie haben nur gelernt, wie man Wahlen gewinnt.

 

Was haben wir gelernt?

Es reicht nicht, gegen das Informationschaos

und den Beschwichtigungsnebel der Regierung zu protestieren.

Es reicht nicht, mehr Schutz und Sicherheit zu fordern.

Es reicht nicht,

weil uns so eindrucksvoll wie noch nie bewiesen wurde,

in welchem Ausmaß die Politiker

der Lage nicht gewachsen sind.

(Dabei war Tschernobyl nur ein Unfall.

Stellen wir uns vor, es explodieren Sprengköpfe.)

 

Auswandern? Emigrieren?

Aber wohin?

Jetzt werden wir nicht mehr sagen können,

wir hätten von nichts gewußt.

Wir können nicht fliehen und emigrieren.

Die Welt wird immer mehr zu unserem eigenen Gefängnis.

Zum Gefängnis des atomaren Fortschritts.

 

Wenn wir heute nichts dagegen unternehmen,

werden sie sich morgen bedanken

für unser Stillhalten und unsere »Vernunft«.

Jeder muß überlegen, was er tun kann.

Jeder an seiner Stelle.

Dieses Mal vergessen wir's nicht.

 

Diese Anzeige erschien am 23.5.1986, vier Wochen nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Sie entstand in einem Freundeskreis von sieben Männern und Frauen. Als verantwortlich im Sinne des Presserechts zeichnete Inge Aicher-Scholl, die Schwester von Hans und Sophie Scholl.