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Sie hatten Mühe, die Bahnhofstraße zu überqueren. Zwar war in Richtung Süden die Fahrbahn fast leer, aber auf der anderen jagte ein Wagen den anderen. Janna-Berta hielt den nächstbesten an, damit Uli sicher die andere Straßenseite erreichen konnte. Der Fahrer hupte unwillig. Janna-Berta kannte ihn: Es war Herr Miltner. Im Tischtennisclub hatte er die Anfänger trainiert. Ein freundlicher und geduldiger Mann. Jetzt starrte er böse aus dem Wagenfenster, als er an den Kindern vorüberschoß.

Es war nicht einfach, mit kaum einem Meter Abstand an der Wagenkolonne entlangzufahren. Die Leute am Steuer schlugen keine vorsichtigen Bogen um die Radler, denn links von ihnen rasten hupend die Überholer vorbei. Janna-Berta ließ Uli vor sich herfahren, um ihn im Auge zu haben.

In Hutzdorf, gleich hinter Schlitz, waren die Seitenstraßen wie leergefegt. Ein paar Wagen reihten sich in die Kolonne auf der Hauptstraße ein. Ein Hund lief bellend neben einem dieser Wagen her. Der Wagen verschwand in der Ferne, und das Tier gab, jämmerlich jaulend, die Verfolgungsjagd auf. Uli mußte scharf bremsen, um es nicht zu überfahren. Er wollte den Hund streicheln, aber der schnappte nach ihm, und Janna-Berta trieb zur Eile an.

»Wie mit Coco. Genau wie mit Coco«, sagte Uli, und Janna-Berta sah, daß ihm wieder die Tränen kamen.

Sie begegneten vielen Bekannten. Kinder riefen aus den offenen Wagenfenstern: »Hallo, Janna-Berta! Hallo, Uli!« Die Heimbachs, die Eggelings, die Schmidts, die Trettners fuhren an den beiden vorüber.

»Janna-Berta!« rief Frau Trettner herüber. »Wo sind eure Eltern? Ihr könnt doch nicht allein –!«

Janna-Berta sah noch, wie sie auf ihren Mann einredete.

Da fuhren der Zahnarzt, der freundliche Sparkassenbeamte, die Verkäuferin aus dem Metzgerladen, die Uli und Kai immer eine Wurstscheibe schenkte, wenn die Mutter dort mit ihnen einkaufte. Ulis Lehrerin winkte. Auch der Briefträger fuhr vorbei – diesmal nicht im gelben Postauto, sondern in seinem eigenen Wagen. Manche schauten weg, wenn sie die beiden erkannten, andere hoben bedauernd die Schultern. Da gab es keine leeren Plätze mehr. Die Autos waren bis oben hin zugepackt.

Vor einer Tankstelle standen Autos in einer Doppelreihe Schlange. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. Es war fast sommerlich warm. Uli klagte über Durst. Janna-Berta ließ ihn zwischen Hutzdorf und Queck aus einem Graben trinken. Ob das Wasser sauber war oder nicht, was machte das jetzt noch aus? Sie selber trank auch. Sie tranken aus den hohlen Händen und näßten sich das Gesicht.

»Los, beeil dich«, drängte Janna-Berta.

»Ich seh aber noch keine Wolke«, sagte Uli mißmutig, stieg wieder aufs Rad und strampelte weiter.

Wagen hinter Wagen. Bekannte Kennzeichen aus der Nachbarschaft: Fulda, Vogelsberg, Bad Neustadt an der Saale, Bad Kissingen, hin und wieder auch Schweinfurt. Personenwagen, Lastwagen, Busse und Motorräder. Einmal zog ein Polizeihubschrauber über die Straße weg. Die Autoradios quäkten durch die geschlossenen Fenster.

Ein alter Golf fiel Janna-Berta auf: Auf dem Dachgepäckträger war ein Nachtstuhl festgezurrt. Oma Berta hatte so einen Nachtstuhl benutzt, als sie im Krankenhaus gewesen war. Janna-Berta versuchte einen Blick ins Wageninnere zu werfen, aber die Scheiben spiegelten, und der Wagen fuhr zu schnell.

Queck, Rimbach, Oberwegfurth – kleine Dörfer in einer friedlichen Landschaft. Das Fuldatal – eine ebene Strecke, angenehm zu fahren. Aber schon hinter Rimbach begann Uli müde zu werden. Janna-Berta mußte ihn immer wieder zu schnellerer Fahrt antreiben. Es war ein Uhr fünfundzwanzig.

»Ich muß mal ausruhen«, bat Uli. »Nur fünf Minuten. Mir tun die Knie so weh. Außerdem hab ich Hunger.«

Janna-Berta hetzte ihn weiter, bis er auf halber Strecke zwischen Rimbach und Oberwegfurth zu weinen anfing. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Strecke nach Bad Hersfeld geschafft. Dort, so hatte sich Janna-Berta überlegt, wollte sie mit Uli in einen Zug einsteigen. Sie wußte, daß von dort ein Intercity durchfuhr bis Hamburg. In Hamburg lebte Helga, Vaters Schwester.

»Du bist eine Heulsuse«, sagte Janna-Berta. Doch dann erlaubte sie ihm fünf Minuten Rast und packte Schnittbrot und Käse aus. Uli sprang vom Rad, ließ es ins Gras kippen und warf sich daneben. Sie reichte ihm eine Scheibe Brot mit Käse. Er würgte alles hinunter, während sie neben ihm stand und ihm nervös zusah.

»Mach schneller!« drängte sie. Sein Haar war strubbelig, sein Gesicht schmutzig von Schweiß und Staub. Und es schien, als wolle er gleich einschlafen. Die Augen fielen ihm fast zu.

Janna-Berta warf einen Blick auf den südlichen Himmel. Dann fiel ihr auf, daß die Wagen hinter ihrem Rücken plötzlich viel langsamer fuhren. Auch Uli hob den Kopf.

»Stau«, sagte er.

»Komm«, rief Janna-Berta, »jetzt sind wir die Schnelleren. Die werden gucken, wenn wir an ihnen vorbeiradeln.«

Uli war von dem Gedanken begeistert. Er schwang sich aufs Fahrrad und trat mit Schwung in die Pedale. Janna-Berta konnte ihm kaum folgen. Er grinste stolz in die Gesichter hinter den Wagenfenstern. Die Kolonne wurde immer langsamer, fuhr schließlich nur noch im Schrittempo. Eine Mutter schimpfte mit einem Jungen in Ulis Alter, der darauf die Tür aufstieß und während der Fahrt hinauspinkelte. Ein Fahrer drohte einem anderen, der überholt hatte und sich nun wieder einreihen wollte. Eine Frau kurbelte das Fenster herunter, deutete aufgeregt in den südlichen Himmel und schrie: »Dort kommt's! Dort kommt's!« Dann behauptete sie, da sei irgendein fremder Geruch. Säuglinge plärrten, Frauen drückten ihre Kinder an sich. In einem Wagen wurde gebetet.

Als Janna-Berta und Uli sich dem Dorfeingang von Oberwegfurth näherten, kam wieder Bewegung in die Kolonne: Wagen scherten nach rechts aus und rasten über die Fuldabrücke, um dann, am jenseitigen Talhang, wieder nach Norden einzuschwenken. Janna-Berta kannte das Tal genau. Sie gehörte den Bad Hersfelder Pfadfindern an. Seit zwei Jahren fuhr sie die Strecke jeden Freitagnachmittag mit dem Bus, an nicht zu heißen Sommertagen auch mit dem Fahrrad.

»Fahren wir auch über die Brücke?« rief Uli zurück.

Janna-Berta verneinte. Die Landstraße, die am gegenüberliegenden Talhang nach Norden führte, war sehr schmal. Dort würden sie von den Autos in den Straßengraben gedrückt.

Auf der Schlitzerländer Straße hatten sich jetzt zwei Kolonnen gebildet, die nebeneinander im Traktortempo dahinfuhren. Es gab keinen Gegenverkehr mehr. Wer wollte auch nach Süden, der Wolke entgegen?

Die Kinder holten den Nachtstuhl ein. Diesmal stand er am Straßenrand. Eine alte Frau in einem geblümten Morgenmantel saß darauf, eine jüngere beugte sich über sie und versuchte sie vor neugierigen Blicken zu schützen. Im Stuhl hing kein Eimer. Die alte Frau stöhnte.

 

Zwischen Oberwegfurth und Unterwegfurth fiel Ulis Teddy vom Gepäckträger. Es dauerte eine Weile, bis Janna-Berta ihn wieder festgeklemmt hatte. Heimlich verwünschte sie das grinsende Plüschvieh.

Dann kam schon die Autobahnbrücke, die das Fuldatal überquerte, in Sicht. Aber Janna-Berta und Uli sahen nicht hinüber. Sie waren damit beschäftigt, Wagen wiederzuerkennen, die vor einer guten Weile an ihnen vorbeigerauscht waren. Kurz hinter Unterwegfurth überholten sie den Besitzer des Supermarkts, den Briefträger, Ulis Lehrerin, die Verkäuferin aus dem Metzgerladen.

»Seid ihr beiden allein unterwegs?« fragte die Lehrerin aus einem schmalen Fensterspalt.

Als Uli nickte, rief sie: »Kommt! Wenn ihr euch auf die Koffer setzt und die Köpfe einzieht, könnte es gehen.«

»Nein«, rief Uli zurück. »So kommen wir schneller voran!«

Dort, wo die Straße aus dem Schlitzer Ländchen auf die Bundesstraße 62 stieß, begriff Janna-Berta, warum der Verkehr so zäh floß: Bis hierher reichte die Doppelschlange, die sich vor der Autobahnauffahrt staute. Als sie zur Autobahnbrücke hinübersah, entdeckte sie, daß dort nur Einbahnverkehr herrschte: Auf der Fahrbahn, die über Fulda und an Schweinfurt vorbei nach Würzburg führte, kroch der Verkehr in der falschen Richtung.

»Schau zur Brücke!« rief sie Uli zu. »Lauter Geisterfahrer!«

Wo die Autobahnauffahrt von der B 62 abzweigte, versuchten ein paar Polizisten, Ordnung zu schaffen. Aber nur wenige Fahrer folgten ihren Anweisungen. Die Beamten, die schimpfend und gestikulierend zwischen den Wagen herumhasteten, wirkten lächerlich. Janna-Berta wunderte sich: Bisher hatte sie die Polizisten nie so gesehen. Sie hatte immer großen Respekt vor ihnen gehabt.

Auf der Autobahnauffahrt bewegte sich so gut wie nichts. Dicht an dicht fuhren oben die Wagen und gaben nur selten einem, der von unten kam, den Weg frei. Unten an der Abzweigung wurde das Chaos immer schlimmer. Eine Frau am Steuer eines kleinen Fiat, der seitlich abgedrängt worden war, schrie verzweifelt. Drei Kinder auf dem Rücksitz schrien mit. Zwei andere Wagen standen ineinander verkeilt. Aber niemand kümmerte sich darum. Offensichtlich waren sie von ihren Besitzern im Stich gelassen worden. Wer auf die Autobahn wollte, mußte die Wracks umfahren.

Uli blieb stehen und gaffte. Als Janna-Berta ihn antreiben wollte, wurde er wütend.

»Siehst du vielleicht 'ne Wolke?« rief er. »Laß mich in Ruh!«

»Das Gift ist unsichtbar«, sagte Janna-Berta. »Also kann man sie nicht sehen.«

Uli warf einen mißtrauischen Blick in den Himmel, dann stieg er auf, und sie fuhren weiter.

Ein paar Wagen, die schon in die Autobahnauffahrt eingebogen waren, wendeten nun auf der Hangwiese und fuhren in Richtung Bad Hersfeld. Die Straße nach Niederaula war breit und eben, eine richtige Rennstrecke. Aber auch hier fuhr man kaum noch schneller als fünfzig. Zweispurig kroch die Kolonne nordwärts. Dann bildete sich eine dritte Spur. Ein einsamer Ford, der aus Niederaula südwärts strebte, mußte halb aufs Bankett.

Janna-Berta behielt Uli im Auge. Er fuhr immer langsamer und machte gefährliche Schlenker. Er tat ihr leid. Wie er schwitzte! Jetzt wehte nur noch eine sanfte Brise, die Luft war schwül. Unter den Achseln und am Rücken war Ulis Hemd durchnäßt. Die Jacke hatte er längst auf den Gepäckträger geklemmt.

 

Kurz vor Niederaula sah Janna-Berta, wie die Leute die Köpfe aus den Seitenfenstern streckten. Sie riefen sich eine neue Schreckensmeldung zu: Im Süden kam ein Gewitter auf, das hinter ihnen herzog. Und eben war gemeldet worden, daß die ganze vermutliche Fallout-Fläche zwischen Grafenrheinfeld und Bad Hersfeld in einem Gürtel von fünfzig Kilometern Breite evakuiert werde. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, hieß es, um jedes Risiko auszuschließen.

»Da hast du's!« rief Uli und zeigte nach Süden: »Man sieht sie doch!«

Aus den Rufen und den Radiomeldungen, die sie im Vorüberfahren aufschnappen konnte, machte sich Janna-Berta ein Bild der Lage.

»Reine Vorsichtsmaßnahme?« hörte sie einen jungen Mann sagen. »Daß ich nicht lache! Wahrscheinlich hat uns das Zeug längst eingeholt.«

»Ich glaub gar nichts mehr«, rief eine Frau auf dem Anhänger eines Traktors. Ein paar Kinder kauerten auf Gepäckbergen um sie herum. Als der Anhänger an Janna-Berta und Uli vorüberkam, rief ihnen die Frau zu: »Seid ihr allein? Kommt rauf, für zwei ist noch Platz!«

Janna-Berta dankte und schüttelte den Kopf. Auf den Rädern waren sie jetzt besser dran. Und sie wußte ja auch nicht, wo die Traktorleute hinwollten. Sie und Uli hatten ein festes Ziel: den Bahnhof von Bad Hersfeld.

In Niederaula ging es zu wie in einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Überall in den Seitenstraßen wurde Gepäck in die Wagen geschleppt, Männer schraubten Dachgepäckträger fest, Kinder wieselten aufgeregt herum. Vor einem Haus sah Janna-Berta einen VW-Bus stehen, dessen Dach vollgepackt war mit Koffern und Federbetten. Zwei Männer und mehrere Kinder schnürten das Gepäck fest, eine Frau schleppte ein halbes Schwein in den Bus. Janna-Berta mußte an Gastarbeiter denken. Aber die da um den Bus beschäftigt waren, sprachen Deutsch. Immer wieder starrten sie in den Himmel.

Dann schrie Uli plötzlich auf: In einem Vorgarten erschoß ein Mann einen Collie

Vor der Tankstelle am Ortsausgang hatte sich eine Wagenschlange auf dem Bürgersteig gebildet. Janna-Berta und Uli mußten absteigen, um durchzukommen. Vor der Zapfsäule prügelten sich zwei Männer. Uli traute sich nicht an ihnen vorbei. Janna-Berta packte seine Lenkstange und zog ihn mit.

Vierzehn Uhr acht. Noch zwei Dörfer und ein Gutshof lagen zwischen Niederaula und Bad Hersfeld. Janna-Berta trieb Uli weiter. Aber ihr kamen Zweifel, ob er die ganze Strecke schaffen würde. Vielleicht würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als sein Fahrrad zurückzulassen und ihn bei sich auf den Gepäckträger zu nehmen? Später, im Zug, konnte er schlafen, soviel er wollte.

»Du fährst viel besser, als ich dachte«, rief sie ihm zu. »Ich hätte dir die lange Strecke nie zugetraut.«

Sie log nicht. Er war klein für sein Alter, und er war oft krank. Erst seit er in die Schule gekommen war, hatte er etwas Farbe bekommen. Aber er hatte einen starken Willen.

»Pah!« sagte er und trat wieder schneller in die Pedale.

Janna-Bertas Hoffnung wuchs. Nur noch die zwei Dörfer und der Eichhof. Schon konnte man auf den Hügeln in der Ferne die ersten Häuser von Bad Hersfeld sehen. Sie drehte sich um. Der südliche Horizont hatte sich verfinstert.

»Wenn wir's nicht schon erwischt haben«, brüllte ein Motorradfahrer seinem Mitfahrer über die Schulter zu, »dann kommt's mit dem Gewitter – aber dicke!«

Als die Kinder Beiershausen erreichten, fuhren die Wagenkolonnen neben ihnen im Schrittempo. Die Motorräder wichen auf die Feldwege aus und rasten zwischen Weiden und Äckern dahin. Ein paar Männer schoben einen Wagen von der Straße in den Graben, während der Besitzer des Wagens sich von der anderen Seite dagegenstemmte. »Nur einen Liter!« schrie er verzweifelt. »Mit einem Liter komm ich bis zur nächsten Tankstelle!«

Dann war das Hindernis aus dem Weg geräumt, die Männer stiegen in ihre eigenen Wagen und fuhren weiter. In dem Wagen, der nun halb im Graben stand, saßen zwei alte Frauen. Janna-Berta drehte sich noch ein paarmal um. Sie sah, wie der Mann den Frauen aus dem Wagen half und mit ihnen zu Fuß weiterging.

Auch auf der anderen Straßenseite entdeckte sie zwei abgestellte Wagen. Sie waren leer. Und kurz hinter Beiershausen ließ eine Familie ihren Wagen mitten auf der Fahrbahn stehen und stieg in einen anderen um, in dem Freunde oder Verwandte sitzen mußten. Die nachfolgenden Fahrer schimpften hinter den Flüchtenden her.

Janna-Berta dachte an ihre Mutter und an Kai. Ob sie jetzt schon im Zug saßen? Im Zug sitzen und ausruhen können und wissen: Wir sind gerettet! Und Jo? Die war nun schon seit Stunden in ihrer weißen Krankenschwesterntracht zugange. Oder hatte sie nicht einmal Zeit gehabt, sich das Weiß anzuziehen? Vielleicht trug sie nur die Rotkreuzbinde am Arm. Und bestimmt vergaß sie, auf ihre eigene Sicherheit zu achten.

Janna-Berta mußte an eine Demonstration in Biblis denken: Eine Einheimische hatte mit aufgestütztem Kinn im offenen Fenster gelegen und die Demonstranten bespöttelt. Da hatte die Mutter ihr zugerufen: »Und wenn eines Tages das große Sterben über Sie hereinbricht – werden Sie dann auch noch so im Fenster liegen?«

Das große Sterben. Janna-Berta versuchte es sich vorzustellen. Sie hatte Bilder von Hiroshima gesehen, hatte von Haarausfall, von Blutungen und Wucherungen, von Leukämie und unstillbarem Brechreiz gehört. Von all diesen Schrecklichkeiten erschien ihr der Haarausfall am schrecklichsten: sich mit einem Kahlkopf neugierigen und mitleidigen Blicken aussetzen müssen!

War Jo jetzt schon mitten im »großen Sterben«? Starben die Leute unter ihren Händen? Starb sie selbst? Janna-Berta versuchte sich einen Grabstein mit dem Namen JOHANNA HELBERT vorzustellen. Oder JO HELBERT? Oder JANNA HELBERT? Als Jo noch ganz jung gewesen war, hatte sie einen Freund gehabt. Der hatte sie Janna genannt. Er war ihr erster Freund gewesen. Sie hatten vorgehabt, nach dem Krieg zu heiraten, aber im letzten Kriegsmonat, im Mai fünfundvierzig, war er gefallen.

Nein, Janna-Bertas Phantasie verweigerte sich. Sie versuchte die Gedanken an Jo zu verscheuchen.

Im Süden türmten sich die Gewitterwolken. Drohend hingen sie über den Dächern von Niederaula.

»Guck, dort brennt's!« Uli deutete auf das nächste Dorf, Asbach, wo braungrauer Rauch aufstieg, und fuhr schneller.

 

In Asbach versuchten die Leute, die vor Oberwegfurth auf die andere Talseite ausgewichen waren, wieder auf die Bundesstraße zu kommen.

Eine Doppelschlange, die durch das ganze Dorf bis auf die andere Talseite reichte, staute sich vor der Kreuzung, auf der fünf Fahrzeuge ineinander verkeilt standen. Darunter ein Bus mit Anhänger, der lichterloh brannte. Auf den Bürgersteigen beiderseits der Kreuzung gestikulierten die Insassen der Wagen und schrien durcheinander. Janna-Berta verstand, daß der Busfahrer versucht hatte, den Weg über die Kreuzung zu erzwingen. Jetzt stand der brennende Bus quer und versperrte fast die ganze Bundesstraße. Die Gesichter der Kinder glühten in der Hitze. Es stank nach verbranntem Lack und Gummi, und die Buspassagiere – ältere Leute allesamt, Kaffeefahrtgäste – standen verängstigt am Straßenrand.

Stau auf der Hauptstraße, Stau auf der Nebenstraße. Uli hielt sich vor dem Hupkonzert die Ohren zu. Breitbeinig stand er über seinem Rad und starrte in die Flammen.

»Wir müssen weiter«, sagte Janna-Berta mit einem Blick über die Schulter.

Ein Mercedes bahnte sich einen Weg durch einen sorgfältig ausgejäteten, blühenden Vorgarten. Er fuhr über ein Stiefmütterchenbeet und drückte Gartenzwerge in den Rasen. Dann blieb er in der lockeren Erde stecken, und die Räder drehten sich auf der Stelle.

Janna-Berta entdeckte auf der Straße, die hinter der Kreuzung, hinter zerbeultem Blech und Rauchschwaden, in Richtung Bad Hersfeld aus dem Dorf hinausführte, eine Lücke in der Wagenschlange, kaum länger als hundert Meter. Dort wollte der Mercedes wahrscheinlich hin. Schon stauten sich mehrere Wagen hinter ihm. Ein paar Leute bemühten sich, ihn aus dem Vorgarten hinauszuschieben, um den Weg für die eigenen Fahrzeuge freizumachen.

Von Bad Hersfeld her näherte sich ein grünweißer Polizeiwagen. Niemand machte ihm Platz. Er quetschte sich am Straßenrand entlang. Vor der verstopften Kreuzung bremste er und stellte sich quer. Drei Polizisten sprangen heraus. Einer hielt ein Megaphon vor den Mund und schrie: »Die Bundesstraße 62 ist von hier bis Bad Hersfeld ab sofort für jeden Verkehr gesperrt. Die Stadt wird evakuiert.«

»Wir wollen zum Bahnhof!« schrie jemand.

»Das hat keinen Zweck!« brüllte der Polizist mit dem Megaphon. »In der Stadt herrscht Panik. Der Verkehr ist zusammengebrochen, auch auf den Ausfallstraßen.«

»Nichts als Bluff!« rief ein Mann. »Märchen!«

»Und wo, bitteschön, sollen wir hin?« kreischte eine Frau.

Die Leute hinter dem Mercedes ließen sich nicht stören. Sie schoben ihn aus dem Vorgarten heraus. Über den Bordstein schaukelte er auf die Fahrbahn. Ihm folgten die anderen.

»Halt!« schrie der Polizist durch das Megaphon. »Hier kommt niemand durch!«

»Das werden wir ja sehen«, rief der Mann, der am Steuer des Mercedes saß, und hielt auf den Polizisten zu.

Janna-Berta sah, wie der Polizist seine Pistole zog.

»Komm hier weg«, sagte sie zu Uli. »Wir versuchen's über einen Feldweg.«

Sie fuhren auf einem schmalen Weg am Ortsrand dahin, als sie Schüsse und Geschrei hörten.

»Schießen die welche tot?« rief Uli über die Schulter zurück.

»Die haben sicher nur in die Luft geknallt«, antwortete Janna-Berta, warf einen Blick zur Gewitterfront hinüber und ließ Uli stehenbleiben und seine Jacke wieder anziehen. Sie zog ihm die Kapuze über den Kopf und schlüpfte auch in ihre eigene Jacke.

»Was soll das?« rief er empört. »Ich schwitz mich ja tot!«

Aber Janna-Berta bestand darauf, daß er die Kapuze auf dem Kopf behielt. Nun war Uli plötzlich überzeugt, nicht weiterzukönnen, wenn er nicht etwas zu trinken bekäme.

»Da vorn ist die Fulda«, sagte Janna-Berta, ohne zu wissen, ob es wirklich stimmte. »Dort kannst du trinken.«

Uli blieb stumm. Glaubte er ihr nicht? Oder war er zu erschöpft, um ihr zu antworten?

»Komm, setz dich auf meinen Gepäckträger«, sagte sie.

»Und was wird mit meinem Rad?« fragte er.

»Das lassen wir liegen.«

»Mein Rad? Kommt gar nicht in Frage!«

Er strampelte weiter.

Hinter den letzten Häusern stießen sie auf einen hohen Bahndamm, der parallel zur Bundesstraße auf Bad Hersfeld zulief. Ein schmaler Weg trennte den Damm von den Feldern.

Janna-Berta entschloß sich, diesen Weg einzuschlagen. Ihn würden sie für sich allein haben, denn er war zu schmal für Autos.

Sie fuhr jetzt neben Uli. Das Gras auf dem Weg wucherte hoch. Sie mußten langsam und vorsichtig fahren. Uli schnaufte und wischte sich mit dem Arm über Nase und Augen.

In der Ferne hörte Janna-Berta Motorengeräusche. Sie drehte sich um und sah, daß eine Wagenkolonne von der Straße herüberzukommen versuchte. Sie hupte durchs Dorf, zwei Fahrzeuge versuchten, quer übers Feld zu fahren. Aber sie blieben stecken, denn die Frühlingserde war naß und klebrig. Ein Lastwagen bog in den kleinen Feldweg ein, stieß wieder zurück und verschwand zwischen den Häusern.

Der Feldweg wurde immer schmaler, von beiden Seiten wucherten ihn Brennesseln fast zu. Sie peitschten Uli ins Gesicht. Dann löste sich die letzte Spur des Weges in einer Viehkoppel auf.

Uli weinte, und auch Janna-Berta war den Tränen nahe. Sie stiegen ab und ließen die Räder fallen. Janna-Berta bereute jetzt, nicht mit Jordans gefahren zu sein. Uli klammerte sich an sie, und sie umarmte ihn. Was nun? Zurück ins Dorf, um einen anderen Weg nach Norden zu suchen?

Es war schon fast drei Uhr.

Da hörten sie Motorengeräusch hinter dem Bahndamm.

Sie hoben die Räder auf und zerrten sie die Böschung hinauf. Janna-Berta stolperte und rutschte wieder ein Stück hinunter. Uli war zuerst oben.

»Janna-Berta!« rief er aufgeregt. »Da unten ist ein toller Weg – fast so gut wie eine Straße!«

Sie schob das Rad über den Rand der Böschung, sah, wie sich Uli jenseits der Eisenbahnschwellen auf den Sattel schwang, hörte, wie unten ein Auto vorbeifuhr. Während sie ihr Rad über die Schwellen hob, fiel ihr das riesige, blühende Rapsfeld hinter dem Damm auf, das vorher ihrem Blick verborgen gewesen war. Wie es leuchtete!

Dann sah sie noch, wie Uli triumphierend die Arme hob, bevor er, die jenseitige Böschung hinunter, seinem Rad freien Lauf ließ.

»Vorsicht!« rief sie. »Du kannst nicht durch den losen Schotter –«

Da flog er auch schon kopfüber vom Rad, hinunter auf den breiten Weg, auf dem in hoher Geschwindigkeit ein Auto herangeschossen kam. Das Fahrrad überschlug sich. Der Teddybär wurde vom Gepäckträger geschleudert und blieb am Fuß der Böschung liegen.

»Uli!« schrie Janna-Berta.

Der Fahrer des Autos bremste nicht. Es gab einen dumpfen Schlag, und der Wagen raste weiter, einen Staubschweif hinter sich lassend.