5

Instinktiv war Janna-Berta nach Süden gelaufen. Niemand bewegte sich in ihrer Richtung, aber zahllose angstverzerrte Gesichter kamen ihr entgegen. Papierfetzen wirbelten durch die Luft, die Bäume bogen sich ächzend unter dem Gewittersturm. Janna-Bertas langes, helles Haar flatterte.

Sie sah nur das Rapsfeld vor sich. Auf dieses gelbleuchtende Rapsfeld unter der dunklen Wolkenfront lief sie zu. Uli kauerte jetzt sicher ganz verstört im Raps und fühlte sich allein gelassen, ausgesetzt wie der Hund, der hinter dem Wagen hergerannt war, wie Coco in der Wohnung der Großeltern. Bestimmt weinte er und rief nach ihr, voller Angst vor dem schwarzen, giftigen Himmel. Wie hatte sie nur von ihm fortgehen können? Wo sich die Mutter fest auf sie verlassen hatte!

Unter Blitzen und gewaltigen Donnerschlägen entlud sich das Gewitter über ihr, über der Stadt, über den Unfallstellen und steckengebliebenen Wagenschlangen, über den Flüchtenden, die in panischer Angst nach einem Unterschlupf, einem offenen Hausflur, einem Dachvorsprung suchten, um sich vor dem verseuchten Regen zu retten.

Nur Janna-Berta versuchte sich nicht zu schützen. Das Rapsfeld, das Rapsfeld!

»Hab keine Angst, Uli!« schrie sie, während der Regen sie bis auf die Haut durchnäßte. »Hab keine Angst, ich komme!«

Es war ein schweres Gewitter, ein Wolkenbruch. Das Wasser gluckste bei jedem Schritt in den Schuhen, das Haar klebte am Kopf, die Tropfen rannen ihr in die Augen und in den Mund.

Sie war auf eine lange Brücke geraten, auf der sich die Autos stauten, die ihr entgegenkamen. Der Regen trommelte auf die Wagendächer. Die Fenster waren geschlossen und von innen beschlagen. Dahinter blieben die Gesichter der Insassen unsichtbar. Janna-Berta war der einzige Fußgänger auf der Brücke. Ein Wagen hupte, als sie an ihm vorbeihastete. Jemand wischte von innen die Scheibe und machte Janna-Berta aufgeregte Zeichen. Aber sie wollte keine Zeit verlieren. Sie mußte zum Rapsfeld, zu Uli. Die gelbe Fläche schien sich zu entfernen. Sie versuchte schneller zu laufen. Ohne daß sie es wußte, näherte sie sich der Autobahn.

Es goß noch immer so sehr, daß sie nicht erkennen konnte, was auf den Wegweisern stand. Doch das kümmerte sie nicht. Sie sah ja das Rapsfeld deutlich vor sich. Aber es blieb immer in gleicher Entfernung.

Als sich der Himmel wieder aufhellte und der Regen nachließ, konnte Janna-Berta nicht mehr laufen. Sie keuchte. Die Füße hatten sich in den nassen Schuhen wundgerieben. Es war kühl geworden. Naß von Kopf bis Fuß, schlotterte sie vor Kälte. Jemand rief aus einem Wagen: »Kehr um, Kind – du läufst ja mitten hinein!«

Auf einmal konnte sie das Rapsfeld nicht mehr sehen. Sie geriet in Panik. Wie konnte sie es aus dem Blick verloren haben? War sie nicht immer darauf zugegangen? Sie versuchte wieder zu laufen, aber es war nur noch ein müdes Stolpern. Als sie dem Bogen der Autobahnauffahrt folgte, glaubte sie geradeaus zu gehen. Sie schwankte hin und her, geriet gefährlich nahe an die Wagen, die hier zügiger fuhren. Schrille Huptöne ließen sie zur Seite springen. Dann war sie auf der Autobahn. Sie trottete auf der Standspur dahin, neben den Leitplanken, wo sonst kein Fußgänger gehen durfte. Niemand jagte sie weg.

Die Fahrbahn, die nach Osten führte, nach Eisenach, war auch stark befahren, aber nicht verstopft. Es war Janna-Berta egal, wo sie hinführte. Wenn sie sie nur dem Rapsfeld näher brachte. Als sie ein Nottelefon am Straßenrand entdeckte, schöpfte sie neue Hoffnung. Sie hob es ab und horchte hinein.

»Mutti?« rief sie. »Vati?«

Aber die Stimme, die sich meldete, war ihr fremd. Sie legte wieder auf, kauerte sich nieder und lehnte sich gegen die Rufsäule. Ab und zu fuhr ein Wagen vorüber und bespritzte sie. Gleichgültig ließ sie es geschehen. Mit weit offenen Augen saß sie so, während Rinnsale und Pfützen, die der Regen hinterlassen hatte, zu dampfen begannen. Dunst hing über den Feldern. Zwischen abziehenden Wolken erschienen Fetzen blauen Himmels.

Plötzlich bremste mit quietschenden Reifen ein buntbemalter Bus. Er fuhr neben Janna-Berta auf die Standspur und hielt an. Ein Fenster wurde heruntergekurbelt. Eine junge, sommersprossige Frau beugte sich heraus.

»Hallo«, rief sie, »willst du mitfahren?«

Janna-Berta antwortete nicht, hob kaum den Kopf. Die Sommersprossige stieg aus und kam auf sie zu.

»Du kannst doch hier nicht einfach sitzen, so naß, wie du bist«, sagte sie.

»Nein«, murmelte Janna-Berta.

»Wo willst du denn hin?«

»Zum Rapsfeld.«

Die Sommersprossige drehte sich zum Bus um und winkte den Fahrer heran, einen jungen Mann mit blonden, langen Haaren.

»Sieh dir das an«, sagte sie leise. »Das arme Ding. Durchgedreht.«

»Das ist ja noch ein Kind«, sagte er. Dann beugte er sich über Janna-Berta und sagte: »Komm mit uns. Wir fahren dich hin, wo du hinwillst.« Er nahm sie am Arm und zog sie hoch.

»Paß auf«, warnte die Sommersprossige. »Sie war im Regen. Sie muß voll sein von dem Scheiß.«

»Daraufkommt's jetzt auch nicht mehr an«, sagte er.

Sie schubsten Janna-Berta in den Bus. Verbrauchte Luft schlug ihr entgegen. Sie hörte Stimmen, sah, wie sich zwei Hände nach ihr ausstreckten, sah Füße zwischen Stapeln von Gepäck. Danach fielen ihr die Augen zu. Der Wagen fuhr mit einem Ruck an, sie versuchte sich noch gegen die Hände zu wehren, die ihr die Jacke und das nasse T-Shirt über den Kopf zogen. Dann verschwammen alle ihre Empfindungen bis auf zwei: Wärme und Trockenheit. Sie schlief augenblicklich ein.

 

Irgendwann bremste der Bus scharf. Gepäck und Passagiere wurden nach vorn geschleudert. Ein Seesack fiel auf Janna-Berta. Sie fuhr hoch. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Mehrmals fiel das Wort »Grenze«. Janna-Berta wähnte sich daheim in ihrem Bett, sah dann an sich hinunter, entdeckte, daß sie in Jeans steckte, die ihr zu weit waren, und daß sie ein riesengroßes T-Shirt anhatte, das einmal himmelblau gewesen sein mußte. Auch ihre Socken und Schuhe waren verschwunden. An den bloßen Füßen trug sie jetzt abgelatschte Stoffschuhe mit geflochtener Sisalsohle. Solche Schuhe kannte Janna-Berta aus den Ferien an der Costa Brava. Sie waren leicht und bequem, hielten aber nicht lange. Unter den nackten Zehen spürte sie Sand.

»Na«, sagte die Sommersprossige zu ihr, »siehst du wieder klar?«

Janna-Berta schaute sich um. Sechs junge Leute saßen außer ihr im Bus, drei Männer und drei Frauen. Der Bus stand im Stau.

»Deine Klamotten brauchst du nicht zu suchen«, sagte die Sommersprossige zu ihr, »die haben wir aus dem Fenster geworfen. Das Zeug war ja sicher total verseucht.«

Die Leute stiegen aus dem Bus und palaverten mit Fahrern und Insassen anderer Wagen. Nur Janna-Berta blieb liegen. Im Halbschlaf hörte sie die Beratungen mit und begriff, worum es ging: Wer die Autobahn in Richtung Eisenach befahren hatte, war darauf aus gewesen, sich nach Berlin oder in die DDR zu retten. Aber nun war seit einer Stunde die Grenze von östlicher Seite geschlossen worden. Ein schwerer Lastwagen hatte daraufhin die ostdeutschen Schlagbäume weggedrückt, um den PKW-Kolonnen hinter ihm freie Durchfahrt zu verschaffen. Aber die Grenzsoldaten hatten sie mit Maschinenpistolen aufgehalten. Die Wagen, die noch hatten wenden können, waren wieder in den Westen zurückgeflüchtet. Nun staute sich hier bei Herleshausen alles, was aus dem Westen gekommen war.

»Mörder!« schrie jemand. »Schießen auf ihre Brüder!«

»Die sind genauso in Panik wie wir«, sagte der Blonde ruhig. »Außerdem wird bei uns auch geschossen. Und ich wette, das ist alles erst der Anfang. Aus dem Absperrungsgürtel um Schweinfurt kommt keiner mehr lebend raus. Wenn ihn die Radioaktivität nicht umbringt, dann das Militär. Die werden die stark Verseuchten mit Gewalt daran hindern, sich unter die Davongekommenen zu mischen.«

»Du spinnst«, rief die Sommersprossige. »Die können die Leute doch nicht wie die Hasen abknallen –«

»Wenn's ums nackte Überleben geht«, sagte der Blonde, »fällt die Zivilisationstünche ab.«

Janna-Berta war hellwach geworden. Sie sah ihren Vater vor dem Mündungsfeuer der Maschinengewehre, sah ihn schreien und fallen. Sie preßte die Hände vor den Mund.

Der mit der Mähne hielt ein Taschentuch hoch. Es herrschte Windstille. Die Leute trieben sich gegenseitig zur Eile an. Man beschloß, an der Grenze entlang in Richtung Eschwege zu fahren und über Göttingen in den norddeutschen Raum zu gelangen.

»Du fährst doch mit?« fragte die Sommersprossige.

Janna-Berta dachte an Helga in Hamburg. Die Mutter hatte gewollt, daß sie dorthin flüchten sollten, wie auch immer und mit wem auch immer. Aber nun war es ja zu spät. Sie war unter der verseuchten Wolke hergelaufen und vom verseuchten Regen durchnäßt worden. Uli war im Rapsfeld, Vater war vielleicht noch in Schweinfurt, die Mutter mit Kai irgendwo im Katastrophengebiet, vielleicht auf dem Bahnhof von Hünfeld oder immer noch auf dem Schweinfurter Bahnhof. Und Almut, die endlich das Kind erwartete, das sie und Reinhard sich so lange gewünscht hatten – sie alle waren irgendwo hier in der Nähe. Alle, auf die es ihr ankam.

»Nein«, sagte sie, »ich bleib hier.«

»Bist du lebensmüde?« fragte die Sommersprossige.

Janna-Berta zuckte mit den Schultern, dankte und stieg aus. Der VW-Bus wendete und fuhr auf der Gegenfahrbahn zurück. Janna-Berta sah jemanden durch das Rückfenster winken. Mit schwerfälligen Schritten verließ sie die Straße. Die weite, hügelige Landschaft war gelb kariert von den Rapsfeldern.

Sechs Uhr. Die Sonne stand im Westen, die Schatten wurden länger. Eine schöne, friedliche Stimmung. Hier hatte es nicht geregnet. Die Gegend war, wie es schien, noch verschont geblieben.

Janna-Berta schleppte sich hangabwärts in den nächsten Ort. Sie gab nicht acht, wie er hieß. Sie sah die Schilder nicht, die auf die Nähe der DDR-Grenze hinwiesen. Hier waren die Bewohner noch nicht geflüchtet. Aber die Straßen waren wie leergefegt. Nur vor einem Supermarkt gab es Lärm: Scharen von Leuten packten die Kofferräume ihrer Wagen randvoll mit Lebensmitteln. Das sah nicht nach Einkauf aus, sondern nach Plünderung. Auch vor einer Tankstelle ging es lebhaft zu. Eine Wagenschlange staute sich dort, und es wurde geschimpft und geschrien.

Janna-Berta bat um Wasser, aber der Tankwart brüllte sie an, sie solle sich wegscheren. Sie lief weiter, ziellos, im Zickzackkurs. Am Ende des Ortes angekommen, glaubte sie den Durst nicht mehr ertragen zu können. Sie wollte an einer Haustür schellen, fand aber den Klingelknopf nicht. Da trommelte sie mit den Fäusten gegen die Tür.

Eine Fenstergardine bewegte sich. Kurz darauf hörte Janna-Berta Schritte heranschlurfen. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Eine ältere Frau spähte heraus.

»Wenn's nur Wasser ist –«, antwortete sie sichtlich erleichtert und nickte. Dann fragte sie mit einem mißtrauischen Blick: »Du bist doch nicht von hier?«

»Aus Schlitz«, sagte Janna-Berta.

Die Frau wußte nicht, wo Schlitz lag. Janna-Berta mußte es ihr erklären.

»Bei Fulda?« rief die Frau. »Dort ist doch evakuiert worden. Dann bist du ja – hast du etwa schon was abgekriegt?«

»Vielleicht«, antwortete Janna-Berta matt.

Die Frau schloß die Tür und schlurfte davon. Nach einer Weile kehrte sie ohne Wasser zurück. Sie sprach hinter der geschlossenen Tür.

»Es geht nicht«, sagte sie. »Es heißt, jeder strahlt, der von dort kommt.« Sie räusperte sich und fügte hinzu. »Eben haben sie gemeldet, daß auch hier im Kreis Notlazarette eingerichtet werden. Geh zur Polizei. Laß dich dort hinbringen.«

Die Schritte entfernten sich. Janna-Berta blieb noch eine Weile stehen.

»Es geht schon los mit den Flüchtlingen. Wie fünfundvierzig«, hörte sie die Frau sagen. Und eine Männerstimme antwortete: »Schau nach, ob die hintere Tür zu ist.«

Janna-Berta lief weiter, zum Ort hinaus, immer die Straße entlang: eine schnurgerade Lindenallee. Einmal stolperte sie über Bahngleise, die die Straße überquerten. Rechts und links breiteten sich Gärten und Felder aus. Die Allee verengte sich, der Weg lief plötzlich bergauf. Janna-Berta spürte Übelkeit, würgte, lehnte sich gegen einen Lindenstamm und erbrach sich.

Blind für die Schönheit eines Dorfes, dessen rotbesonnte Dächer am Ende der Allee sichtbar geworden waren, erreichte sie noch das breite Geländer, das, quergestellt, die Allee jäh enden ließ. Dahinter brach der Weg, brachen die Felder steil ab zu einem Fluß hinunter, der träge und lautlos dahinfloß. Am anderen Ufer lag, Reste einer längst zerstörten Brücke einrahmend, das Dorf. Ein Schild, in der einsetzenden Dämmerung unter den Lindenkronen kaum mehr lesbar, wies darauf hin, daß die Grenze in der Flußmitte verlief.

Janna-Berta lehnte sich übers Geländer und übergab sich noch einmal. Dann ließ sie sich fallen, krümmte sich zusammen und begann hemmungslos zu weinen.