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Starr vor Entsetzen stand Janna-Berta auf dem Bahndamm. Die Staubwolke hatte sich verzogen, und dort unten lag Uli. Nicht weit von ihm lag sein Teddy, daneben das Fahrrad. Nur die Lenkstange war verbogen. Das Vorderrad drehte sich noch. Ulis Kopf, von der Kapuze umhüllt, lag seltsam flach in einer Blutlache, die sich zusehends vergrößerte. Janna-Berta warf das Rad hin, stürzte die Böschung hinunter und kauerte sich neben Uli. Sie streichelte seine Hand, die noch ganz warm war. Sie drehte sich nicht nach der Autokolonne um, die vom Dorf herankam. Hier lag Uli. Hier konnte niemand vorbei. Sie blieb mitten auf dem Weg hocken.
Der vorderste Wagen bremste. Ein bärtiger Mann und eine rotblonde Frau stiegen aus. Hinter ihnen wurde wütend gehupt. Immer mehr Hupen lärmten. Die Rotblonde zog Janna-Berta hoch.
»Ihr wolltet wohl auch auf den Bad Hersfelder Bahnhof«, sagte sie.
»Steig ein«, sagte der Bärtige. »Wir nehmen dich mit. Die Kinder rücken ein bißchen zusammen.«
»Uli muß mit«, sagte Janna-Berta.
»Uli?« fragte die Frau. »Du meinst...«
Janna-Berta warf den Kopf zurück und sah die Frau mit einem wilden Blick an. »Er ist mein Bruder!« schrie sie.
»Du kannst ihm nicht mehr helfen«, sagte der Bärtige leise.
Das Hupkonzert wurde immer lauter. Eine Stimme schrie: »Macht den Weg frei – oder wir helfen nach!«
»Er muß mit«, sagte Janna-Berta. »Er muß mit.«
»Die verlieren die Nerven!« rief der Bärtige.
Er warf Ulis Fahrrad auf die Böschung, hob Uli auf, ging ein paar Schritte ins Rapsfeld hinein und legte ihn dort nieder. Als er zurückkam, war sein Hemd voller Blut.
»Nein«, schrie Janna-Berta. »Nein!«
Sie wollte ins Rapsfeld laufen, aber die Frau hielt sie fest. Janna-Berta versuchte sich loszureißen und schlug um sich, bis ihr der Bärtige eine schallende Ohrfeige gab. Da knickte sie zusammen und ließ sich widerstandslos in den Wagen tragen.
Erschreckt rückten die drei kleinen Mädchen im Fond zusammen.
»Schnell!« rief die Rotblonde. »Die fallen noch über uns her!«
Der Mann und die Frau warfen sich auf ihre Sitze, schlugen die Türen zu und fuhren davon, gefolgt von der Kolonne. Der Aufenthalt hatte kaum mehr als drei Minuten gedauert. Die beiden schwiegen. Auch die Kinder blieben stumm. Janna-Berta nahm nichts wahr. Erst als der Wagen neben der Fulda auf einer Wiese hielt und die Frau die kleinen Mädchen herauszerrte, hob sie den Blick. In der Nähe standen Häuser. Das mußte Bad Hersfeld sein. Es donnerte.
»Du mußt mitkommen«, sagte die Rotblonde zu ihr. »Hier bist du verloren.«
Sie reichte ihr die Hand, und Janna-Berta tat, was von ihr erwartet wurde. Aber sie hörte alles, was die anderen sprachen, wie durch eine dicke Wand.
Der Bärtige hievte einen vollgepackten Rucksack aus dem Kofferraum und wuchtete ihn sich auf den Rücken. Das mittlere Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, setzte er sich rittlings auf die Schultern. Die Rotblonde schob das jüngste Kind, das an einem Schnuller saugte, in einen Tragesitz, den sie sich umhängte. Das älteste, etwa in Ulis Alter, nahm sie an der Hand. Der Mann schloß den Wagen ab, und sie liefen in Richtung Stadtmitte. Janna-Berta warf einen Blick zurück: Zwischen Bäumen sah sie die Schloßgemäuer des Eichhofs liegen. Überall in der Landschaft verstreut leuchteten Rapsfelder.
»Faß Susanne an«, rief ihr die Frau zu, »damit wir uns nicht verlieren!«
Janna-Berta gab dem ältesten Kind die Hand. Schlafwandlerisch setzte sie Schritt vor Schritt. Vor ihnen lag Bad Hersfeld.
»Jetzt mußt du ein bißchen laufen«, sagte der Bärtige zu Susanne. »Wenn wir nicht schnell genug auf den Bahnhof kommen, holt uns die Wolke ein.«
»Aber wir können uns doch unterstellen, wenn es regnet«, keuchte das Mädchen.
Die Frau warf ihrem Mann einen Blick zu und sagte: »Du hast recht, Susanne. Aber wenn wir naß werden, könnten wir vielleicht Schnupfen kriegen.«
Der Mann schüttelte den Kopf, und für einen Augenblick sah es so aus, als wollte er der Frau widersprechen. Doch dann sagte er nur: »Komm, Susanne, lauf ein bißchen!«
Susanne brach in Tränen aus, und die Kleine auf den Schultern des Vaters heulte laut mit.
Im Laufschritt hasteten sie weiter.
»Kennst du dich in Bad Hersfeld aus?« fragte die Frau.
Janna-Berta nickte.
»Sie kennt sich hier aus«, rief die Rotblonde ihrem Mann zu, der ein paar Schritte hinter ihnen war. »Gott sei Dank.« Und zu Janna-Berta gewandt, befahl sie: »Zum Bahnhof, hörst du? Auf dem schnellsten Weg. Die werden bei der Evakuierung zuerst die Bad Hersfelder drannehmen, aber wir sagen einfach, wir sind von hier. In dem Trubel kann das sowieso keiner kontrollieren, und bei vier Kindern werden die nicht viel fragen. Wer hat heutzutage schon vier Kinder?«
»Vier?« fragte der Bärtige.
»Kapierst du denn nicht?« rief die Frau. »Sie ist unsere älteste Tochter!«
»Natürlich«, sagte der Mann.
»Wenn du gefragt wirst«, sagte die Frau zu Janna-Berta, »wir sind die Heublers aus Bad Hersfeld. Denk einfach an Heu. Und nenn uns Mutti und Vati.«
»Nein«, sagte Janna-Berta.
»Es ist ja nicht ernst gemeint«, keuchte die Frau, während sie weiterhastete. »Nur, damit wir schneller fortkommen. Das ist doch auch zu deinem Vorteil. Wir wollen dir deine Eltern ja nicht wegnehmen.«
Janna-Berta schüttelte den Kopf.
»Also gut«, sagte die Rotblonde ungeduldig, »dann nenn ihn Bert und mich Marianne. Und das sind Susanne, Nina und Annika.«
Janna-Berta hörte sie wie aus weiter Ferne. Sie nickte abwesend.
»Und du?« fragte die Frau. »Wie heißt du?«
»Uli«, sagte Janna-Berta.
»Uli? Ulrike? Also Uli Heubler, jedenfalls bis wir im Zug sind«, sagte Marianne Heubler.
Janna-Berta drehte sich um. Das Gewitter stand schwarz und drohend im Süden, seine Wolkenränder erreichten schon fast die Sonne. Breit lagerte es über der maigrünen Landschaft. Donner rollte.
»Schau dich doch nicht dauernd um!« herrschte Bert Heubler sie an. »Du machst die Kinder scheu.«
Janna-Berta gehorchte und schaute wieder nach vorn. In diesen Außenbezirken der Stadt kannte sie sich auch nicht aus. Aber sie sah den Turm der Stiftsruine aufragen. Vor zwei Jahren, als sie noch neu bei den Pfadfindern gewesen war, hatte sie sich, um den Weg zu den Treffpunkten zu finden, immer an diesem Turm orientiert. Vorbei an Reihen von Einfamilienhäusern und Gärten mit Gartenhäuschen, quer durch gepflegte Anlagen ging sie wie in Trance auf den Turm zu, ohne wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Erst als sie das Stadtzentrum erreichte, spürte auch sie die fiebrige Spannung, die hier herrschte. Aus allen Richtungen ertönte ungeduldiges Hupen, das Sirenengeheul von Feuerwehr- und Polizeifahrzeugen schwoll an und ging im allgemeinen Lärm wieder unter. Man hörte fernes Stimmengewirr, einzelne Rufe, Geschrei. Militärfahrzeuge rasselten durch die Straßen.
Die Heublers und Janna-Berta überquerten den Stadtring. Hier standen die Wagen dicht an dicht, darunter mehrere Busse, voll mit Kindern. Kein Fahrer hielt mehr vor dem Zebrastreifen an. Die Fußgänger mußten sich einen Weg zwischen den Wagen hindurch suchen. Plötzlich gerieten die Fahrzeuge wieder in Bewegung, obwohl die Ampel an der Kreuzung Rotlicht zeigte. Die Heublers, die gerade die Straße überquerten, wurden mit Gehupe aus dem Weg getrieben. Janna-Berta schrie auf, als ein Wagen auf sie zukam. Sie sprang mit einem Satz auf den Bürgersteig, Susanne hinter sich herziehend. Susanne verlor den Boden unter den Füßen und schleifte mit den Knien über den Asphalt.
»Auch das noch«, jammerte ihre Mutter. »Geh weiter, Susanne, dann tut's nicht so weh.«
Überall wurde gepackt, geschleppt, gehastet. Je näher Janna-Berta und die Heublers dem Bahnhof kamen, desto mehr Menschen liefen in dieselbe Richtung wie sie, die meisten schwer beladen, manche auch ohne Gepäck, viele in ihren besten Kleidern, andere, wie sie aus Küche oder Werkstatt kamen. Eine Frau in Pelzmantel und Hut stöckelte mit zwei schweren Koffern auf der gegenüberliegenden Straßenseite, eine andere – sie lief nicht weit vor ihnen – hatte vergessen, den Rückenreißverschluß ihres Kleides zu schließen. Ein kleines Mädchen trug eine Puppe, die größer war als es selbst. Eine alte Dame preßte ein Körbchen mit einem Pekinesen an sich, ein Türke schleppte eine elektrische Nähmaschine auf dem Rücken. Susanne stolperte über ein verschnürtes Paket, das mitten auf dem Bürgersteig lag und anscheinend niemandem gehörte. Sie fiel auf die blutenden Knie, weinte jämmerlich und wollte sich nicht weiterzerren lassen. Da nahm Janna-Berta sie auf den Rücken.
Rolläden rasselten. Die meisten Geschäfte waren schon geschlossen. Eine Bundesgrenzschutzstreife patrouillierte durch die Fußgängerzone, bestürmt von Bürgern, die Auskünfte haben wollten und Rat suchten. Aber die Männer in Uniform hoben nur die Schultern.
»Bustransporte gibt's nicht«, sagte einer. »Auf den Straßen geht ja nichts mehr. Gehen Sie zum Bahnhof. Dort haben Sie vielleicht noch eine kleine Chance.«
Vor dem Bahnhof drängte sich eine Menschenmenge. Am Haupteingang wurde geschrien, geschimpft, geknufft. Rotkreuzleute schoben sich durch das Gedränge. Kinder brüllten. Ein paar Polizisten und Bahnbeamte versuchten, Ordnung zu schaffen. Aber niemand befolgte ihre Befehle, niemand kümmerte sich um sie.
»Gleich regnet's!« hörte Janna-Berta jemanden schreien. »Dann kommt alles über uns!«
»Die Kinder«, jammerte eine Frau. »Denkt doch an die Kinder! Laßt wenigstens sie hinein!«
»Hier kommen wir nie rein«, sagte Bert verzweifelt.
Von allen Seiten strömten Menschen heran, drängten sich vor den Haupteingang, schwärmten dann nach rechts und links aus, um einen Durchgang zu finden. Auch die Heublers und Janna-Berta zogen nordwärts am Bahnhofsgebäude entlang. Vor einem eisernen Gittertor und einer im Lochmuster hochgezogenen Backsteinmauer, die zwischen zwei Nebengebäuden den Bahnsteig vom Bahnhofsvorplatz trennte, gab es Bewegung: Ein paar Männer entwaffneten zwei Polizisten, die mit dem Gummiknüppel in der Hand die Menge daran gehindert hatten, das Tor einzudrücken oder über die Mauer zu klettern. Denn die Mauer war nicht höher, als daß ein Mann mit ausgestreckten Armen die Oberkante erreichen konnte. Und die rechteckigen Löcher boten den Füßen Halt.
Jetzt war die Mauer frei. Unter wildem Triumphgeschrei setzte ein Ansturm auf sie ein, dessen Sog auch die Heublers und Janna-Berta mitriß. Sie kämpften sich bis unmittelbar an die Mauer heran. Durch die Löcher konnte Janna-Berta hinter dem Gewimmel der Wartenden auf dem Bahnsteig den oberen Teil eines Personenzuges erkennen. Auf den Waggondächern saßen Leute, dicht an dicht. Janna-Berta fielen zwei Männer mit Krawatten und weißen Hemden auf. Die Hemden waren zerfetzt und schmutzig. Eine Frau trug nur noch einen Schuh.
Dann setzte sich der Zug langsam nordwärts in Bewegung. Die Leute auf dem Bahnsteig schrien ihm nach, drohten mit den Fäusten, liefen hinter ihm her. Ein paar junge Männer hängten sich an offene Fenster oder an die Haltegriffe der Einstiege.
Bert hob Nina von seinen Schultern, drückte sie seiner Frau in den Arm und streifte den Rucksack ab. Er kletterte auf die Mauer und ließ sich ein Kind nach dem anderen hinaufreichen. Ein freundlicher Mann auf der anderen Seite nahm sie ihm ab. Auch Janna-Berta kletterte hinüber. Sie war eine gute Sportlerin. Nun versuchte auch Marianne, an der Mauer hochzukommen. Aber sie war füllig und ängstlich und mühte sich vergeblich so lange, bis ihr Mann sich erst um die drei Kinder kümmern mußte, die jenseits der Mauer im Gedränge standen und sich schreiend aneinanderklammerten.
»Paß du auf die Kinder auf«, sagte er zu Janna-Berta und setzte ihr seine jüngste Tochter auf den Arm. Er schob alle vier unter das Dach neben der Mauer und schärfte Janna-Berta ein, dicht an die Gebäudewand gepreßt stehenzubleiben. Dann kletterte er über die Mauer wieder hinaus.
Bundesgrenzschutzleute drängten sich durch die Menge auf dem Bahnsteig und postierten sich vor der Innenseite der Mauer. Sie ließen niemanden mehr vom Bahnhofsvorplatz herüberklettern. Janna-Berta hörte das Angstgeschrei, die Protestrufe der Menge, die sich von der Rettung abgeschnitten sah. Sie glaubte sogar, Berts Stimme herauszuhören. Die kleine Annika auf ihrem Arm schrie wie am Spieß, ihr erschien wohl Janna-Bertas Gesicht fremd und bedrohlich. Nina klammerte sich an Susanne, Susanne an Janna-Berta. Das Gedränge auf dem Bahnsteig wurde immer dichter. Es mußte noch andere Durchschlüpfe geben. Immer wieder stießen ausladende Rucksäcke und breite Rücken gegen Annikas Kopf. Janna-Berta kauerte sich nieder, um das Kind zu schützen. Auch Nina und Susanne hockten sich hin, mit dem Rücken zur Wand, die Knie unterm Kinn. Eine Frau stolperte über die Kinder und fiel auf Janna-Berta. Vor Schreck schrie jetzt auch Nina und rief nach ihren Eltern. Janna-Berta stand wieder auf. Verzweifelt schaute sie hinüber zur Mauer. Wann kamen die Heublers endlich? Ließen die Uniformierten sie nicht über die Mauer?
Dicht an Janna-Berta vorbei kämpfte sich ein Bahnbeamter durch das Gedränge. Die Wartenden bestürmten ihn mit Fragen.
»Der Intercity aus München?« antwortete er einer Frau. »Na, Sie sind gut. In Hünfeld ist die Strecke blockiert, ein Intercity ist auf einen Triebwagen aufgefahren. Außerdem ziehen die einen Absperrungsgürtel um die ganze Schweinfurter Gegend. Da fährt kein Zug mehr durch. Ist ja alles schwer verseucht.«
»Und wir?« schrien ein paar Stimmen gleichzeitig.
»Von Bebra schicken sie Züge her«, antwortete er und versuchte weiterzukommen. »Der nächste fährt gleich ein.«
»Ich hab einen gehbehinderten Mann!« jammerte eine Frau und hielt den Bahnbeamten am Ärmel fest. »Ich hab ihn bis vor den Bahnhof geschoben. Wie soll ich ihn durch das Gedränge hereinschaffen?«
Der Mann hob die Schultern, riß sich los und rief: »Sie müssen Ruhe bewahren – sonst geht gar nichts mehr!«
Die neuen Nachrichten verbreiteten sich auf dem Bahnsteig in Windeseile. Janna-Berta dachte an ihre Mutter. Und an Kai, der nicht viel älter war als Annika auf ihrem Arm. Waren sie noch herausgekommen, oder saßen sie jetzt in der Falle? Und Jo?
Plötzlich reckten sich alle Köpfe, alle Gesichter wandten sich nach Norden: Ein Güterzug rollte rückwärts in den Bahnhof ein: teils offene Pritschenwagen, teils Viehwaggons. Die Wartenden schrien und drängten vorwärts. Janna-Berta wurde mit den Kindern von der Wand weggeschoben, vor die Mauer, hinter der das Geschrei am größten war. Während sie mitgerissen wurde, dem Zug entgegen, schrie sie zur Mauer hinüber: »Kommt doch, bitte kommt doch!« und versuchte sich vergeblich an den Familiennamen der drei kleinen Mädchen zu erinnern. »Bitte!«
Sie sah noch, daß von außen zahllose Hände die Gitterstäbe des Tors in der Mauer umklammert hielten und daran rüttelten. Von innen stemmten sich die Männer vom Bundesgrenzschutz dagegen. Es knirschte, Eisen dröhnte an Eisen. Dann verlor sie das Tor aus dem Blick. Die Kinder schrien vor Angst. Sie wurden gestoßen und geschubst.
»Haltet euch an mir fest«, rief Janna-Berta. »Nicht loslassen! Mutti und Vati kommen gleich.«
Die erste, die sie verlor, war Nina. Ihr Jammergeschrei ging im Lärm der Menge unter. Nur noch ein schrilles »Susanne!« war zu hören.
Dann ließ Susanne los – und schon war sie zwischen Koffern und Beinen und Röcken verschwunden. Janna-Berta preßte Annika an sich, rief die Namen der Kinder und stemmte sich gegen den Strom. Sie erhielt Püffe und wurde beschimpft. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Vom Tor her tönten rhythmische Rufe: »Hau ruck! Hau ruck!«
In dem verzweifelten Bemühen, irgendwo die blonden Schöpfe der Kinder zu entdecken, drehte sich Janna-Berta um sich selbst. Da sah sie, wie sich auf einmal das Tor öffnete – aufgedrückt von außen. Die Menge brandete herein. Wer ihr im Weg stand, wurde überrannt. Ein Wirbel bildete sich dort, wo eben noch Ninas Rufe hergekommen waren. Menschen schlugen um sich, stürzten, rappelten sich auf, traten auf andere, die noch lagen. Janna-Berta gelang es, sich zurückzuretten an die Wand, wo sie vorher gestanden hatte. Und schon stürzten die Heublers auf sie zu. Sie rang noch nach Atem, als sie Annika in Berts Arme gleiten ließ.
»Und die anderen?« schrie Marianne. »Die anderen!«
Janna-Berta deutete stumm auf das Chaos zwischen Tor und Zug. Da brach die Mutter der kleinen Mädchen in Tränen aus. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Sie packte Janna-Berta an den Schultern und schüttelte sie.
»Du –! Du –!« rief sie schrill.
Janna-Berta begann zu lachen. Sie hörte sich selber lachen – ein schrilles, verkrampftes, irrsinniges Lachen. Vergeblich versuchte sie aufzuhören. Sie mußte weiterlachen. Bestürzt schlug sie die Hände vors Gesicht und riß sich los. Sie stolperte über Koffer, Taschen und Kinder, kämpfte sich gegen den Sog voran und durch die Lücke in der Mauer, durch die immer noch eine dichte Menschenmenge hereinströmte, hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Dort fuhren gerade Panzerwagen auf. Ein Hubschrauber knatterte heran und kreiste über dem Bahnhof. Irgendwo in der Stadt fielen Schüsse.
Ohne sich um die Richtung zu kümmern, rannte Janna-Berta davon. Ihr verzweifeltes Gelächter ging unter im Gedröhn des Hubschraubers und des Donners. Sie rannte mitten in die Düsterkeit hinein, die nun den ganzen Himmel beherrschte, mitten hinein in die ersten Tropfen des Regens.