7

Seit dem Besuch des Ministers aß Janna-Berta wieder. Sie war geradezu heißhungrig. Und sie hatte wieder Hoffnung. Jedesmal, wenn die Tür aufging, schaute sie erwartungsvoll hinüber. Warum eigentlich sollten die Eltern, sollten Kai und Jo tot sein? Vielleicht waren sie doch noch rechtzeitig herausgekommen, hatten den letzten Zug erwischt oder einen Bus, der auf einer unverstopften Straße die Stadt hatte verlassen können. Und eines Tages stünde Mutti in der Saaltür, Kai auf dem Arm, lachend! Vati mit ausgebreiteten Armen im Türrahmen!

Sie sprach auch wieder. Vor allem sprach sie mit Ayse. Ihr sagte sie, wie sie hieß, und erzählte ihr von Uli und davon, daß Almut schwanger war. Und Ayse erzählte ihr, daß sie einen deutschen Freund hatte, fünfzehn Jahre alt, und daß ihre Eltern ihr verboten hatten, ihn zu treffen.

»Rüdiger heißt er«, sagte sie. »Und ich treff mich doch mit ihm!«

Aber sie sprach oft und zärtlich von ihren Eltern und Geschwistern. Dann hatte sie Tränen in den Augen.

Zwei Tage nach dem Ministerbesuch fuhren Lastwagen vor und wurden abgeladen. Neue Bettlaken wurden aufgezogen, die Berge schmutziger Wäsche abgefahren. Janna-Berta und Ayse bekamen frische Nachthemden. Die Krankenschwestern brachten Beutel und Pakete in den Saal und stapelten den Inhalt in den Lehrerschrank und auf das Wandbord. Die Kinder holten sich die Steinfiguren aus dem Papierkorb und spielten mit ihnen.

Auch neues Pflegepersonal traf ein: eine Krankenschwester, ein Pfleger und zwei Zivildienstleistende. Einer wurde den beiden Kindersälen zugeteilt, ein Kölner. Er wurde Tünnes gerufen und ließ es sich gefallen. Tünnes war gesprächig und brachte eine Menge Neuigkeiten von draußen mit.

»Achtzehntausend Tote«, erzählte er, während er ein Kind fütterte. »Und jeden Tag werden es mehr. Vorgestern haben sie den nationalen Notstand ausgerufen.«

Nicht nur die Kinder hörten ihm zu. An der Saaltür drängten sich auch erwachsene Patienten und lauschten.

»Bis Coburg, Bayreuth und Erlangen haben sie geräumt«, berichtete er, »jetzt evakuieren sie auch Würzburg und das Drumrum, weil's Nordwind geben soll. Sogar in der DDR, von Suhl bis Sonneberg – alles geräumt. Und das Mistding hört nicht auf zu strahlen! Einen Spezialistentrupp nach dem anderen lassen sie dran: Alles für'n Arsch. Pardon, aber so isses.«

Er wollte mit einer Bettpfanne hinaus. Aber die Kinder riefen ihn zurück.

»Erzähl weiter, Tünnes!«

»In den ersten Tagen hat halb Europa in den Kellern gesessen«, sagte er und schwenkte die Pfanne. »Sogar die Franzosen. Bei uns in Köln hat sich so gut wie nichts mehr auf den Straßen gerührt. Nur die am Verhungern waren, kamen aus den Löchern gekrochen. Ämter, Fabriken, Läden, Schulen – alles zu. Rat gab's nirgends. Sogar die Alten waren sprachlos, die sonst immer ganz genau wissen, wo's längs geht. Meine Schwester ist fast verrückt geworden: zwei Kinder, drei und fünf, und dann tagelang im Keller! Zum Schluß hat sie sie bloß noch vertrimmt. Aber wie wir dann wieder raufkonnten, ging's auch nicht viel besser. War ja alles verseucht und verstrahlt, von wegen die Kinder rauslassen. Es heißt ja, in ganz Mitteleuropa müßte die oberste Erdschicht abgetragen werden. Eigentlich. Und was soll auf den Tisch? Halb totgeschlagen haben sie sich um alte Konserven, und wie argentinisches Frischfleisch reinkam, gab's Schlangen um den ganzen Block. Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch? – Kannste alles vergessen. Meine Leute ziehen jetzt immer die Schuhe vor der Haustür aus, aber was mit unserem Garten werden soll, dazu fällt ihnen auch nichts ein. Wenn's regnet, fängt die Mutter an zu weinen. Und der Vater hat schon am zweiten Tag unsere beiden Hunde erschlagen, an denen er so gehangen hat. Die hätten ja Auslauf gebraucht. Und wer hat schon zentnerweise Hundefutter im Haus! Erst wollte sie mein Vater einschläfern lassen. Aber kein Tierarzt wollte aus dem Haus, und mein Vater traute sich natürlich auch nicht. Da hat er sie mit dem Beil erschlagen. Meine Mutter hat geheult, wie sie das Gewinsel gehört hat. Die ganze Waschküche war voll Blut.«

Florian fing an zu weinen.

»Und wie ist es jetzt?« fragte Laras Mutter. »Haben sich die Dinge ein bißchen normalisiert?«

»Normalisiert«, sagte Tünnes. »Was heißt ›normalisiert‹? Normal wird hier gar nichts mehr, wenn Sie verstehn, was ich meine. Mein Vater zum Beispiel: Der ist schon seinen Job los. Internationale Spedition, das war mal. Kein Land läßt unsere LKWs über die Grenze. Auch auf den Flugplätzen läuft übrigens nicht mehr viel. Will ja niemand mehr rein. Nur raus wollen viele. Und die will wieder keiner haben. So sieht's aus, Herrschaften. Genau so. Aus. Ende. Amen.«

Auch zwei Fernsehgeräte gab es jetzt im Hospital: Das eine hatte die neue Schwester mitgebracht. Es stand im Personalraum. Das andere war angeliefert worden; auf gemeinsamen Beschluß hin sollte es reihum durch die Säle wandern. Alle, die sich auf den Beinen halten konnten, drängten sich in den Saal, wo das Gerät gerade stand. Es gab Ärger mit den Ärzten und Schwestern. Schließlich stellte die neue Schwester ihr Gerät tagsüber auf ein Tischchen im Gang, und Tünnes brachte nach dem ersten Wochenendurlaub seinen alten Schwarzweißen mit.

»Für euch«, sagte er, räumte das Wandbord ab und hob ihn darauf.

Von nun an lagen alle Kinder so, daß sie die Mattscheibe sehen konnten. Aber es kamen nicht die lustigen Kindersendungen, die sie kannten. Es kamen fast nur Nachrichten, Berichte aus dem Unglücksgebiet, Suchmeldungen, Expertengespräche – und jede Stunde wurde über die Wetterlage, die Windrichtung und die neuesten Strahlungsmeßwerte informiert, begleitet von ernster Musik.

Atemlos verfolgte Janna-Berta eine Reportage über die Unterbringung der Millionen von Evakuierten und Flüchtlingen außerhalb der Katastrophenzonen. Man verteilte die Obdachlosen über das ganze noch bewohnbare Bundesgebiet. Das ging nicht ohne harte Maßnahmen: Aller Wohnraum war registriert worden und wurde nun zwangsverwaltet. Ayse lachte, als man eine wütende Villenbesitzerin zeigte. Sie wollte keine Leute aus dem Katastrophengebiet in ihr Haus aufnehmen, noch dazu mit drei Kindern! Aber sie mußte.

Als die Tagesschau begann, wandten sich die meisten Kinder ab. Tünnes wollte ausschalten, aber Janna-Berta und Ayse baten darum, die Sendung sehen zu dürfen.

Sie sahen riesige Demonstrationen, auf denen die endgültige Abschaltung aller europäischen Kernkraftwerke und der Rücktritt der deutschen Regierung gefordert wurden. Bei einer der Demonstrationen hatte es sechs Tote gegeben. Der Zorn hatte sich vor allem gegen den Innenminister gerichtet.

»Der klebt an seinem Sessel«, sagte Tünnes, der gerade vorüberkam. »Dabei hätten sie ihn auf seiner Informationsreise ein paarmal fast totgeschlagen.«

Die DDR protestierte zum wiederholten Mal und verlangte Schadenersatz, in der Tschechoslowakei hatte sich eine aufgebrachte Menge vor der deutschen Botschaft versammelt, die Österreicher demonstrierten schon seit Tagen an der bayerischen Grenze, die man sie nicht passieren ließ.

Dann wurde von der internationalen Spendenaktion berichtet, der angeblich größten seit dem Zweiten Weltkrieg. Ayse gähnte. Janna-Berta dachte an die Spendenbüchse, mit der sie einmal während eines Schulfestes für Hungernde in Afrika geklappert hatte. Auch sie fühlte sich erschöpft. So viel Neues, Unglaubliches hatte sie an diesem Tag erfahren!

Doch bei den abschließenden Suchmeldungen wurden die beiden Mädchen wieder hellwach: Eltern suchten ihre Kinder, Kinder ihre Eltern, alte Leute wurden vermißt, Fotos von nicht identifizierten Toten erschienen auf der Mattscheibe, es war von einer Suchkartei und einer Totenliste die Rede. Ein Sprecher verlas Namen und Adressen.

»Die Karteien«, erklärte Tünnes, »hat das Rote Kreuz zusammengestellt. Wenn ihr mir die Namen eurer Leute aufschreibt, erkundige ich mich nach ihnen. Okay?«

Sie fanden ihn toll.

»Fast wie Rüdiger«, meinte Ayse.

Janna-Berta dachte an die Jungen ihrer Klasse. Ganz nette Typen, aber keiner darunter, für den sie sich hätte begeistern können. Nicht einmal für Elmar, der alles konnte und alles wußte. Ihren Freund hatte sie sich immer wie Reinhard vorgestellt, Almuts Mann. Nur jünger.

Sie flüsterte noch lange mit Ayse, auch nachdem das Hauptlicht längst gelöscht war. Sie konnten beide nicht einschlafen. Janna-Berta dachte an die Bilder der Toten. Wenn Vati und Mutti, wenn Kai und Jo wirklich tot waren – sahen sie dann so aus?

Achtzehntausend Tote, Hunderttausende von Strahlenkranken, verseuchte Gegenden, ganze Landkreise, die auf Jahre hinaus unbewohnbar sein würden, verbotenes Land, abgeriegelt und eingezäunt mit Stacheldraht – Janna-Berta versuchte vergeblich, sich das alles vorzustellen.

Während der nächsten Tage ließ sie keine Nachrichtensendung aus. Sie wollte alles wissen, ganz genau.

»Weißt du, was sich die Frauen auf dem Klo erzählen?« flüsterte Ayse. »Ein paar Kilometer um das Kernkraftwerk sollen sie auf alle Leute geschossen haben, die flüchten wollten. Weil die doch ganz verseucht waren. Glaubst du das?«

»Nein«, antwortete Janna-Berta. »Ich glaub nicht, daß so was bei uns passieren kann.«

Plötzlich starrte Ayse zur Tür. Ihre Augen wurden groß. Sie schrie etwas auf türkisch. Janna-Berta sah, wie sie auf einen hageren Mann mit dunklem Haar und Schnauzbart zustürzte. Er fing sie auf, hob sie hoch und umarmte sie stürmisch.

Ayses Vater war gekommen. Aus Wangerooge. Dorthin hatte es Ayses Familie verschlagen. Eng umschlungen saßen sie nebeneinander auf Ayses Bett und erzählten einander mit vielen Gesten. Janna-Berta verstand kein Wort. Und immer wieder weinten sie, Vater und Tochter, gemeinsam. Sie waren so laut!

Janna-Berta fühlte sich einsam. Sie drehte sich zur Wand. Jetzt würde bald ein fremdes Kind neben ihr liegen.

Doch am Abend mußte der Vater ohne die Tochter abreisen. Der Arzt hatte Ayse noch nicht entlassen.

»Nicht vor vierzehn Tagen, hat er gesagt«, schluchzte sie, nachdem sie den Vater bis zur Tür begleitet hatte. »Jetzt müssen wir die Heimreise verschieben! Nur wegen mir!«

»Die Heimreise?« fragte Janna-Berta. »In die Türkei? – Und was wird mit Rüdiger?«

Ayse antwortete nicht.

 

Zwei Wochen und zwei Tage war Janna-Berta nun in diesem Hospital, das wußte sie inzwischen.

»Wenn du noch eine Woche ohne ernsthafte Beschwerden bleibst, hast du's wahrscheinlich hinter dir«, sagte der Arzt. »Du bist glimpflich davongekommen. Eine Woche, dann kann ich dich entlassen.«

»Wohin entlassen?« fragte sie und dachte an Schlitz. Aber dort durfte man nicht hin. Auch nicht nach Bad Kissingen, wo Almut und Reinhard zu Hause waren.

Die Frau vom Roten Kreuz, die für den Suchdienst Formulare ausfüllte und dafür jedes Kind, das sich ohne Eltern im Hospital aufhielt, unendlich geduldig ausfragte, kam wieder an Janna-Bertas Bett.

»Deinen Namen kennen wir ja nun«, sagte sie. »Aber deine Eltern sind noch nicht erfaßt. Ich habe nachgefragt.«

Janna-Berta sah sie an.

»Sie können doch nur lebendig oder tot sein«, sagte sie.

»Gewiß«, antwortete die Frau. »Aber erst ein Bruchteil der Evakuierten sind in der Suchkartei registriert. Das geht nicht so schnell. Und auf der Totenliste stehen auch noch längst nicht alle, die umgekommen sind. Du mußt Geduld haben. Es werden täglich neue Namen in die Suchkartei aufgenommen. Du hast doch sicher auch anderswo Verwandte, nicht nur in der verseuchten Gegend.«

Helga in Hamburg. Doch zu ihr zu müssen, während man nicht wußte, was hier mit den Eltern und Kai und Jo geschehen war – nein, das wollte sich Janna-Berta nicht vorstellen.

»Ich habe das Adreßheft nicht mehr«, antwortete sie der Frau. »Es liegt zusammen mit meinem Fahrrad auf dem Bahndamm von Asbach.«

Sie verschwieg, daß sie Helgas Adresse auswendig wußte. Sie wollte nicht zu Helga geschickt werden. Sie wollte sie nicht einmal anrufen. Denn so, wie sie Helga kannte, würde sie sofort herkommen und sie holen und über sie bestimmen, bis ihre Eltern in der Lage wären, sie wieder zu sich zu nehmen. Und wenn sie nicht mehr lebten, mußte sie bei Helga bleiben, die allein lebte. Die immer allen ein Vorbild sein wollte.

Nein, Janna-Berta hatte andere Pläne. Sie wollte das Hospital heimlich verlassen und die Eltern und Kai und Jo suchen gehen. Sie hatte einmal eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg gelesen, in der ein Mädchen seine verschollene Familie gesucht hatte. Nach einer langen Irrfahrt hatte es sie auch gefunden, und alles war gut ausgegangen. Janna-Berta hatte beim Lesen geweint.

Nur ein paar Tage wollte sie noch abwarten. Vielleicht tauchten ihre Namen doch bald in der Suchkartei auf? Oder Vati und Mutti erschienen selber?

»Hast du nachgefragt, Tünnes?« rief sie.

»Am Wochenende«, versprach er. »Da hab ich Zeit.«

Sie schaute jetzt oft zum Fenster hinaus. Es konnte ja sein, daß Vati oder Mutti –. Sie sah, wie Angehörige mit erwartungsvollen Gesichtern kamen, wie sie gingen – manche erleichtert, manche bedrückt. Sie sah, wie Kranke eingeliefert, Särge hinausgetragen wurden. Und dann sah sie wieder die Frau vom Roten Kreuz kommen. Janna-Berta winkte ihr zu, als sie im Saal auftauchte.

»Haben Sie was über meine Eltern erfahren?« rief sie ihr entgegen.

Aber die Rot-Kreuz-Frau tat, als sehe und höre sie nichts. Sie ging zum Arzt, der in der anderen Ecke des Saals ein Kind untersuchte, und sprach mit ihm. Janna-Berta sah, wie sie für einen Augenblick zu ihr herüberschauten. Dann kam die Frau an ihr Bett.

»Nichts Neues«, sagte sie traurig. »Wir müssen weiter warten.«

»Arme Janna-Berta«, sagte Ayse.

Janna-Berta fühlte eine matte Wut.

 

Montag früh erschien Tünnes pünktlich im Saal. Er wirkte anders als sonst.

»Hast du was erfahren?« rief ihm Janna-Berta zu.

Nein. Er hatte noch gar nicht beim Roten Kreuz angerufen. Er war auf einer Demo an der französischen Grenze gewesen. Janna-Berta wußte Bescheid: Am Sonntagabend in der Tagesschau war von dieser Demonstration gegen die französische Energiepolitik berichtet worden. Es hatte schwere Ausschreitungen gegeben. Sogar französisches Militär war eingesetzt worden. Sechs Deutsche und zwei Franzosen waren ums Leben gekommen.

»Meine Eltern waren auch auf der Demo«, berichtete Tünnes kopfschüttelnd. »Mitten drin! Das muß man sich vorstellen – meine alten Herrschaften!«

Er versprach Janna-Berta, bei der nächsten Gelegenheit, die sich ihm bieten würde, beim Roten Kreuz anzurufen.

Sie lag nicht mehr den ganzen Tag. Sie half den Schwestern, zusammen mit Ayse. Sie spielte mit den Kindern und fütterte sie, wenn sie zu schwach waren, selber den Löffel zum Mund zu heben. Sie erzählte Geschichten und sang Lieder, die sie von Oma Berta gelernt hatte. Und sie tröstete.

»Janna-Berta, Janna-Berta!« riefen die Kinder, und sie kam, obwohl sie spürte, wie schwach sie noch war. Ab und zu ließ sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen. Aber sobald ein Kind nach ihr rief, stand sie wieder auf. Alle sollten sehen, daß sie gar nicht mehr in ein Krankenhaus gehörte!

Auch Ayse wollte flüchten. Der gemeinsame Fluchtplan stand fest und war längst bis in alle Einzelheiten besprochen. Nur auf Tünnes war kein Verlaß. Er fuhr zur Wäscherei, er fuhr zur Großbäckerei, und jedesmal kam er unverrichteter Dinge zurück. Er hätte vergessen anzurufen, behauptete er beim ersten Mal, und während der zweiten Fahrt hatte er angeblich keine Zeit gehabt. Dann war es Janna-Berta und Ayse so, als ginge er ihnen aus dem Weg, wann immer er konnte.

In diesen Tagen starben einige Kinder aus dem Saal – eines an einer plötzlichen Lungenentzündung, gegen die sich der Körper nicht wehrte, ein anderes an einer simplen Angina, ein drittes, Florian, welkte innerhalb weniger Tage einfach weg. Er starb so unerwartet, daß seine Mutter immer wieder stammelte: »Das muß doch ein Irrtum sein –« So lange, bis der Vater sie anschrie: »Jetzt sei doch, verdammt noch mal, endlich still!«

Als sie das Kind hinaustrugen, weinte der Vater. Janna-Berta sah ihnen durch das Fenster nach. Ihr kam ein Vers in den Sinn, den Mutti sich damals, nach Tschernobyl, ausgedacht und bei den Demonstrationen auf einem Transparent vor sich hergetragen hatte:

 

Ene dene dimpedil,

Wer hat Angst vor Tschernobyl?

Millirem und Becquerel,

Kleine Kinder sterben schnell.

Aus der Wolke

Strahlt's heraus –

Und du

Bist

Aus!

 

Auf der anderen Seite des Vorplatzes standen ein paar kleine Jungen und starrten herüber. Die Herleshäuser Kinder kamen nie bis an die Fenster oder die Tür ihrer Schule. Scheu spähten sie von einem sicheren Platz aus, bereit, jeden Augenblick fortzulaufen. Man hatte ihnen wohl erzählt, daß die Schule verseucht war.

Am selben Abend bekam Ayse hohes Fieber, und am nächsten Morgen verlor auch Janna-Berta jeden Appetit. Sie fühlte sich schlapp, fieberte und litt an Durchfall. Ihre Mandeln schwollen an und schmerzten. Der Arzt beugte sich über sie und fuhr ihr über den Kopf. Zwischen seinen Fingern blieben Strähnen ihres blonden Haars hängen. Er nickte bekümmert. Also doch.

Aus der Flucht würde nichts mehr werden. Sehnsüchtig sah Janna-Berta Lara nach, die entlassen wurde. Verwandte holten Mutter und Tochter ab. Sie hatten Glück.

Den meisten anderen Kindern im Saal ging es ähnlich wie Ayse und Janna-Berta: Nach Tagen scheinbarer Gesundheit ging es ihnen elender als zuvor. Gequält von hohem Fieber und Durchfall, wimmerten sie vor sich hin oder dösten teilnahmslos. Ayse begann eines Morgens, hysterisch zu schreien. Sie hatte sich gekämmt, und dicke Strähnen ihres üppigen schwarzen Haars waren im Kamm hängengeblieben. Auf ihrer Kopfhaut erschienen kahle Stellen. Als Janna-Berta tröstend den Arm um sie legte, schlug sie nach ihr. Erschrocken starrten die anderen Kinder zu ihr hinüber und fuhren sich verstohlen über die eigenen Köpfe.

»Es tut ja nicht weh, Kleines«, versuchte die Schwester zu trösten. »Und später wächst es wieder.«

Janna-Berta fühlte selber die Angst vor einem Kahlkopf in sich heraufkriechen. Ein Mädchen mit Glatze – das wirkte nicht mitleiderregend, sondern komisch. Sie stellte sich vor, wie es sein mußte, ausgelacht zu werden. Und sie beschloß, sich nicht mehr zu kämmen.

Gleichgültig ließ sie die Untersuchungen der Ärzte über sich ergehen, nahm sie ihr hilfloses Achselzucken wahr.

»Alle diese Fälle gehörten in eine Spezialklinik«, hörte sie einen der Ärzte zu einer Schwester sagen.

»Aber es sind Zehntausende«, sagte die Schwester.

»Zehntaus ende?« entgegnete der Arzt. »Hunderttausende! Die, die spätestens in ein paar Jahren dran sind, nicht mitgezählt.«

Er dämpfte die Stimme und zeigte auf Ayse und Janna-Berta. Durch die halbgeschlossenen Augenlider sah Janna-Berta seine Hand. »Schöne Zukunft. Wenn ich daran denke, daß –«

Er brach ab, verstummte und schritt mit müdem Gesicht weiter. Ayse wälzte und krümmte sich im Bett und stöhnte. Schließlich lag sie auf den Knien, mit dem Rücken zum Kopfende, und beugte sich so weit vornüber, daß sie mit dem Kopf die Matratze berührte.

»Was machst du denn?« rief Janna-Berta erschrocken.

»Ich bete«, keuchte Ayse und wischte sich den Schweiß ab.

»Glaubst du, das hilft?« fragte Janna-Berta.

Aber Ayse antwortete nicht. Mit geschlossenen Augen richtete sie sich auf und verbeugte sich wieder, auf – ab, auf – ab, bis Janna-Berta darüber die Augen zufielen.

Schwerkranke Kinder wurden hinausgetragen, frisch eingelieferte in die noch nicht ausgekühlten Betten gelegt. Janna-Berta hatte kaum die Kraft, denen, die fort mußten, nachzuwinken. Von den altvertrauten Bettnachbarn blieb ihr nur Ayse. Die wollte mit ihr fast nur noch über ihre Haare sprechen. Janna-Berta mußte Ayses Hinterkopf betrachten und schildern, wie er aussah. Aber auch sie selber beschäftigte sich viel mit ihren Haaren. Sie bat Ayse, sie ganz behutsam zu kämmen. Und dann kam es doch zu Zornausbrüchen und Tränen, weil Ayse auf einmal ein Riesenbüschel im Kamm hatte.

 

Janna-Bertas Sehnsucht nach Mutti und Vati wurde immer größer. Wenn sie an ihrem Bett säßen, wenigstens einer von ihnen, und ihr übers Haar strichen – nein, nicht übers Haar! – oder sie nur lieb ansähen, dann – ja, das wußte sie genau, dann würde sie auf der Stelle gesund werden, aufstehen können und fortgehen.

»Lieber Gott«, betete sie, »laß sie leben und kommen!« Und sie fügte hinzu: »Sonst gibt es dich nicht.«

Sie stellte ihn auf die Probe, stellte ihm Bedingungen. Sie wollte bis fünfzig zählen. So lange gab sie Gott Zeit, ihre Eltern herzuschaffen. Bei dreiundvierzig öffnete sich die Tür. Janna-Berta hob den Kopf. Aber es war nur Tünnes mit den Fieberthermometern.

»Tünnes«, fragte sie matt, »hast du endlich gefragt?«

»Ja«, sagte er und versuchte, ihrem Blick auszuweichen. »In den Karteien sind sie nicht. Immer noch nicht.«

»Auch nicht meine Großmutter?« fragte sie ratlos.

Er schüttelte den Kopf. »Weiß der Himmel, wo die sind«, sagte er. »Jedenfalls ist vorläufig noch alles offen. Und du werd erst mal gesund, dann sehen wir weiter.«

»Ich glaub, du willst mich nur schonen«, sagte sie.

Tünnes fiel ein Thermometer vom Tablett, und er mußte die Scherben zusammenkehren. Später, nachdem alle Fieber gemessen hatten, kam er an Janna-Bertas Bett vorbei und strich ihr über den Kopf.

»Nicht über die Haare«, sagte sie erschrocken. »Man braucht nur in die Nähe zu kommen, dann gehn sie schon aus.«

Sie nahm seine Hand, legte sie sich quer über die Augen und hielt sie so lange fest, bis er fortgerufen wurde.

An diesem Abend interessierte sich Janna-Berta wieder für die Nachrichten. Aber sie verstand die Zusammenhänge nicht mehr. Von einem Regierungswechsel war die Rede, es wurde verabschiedet, begrüßt und geschworen. Im Regierungsviertel von Bonn waren zahlreiche Scheiben zu Bruch gegangen. Ungenehmigte Demonstrationen. Protestierende. Menschen aus dem Katastrophengebiet. Der Sprecher nannte die Zahl fünfzigtausend. Man sah Kolonnen von Straßenkehrern, die Scherben zusammenfegten. Dann in Großaufnahme zwei tote Rehe im Gras: In Nord- und Ostbayern verende das Wild zu Tausenden, sagte der Sprecher.

Tote Rehe im Gras. Janna-Berta mußte an Uli denken. Sie schloß die Augen und drehte den Kopf weg.

Ayse bat Tünnes, ihr ein Kopftuch zu besorgen. Da wollte Janna-Berta eine Mütze haben. Gleich am nächsten Vormittag kam er mit einer ganzen Schachtel voll Mützen an. Er hatte sie von Haus zu Haus gesammelt, Kindermützen, manche schon gestopft, verfilzt, ausgebleicht. Aber die Kinder rissen sich darum. Ayse überreichte er mit einer kleinen Verbeugung ein Kopftuch. Glücklich band sie es sich um und zog sich eine letzte Locke tief in die Stirn.

»Merkt man noch was?« fragte sie.

Janna-Berta schüttelte den Kopf. Sie probierte die Mütze. Eine Mütze im Bett? Sie schob sie unter das Kopfkissen.

Als sie zur Toilette ging, langsam, die Wände entlang, traf sie Tünnes im Gang. Er grinste sie an und sagte: »Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du ein Lilofee-Gesicht hast?«

Sie lehnte sich an die Wand und unterdrückte den Brechreiz.

»Ich hab kein Lilofee-Gesicht«, sagte sie, »was immer das sein mag. Ich hab überhaupt kein Gesicht wie irgend jemand. Höchstens wie meine Eltern und Großeltern.«

»Ich kann's eben nicht anders ausdrücken«, sagte Tünnes verlegen.

»Sieh mich gut an«, sagte sie. »Und merk dir, wie ich mit Haaren aussehe: In ein paar Tagen bin ich kahl.«

»Äußerlichkeiten«, sagte er.

»Glaubst du, daß ein Junge sich in ein Mädchen mit Glatze verlieben kann?« fragte sie.

Er sah sie an, dann hob er den Kopf, starrte auf eine Wandtafel, die den Kreislauf des Wassers darstellte, und sagte bedächtig: »Haare sind unwichtig. Wer das anders sieht, für den bist du zu schade.«

Er nickte ihr zu und ging weiter. Sie sah ihm nach und versuchte, ihre Tränen hinunterzuschlucken. Als sie später in den Saal zurückkehrte, erzählte sie Ayse, was Tünnes zu ihr gesagt hatte.

»Bei uns ist das anders«, sagte Ayse finster.

»Es heißt, sie wachsen nach«, sagte Janna-Berta. »Aber ich glaub's nicht. Ich glaub gar nichts mehr.«

»Gar nichts mehr?« fragte Ayse. »Auch nicht, daß deine Eltern noch leben?«

Janna-Berta dachte nach.

»Doch«, sagte sie dann. »Ich glaub, das glaub ich.«

 

Am nächsten Morgen lächelte Janna-Berta Tünnes entgegen. Er grinste zerstreut zurück.

»Habt ihr Worte!« rief er. »Jetzt meutern die Franzosen rund um ihre eigenen Meiler! Und ihre Regierung beteuert in alle Richtungen, ihre KKWs seien die sichersten der Welt. So was wie in Grafenrheinfeld könnte bei ihnen nie passieren!«

»Hab ich das nicht schon mal gehört?« fragte der Arzt, der gerade vorüberkam.

Tünnes beugte sich über Janna-Berta. »Und was sagst du zu dem Rabatz bei den Franzosen?« fragte er.

»Nichts«, sagte sie und drehte sich zur Wand.

Sie hatte hohes Fieber, der Durchfall wollte nicht aufhören. Und ihr Laken war übersät von Haaren. Ganzen Haarbüscheln. Ein paar Tage lang kämmte sie sich nicht. Aber einmal griff ihr Ayse ins Haar und behielt die Hand voll Strähnen. Auf Janna-Bertas Kopf blieb eine große kahle Stelle zurück.

»Da siehst du«, sagte Ayse und lachte.

Janna-Berta schlug ihr ins Gesicht. Sie ließ sich von der Schwester einen Kamm geben und kämmte sich lange und wütend: Danach war sie kahl bis auf ein paar schüttere Härchen über den Ohren. Sie wühlte die Mütze unter dem Kopfkissen hervor und zog sie sich über.

Tünnes hatte eine Neuigkeit für sie: »Du stehst jetzt in der Suchkartei – mit deiner hiesigen Adresse!«

Die Nachricht brachte Janna-Berta ganz durcheinander. Nie hatte sie an die Möglichkeit gedacht, selber in der Kartei zu stehen.

»Jetzt werden deine Angehörigen bald auftauchen«, sagte Tünnes.

Janna-Berta versank in Gedanken. Wenn die Eltern und Jo noch am Leben waren, würden sie bestimmt beim Suchdienst des Roten Kreuzes nach ihr forschen. Es konnte noch wahr werden, daß eines Tages, vielleicht schon heute oder morgen, die Tür aufging, und Mutti oder Vati –

Ayse bemühte sich, das Tuch, das ihr vom Kopf gerutscht war, wieder zu binden. Aber sie war zu schwach. Der Schweiß brach ihr aus.

»Hilf mir«, bat sie.

Janna-Berta tat, als hörte sie nichts. Seit Ayse ihr ins Haar gegriffen hatte, sprach sie nicht mehr mit ihr. Sie zog sich die Mütze tiefer über die Ohren und legte sich so, daß sie die Saaltür im Auge behalten konnte.