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Während der ersten Tage in Hamburg wunderte sich Janna-Berta, wie normal das Leben fernab von Grafenrheinfeld verlief. Bei Helga war es, wenn man die Trauerkleidung, die gedämpfte Stimmung, die beiden Friemels und die täglichen Stromsperrstunden übersah, nicht anders als während der früheren Besuche. Janna-Berta hatte ein eigenes Zimmer und war von Helga reichlich mit neuer Wäsche und gediegener, dunkler Kleidung ausgestattet worden. Sogar einen Plattenspieler, einen nicht billigen, hatte ihr Helga ins Zimmer gestellt, dazu eine Auswahl von Platten: klassische Musik von Bach bis Orff.

Auch der Unterricht in den Hamburger Schulen, nach der Katastrophe für drei Wochen unterbrochen, hatte wieder begonnen. Helga, Oberstudienrätin für Mathematik und Chemie, ging morgens fort und kam mittags heim. Nachmittags saß sie stundenlang an ihrem Schreibtisch, bereitete sich für den nächsten Tag vor, schrieb Briefe oder korrigierte Hefte. Oft war sie auch unterwegs nach unverseuchten Lebensmitteln. Als Janna-Berta sie begleiten wollte, winkte sie ab: Das Suchen und Herumhorchen, das Hin- und Herrennen und Schleppen sei für sie noch zu anstrengend. Sie solle sich erst einmal ausruhen.

Aber es wurde nicht viel aus der Ruhe. Denn Helga nahm ihre Verantwortung sehr ernst. Und so ließ sie Janna-Berta von mehreren Ärzten untersuchen – bekannten Spezialisten, wie sie betonte. Danach blieb Janna-Berta in ärztlicher Behandlung, mußte Medikamente schlucken und stundenlang in Wartezimmern herumsitzen. Wenn sie die Ärzte fragte, zuckten sie mit den Schultern.

»Wir haben noch kaum Erfahrung mit der Strahlenkrankheit«, sagten sie. »Es ist gut möglich, daß deine Haare wieder wachsen. Aber ganz sicher können wir nicht sein.«

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die ewige Ungewißheit, die so nervös, so müde, so mürbe machte!

Sie war viel allein. Den Friemels ging sie aus dem Weg. Sie wußte nicht, was sie mit ihnen reden sollte. Zwischen ihnen und Helga spürte sie zunehmende Gereiztheit. Aber auch sie selbst fühlte sich gereizt, vor allem von Helgas gepflegter Selbstdisziplin, die sie nicht nachahmen wollte, und von ihren hohen Ansprüchen, was Bildung, Benehmen und Tradition betraf. Und sie war so penetrant verantwortungsbewußt!

»Es wird allmählich Zeit, daß du wieder zur Schule gehst«, sagte sie nach einer knappen Woche. »Du versäumst sonst zu viel und verlierst den Anschluß.«

Janna-Berta erschrak. Schule? Die war so fern gerückt. Und sie fühlte sich noch so müde und abgespannt. Nicht einmal die Nächte brachten ihr Erholung. Sie quälten sie mit wilden und düsteren Träumen.

Aber Helga bestand auf dem Schulbesuch, und die Friemels pflichteten ihr bei. Janna-Berta fühlte sich zu schwach, um sich gegen Helgas Willen aufzulehnen. Und so meldete Helga sie in der Schule an, an der sie unterrichtete.

Bangen Herzens ging Janna-Berta schon am nächsten Morgen hin. Sie war nicht die einzige Neue in der Klasse. Noch drei andere Flüchtlinge aus dem Katastrophengebiet waren nach Wiederbeginn des Unterrichts dazugekommen. Es gab kaum eine Klasse in dieser Schule, in der nicht wenigstens zwei neue Schüler saßen, und die meisten der Neuen hatten Angehörige verloren. Janna-Berta war also kein Sonderfall, und natürlich versuchte sie sich der Gruppe der Evakuierten anzuschließen.

Gleich am ersten Tag wurde sie von einem Mädchen aus Bad Brückenau ungehalten, ja zornig gefragt: »Warum läufst du so rum?«

Sie zeigte auf Janna-Bertas kahlen Schädel.

»Soll ich mich dafür schämen?« fragte Janna-Berta.

»Schämen nicht«, sagte das Mädchen. »Du brauchst dein Unglück aber auch nicht öffentlich zur Schau zu stellen.«

Ein Junge aus Bamberg nickte finster.

»Du schadest nicht nur dir, sondern uns allen«, sagte eine sehr blasse Blonde. »Setz wenigstens eine Mütze auf! Wir sind Hibakusha, aber das muß ja nicht jeder gleich merken.«

»Hibakusha?« fragte Janna-Berta.

Sie erfuhr, daß das der Name der Überlebenden von Hiroshima war, den jetzt auch die Überlebenden von Grafenrheinfeld trugen.

 

»Ich bin eine Hibakushi«, sagte sie in Helgas Badezimmer vor dem Spiegel und sah sich prüfend an.

Ja, auch ohne den kahlen Schädel hätte man ihr's angesehen, so mager und kränklich, wie sie jetzt war. Auf der Straße ging man ihr – genau wie den anderen, denen man die Strahlenkrankheit ansah – aus dem Weg. Diese Schneisen, die sich vor ihr und allen öffneten, die jetzt, mitten im Sommer, Mützen und Kopftücher trugen! Diese neugierig-mitleidigen Blicke aus den Augenwinkeln!

Sie lernte schnell: Niemand spottete, niemand grinste, niemand rief ihr Frechheiten nach. Aber keiner wollte neben ihr sitzen, weder in der Schule noch im Bus, und die Friemels erzählten von Bekannten, die zwangsweise in eine Wohnung eingewiesen werden mußten, weil sich die Wohnungsinhaber sträubten, die Evakuierten aufzunehmen.

»Wir sind denen unheimlich«, erklärte das Mädchen aus Bad Brückenau. »Wir könnten ja noch strahlen. Wahrscheinlich tun wir das auch.«

Janna-Berta spähte verstohlen auf ihren Haaransatz. Sie trug eine Perücke.

»Ich glaube, es ist mehr als das«, sagte der Junge aus Bamberg. »Die Flüchtlinge waren nach dem Krieg genauso ungern gesehen. Obwohl sie nicht gestrahlt haben. Meine schlesische Großmutter hat immer davon erzählt. Wer noch mal davongekommen ist, mag sich nicht dauernd dran erinnern lassen, daß andere weniger Glück hatten. Daß sie auf Hilfe angewiesen sind. Und ein Recht auf Hilfe haben!«

 

Janna-Berta merkte bald, daß das Leben in Hamburg nicht so normal war, wie es ihr in den ersten Tagen erschienen war. Auf ihrem Schulweg begegnete sie langen Schlangen vor den Lebensmittelläden. Sie wunderte sich. Einmal fragte sie.

»Milchpulver aus den Staaten«, bekam sie zur Antwort.

»Da heißt's zugreifen, wenn was Unverseuchtes hereinkommt«, erklärte ihr Tante Friemel.

»Sofern es bezahlbar ist«, fügte Onkel Friemel hinzu. »Jetzt freuen sich alle Dritte-Welt-Länder, die was Eßbares anzubieten haben. Den letzten eßbaren Kehricht werden sie für uns zusammenfegen. Gegen Geld natürlich!«

»Und die Bauern hier?« fragte Janna-Berta.

Onkel Friemel machte eine müde Handbewegung. »Kannst du vergessen. Die meisten haben ihr Vieh schon abschlachten müssen. Und das Fleisch hat ihnen niemand abgenommen. Nur hier oben und im südlichen Allgäu wird noch Milch produziert. Aber die ist nicht für Kinder und junge Leute geeignet.«

»Wir trinken sie auch nicht«, warf Tante Friemel dazwischen.

»Nach Tschernobyl hätte diese Milch an niemanden verkauft werden dürfen«, meinte Onkel Friemel. »Und trotzdem gehn die Bauern pleite.«

»Ach ja, mein schöner Gemüsegarten«, klagte Tante Friemel. »Ich darf gar nicht dran denken. Bald wird in ganz Deutschland nur noch Unkraut wuchern.«

Janna-Berta sah auf dem Schulweg noch mehr. Sie kam an einer ehemaligen Lagerhalle und an einem Kino vorbei. Beide Gebäude waren mit Flüchtlingen und Evakuierten belegt. Auch die Turnhalle der Schule diente als Flüchtlingsunterkunft. Zwischen dem Schulhof und der Turnhalle war ein Bretterzaun errichtet worden. Janna-Berta spähte manchmal durch seine Ritzen. Sie sah Kinder spielen. Erwachsene lehnten an der Turnhallenwand oder saßen auf improvisierten Bänken in der Sonne. Ihre Kleidung wirkte ungepflegt. Manche von ihnen dösten mit geschlossenen Augen, andere starrten vor sich hin. Viele von ihnen sahen krank oder erschöpft aus. Nur wenige Kahlköpfe waren zu sehen, fast alles Männer. Aber manche Frauen trugen Kopftücher, und viele Kinder hatten Mützen auf – mitten im Sommer. Flüchtlingskinder, die am Zaun hochkletterten und neugierig das Treiben auf dem Schulhof beobachteten, scheuchte der Hausmeister wieder hinunter.

»Wovon leben die eigentlich?« fragte Janna-Berta den Jungen aus Bamberg.

»Essen kriegen die aus der Gulaschkanone«, sagte er. »Und um die Kleidung kümmert sich das Rote Kreuz. Gleich nach der Katastrophe gab's eine Kleidersammlung. Die Textilhäuser haben auch gespendet. Ladenhüter und Verstaubtes. Wie's mit der ärztlichen Versorgung ist, weiß ich nicht. Aber da wird Vater Staat wohl das Nötige tun. Und für alles andere gibt's Taschengeld, vorläufig, bis alles geregelt ist. Das weiß ich von einem in der 4 b. Der wohnt dort drüben. Der konnte sich nicht mal Turnhose und Turnschuhe kaufen. Die Klasse hat für ihn gesammelt.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Im Bundestag beraten sie über eine Geschädigtenrente für die, die jetzt ganz auf dem trockenen sitzen.«

 

An einem der nächsten Tage traf Janna-Berta in der Pausenhalle Elmar aus der Fuldaer Klasse. Auch er hatte einen fast kahlen Schädel, und sein Gesicht war grau.

»Elmar!« rief sie froh.

Er drehte sich um. Auch sein Gesicht hellte sich auf. Sie blieben die ganze Pause zusammen. Von den anderen aus der Klasse wußte er auch nichts.

»Es werden wohl ein paar draufgegangen sein«, meinte er. »Die meisten sind zu spät aufgebrochen. Mit der Evakuierung hätte ja viel früher begonnen werden müssen. Typisch für unsere Politiker! Keiner hat den Mumm, die Verantwortung für eine unpopuläre Maßnahme zu übernehmen.«

Elmar. Er wußte immer, was man hätte besser machen können, und er sprach wie ein Erwachsener.

»Wir sind auch erst abgefahren«, erzählte er, »als die Straßen schon total verstopft waren. Weil mein Vater irgendwelche Dokumente nicht fand und meine Mutter zu viel Krempel mitnehmen wollte. Jetzt liegt sie in einer Klinik und kann nicht leben und nicht sterben. Mein Vater und ich sind bei Verwandten untergekrochen. Ekelhaft. Wir buckeln uns zu Tode vor lauter Dankbarkeit. Aber immer noch besser als in so einer Turnhalle hausen. Mit dem Buckeln müssen wir uns abfinden: Wer verseucht ist, taugt nur noch zum Almosen- und Mitleidempfänger. Wir sind die Behinderten der Nation.«

Als es zum Unterricht schellte, begleitete er Janna-Berta bis zu ihrem Klassenzimmer. Auf dem Weg dorthin, inmitten von Lärm und Gedränge, erzählte er ihr, daß sein Vater aus der Kirche ausgetreten sei. »Früher hat er mich jeden Sonntagmorgen in die Messe gescheucht«, sagte er. »Jetzt ist er beleidigt, daß der liebe Gott ihm das nicht angerechnet hat. Er fühlt sich ungerecht behandelt. Statt daß er sich über die Politiker ärgert, die er gewählt hat – oder über sich selber!«

Schon vor der Klassentür, sagte er hastig: »Ich hab mir seit Grafenrheinfeld viele Gedanken gemacht, auch darüber. Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß die Gleichung nur aufgeht, wenn man ihn wegkürzt.«

»Wen?« fragte Janna-Berta.

»Wen wohl?« sagte Elmar und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben.

Janna-Berta war verstört. War das noch Elmar, der Gelassene, Heiter-Überlegene? War sie selbst auch so anders geworden, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten?

 

Sie lag jetzt oft stundenlang auf ihrem Bett. Fast immer fühlte sie sich müde. Zu jeder Tätigkeit mußte sie sich überwinden. Meistens kam sie ohne Hausaufgaben zur Schule. Nach zwei, höchstens drei Schulstunden dröhnte ihr der Kopf. Wenn sie heimkam, würgte sie nur widerwillig ein paar Bissen herunter, dann warf sie sich für Stunden aufs Bett und schloß ihre Zimmertür von innen zu, um ungestört zu bleiben.

»Du könntest wirklich ein bißchen im Haushalt mithelfen«, sagte Helga mit ihrer Falte zwischen den Brauen, die immer dann erschien, wenn ihre Stimme vorwurfsvoll klang. »Wir sind schließlich eine Art Familie, du und ich.«

Janna-Berta erschrak. Nein, sie waren keine Familie, würden es auch nie sein. Nach wie vor begegnete sie ihrer Tante so wie früher, wenn sie bei ihr zu Besuch gewesen war. Unlustig schichtete sie das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, während Helga über ihren Vorbereitungen saß oder Briefe schrieb. Die Friemels hatten jetzt das Einkaufen übernommen.

Helga war schon immer eine Art Familienzentrale gewesen, bei der man hatte erfahren können, wie es Onkel X oder Großtante Y ging. Jetzt versuchte sie, Gewißheit über das Schicksal aller jener Familienangehörigen zu erlangen, die in der Katastrophenzone daheim gewesen waren. Immer wieder kamen Briefe zurück mit dem Vermerk: EMPFÄNGER NACH UNBEKANNT VERZOGEN. Aber Helga ließ nicht locker. Sie fand heraus, daß Janna-Bertas Vater in Schweinfurt umgekommen war, wahrscheinlich gleich am Morgen des Katastrophentags. Die Mutter und Kai waren in einem Rot-Kreuz-Zelt im oberen Kinzigtal gestorben – erst Kai, vier Tage später die Mutter. Von Jo wußte sie nur, daß sie tot war. Jo gehörte nicht zur Familie. Auch an einem Kontakt mit Almut war sie nicht interessiert. Janna-Berta mußte sich die Adresse aus der Suchkartei selber besorgen. Aber da war nur ein z.Z. Grundschule, Wiesbaden-Bierstadt vermerkt, und ein Brief, an diese Adresse abgesandt, kam zurück: EMPFÄNGER NACH UNBEKANNT VERZOGEN.

»In der Suchkartei stehst du jetzt unter meiner Adresse«, sagte Helga zu Janna-Berta. »Sobald Almut die Möglichkeit hat, wird sie sich hier melden.«

Janna-Berta hörte Helga bis tief in die Nächte tippen. Sie schrieb an alle Verwandten. Sie bat sie, Oma Berta und Opa Hans-Georg nichts vom Tod ihres Sohnes, der Schwiegertochter und der beiden Enkel zu schreiben. Sie selber habe den Eltern geschrieben und habe sie beruhigt.

»Ich habe ihnen erklärt, daß sich dein Vater mit der Familie in einer Klinik befindet«, sagte sie zu Janna-Berta, »und daß ihre Gesundheit nur vorübergehend beeinträchtigt –«

»Ja, ja, die Lügengeschichte, die du mir schon im Hospital erzählt hast«, unterbrach sie Janna-Berta. »Daß sie vorläufig noch nicht schreiben dürfen, weil die Klinik von der Außenwelt streng abgeschirmt ist – nicht wahr?«

»Ja, ich lüge«, sagte Helga ungehalten. »Aber ich tue das nur zu ihrem Besten.«

»Ob sie die Geschichte glauben?« fragte Janna-Berta. »Ich würde sie dir jedenfalls nicht abnehmen.«

»Sie glauben sie«, sagte Helga. »Weil sie sie glauben wollen. Daß deine Eltern und Kai in Schweinfurt gewesen sind, können sie nicht wissen. Ich habe ihnen empfohlen, unbedingt so lange auf Mallorca zu bleiben, bis sich hier alles normalisiert hat. Dann hole ich sie hierher. Friemels werden ja nicht ewig hierbleiben. Natürlich habe ich ihnen Geld überwiesen. Wirklich: Auf Mallorca sind sie zur Zeit am besten aufgehoben.«

Janna-Berta spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie mußte sich wieder aufs Bett legen, um nachdenken zu können.

Sie sah Oma Berta vor sich, wie sie strickte. Sicher war's ein Trachtenjanker für Kai oder eine buntgeringelte Pudelmütze für Uli. Sie saß unter einem leuchtendbunten Sonnenschirm, vor sich die unerläßliche Kaffeetasse, und ließ sich von Opa Hans-Georg vorlesen, denn ihre Augen waren nicht mehr sehr gut. Sie bestand nicht auf bestimmten Schriftstellern. Aber sie schätzte es sehr, wenn die Geschichten gut ausgingen.

»Für Tragödien sind wir zu alt«, pflegte sie zu sagen, und Janna-Berta sah Opa Hans-Georg dazu nicken. Schon oft hatte sie sich den Opa als Hauptmann vorzustellen versucht, Hauptmann der schweren Artillerie im letzten Krieg. Manchmal war er ins Erzählen gekommen: »... und damals, im Sommer einundvierzig, am Dnjestr ...«

Almut hatte Janna-Berta einmal erzählt, daß Oma Berta in der Frauenschaft mitgemacht hatte. Das war die Nazi-Organisation für Frauen gewesen. Nein, nicht nur als Mitläuferin, sondern als was Höheres. Als Janna-Berta die Oma danach fragte, bekam sie die unwirsche Antwort: »Ach schweig still von jenen Zeiten! Das ist doch so lange her. Ich hatte bunte Abende für verwundete Soldaten zu organisieren, daran ist doch wohl nichts Böses?«

Oma Berta war, was die Hitlerzeit betraf, sehr zugeknöpft. Um so redseliger war Opa Hans-Georg. Uli hatte ihm immer mit glänzenden Augen zugehört.

»Mußt du das denn immer wieder aufrühren, Hans-Georg?« hatte dann Oma Berta unwillig eingeworfen. »Ich will nichts mehr hören vom Krieg und all diesen häßlichen Dingen. Du hast doch, bitteschön, in deinem Leben auch noch anderes geleistet als nur mit Kanonen geschossen!«

Oma Berta und Opa Hans-Georg lasen sicher längst keine Berichte über die deutsche Atomkatastrophe mehr. Wahrscheinlich redeten sie nicht einmal mehr darüber. Janna-Berta hatte Omas sanfte Stimme im Ohr: »Schweig still, Hans-Georg, ich will von dieser entsetzlichen Geschichte nichts mehr hören!«

Aber beim Morgenschoppen mit anderen Mallorca-Rentnern würde Opa Hans-Georg in langen Monologen seine Theorie über den Hergang der Katastrophe darlegen: natürlich Sabotage. Und die Drahtzieher saßen im Osten.

Janna-Berta riß das Fenster auf. Die Gardine wehte ihr ins Gesicht. Sie bekam auf einmal eine unbändige Lust, das Meer zu sehen. Oder wenigstens eine weite Wasserfläche. Sie lief hinaus, ohne auf Tante Friemels verwundertes »Wohin so eilig, Kind?« zu antworten. Sie hastete durch die Spaliere der mitleidigen oder angewiderten Blicke der Passanten, kam an dem Betonsockel vorüber, auf den jemand in riesigen Lettern aufgesprüht hatte: BEDANKT EUCH DAFÜR BEI DEN POLITIKERN! und las an einem Kiosk die Schlagzeilen: ENDLICH ENTWARNUNG! und REAKTOR STRAHLT NICHT MEHR!

Janna-Berta stutzte. Helga mußte es gewußt haben. Aber beim Mittagessen hatte sie es mit keinem Wort erwähnt. War es ihr nicht wichtig genug erschienen? Janna-Berta wurde bewußt, daß Helga nie über das politische Tagesgeschehen sprach.

 

Auf dem Weg zur Alster kam Janna-Berta an ihrer Schule vorbei. Dort stieß sie zu ihrem Erstaunen auf Elmar. Vor der dunklen Mauer, an der er lehnte, fiel sein kahler Schädel besonders auf. Er rief den Passanten Frechheiten nach. Janna-Berta steuerte auf ihn zu wie auf einen Rettungsring.

»Was machst du nachmittags hier?« fragte sie.

»Ich hänge sozusagen herum«, sagte er. »Und wo, ist schließlich egal.«

Sie fragte nach seinen Hausaufgaben.

»Ich mach keine mehr«, sagte er und zuckte mit den Schultern.

»Wenn du nichts anderes vorhast«, sagte sie, »dann komm mit zur Alster.«

»Ich hab nichts anderes vor«, sagte er und stieß sich von der Mauer ab, »als dieses beschissene Leben so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.«

An einer Kreuzung mußten sie warten. Hinter ihnen sagte jemand leise: »Mann, die hat's erwischt.« Aber nicht leise genug.

Elmar fuhr herum und brüllte: »Euch vielleicht nicht? Hier ist es auch runtergekommen! Überall ist es runtergekommen! Nicht so stark? Nicht lebensbedrohend? Wer sagt das? Der Innenminister? Die Politiker? Verlaßt euch drauf: Der Boden, die Luft, die Lebensmittel – alles ist verseucht! Auch wenn ihr nicht wie skalpiert ausseht: Ihr seid programmiert auf Krebs! Was sind vierhundert, fünfhundert Kilometer bei einem SuperGAU? Nur welcher Krebs bei euch ausbrechen wird, ist noch die Frage. Und unter euren Enkeln werden sich phantastische Mißgeburten tummeln. Auch die sind programmiert. Macht euch schon mal gefaßt auf ihre Frage, wie es dazu kommen konnte!«

Niemand antwortete ihm. Die miteinander geflüstert hatten, starrten in eine andere Richtung. Als die Ampel auf Grün schaltete, hasteten die Wartenden davon. Nur Elmar vergaß zu gehen.

»Erschlagen werden sie euch!« brüllte er den Passanten nach.

Janna-Berta war neben Elmar stehen geblieben. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Die Knie wollten nachgeben. Sie mußte sich gegen die Ampel lehnen.

»Komm«, sagte sie, »kehren wir um. Ich hab keine Lust mehr.«

»Lust?« fragte er. »Hast du Lust gesagt?«

 

Als Janna-Berta heimkam, saßen die Friemels vor dem Fernseher. Onkel Friemel trug einen Jogginganzug, obwohl er nie joggte. Er hatte den Reißverschluß der Jacke geöffnet. Das Unterhemd war zu sehen. Es zeichnete den Bauch ab, der aus dem Gummizug der Hose quoll. Onkel Friemel rauchte, obwohl Helga den Rauchgeruch nicht ausstehen konnte.

»Setz dich zu uns, Kind«, sagte Tante Friemel. »Sie bringen endlich wieder was Lustiges.«

Sie trug ein Dirndl. Diesmal das lilarote. Sie trug fast immer Dirndlkleider. In Haßfurt hatten die beiden eine Trachtenstube betrieben: Dirndl, Lodenmäntel und Trachtenjanker.

Sie rückten auf dem Sofa auseinander, und Tante Friemel deutete einladend auf den freien Platz.

»Wart ihr für oder gegen die Atomkraft?« fragte Janna-Berta, ohne sich hinzusetzen.

»Nun ja«, sagte Onkel Friemel. »Wir haben von den Risiken nichts gewußt – nicht wahr, Bärbel?«

Seine Frau winkte unwillig ab.

»Und nach Tschernobyl?« fragte Janna-Berta.

»Tschernobyl«, sagte Onkel Friemel achselzuckend, »Tschernobyl war ein russischer Reaktor.«

»Nun hört doch auf!« rief Tante Friemel. »Setzt euch und seid friedlich.«

Janna-Berta ging in ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Sie fühlte sich so schwach, daß sie es kaum mehr auf den nächsten Stuhl schaffte. Ohne aufzustehen, langte sie sich ein Handtuch aus dem Wäscheschrank. Es war ein sehr altes, gediegenes Leinenhandtuch aus Oma Bertas Aussteuer, mit den Initialen BL. Berta Lothammer. So hatte Oma Berta als junges Mädchen geheißen. Das Leinen war schon etwas dünn und fadenscheinig, aber so wunderbar kühl, daß sich Janna-Berta das Handtuch über Gesicht und Kopf legte. Sie lehnte sich zurück und blieb eine Weile so sitzen, regungslos, mit geschlossenen Augen, bis ihr Elmars Geschrei an der Ampel wieder in den Sinn kam. Da schlug sie die Hände vors Gesicht. Sie fühlte das Leinen, erinnerte sich an das Handtuch und zog es sich ungestüm vom Kopf.

 

Am Abend kam Helga zu ihr ins Zimmer.

»Du hast bald Geburtstag«, sagte sie. »Und ich finde, den sollten wir trotz allem ein bißchen feiern. Wir laden die Verwandten ein, soweit sie in der näheren Umgebung wohnen und –«

»– noch leben«, sagte Janna-Berta.

Helga überhörte den Einwurf.

»Onkel Fred und Tante Käthe aus Harburg werden mit Margret und Mia kommen«, sagte Helga. »Sie haben schon zugesagt. Und aus Oldenburg kommen Werner, Max und Thea. Die Schnorrmanns aus Bielefeld –«

»Ich will keinen Besuch«, sagte Janna-Berta.

»Sie kommen, weil du wissen sollst, daß du nicht allein bist«, sagte Helga mit betonter Ruhe. »Nur um eins möchte ich dich bitten: daß du wenigstens an diesem Tag eine Perücke trägst.«

»Glaubst du, die sind in diesen Wochen noch keinen Kahlköpfen begegnet?« fragte Janna-Berta.

»Gewiß«, antwortete Helga. »Aber die waren nicht mit ihnen verwandt. Das ist ein großer Unterschied.«

»Du meinst, die Nichtverwandten gehen einen nichts an?« fragte Janna-Berta.

»Du bist heute gereizt«, sagte Helga. »Wir werden ein andermal darüber sprechen.«

Damit verließ sie das Zimmer.

In der Nacht träumte Janna-Berta wieder von einem riesigen blühenden Rapsfeld, über dem sich eine Wolke ballte. Und mitten im Raps stand, klein und verloren, Elmar und schrie.