8

Vier Tage später spürte Janna-Berta im Halbschlaf, daß sich jemand über sie beugte.

»Janna-Berta«, sagte eine Frauenstimme leise, und eine kühle Hand berührte ihren Arm.

Janna-Berta fuhr zusammen und riß die Augen auf. Aber es war niemand von denen, die sie erwartete, sondern Helga. Helga Meinecke aus Hamburg, Vatis Schwester.

»Da bist du also«, sagte Helga. »Warum bist du so spät in die Suchkartei gekommen? Ich dachte schon, du wärst mit deinen Eltern –«

»Wieso?« fuhr Janna-Berta auf. »Was ist mit ihnen?«

Helga sah sie betroffen an: »Weißt du denn nicht –?«

Janna-Berta schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dann stieß sie trotzig heraus: »Woher willst du das wissen? Sie stehen doch nicht in der Liste –«

Helga faßte ihre Hände und nickte. »Doch«, sagte sie. »In der Liste der Toten stehen sie – wenn es das ist, was du meinst.«

»Auch Kai?« fragte Janna-Berta fast tonlos.

»Ja.«

»Auch Jo?«

»Auch Jo.«

Da fing Janna-Berta an zu schreien. Sie schrie laut und schrill. Die Kinder im Saal starrten sie erschrocken an, und ein paar Kleine schrien mit. Tünnes kam in den Saal gestürzt, hinter ihm eine Schwester. Sie schoben Helga beiseite und beugten sich über Janna-Berta. Die schlug nach ihnen.

»Lügner!« schrie sie, riß sich die Mütze ab und schleuderte sie Tünnes ins Gesicht. Er hielt Janna-Berta fest, bis ihr die Schwester eine Spritze gegeben hatte. Ihr Schreikrampf löste sich. Die Lider fielen ihr zu. Sie stöhnte noch eine Weile, dann verstummte sie.

»Ich hab's nur gut gemeint«, sagte Tünnes. »Krank wie du bist –«

Er legte ihr die Mütze auf die Decke. Sie wischte sie weg.

Tünnes hob hilflos die Schultern und ließ sie wieder fallen. Als ihn jemand vom Gang her rief, verschwand er erleichtert. Helga setzte sich wieder auf den Bettrand. Aber Janna-Berta hielt die Augen geschlossen. Nach einer Weile schlief sie ein.

Als sie, nach Stunden, wieder erwachte, war Helga nicht mehr da. Es war Nacht. In der Ecke schimmerte fahles Notlicht. Ein Fenster war einen Spalt breit geöffnet. Draußen schien der Mond. Er warf sein Licht an die Saalwand. Es roch nach jungem Laub und frischer Erde. Janna-Berta dachte an ihre Eltern. Sie sehnte sich so sehr nach ihnen. Sie erinnerte sich an eine Rhönwanderung. Da war sie auf einem Tragesitz zwischen Vati und Mutti dahingeschaukelt, im Takt zu den Schritten der Eltern. Sie hatten »Engelchen, flieg!« mit ihr gespielt und sie hoch in die Luft geschwungen. Aber sie hatte keine Angst gehabt. Zwischen den Eltern konnte ihr nichts geschehen. »Noch mal! Noch mal!« hatte sie geschrien.

Später hatten die Eltern Uli und Kai so zwischen sich getragen und geschaukelt, und der Tragesitz war schon ziemlich abgenutzt gewesen. Almut hatte ihn beim letzten Besuch mitgenommen, um nach dem Muster einen neuen zu nähen. Es gab ihn so nicht zu kaufen. Jo hatte ihn entworfen.

Almut, wenn sie überhaupt noch lebte, brauchte den alten Sitz nicht zurückzugeben. Bei ihnen, den Meineckes, hatte es sich ausgeschaukelt, und kein Engelchen würde mehr fliegen.

Janna-Berta dachte an Kai. Er war ein rundlicher kleiner Kerl gewesen, mit Grübchen in den Backen und in den Händen. Er hatte sogar ein Grübchen im Kinn gehabt. Sie konnte sich ihn nicht tot vorstellen. Er war immer ein so quicklebendiges Kind gewesen, ein »Stehaufmännchen«, wie Oma Berta meinte. Und auch Jo hatte einmal zu Mutti gesagt: »Den könnte man eine Nacht lang im Garten vergessen – am nächsten Morgen säße er vollgeschneit, aber grinsend vor der Haustür und würde nicht mal niesen.«

Jo – der feine Fenchelgeruch, das dunkle Kraushaar, schon graumeliert, der Mittelscheitel, die braunen Augen, der Flaum auf der Oberlippe, das Grübchen im Kinn, das Kai von ihr geerbt hatte. Jo, die alle drei, vier Jahre von einer Wohnung in die andere umgezogen war und dann jedesmal eine Menge »Krempel« weggeworfen hatte.

»Ich reise nun mal gern mit leichtem Gepäck«, hatte Janna-Berta sie oft sagen hören, und: »Was – schon drei Jahre wohne ich hier in der Jakobystraße? Dann wird's Zeit, daß ich umziehe, sonst kleb ich hier noch fest.«

Mit dem »Krempel« waren bei jedem Umzug viele Fotos in den Müllcontainer gewandert. Nur das Foto, das in einem abgegriffenen Rahmen in allen ihren Wohnzimmern gestanden hatte, war nie verschwunden. Es hatte einen jungen Gefreiten aus dem Zweiten Weltkrieg gezeigt: die Uniform zu groß, die Haare nach hinten gekämmt, ganz und gar altmodisch. Aber sein Gesicht hatte Janna-Berta gern gemocht. Und daß er mit achtzehn Jahren kurz vor Kriegsende gefallen war, hatte sie schon von klein auf sehr traurig gestimmt. Dieser Gefreite hatte Jo Janna genannt. Nach seinem Tod hatte sie sich von niemandem mehr Janna nennen lassen. Gewiß, sie hatte ein paar Jahre nach dem Krieg einen Karl Joost geheiratet, hatte eine Tochter bekommen, Janna-Bertas Mutter, und hatte sich wieder scheiden lassen. Aber dem Toten war sie nie untreu geworden. Das hatte sie Janna-Berta einmal erklärt. Und als ihre Tochter eine Tochter bekommen hatte und sie nach der Mutter und der Schwiegermutter hatte nennen wollen, hatte Jo protestiert:

»Nennt das arme Kind doch nicht Johanna! Wenn's denn unbedingt so heißen soll wie ich, dann nennt es Janna.«

Als Jo schon fünfunddreißig Jahre alt gewesen und längst geschieden war, hatte sie noch ein Kind bekommen, ein Mädchen mit einem schwarzen Schopf, der sich nicht aufgehellt hatte. Von dem Vater des Kindes hatte sie nie gesprochen, und als Janna-Berta Almut einmal nach ihrem Vater gefragt hatte, war Almuts heitere Antwort gewesen: »Na, wer schon? Natürlich der Gefreite auf Jos Foto!«

Das Mondlicht wanderte an der Saalwand entlang. Ayse stöhnte. Janna-Berta streckte ihren Arm hinüber und tastete nach ihr. Sie fand Ayses Hand. Die war sehr heiß. Sie rief die Schwester. Die Tür zum Gang stand auf. Eine fremde Frau schaute herein.

»Fieber?« fragte sie. »Deswegen brauchst du doch nicht so einen Lärm zu machen. Wer hat denn hier kein Fieber? Schwester Lotte ist eingeschlafen. Kein Wunder bei sechzehn Stunden Dienst ohne Pause. Laß sie schlafen. Morgen früh ist auch noch Zeit.«

Janna-Berta hielt Ayses Hand fest. Sie fühlte den jagenden Puls. Sie versuchte sich wachzuhalten, aber die Augen fielen ihr zu. Sie träumte von Ulis Lehrerin. Die fuhr im Auto an Uli vorbei und rief zum Fensterspalt heraus: »Komm, steig ein, Uli. Wenn du dich auf den Koffer setzt und den Kopf einziehst, könnte es gehen!«

Uli, mit schmutzigem Gesicht und schmutzigem Hosenboden, drehte sich nach Janna-Berta um und sah sie fragend an.

»Steig ein, Uli, steig ein!« schrie Janna-Berta. »Die Wolke kommt!«

Uli rannte neben dem Wagen her, aber der Wagen blieb nicht stehen.

»Ich kann nicht halten!« rief die Lehrerin. »Hinter mir kommen so viele!«

»Machen Sie die Tür auf!« rief Janna-Berta. »Uli kann im Fahren reinklettern!«

Aber die Tür klemmte. Uli hängte sich von draußen an die Tür und wurde mitgeschleift.

»Die Wolke, die Wolke!« hörte sie sich schreien.

Der nächste Wagen hinter dem der Lehrerin scherte aus, um rechts zu überholen. Eine Staubwolke wirbelte auf, ein dumpfer Schlag, und der Wagen raste davon.

»Schrei doch nicht so«, sagte die Schwester und rüttelte Janna-Berta. »Du weckst ja alle auf.«

Janna-Berta schreckte hoch und ließ Ayses Hand los.

»Uli ist so heiß«, stammelte sie.

»Wer?« fragte die Schwester.

»Ayse«, sagte Janna-Berta. »Ayse.«

Die Schwester beugte sich über Ayses Bett, dann rollte sie es hinaus. Zurück blieb ein leerer Platz zwischen den Betten.

»Ist sie tot?« fragte Janna-Berta.

»Pst«, flüsterte die Schwester. »Wieso tot? Sie kommt in einen anderen Saal, das ist alles.«

 

Nach dem Frühstück kam Helga wieder. Sie hatte die Nacht in einem Dorfgasthof verbracht.

»Du wirst nicht viel geschlafen haben«, sagte sie. »Ich habe auch eine schlimme Nacht hinter mir.«

Sie zögerte. Sie sah sich um.

»Unglaubliche Zustände sind das hier«, sagte sie. »Und das in der reichen Bundesrepublik.«

»Sie sind nicht auf dem laufenden!« rief ihr ein Vater zu, der am übernächsten Bett sein Kind versorgte. »Wir sind jetzt ein Entwicklungsland!«

Helga antwortete nicht.

»Warum fragst du nicht nach Uli?« sagte Janna-Berta. »Er steht bestimmt nicht in der Suchkartei. In keiner Kartei und in keiner Liste.«

»Vielleicht hab ich Angst vor der Antwort«, sagte Helga.

Janna-Berta sah Helga an. Sehr aufrecht saß sie da, ein Muster an Selbstbeherrschung.

»Nie die Haltung verlieren!« hörte Janna-Berta Opa Hans-Georg sagen. Er mochte es nicht, wenn man in Tränen ausbrach. Aber Vati war nicht nach Opa Hans-Georgs Vorbild geraten. Sie hatte ihn weinen sehen. Zum Beispiel damals, als Uli schwerkrank in der Klinik gelegen hatte und der Arzt den Eltern nicht viel Hoffnung geben konnte. Oder einmal nach Tschernobyl, als Vati und Mutti sich wochenlang so viel Mühe mit der Vorbereitung einer Veranstaltung gegeben hatten: Sie hatten ein Forum geplant, mit Vertretern aller Parteien, die den Bürgern zum Thema WIE SICHER SIND UNSERE ATOMREAKTOREN? Rede und Antwort stehen sollten. Im letzten Augenblick hatten alle Politiker bis auf einen abgesagt. Da hatte Vati die Nerven verloren. Mutti war's gewesen, die die Veranstaltung doch noch rettete. Nachdem sie vom leeren Podium herunter kommentarlos die Absagebriefe der Politiker verlesen hatte, ließ sie die Bürger reden. Janna-Berta hatte auf der Treppe zum Podium gesessen und zugeschaut. Sie hatte nicht viel von dem verstanden, was die Leute zu sagen hatten, aber es war spannend gewesen, wie erregt, wie ängstlich, wie zornig sie gesprochen hatten. Und der ganze Saal war voll von beißendem Zigarettenqualm gewesen.

»Er war mit mir zusammen bis zuletzt«, sagte Janna-Berta. »Wir waren nicht mit nach Schweinfurt gefahren. Von Schlitz sind wir auf den Rädern geflüchtet. Er ist tot. Von einem Auto überfahren.«

Helga stand auf, drehte sich um und ging hinaus. Janna-Berta sah ihr durchs Fenster nach. Helga überquerte den Vorplatz und verschwand zwischen den Häusern.

Erst nach einer guten Stunde kehrte sie zu Janna-Berta zurück.

»Entschuldige«, sagte sie.

»Hier weint jeder, wenn ihm danach ist«, sagte Janna-Berta.

»Ich kann das nicht«, sagte Helga.

Sie hatte mit dem Arzt gesprochen. Er hatte ihr noch nicht erlaubt, Janna-Berta mitzunehmen.

»Ich werde dafür sorgen, daß du in eine Hamburger Klinik kommst«, sagte sie. »Dort ist zwar auch Personal für die Katastrophengebiete abgezogen worden, aber trotzdem wird's dir dort bessergehen. Du wirst in einem Zweibettzimmer liegen –«

»Ich bleibe hier«, sagte Janna-Berta, ohne zu überlegen.

Helga hob die Schultern. »Wie du willst«, sagte sie. »Ich werde dich nicht zwingen. Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Aber überleg dir's gut.«

Beim Abschied wurde Helga lebhaft. Sie redete Janna-Berta zu, eine Mütze aufzusetzen.

»Jedenfalls wenn du dann draußen bist«, sagte sie. »Oder willst du die Leute absichtlich schockieren?«

»Ich hab nichts zu verheimlichen«, sagte Janna-Berta. »Ich bin kahl. So ist es. Damit muß ich leben.«

Dann beschwor Helga Janna-Berta, den Schlitzer Großeltern, die noch immer auf Mallorca waren, nichts vom Tod der Eltern und Brüder zu verraten.

»Den Schock könnten sie nicht verkraften«, sagte sie. »Vielleicht können wir's ihnen später einmal – nach und nach –«

Auf Janna-Bertas Frage, wo denn die Großeltern nach ihrer Heimkehr bleiben sollten, zeigte sich, daß Helga schon alles geregelt hatte: Opa Hans-Georg und Oma Berta sollten, bis die Sperrzone DREI aufgehoben würde, bei ihr wohnen.

»Ich werde versuchen, ihre Rückkehr so lange wie möglich hinauszuzögern«, meinte sie. »Je später sie zurückkommen, desto mehr hat sich hier das Leben wieder normalisiert.«

Den beiden alten Leuten wollte sie erzählen, daß Sohn und Schwiegertochter mit den beiden Enkeln in einem Spezialsanatorium nachbehandelt würden, das für Besucher gesperrt sei.

»Nein«, sagte Janna-Berta. »Jedenfalls ich mach dabei nicht mit.«

»Willst du, daß deinen Großeltern das Herz bricht?« fragte Helga.

Janna-Berta sah sie an, ohne zu antworten.

»Dann sei wenigstens still und sag ihnen gar nichts«, bat Helga. Sie strich Janna über den kahlen Kopf. Drei Wochen noch, habe der Arzt gesagt. Nur noch drei Wochen.

»Dann komm ich dich holen«, sagte sie. »Hamburg wird dein neues Zuhause. Denk dran, wenn du dich elend fühlst.«

»Und Almut und Reinhard?« fragte Janna-Berta. »Ich wollte eigentlich zu ihnen –«

»Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind«, sagte Helga.

»Hast du sie in der Kartei gesucht?« fragte Janna-Berta.

Helga zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Mich mußt du nicht schonen«, sagte Janna-Berta.

»Nehmen wir an, sie leben«, sagte Helga etwas ungeduldig.

»Dann sind sie auf jeden Fall nicht mehr in ihrer Wohnung und hausen irgendwo als Evakuierte. Da kannst du sie nicht noch mehr belasten. Bei mir hast du dein eigenes Zimmer. Die Friemels aus Haßfurt sind seit der Katastrophe auch bei mir. Erinnerst du dich an sie? Verwandte von Oma Berta. Aber sie bleiben höchstens bis zur Aufhebung der Sperrzone DREI. Und sie sind sehr ruhige Leute –«

Als sie gegangen war, verschränkte Janna-Berta die Arme unter dem Kopf und starrte zur Decke. Um die Mittagszeit erfuhr sie, daß Ayse tot war.

 

In den drei Wochen, die sie weiter in Herleshausen bleiben mußte, starben noch viele Kinder. Es waren träge dahinfließende Tage. Die einzige Abwechslung boten die Nachrichten vom Tagesgeschehen – und die Träume.

Manchmal schien es Janna-Berta, als lebte sie in den Nächten intensiver als tagsüber. Während des Tages dämmerte sie nur vor sich hin, gequält von Brechreiz, Fieber und Kopfschmerzen. Schon den Kopf zu heben, machte ihr Mühe. Wenn Tünnes sich ihrem Bett näherte, schloß sie die Augen.

Aber vor den Nächten fürchtete sie sich. Da erschoß Herr Benzig auf dem Schulhof einen prächtigen Collie. Elmar, der Klassenbeste, stand auf dem Balkon des Hauses am Hang und ließ sein Taschentuch im Wind flattern.

»Südostwind!« schrie er. »Südostwind!«

Die Trettners und die Miltners versuchten, über die Mauer am Bad Hersfelder Bahnhof zu klettern, während sie, Janna-Berta, auf dem Bahnsteig zum zweiten Mal die Heubler-Kinder im Wirbel der andrängenden Menge verlor. Wieder hörte sie die kleinen Mädchen schreien, versuchte, ihnen zu helfen, erreichte sie nicht, fand sie nicht mehr.

Schweißgebadet wachte sie auf.

Aber es dauerte nicht lange, da stand sie vor der Tür in Herleshausen und schellte. Nicht eine Fremde öffnete, sondern Frau Soltau spähte durch den Spalt und sagte: »Hol erst deinen Bruder, dann bekommst du zu trinken.«

Und dann watete sie mit Meike, ihrer Freundin, und Ingrid aus der Rhön durch ein riesiges Rapsfeld und suchte Uli, und sie konnte und konnte ihn nicht finden, obwohl er immer wieder leise »kuckuck!« rief.

Ingrid sagte ängstlich: »Ich glaube, wir sollten lieber aufhören mit Suchen, sonst zertreten wir ihn noch.«

Einmal sah sie ihn sogar, seinen blonden Haarschopf zwischen den Blüten, aber als sie sich ihm näherte, war er verschwunden, und Meike sagte: »Mir wird's langweilig. Ich spiel nicht mehr mit.«

»Uli, Uli!« rief Janna-Berta. »Komm raus, wir hören auf zu spielen!«

Hinter ihr rief es wieder »kuckuck!« Aber als sie sich umdrehte, ragte vor ihr die Ruine des Grafenrheinfelder Atomreaktors empor, zerrissen, zersplittert, geborsten.

Reinhard und Almut waren plötzlich auch da, beide ohne Haare auf dem Kopf. Sie hatten Stöcke in der Hand und scharrten damit in der Asche.

»Nicht!« rief Janna-Berta erschrocken. »Das Zeug strahlt doch noch. Lauft fort!«

Aber sie stellten sich taub und scharrten weiter, und Janna-Berta sah, daß sie beide weinten. Sie lief zu Almut und wollte sie wegzerren, aber Reinhard hielt Almut fest und schluchzte: »Wir haben es noch nicht gefunden, Janna-Berta. Du mußt Geduld haben. Eher gehen wir nicht –«

Sie zerrte und zerrte, und wieder fuhr sie schweißnaß aus dem Schlaf. Aber sobald sie sich zurückfallen ließ, stand sie am Ende der Lindenallee, dort, wo sie jäh in den Fluß abbrach. Deutlich sah sie die Reste der Brücke, die hier bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs den Fluß überspannt hatte. Auf der anderen Seite, am jenseitigen Ufer vor dem Dorf, stand der Gefreite von Jos Foto. Auch vor seinen Füßen brach die Straße ab, die aus dem Dorf heraus auf Janna-Berta zuführte. Der Gefreite stolperte fast über seinen langen Mantel. Er schien durch irgend etwas beunruhigt zu sein. Er lief am Abgrund hin und her und machte Janna-Berta Zeichen. Er zeigte hinter sie. Verwundert drehte sie sich um und prallte zurück: Hinter der Silhouette von Herleshausen ballte sich ein dunkles Gewölk zusammen. Drohend zog es heran, dehnte sich aus, füllte den halben Himmel. Die Wolke!

Janna-Berta stand am Abgrund. Mitten im Fluß verlief die Grenze. Verzweifelt starrte sie hinüber.

»Flieg, Janna!« rief der Gefreite herüber.

»Ich kann doch nicht fliegen!« rief Janna-Berta zurück.

»Flieg!« rief er wieder. »Du kannst es, Janna. Breite die Arme aus und laß dich fallen!«

Sie schaute noch einmal über die Schulter. Dann sprang sie. Und sie flog! Sie schwebte! Es war so einfach, so wunderbar einfach –

»Siehst du«, sagte er, als sie ihn erreicht hatte, »wir Toten können das. Daran wirst du dich bald gewöhnen.«

»Bin ich denn tot?« fragte sie.

»Ist dir's nicht recht?« rief er lachend. »Du solltest froh sein. Jetzt kann dir nichts mehr passieren.«

So ging es Nacht für Nacht. Manchmal tauchten auch Opa Hans-Georg und Oma Berta in ihren Träumen auf, der freundliche Sparkassenbeamte und die Verkäuferin aus dem Metzgerladen. Oder sie sah die drei Jungen aus der Oberstufe, mit denen sie an jenem Tag aus der Schule heimgefahren war, Lars' alten Opel über die Beete eines Vorgartens schieben.

Nur von den Eltern, von Kai und Jo träumte sie nie.

 

Allmählich ließen Übelkeit und Durchfall nach. Mager, blaß, schwach und unsicher versuchte sie die ersten Schritte. Sie kam nicht weit. Als Tünnes ihr helfen wollte, schickte sie ihn weg. Aber Tag für Tag übte sie. Ihre Kräfte nahmen langsam wieder zu. Die Tage schleppten sich dahin, ohne daß sie sich die Entlassung herbeiwünschte.

Als es dann soweit war und Helga wiederkam, gab es im Nothospital Herleshausen nichts und niemanden mehr, von dem sich zu trennen Janna-Berta schwer geworden wäre. Nur ein paar Kinder, um die sie sich hin und wieder gekümmert hatte, schauten ihr traurig nach, und sie winkte ihnen.

Von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, war sich Janna-Berta selber fremd. Helga hatte ihr teure Unterwäsche mitgebracht, die nach der Zeit vor Grafenrheinfeld roch. Noch nie hatte sie diese Art von Schuhen getragen, wie sie sie jetzt trug, und die schwarze Hose und der schwarze Edelpulli bewirkten, daß sie sich nur noch steif und befangen bewegte.

Kaum waren sie in den Wagen gestiegen, reichte ihr Helga eine schwarze Mütze, halb Baskenmütze, halb Barett. Man sah ihr an, daß sie viel gekostet haben mußte. Janna-Berta legte sie auf den Rücksitz.

»Ich würde sie aufsetzen«, sagte Helga mit einer senkrechten Falte zwischen den Brauen. »Viele Leute reagieren komisch, wenn sie merken, daß jemand aus der verseuchten Gegend kommt. Es gibt sogar Hotels, die den Evakuierten Unterkunft verweigern, wenn – wenn die Krankheit deutlich sichtbar ist. Sie sagen, das vertreibt ihnen die Kundschaft.«

»Ich verstehe«, sagte Janna-Berta hart. »Sie wollen nicht daran erinnert werden.«

»Wie gesagt, ich würde die Mütze aufsetzen«, sagte Helga.

Janna-Berta griff nicht nach der Mütze.

»Ich will sie aber daran erinnern«, sagte sie. Sie lehnte sich zurück, spürte den sommerlich warmen Fahrtwind angenehm über ihren Kopf streichen und sog den würzigen Fichtenduft ein, der in der Luft lag. Wie wunderbar war der Wald! So lange hatte sie nur weiße Wände gesehen.

»Mach's uns doch nicht schwerer, als es schon ist«, sagte Helga.

»Ich hab nichts zu verstecken«, sagte Janna-Berta schroff.

»Wie du willst«, antwortete Helga. »Aber du schadest dir selber.«

Sie fuhr auf kleinen Nebenstraßen bis nach Eschwege, immer nahe der Grenze. Um das verseuchte Gebiet schlug sie einen großen Bogen. Janna-Berta lernte auf dieser Fahrt, daß auch angeblich nichtbetroffenen Gegenden mißtraut wurde. Denn Helga war entsetzt, als sich Janna-Berta während einer kurzen Rast ins Gebüsch hocken wollte.

»Das ist doch alles verseucht!« rief sie.

»Ich auch«, sagte Janna-Berta. »Hast du das vergessen?«

Sie fuhren mit geschlossenen Fenstern, obwohl es sehr warm war. »Sicher ist sicher«, meinte Helga. Sie ließ Janna-Berta auch nicht aus einer eingefaßten Quelle trinken. »Man kann nie wissen«, sagte sie.

Erst bei Göttingen wagte sie sich auf die Autobahn Kassel-Hamburg. Sie aßen zusammen in einer Raststätte. Janna-Berta traute ihren Augen nicht, als sie die Preise sah.

»Das Fleisch ist aus Übersee, und das Gemüse auch«, erklärte Helga. »Nur die Kartoffeln sind deutsch. Noch aus der alten Ernte. Im nächsten Jahr werden auch die Kartoffeln von anderswo herkommen müssen – für die, die's bezahlen können.«

»Und was essen die, die's nicht bezahlen können?« fragte Janna-Berta.

»Das Billigere«, antwortete Helga.

Janna-Berta nickte: Das also würde der neue Unterschied zwischen Arm und Reich sein.

Den verstohlenen Blicken der übrigen Gäste begegnete sie herausfordernd. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte schrill. Daß eine Gruppe vom Nachbartisch aufstand und sich an einem entfernteren Tisch niederließ, versuchte sie zu ignorieren. Erst als sie wieder im Wagen saß, wurde sie stumm vor Angst.