Epilog:

Der Krimkrieg in Mythos und Überlieferung

Das Ende des Krimkriegs wurde in Großbritannien mit eher bescheidenen Festlichkeiten begangen. Es herrschte allgemeine Enttäuschung darüber, dass der Frieden gekommen war, bevor die Soldaten einen bedeutenden Sieg, vergleichbar mit dem der Franzosen bei Sewastopol, errungen hatten, und auch darüber, dass man keinen umfassenderen Krieg gegen Russland hatte führen können. Mit diesem Gefühl des Scheiterns mischten sich Empörung und nationale Beschämung über die groben Fehler der Regierung und der Militärbehörden. »Ich gebe zu, dass der Frieden mein Blut in Wallung bringt«, schrieb Königin Viktoria am 11. März in ihrem Tagebuch, »und das Gleiche gilt für die ganze Nation Man hielt keine große Siegesparade in London ab, keine offizielle Begrüßungszeremonie für die Soldaten, die laut der Königin »sehr sonnenverbrannt« wirkten. Sie schaute zu, als mehrere Schiffsladungen Heimkehrer am 13. März von Bord gingen, und dachte, sie seien »das Inbild wirklicher Kämpfer, gute, große, starke Männer, manche von auffällig gutem Aussehen alle mit solch einer stolzen, edlen soldatischen Haltung Sie hatten ausnahmslos lange Bärte, waren schwer mit großen Rucksäcken, ihre Mäntel und Decken oben darauf, mit Kochgeschirr und vollen Kampftaschen und ihren Musketen beladen1

Wenngleich die fröhlichen Feiern ausblieben, so gab es doch bald genug Denkmäler buchstäblich Hunderte von Gedenkplaketten und Monumenten, die hauptsächlich durch Gruppen von Privatpersonen finanziert und überall im Land für vermisste und gefallene Soldaten auf Kirchenfriedhöfen, in Regimentskasernen, in Krankenhäusern und Schulen, in Rathäusern und Museen, auf Stadtplätzen und Dorfangern errichtet wurden. Von den 98 000 britischen Soldaten und Matrosen, die zur Krim geschickt wurden, kehrte mehr als einer von fünf nicht zurück: 20 813 Mann starben während des Feldzugs, 80 Prozent davon an einer Krankheit oder Seuche.2

Im Einklang mit diesem öffentlichen Gefühl des Verlustes und der Bewunderung für die leidenden Soldaten gab die Regierung ein Gardedenkmal (Guard’s Memorial) für die Helden des Krimkriegs in Auftrag. John Bells mächtiges Ensemble drei bronzene Gardisten (Coldstream, Fusilier und Grenadier), gegossen aus erbeuteten russischen Kanonen und Wache stehend unterhalb der klassischen Figur der Ehre wurde 1861 in London auf dem Waterloo Place an der Kreuzung Lower Regent Street und Pall Mall enthüllt. Was den künstlerischen Wert des Monuments betraf, waren die Meinungen geteilt. Die Londoner bezeichneten die Statue der Ehre als »Wurfringspielerin«, da die Eichenlaubkränze in ihren ausgestreckten Händen Wurfringen ähnelten. Viele meinten, dem Denkmal fehlten die Anmut und Schönheit, die eine so bedeutende Stätte erfordere (Graf Gleichen sagte später, es sehe am besten im Nebel aus). Gleichwohl war seine symbolische Wirkung beispiellos, denn es handelte sich um das erste Kriegerdenkmal Großbritanniens, das gewöhnliche Soldaten in den Status von Helden erhob.3

Der Krimkrieg sorgte für einen entscheidenden Wandel der Einstellung Großbritanniens zu seiner Armee. Er schuf die Grundlage des modernen Nationalmythos, wonach der Soldat die Ehre, das Recht und die Freiheit der Nation verteidige. Vor dem Krieg war der Begriff der Soldatenehre von der Aristokratie definiert worden. Tapferkeit und Mut waren hochgeborenen Kriegsführern wie dem Herzog von York beschieden, dem Sohn Georgs III. und Befehlshaber der britischen Armee gegen Napoleon, dessen Säule man 1833, fünf Jahre nach dem Tod des Herzogs, aufgestellt hatte; sie war dadurch finanziert worden, dass man jedem Angehörigen der Armee einen Tagessold abzog. Militärgemälde zeigten die Heldentaten verwegener adliger Offiziere, während der gemeine Soldat ignoriert wurde. Die Tatsache, dass man das Guards Memorial direkt gegenüber der Säule für den Herzog von York errichtete, stand gleichsam für einen Paradigmenwechsel der viktorianischen Werte. Es stellte die Führungsrolle des Adels in Frage, der wegen der militärischen Fehler auf der Krim derart diskreditiert worden war. Der britische Militärheld, zuvor ein »mit Federn und Tressen versehener« Gentleman, war nun der einfache Soldat, der »Private Smith« oder »Tommy« (»Tommy Atkins«), der wacker kämpfte und die Kriege Großbritanniens trotz der groben Fehler seiner Generale gewann. Dies war eine Einschätzung, welche die britische Geschichte vom Krimkrieg bis zum Ersten und Zweiten Weltkrieg (und den Konflikten der jüngeren Vergangenheit) durchzog. So schrieb Private Smith vom Black Watch Regiment 1899, nach einer Niederlage der britischen Armee im Burenkrieg:

Welch ein Tag für unser Regiment,

Nun fürchtet euch vor unsrer Rache.

Teuer bezahlten wir für den Fehler,

Eines Salongenerals krumme Sache.

Warum erfuhr’n wir nichts von den Gräben?

Warum erfuhr’n wir nichts von den Drähten?

Warum marschierten wir in Kolonnen?

Eine Antwort für Tommy Atkins ist erbeten 4

Wie der amerikanische Schriftsteller Nathaniel Hawthorne in seinen English Notebooks feststellte, hatte das Jahr 1854 »die Arbeit von fünfzig gewöhnlichen Jahren geleistet«, was die Schwächung des Adels anging.5

Die mangelhafte Kriegsführung weckte auch ein neues Selbstbewusstsein in der Mittelschicht, die sich nicht auf das Privileg der Geburt berief, sondern auf die Prinzipien der beruflichen Kompetenz, des Fleißes, der Meritokratie und der Eigenständigkeit. Der Krimkrieg hatte zahlreiche Beispiele dafür geliefert, dass professionelle Initiativen zur Rettung des schlecht geführten Militärfeldzugs beitrugen: die Krankenpflege von Florence Nightingale, die Kochkunst von Alexis Soyer, Samuel Petos Bau der Balaklawa-Eisenbahn oder Joseph Paxtons Arbeiter, welche die Holzhütten errichteten, in denen die britischen Soldaten vor einem zweiten Winter auf den Anhöhen von Sewastopol geschützt werden sollten. Dank der Presse, an die sich die Mittelschicht mit praktischem Rat und Meinungsäußerungen wandte, nahm Letztere gleichsam aktiv an der täglichen Kriegführung teil. In politischer Hinsicht war sie der eigentliche Gewinner, denn am Ende kamen professionelle Prinzipien im Krieg zum Tragen. Ihr Triumph ließ sich daran ablesen, dass in den folgenden Jahrzehnten Whig-, konservative und liberale Regierungen gleichermaßen Reformen verabschiedeten, die Ideale der Mittelschicht vertraten: die Ausweitung des Wahlrechts auf Freiberufler und Handwerker, Pressefreiheit, größere Offenheit und Rechenschaftspflicht der Regierung, Meritokratie, religiöse Toleranz, öffentliche Bildung und eine größere Fürsorge gegenüber den Arbeitern und den »bedürftigen Armen«, die ihren Ursprung unter anderem in der Sorge um die Nöte der Soldaten im Krimkrieg hatte. (Diese Sorge bot den Anstoß für eine Reihe von Armeereformen, die Lord Cardwell, Gladstones Kriegsminister, zwischen 1868 und 1871 durchführte. Der Kauf von Offizierspatenten wurde durch ein leistungsabhängiges Beförderungssystem ersetzt und die Dauer des Wehrdiensts für gemeine Soldaten drastisch verkürzt; man verbesserte den Sold und die Lebensbedingungen und verbot das Auspeitschen in Friedenszeiten.)

Das neue Selbstbewusstsein der britischen Mittelschicht wurde auch und gerade durch Florence Nightingale verkörpert. Sie kehrte als Nationalheldin von der Krim zurück, und ihr Bildnis wurde auf Gedenkpostkarten, auf Medaillons und in Form von Figurinen an die Öffentlichkeit verkauft. Die Zeitschrift Punch zeigte sie als Britannia, die statt eines Schildes eine Lampe und statt einer Lanze eine Lanzette trug, und in Versen wies die Zeitschrift darauf hin, dass sie die allgemeine Verehrung mehr verdient habe als jeder schneidige adlige Offizier:

Das Volk mag wild sein oder schwach,

Doch Edelmut gleichwohl kann’s leiten:

Oft findet’s falsche Götter statt der wahren,

Doch hat wahre es entdeckt, lässt es sie nie entgleiten.

Und nun, nach allem, was so unverdient

Und hastig wird gelobt in schwülst’ger Sprache,

Wahrhaftig Englands Herz erglüht

Für dieser großen Frau so heil’ge Sache.6

In volksnahen Dramen und Salonballaden dienten Nightingales patriotische Hingabe und Professionalität als Ausgleich für den Schaden, der dem Nationalstolz durch die Erkenntnis angetan worden war, dass Dummheit und Misswirtschaft den Soldaten größeres Leid zugefügt hatten als sämtliche Aktionen des Feindes. Beispielsweise enthielt ein Stück, The War in Turkey, das im Britannia Saloon in London aufgeführt wurde, eine Reihe von komischen Szenen, in denen die Inkompetenz der britischen Behörden lächerlich gemacht wurde. Danach erschien »Miss Bird« (Nightingale) und löste sämtliche Probleme. Die Szene endete mit einer moralischen Lektion: »Mit jener jungen Dame haben wir wahren Heroismus vor uns das Herz, das in ihrem Busen schlägt, ist zu jeglicher Heldentat fähig7

Die Legende von der Lady mit der Lampe wurde zu einem Teil des britischen Nationalmythos und in zahllosen Geschichts- und Schulbüchern sowie in Biografien von Florence Nightingale nacherzählt. Sie enthielt die Grundelemente des viktorianischen Ideals der Mittelschicht: eine christliche Erzählung über weibliche Fürsorge, gute Werke und Selbstaufopferung; eine moralische über Selbstverbesserung und die Rettung der verdienstvollen Armen; eine häusliche über Reinlichkeit, gute Haushaltsführung und die Verbesserung des Heimes; eine Geschichte über individuelle Entschlossenheit und die Durchsetzung des eigenen Willens, die Menschen mit beruflichen Ambitionen ansprach; und eine öffentliche Darstellung der Reform von Gesundheitswesen und Krankenhäusern, der Nightingale den Rest ihres langen Lebens nach der Rückkehr von der Krim widmen sollte.

Im Jahr 1915, als Großbritannien wieder Krieg führte, diesmal mit Russland an seiner Seite, fügte man dem Krim-Kriegerdenkmal eine Statue der Lady mit der Lampe hinzu; man verlegte es eigens zurück zur Regent Street, um genug Platz für die neue Figur zu haben. Zu der Statue Nightingales kam das Standbild eines nachdenklichen Sidney Herbert hinzu, des Kriegsministers, der sie zur Krim geschickt hatte.8 Es war die verspätete öffentliche Anerkennung für einen Mann, den man unter anderem wegen seiner Familienbeziehungen nach Russland während des Krimkriegs aus dem Amt gejagt hatte.

* * *

An einem sonnigen Freitagmorgen, dem 26. Juni 1857, wohnten die Königin und Prinz Albert einer Parade von Krim-Veteranen im Hyde Park bei. Durch eine königliche Verfügung hatte die Queen im Januar zuvor eine neue Auszeichnung eingeführt, das Viktoriakreuz, mit dem Soldaten ungeachtet ihrer Klassenzugehörigkeit oder ihres Ranges für ihre Tapferkeit belohnt wurden. Andere europäische Länder verfügten seit langem über solche Auszeichnungen: die Franzosen seit 1802 über die Légion d’honneur, die Niederländer über den Militär-Wilhelms-Orden, und sogar die Russen hatten schon vor 1812 eine Verdienstmedaille. In Großbritannien dagegen gab es kein militärisches Auszeichnungssystem, mit dem die Tapferkeit von Soldaten aufgrund ihrer Verdienste anerkannt wurde, sondern nur eines für die Ehrung von Offizieren. Durch die Kriegsberichte von Russell in der Times und von anderen Journalisten war die britische Öffentlichkeit auf viele mutige Taten einfacher Soldaten aufmerksam gemacht worden. Da diese Journalisten das Leid der Kämpfer als heroisch bezeichneten, kam die Meinung auf, dass man eine neue Auszeichnung benötigte, um ihre Taten gebührend anzuerkennen. 62 Krim-Veteranen wurden als Empfänger der ersten Viktoriakreuze ausgewählt, einer kleinen Bronzemedaille, die angeblich aus dem Metall in Sewastopol erbeuteter russischer Kanonen gegossen worden war.* Bei der Zeremonie im Hyde Park verbeugten sich die Veteranen der Reihe nach vor der Königin, während Kriegsminister Lord Panmure ihre Namen verlas und ihre Tapferkeit würdigte. Unter diesen ersten Empfängern der höchsten britischen Militärauszeichnung waren sechzehn Heeressoldaten, vier Kanoniere und ein Pionier, zwei Matrosen und drei Bootsmänner.9

Die Einführung des Viktoriakreuzes bestätigte nicht nur den Wandel in der Vorstellung vom Heldentum, sondern sie markierte auch eine neue Ehrfurcht vor dem Krieg und vor den Teilnehmern. Die Soldaten, die das Viktoriakreuz empfangen hatten, sahen ihre Taten in einer Vielzahl von Nachkriegsbüchern verewigt, die ihre Tapferkeit priesen. Das populärste, Our Soldiers and the Victoria Cross, wurde von Samuel Beeton veröffentlicht, der vor allem dafür bekannt war, dass er 1861 das Buch seiner Frau, Mrs Beeton’s Book of Household Management, herausgegeben hatte. Our Soldiers war geschrieben worden, um Jungen anzuregen und anzuleiten, und im Vorwort hieß es:

Jungen wenn sie es verdienen, Jungen genannt zu werden sind von Natur aus mutig. Welche Visionen es sind, die sich vor der Jugend erheben, welche mutigen Worte gesprochen, welche mutigen Taten vollbracht werden müssen, wie mutig, wenn nötig, es zu leiden gilt! Das ist der Leitgedanke in diesem Buch über Soldaten es soll den Mut der Jugend in der Erfahrung der Männlichkeit aufrechterhalten.10

Dieser didaktische Männlichkeitskult durchzog auch die beiden großen britischen Romane, die vor dem Hintergrund des Krimkriegs spielten: Charles Kingsleys Two Years Ago (1857) und Henry Kingsleys Ravenshoe (1861). Er war auch das Hauptmotiv von Charles Kingsleys Westward Ho! (1855), einer Abenteuergeschichte in der Neuen Welt zur Zeit der spanischen Armada. Das Werk war von dem Militarismus und der Fremdenfeindlichkeit Großbritanniens während des Krimkriegs erfüllt. Sein Autor selbst beschrieb es als »ein äußerst brutales und blutdürstiges Buch (genau das, was die Zeit benötigt, meine ich.11

Die Befürwortung des Krieges bildete auch den Kern von Thomas Hughes’ überaus einflussreichem Roman Tom Browns Schuljahre (1857), dessen berühmteste Szene, der Kampf zwischen Tom und dem Rowdy Slogger (»Drescher«) Williams, vom Leser offensichtlich als moralische Lektion über den gerade vergangenen Krieg gegen Russland verstanden werden sollte:

Von der Wiege bis zum Grabe ist Kämpfen, im richtigen Sinne des Wortes, die Pflicht, die reellste, höchste, ehrlichste Beschäftigung jedes Menschensohnes. Jeder, der sein Salz wert ist, hat seine Feinde, die er unterjochen muß, seien es böse Gedanken und Gewohnheiten des eigenen Ich, oder üble Geistesströmungen höheren Orts, seien es Russen oder Franzosen, sei es Hans, Kunz oder Peter, der ihn hindert, sein Leben in Frieden zu genießen, bis er ihn windelweich gedroschen.

Es nützt nichts, daß Quäker und andere Friedensapostel gegen den Krieg im Großen und Kleinen sprechen; sie befolgen ihre eignen Vorschriften nicht, weil die Menschennatur zu mächtig in ihnen ist. Möglich, daß eine Welt ganz ohne Kampf, ganz ohne Ringen eine Welt tiefen Friedens besser wäre, aber es wäre nicht unsere Welt. Darum bin ich taub gegen das Friedensgeschrei, wenn es keinen Frieden giebt und keinen geben soll

Haltet Frieden, solange es möglich ist. Wenn ihr aber kämpft, so kämpft bis zum Ende und gebt nicht nach, solange ihr noch stehen oder sehen könnt.12

Dies war der Ursprung des Kultes vom »muskulösen Christentum« der Vorstellung, dass »christliche Soldaten« gerechte Kriege ausfochten , der die viktorianische imperiale Mission kennzeichnen sollte. Damals begannen Briten in der Kirche zu singen:

Vorwärts, Christi Streiter, in den heil’gen Krieg!

Denn die Kreuzesfahne führt durch Kampf zum Sieg.

Unser Herr und Meister fürchtet keinen Feind;

Vorwärts denn zum Kampfe mit dem Herrn vereint! (1864)

Die Forderung nach einem »muskulösen Christentum« wurde erstmals in einer Rezension von Kingsleys Roman Two Years Ago im Jahr 1857 laut. In jenem Jahr wurde die Vorstellung von »Christi Streiter« durch die Aktionen der britischen Truppen bestärkt, die den indischen Aufstand niederschlugen. Der Gedanke, Jungen zum Kämpfen für die christliche Sache auszubilden, spielte freilich auch eine wichtige Rolle in Hughes’ Fortsetzung von Tom Browns Schuljahre, dem Roman Tom Brown at Oxford (1861), in dem Athletik gepriesen wird, weil sie einen männlichen Charakter, Teamwork, Ritterlichkeit und moralische Stärke fördere Eigenschaften, durch welche die Briten zu guten Kriegern geworden seien. »Auch der Geringste der muskulösen Christen hegt den alten ritterlichen und christlichen Glauben, dass der Körper eines Mannes ihm geschenkt wird, um ausgebildet und unterworfen und dann für den Schutz der Schwachen, die Unterstützung aller gerechten Anliegen und die Unterjochung der Erde, die Gott den Menschenkindern geschenkt hat, verwendet zu werden13 Den Kern dieses Ideals bildete eine neue Konzentration auf physisches Training und auf die Beherrschung des Körpers als Form der moralischen Stärkung für die Zwecke des heiligen Krieges. Ebendiese Eigenschaft brachte man mit der Widerstandsfähigkeit der leidenden Soldaten auf der Krim in Verbindung.

Doch auch jenes Leiden trug dazu bei, die allgemeine Vorstellung vom britischen Soldaten zu verändern. Vor dem Krieg hatte die ehrbare Mittel- und Oberschicht die einfachen Soldaten für kaum mehr als einen lasterhaften Pöbel gehalten: dem Trunk verfallen und undiszipliniert, brutal und gottlos und aus den ärmsten Gesellschaftskreisen stammend. Die Qualen der Soldaten auf der Krim hatten aber ihre christlichen Seelen offenbart und sie zum Gegenstand »guter Werke« und evangelikaler Hingabe gemacht. Die religiöse Fürsorge für die gemeinen Soldaten nahm während des Krieges erheblich zu. Die Armee verdoppelte die Zahl ihrer Geistlichen, und jeder Soldat erhielt kostenlos eine Bibel, finanziert durch Spenden der Mittelschicht an die Gesellschaft für die Förderung christlichen Wissens und an die Marine-und-Militär-Bibelgesellschaft.14

Die Soldaten wurden nun in den Augen vieler Evangelikaler zu vorbildhaften Gestalten, zu Märtyrern für eine heilige Sache. Unter anderem sah dies auch Catherine Marsh so, von deren lebhafter und sentimentaler Hagiografie Memorials of Captain Hedley Vicars, Ninety-Seventh Regiment (1856) in den ersten Jahren nach der Veröffentlichung über 100 000 Exemplare verkauft wurden; das Buch erschien bis zum Ersten Weltkrieg immer wieder in zahlreichen gekürzten Versionen und in Jugendbuchausgaben. Memorials, zusammengestellt aus Vicars’ Tagebucheinträgen und Briefen an seine Mutter von der Krim, war dem »edlen Ideal des christlichen Soldaten« gewidmet. Das Buch wurde der Öffentlichkeit als »frische und gründliche Widerlegung derjenigen« angeboten, »die trotz aller Gegenbeispiele immer noch behaupten, dass die völlige Hingabe des Herzens an Gott einen Mann viele aktive Pflichten des Lebens kosten muss und dass jemand, der einen guten Christen heranzieht, einen guten Soldaten verderben könnte«. Vicars wird als Soldat und Heiliger gezeichnet, als selbstloser Held, der seinen Kameraden auf den Anhöhen von Sewastopol etwas von der Last abnimmt, indem er sein Essen und sein Zelt mit ihnen teilt, sie betreut und ihnen, wenn sie krank sind, aus der Bibel vorliest. Vicars führt seine Männer zu einem »heiligen Krieg« gegen die Russen, die als »Heiden«, »Ungläubige« und »Wilde« beschrieben werden. Er wird während des Ausfalls vom 22./23. März 1855 tödlich verwundet, und Marsh vergleicht seinen Tod im letzten Kapitel (»Sieg«) mit dem Märtyrertum Christi. Diesem Kapitel ist ein Gedicht von Longfellow (die Übersetzung eines Werkes des spanischen Poeten Jorge Manrique) vorangestellt:

So obsiegte Geist dem Leibe;

Kein seiner Sinne mindern

Durft’ das Sterben.

Angesichts von seinem Weibe,

Seinen Brüdern, seinen Kindern,

Leibeserben,

Gab er Dem, der sie ihm gab,

Seine Seel’; der woll ihm schenken

Himmels Glorie.

Und obwohl er sank ins Grab,

Gönnt uns reichen Trosts Gedenken

Die Memorie.

Vicars wurde in Sewastopol begraben, doch in der St. George’s Church in der Bromley Road in Beckenham, Kent, befindet sich eine weiße Marmortafel in Form einer Schriftrolle mit einem in der Scheide steckenden Schwert dahinter. Darauf steht:

ZUM RUHM GOTTES UND ZUM TEUREN ANGEDENKEN AN HEDLEY VICARS, HAUPTMANN DES 97. REGIMENTS, DER DURCH DEN GLAUBEN AN DAS WORT GOTTES, DASS »DAS BLUT JESU CHRISTI, SEINES SOHNES, REINIGT UNS VON ALLER SÜNDE«, VOM TOD DER SÜNDE AUF DEN WEG DER GERECHTIGKEIT GEGANGEN IST. ER FIEL IN DER SCHLACHT UND SCHLIEF IN JESU NAMEN AM ABEND DES 22. MÄRZ 1855 EIN. UND ER WURDE IM ALTER VON 28 JAHREN VOR SEBASTOPOL BEIGESETZT.15

Abgesehen von der Heiligsprechung der Soldaten und vom neuen Männlichkeitsideal, schien die gemeinsame Kriegsanstrengung die Möglichkeit der nationalen Einigkeit und Versöhnung zu bieten, die erforderlich waren, um die Klassengegensätze und den industriellen Streit der 1830er und 1840er Jahre zu überwinden. In Dickens’ Zeitschrift Household Words wurde nicht nur Elizabeth Gaskells Nord und Süd (1854) in Fortsetzungen gebracht, ein Roman über das Thema der Beendigung des Klassenkonflikts, sondern darin erschienen auch etliche Werke von Königin Viktorias Lieblingsdichterin Adelaide Anne Procter, darunter »Die Lektion des Krieges«.

Die Herrscher der Nation,

Die Armen an ihrem Tor,

Ebenso begierig der großen

Nachricht leih’n ihr Ohr!

Des armen Mannes ganze Freude,

Des reichen Mannes Fleisch und Blut

An der Krim trostlosen Küsten

Kämpfen Seit an Seit voll Mut.16

Eine ähnliche Idee findet man in Tennysons poetischem Melodram Maud (1855), wo ein »Bürgerkriegszustand«, geschaffen durch die »Lust auf Gewinn« in der Heimat, einem Ende weicht, in dessen Verlauf der Erzähler den Krieg im Ausland als höhere und frommere Sache einstuft:

Mag es gehn, wie es geht! Mit dem Aufschwung bin ich erwacht

Eines Volks, das ein wenig verloren die Lust am Gold

Und die Liebe zum Frieden, der Schmach uns und Kränkung gebracht,

Ein Greuel, nimmer zu sagen und nimmer zu tragen.

Drum Heil dem Banner, das jetzt sich zum Kampf entrollt!

Manch Licht wird erlöschen und Mancher weinen und klagen

Und Manche, die blutend im brausenden Hader erlagen:

Doch den Riesen ereilt, den Lügner des zürnenden Gottes Gericht;

In manchem Dunkel wird es nun dämmern und tagen,

Manch neuer Name erglänzen in neuem Licht,

Frei an die Sonne der edle Gedanke sich wagen

Und des Volks Herz in einem Verlangen schlagen.

Denn der Friede, der nimmer ein Friede mir schien, er ist aus;

Und jetzt im mäotischen Sumpf, auf den baltischen Fluten,

Aus den Rachen der Festen erblüht in flammenden Gluten

Mit feurigen Kelchen des Kriegs rothblutiger Strauß.

Ob er blüht, ob er bleicht, und der Krieg wie die Windsbraut kracht,

Wir bewiesen, daß brav wir noch sind und beherzt, wo es gilt;

Und ich selbst, wie mir deucht, bin zu besserem Leben erwacht;

Mir frommt’s, daß für Gutes man kämpft, als auf Böses nur schilt.

Eins bin ich mit meinem Volk, und ich falle gern

Versöhnt mit meinem Geschick und dem Willen des Herrn.

Maler griffen das gleiche Motiv auf. In John Gilberts Ihre Majestät die Königin inspiziert die verwundeten Coldstream Guards im Saal des Buckingham-Palasts (1856), einem (leider verloren gegangenen) Gemälde, das so populär war, dass man es noch 1903 als Farblithografie reproduzierte, kommt eine rührende Melancholie in dem Treffen zwischen der Queen und den verwundeten Krim-Helden zum Ausdruck, die auf eine mögliche, nach dem Krieg entstehende Einigkeit zwischen den niedrigsten und den höchsten Bürgern des Landes hindeutet. Auch Jerry Barretts großes Gemälde Königin Viktorias erster Besuch bei ihren verwundeten Soldaten (1856) ist dieser Empfindung gewidmet. Die sentimentale Darstellung der königlichen Familie beim Besuch von Krim-Invaliden im Armeekrankenhaus Chatham war so erfolgreich, dass man nach der ersten Ausstellung in Thomas Agnews Galerie in Piccadilly mehrere tausend Drucke in verschiedenen Editionen, die zwischen drei und zehn Guineen kosteten, verkaufte.17

Die Königin selbst sammelte fotografische Souvenirs der Krim-Veteranen. Sie beauftragte Berufsfotografen wie Joseph Cundall und Robert Howlett, in verschiedenen Militärkrankenhäusern, darunter Chatham, eine Reihe von Gedenkporträts verstümmelter und verwundeter Soldaten für die königliche Sammlung in Windsor herzustellen. Cundalls und Howletts bemerkenswerte Fotos beeindruckten nicht nur ihre Gönnerin. Durch Fotoausstellungen und Reproduktionen in der illustrierten Presse brachten sie der Öffentlichkeit das Leid der Soldaten und die menschlichen Kosten des Krieges unmittelbar nahe. Diese bahnbrechenden Bilder unterschieden sich stark von Fentons verfeinerten Darstellungen. Beispielsweise sitzen die verwundeten Infanteristen in Cundalls und Howletts Drei Krim-Invaliden (1855) auf einem Krankenhausbett und zeigen ihre verstümmelten Gliedmaßen. Ihre Mienen lassen keine Emotion und die Bilder keine Romantik oder Sentimentalität erkennen. Es geht nur um den schwarz auf weiß dokumentierten Nachweis der Auswirkungen von eisernen Geschossen und von Erfrierungen auf den Körper. In ihren Notizen im königlichen Archiv identifizierten Cundall und Howlett die Männer als William Young vom 23. Regiment, verwundet im Redan am 18. Juni 1855, Henry Burland vom 34., der beide Beine durch Erfrierungen in den Schützengräben vor Sewastopol verloren hatte, und John Connery vom 49., dessen linkes Bein ebenfalls nach Erfrierungen in den Schützengräben amputiert worden war.18

Bis weit in die 1870er Jahre hinein lieferten die Erinnerungen an den Krimkrieg ein lohnendes Motiv für britische Künstler. Das bekannteste dieser Krim-Bilder war Appell nach einer Schlacht (1874) von Elizabeth Thompson (Lady Butler), das bei seiner Ausstellung in der Royal Academy großes Aufsehen erregte. So viele Menschen erschienen, um es sich anzusehen, dass man zu seinem Schutz eigens einen Polizisten abstellte. Thompson, die für ihre früheren Gemälde über Militärmotive bereits bekannt war, hatte den Appell (wie man das Bild allgemein nannte) unmittelbar nach den Cardwell-Reformen konzipiert, als Armeeangelegenheiten im öffentlichen Leben einen hohen Stellenwert hatten. Aus detaillierten Skizzen von Krim-Veteranen schuf sie eine imposante Komposition, in der sich die überlebenden Grenadiere, verwundet, frierend und zutiefst erschöpft, nach einer Schlacht versammeln, um sich von ihrem berittenen Offizier zählen zu lassen. Das Gemälde unterschied sich radikal von herkömmlichen Kriegsbildern, die sich auf die glorreichen Taten mutiger Offiziere konzentrierten: Abgesehen von dem berittenen Offizier, wurde die zwei Meter hohe Leinwand völlig von der Not der gemeinen Soldaten beherrscht. Die Heldentaten waren vergessen, und der Betrachter schaute ins Gesicht des Krieges. Nach der Ausstellung in der Royal Academy unternahm man mit dem Appell eine landesweite Rundreise und zog enorme Zuschauerzahlen an. In Newcastle trugen Männer Reklametafeln mit der prägnanten Aufschrift »Der Appell kommt. In Liverpool sahen sich innerhalb von drei Wochen 20 000 Menschen das Bild an eine gewaltige Resonanz für die damalige Zeit. Viele waren tief bewegt von dem Werk, das das Herz der Nation offensichtlich angerührt hatte. Die Königin erwarb den Appell von dem ursprünglichen Käufer, einem Industriellen aus Manchester, doch eine Druckerei behielt das Recht, eine Volksausgabe von Stichen zu reproduzieren. Thompson selbst wurde über Nacht zur Nationalheldin. Man verkaufte eine Viertelmillion Cartes-de-visite-Fotos der Künstlerin an die Öffentlichkeit, die sie auf eine Stufe mit Florence Nightingale stellte.19

* * *

Was sagt man wohl in England,

Wenn die Geschichte wird erzählt

Von Ruhmestaten auf Almas Höhen

Wo unsre Helden sich gequält?

Von Russland, stolz zur Mittagszeit,

Verzagt vor Anbruch der Nacht?

Sagen wird man: »’S war das alte England

Sagen wird man: »’S war edel vollbracht

Reverend J. S. B. Monsell in

The Girls’ Reading Book (1875)20

Der Krimkrieg hinterließ in der englischen nationalen Identität tiefe Spuren. Schulkindern diente er als Beispiel dafür, wie sich England gegen den russischen Bären zur Wehr setzte, um die Freiheit zu verteidigen es war, wie damals von der Zeitschrift Punch dargestellt, ein eindeutiger Kampf zwischen Recht und Unrecht. Der Gedanke, dass John Bull den Schwachen gegen Tyrannen aller Art zu Hilfe kam, wurde zu einem Teil der grundlegenden britischen Selbstanschauung. Viele der emotionalen Kräfte, die Großbritannien in den Krimkrieg getrieben hatten, wurden erneut wirksam, als es 1914 zur Verteidigung des »kleinen Belgien« und 1939 zu der Polens gegen Deutschland in den Krieg zog.

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»Recht gegen Unrecht« (Punch, 8. April 1854)

Heutzutage sind die Namen Alma, Balaklawa, Inkerman, Sewastopol, Cardigan und Raglan immer noch im Kollektivgedächtnis vorhanden, hauptsächlich durch Straßenschilder und Pub-Namen. Nach dem Krimkrieg war es jahrzehntelang Mode, Mädchen Florence, Alma oder Balaklava und Jungen Inkerman zu nennen. Kriegsveteranen nahmen diese Bezeichnungen mit in jeden Winkel der Welt: In Süd-Australien gibt es einen Ort namens Balaklava und einen weiteren in Queensland; man findet Inkermans in West Virginia, Süd- und West-Australien, Queensland, Victoria und New South Wales sowie in Gloucester County, Kanada; Sebastopols existieren in Kalifornien, Ontario, New South Wales und Victoria, und in Neuseeland steht ein Mount Sebastopol; vier Orte namens Alma liegen in Wisconsin, einer in Colorado, zwei in Arkansas und zehn weitere in den übrigen Vereinigten Staaten; vier Almas und ein gleichnamiger See sind in Kanada vorhanden, zwei Orte namens Alma in Australien und ein ebensolcher Fluss in Neuseeland.

Auch in Frankreich stößt man überall auf die Namen der Krim und wird an einen Krieg erinnert, in den 310 000 Franzosen verwickelt waren. Einer von dreien kehrte nicht heim. Paris besitzt eine Alma-Brücke, die 1856 entstand und in den 1970er Jahren erneuert wurde. Heute ist sie hauptsächlich als Schauplatz von Prinzessin Dianas tödlichem Autounfall im Jahr 1997 berühmt. Bis dahin war sie vor allem bekannt für ihre Zuaven-Statue (das Einzige der vier Standbilder, das von der alten Brücke übernommen wurde), mit deren Hilfe die Pariser immer noch den Wasserstand messen (der Fluss wird für unschiffbar erklärt, wenn das Wasser über die Knie des Zuaven steigt). Paris hat eine Place de l’Alma und einen Boulevard de Sébastopol, die beide mit gleichnamigen Metrostationen ausgestattet sind. Ein ganzer Vorort im Süden von Paris, ursprünglich als separate Stadt gebaut, heißt Malakoff (Malachow). Ursprünglich »Neu-Kalifornien« genannt, wurde Malakoff im Jahrzehnt nach dem Krimkrieg auf billigem Steinbruchland im Vanves-Tal von Alexandre Chauvelot erschlossen, dem erfolgreichsten Bauunternehmer im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Chauvelot profitierte von der kurzfristigen französischen Mode, des Krimkriegs zu gedenken, indem er Lustgärten in dem neuen Vorort anlegte, um dessen Reiz für Handwerker und Arbeiter aus dem überfüllten Pariser Zentrum zu erhöhen. Die Hauptattraktion der Gärten war der Malakoff-Turm, ein der russischen Bastion nachgebildetes Schloss in einem Themenpark aus Schützengräben, Hügeln, Redouten und Grotten. Außerdem gab es einen Orchesterpavillon und ein Freilufttheater, wo in den Sommermonaten große Zuschauermengen zusammenkamen, um sich Inszenierungen der Krim-Schlachten und andere Veranstaltungen anzusehen. Mit Napoleons ausdrücklicher Genehmigung wurde Neu-Kalifornien 1858 in Malakoff umbenannt, um den ersten großen militärischen Sieg seines Regimes zu unterstreichen. Der Vorort, der aus Häusern auf Privatgrundstücken bestand, wuchs während der 1860er Jahre sehr rasch. Nach der Niederlage Frankreichs gegen Preußen im Jahr 1870 wurde der Malakoff-Turm jedoch auf Befehl des Bürgermeisters von Vanves zerstört, der das Gebäude für ein grausames Andenken an eine glorreichere Vergangenheit hielt.

Überall in der französischen Provinz wurden Malakoff-Türme in Ortschaften und Dörfern gebaut. Viele haben sich bis heute erhalten. Es gibt solche Türme in Sivry-Courtry (Seine-et-Marne), Toury-Lurcy (Nièvre), Sermizelles (Yonne), Nantes und Saint-Arnaud-Montrond (Cher) sowie in Belgien (in Dison und Hasard-Cheratte bei Lüttich), Luxemburg und Deutschland (Köln, Bochum und Hannover), Algerien (Oran und Algier) und im brasilianischen Recife, das die Franzosen nach dem Krimkrieg kolonisierten. In Frankreich selbst hat fast jeder Ort seine rue Malakoff, und der Name wurde auch öffentlichen Plätzen und Parks, Hotels, Restaurants, Käsesorten, Champagner, Rosen und Chansons verliehen.

Trotz all dieser Hinweise hat der Krieg viel schwächere Spuren im französischen Nationalbewusstsein hinterlassen als im britischen. Die Erinnerung an den Krimkrieg wurde in Frankreich bald überschattet durch den Krieg in Italien gegen die Österreicher (1859), die Expedition nach Mexiko (1862–1866) und, vor allem, durch die Niederlage im französisch-preußischen Krieg. Heute ist der Krimkrieg in Frankreich zu einem »vergessenen Krieg« geworden.

Auch in Italien und in der Türkei wurde er durch spätere Konflikte in den Hintergrund gedrängt und verschwand bald aus den nationalistischen Mythen und Darstellungen, mit denen man in diesen Ländern die Geschichte des 19. Jahrhunderts rekonstruierte.

In Italien werden die Bürger nur durch sehr wenige Ortsbezeichnungen an die Rolle ihres Landes im Krimkrieg erinnert. Sogar im Piemont, wo man erwarten sollte, dass sich die Menschen an den Krimkrieg erinnern, gemahnt kaum etwas an die 2166 Soldaten, die im Kampf fielen oder an Krankheiten starben (so lautet die amtliche Statistik, doch die wirkliche Zahl dürfte höher gewesen sein). In Turin wird durch einen Corso Sebastopoli und eine Via Cernaia auf die einzige große Schlacht verwiesen, an der die Italiener teilnahmen. Der nationalistische Maler Gerolamo Induno, der mit den sardinischen Streitkräften zur Krim reiste und dort viele Skizzen der Kämpfe anfertigte, schuf nach seiner Rückkehr im Jahr 1855 mehrere Schlachtenszenen, darunter Die Schlacht an der Tschornaja, in Auftrag gegeben von Viktor Emanuel II., und Die Eroberung des Malakoff-Turms. Beide entfachten in Norditalien ein paar Jahre lang patriotische Gefühle. Aber der Krieg von 1859 und alles, was sich danach ereignete Garibaldis Marsch nach Süden, die Eroberung von Neapel, die Annexion Venetiens von den Österreichern im Krieg von 1866 und schließlich die Vereinigung Italiens nach der Einnahme von Rom im Jahr 1870 , verdrängten den Krimkrieg bald. Dies waren die entscheidenden Ereignisse des Risorgimento, der »Wiedergeburt« der Nation, aus der, wie die Bürger später meinten, das moderne Italien hervorging. Als ausländischer Krieg, geführt vom Piemont und Cavour, einer problematischen Gestalt für die populistische Interpretation des Risorgimento, hatte der Feldzug auf der Krim wenig Aussicht, dass italienische Nationalisten seiner gedenken würden. Es gab keine öffentlichen Demonstrationen für den Krieg, keine Freiwilligenbewegungen, keine großen Siege oder glorreichen Niederlagen auf der Krim.

In der Türkei ist der Krimkrieg nicht so sehr in Vergessenheit geraten, als vielmehr aus dem historischen Gedächtnis der Nation ausgelöscht worden, obwohl der Krieg dort begann und die türkischen Verluste sich laut offiziellen Angaben auf mindestens 120 000 Mann, fast die Hälfte der beteiligten Soldaten, beliefen. In Istanbul stehen Denkmäler für die alliierten Kriegsteilnehmer, nicht jedoch für die Türken. Bis vor sehr kurzer Zeit wurde der Krieg von der türkischen Historiografie fast völlig ignoriert. Er passte nicht in die nationalistische Version der türkischen Geschichte, denn er fiel zwischen das frühere »goldene Zeitalter« des Osmanischen Reiches und die spätere Epoche Atatürks und der Geburt des modernen türkischen Staates. Obendrein gilt der Krieg trotz des siegreichen Endes für die Türken heute als eine schändliche Periode der osmanischen Geschichte, als Markstein im Verfall des Reiches, weil der Staat damals massive Schulden machte und von den Westmächten abhängig wurde, die sich als falsche Freunde erwiesen. Die Geschichtsbücher in den meisten türkischen Schulen führen den Niedergang der islamischen Traditionen auf die zunehmenden westlichen Eingriffe in türkische Angelegenheiten infolge des Krimkriegs zurück.21 Das Gleiche gilt für die offizielle türkische Militärgeschichte, etwa für folgendes, 1981 vom Generalstab veröffentlichtes Werk. Es enthält eine charakteristische Schlussfolgerung, die viele Aspekte der tiefen Verbitterung widerspiegelt, welche Nationalisten und Muslime in der Türkei gegenüber dem Westen empfinden:

Während des Krimkriegs hatte die Türkei fast keine wirklichen Freunde in der Außenwelt. Diejenigen, die unsere Freunde zu sein schienen, waren in Wirklichkeit keine In diesem Krieg verlor die Türkei ihre Schatzkasse. Zum ersten Mal verschuldete sie sich in Europa. Schlimmer noch, da sie mit westlichen Verbündeten an diesem Krieg teilnahm, wurde Tausenden von ausländischen Soldaten und Zivilisten ermöglicht, die geheimsten Orte und die Mängel der Türkei aus der Nähe zu betrachten Eine weitere negative Kriegsfolge bestand darin, dass einige halb intellektuelle Kreise der türkischen Gesellschaft westliche Moden und Werte zu bewundern begannen und ihre Identität verloren. Die Stadt Istanbul mit ihren Krankenhäusern, Schulen und Militärgebäuden wurde den alliierten Befehlshabern zur Verfügung gestellt, und die westlichen Armeen ließen zu, dass historische Gebäude durch ihre Fahrlässigkeit Feuer fingen Das türkische Volk brachte seine traditionelle Gastfreundschaft zum Ausdruck und öffnete seine Küstenvillen für die alliierten Befehlshaber, doch die westlichen Soldaten zeigten nicht den gleichen Respekt für das türkische Volk und die türkischen Gräber. Die Alliierten hinderten türkische Streitkräfte daran, an den Küsten des Kaukasus zu landen [um Schamils Krieg gegen die Russen zu unterstützen], denn dies widersprach ihren nationalen Interessen. Kurz gesagt, türkische Soldaten legten alle Anzeichen von Selbstlosigkeit an den Tag und vergossen ihr Blut an sämtlichen Fronten des Krimkriegs, doch unsere westlichen Verbündeten beanspruchten den ganzen Ruhm für sich selbst.22

* * *

Die Nachwirkung des Krieges in Großbritannien war nur vergleichbar mit seinen Auswirkungen auf Russland, wo die Ereignisse eine bedeutende Rolle bei der Ausformung der nationalen Identität spielten. Allerdings handelte es sich um eine widersprüchliche Rolle: Der Krieg wurde natürlich als schreckliche Demütigung empfunden, die tiefen Groll gegenüber dem Westen auslöste, weil er die Partei der Türken ergriffen hatte. Aber man verspürte auch Nationalstolz auf die Verteidiger von Sewastopol, denn ihre Opfer und die christlichen Motive, für die sie gekämpft hatten, schienen die Niederlage in einen moralischen Sieg verwandelt zu haben. Diesen Gedanken formulierte der Zar in seinem Manifest an die Russen, nachdem er vom Fall Sewastopols erfahren hatte:

Die Verteidigung von Sewastopol ist beispiellos in den Annalen der Militärgeschichte, und sie hat die Bewunderung nicht nur Russlands, sondern ganz Europas auf sich gezogen. Die Verteidiger sind ihres Platzes unter den Helden würdig, die unserem Vaterland Ruhm gebracht haben. Elf Monate lang widerstand die Garnison von Sewastopol den Angriffen eines stärkeren Feindes auf unsere Heimat, und in allem zeichnete sie sich durch außerordentliche Tapferkeit aus Ihre mutigen Taten werden unseren Streitkräften stets als Ansporn dienen, denn auch sie glauben an die Vorsehung und an die Heiligkeit der Sache Russlands. Der Name der Stadt Sewastopol, die so viel Blut geopfert hat, wird unsterblich sein, und das Gedenken an ihre Verteidiger wird nie aus unseren Herzen weichen, ebenso wenig wie das Gedenken an jene russischen Helden, die auf den Schlachtfeldern von Poltawa und Borodino kämpften.23

Der Heldenstatus von Sewastopol verdankte sich in hohem Maße dem Einfluss von Tolstois Sewastopoler Erzählungen, die 1855/56 von nahezu der ganzen gebildeten russischen Öffentlichkeit gelesen wurden. Durch sie wurde die Stadt in der nationalen Vorstellungskraft zum Mikrokosmos jenes speziellen »russischen« Geistes der Widerstandsfähigkeit und des Mutes, der das Land immer gerettet hatte, wenn ein ausländischer Feind einmarschiert war. Wie Tolstoi gegen Ende der Erzählung »Sewastopol im Dezember« verfasst im April 1855, auf dem Höhepunkt der Belagerung schrieb:

Somit haben Sie also die Verteidiger Sewastopols unmittelbar am Ort der Verteidigung gesehen und kehren zurück, ohne merkwürdigerweise den Geschossen und Kugeln, die Sie weiterhin auf dem ganzen Weg bis zum zerstörten Theater umschwirren, die geringste Beachtung zu schenken: Sie kehren ruhig, gehobenen Geistes zurück. Das Wichtigste und Beglückendste, was Sie mitbringen, ist die Überzeugung, daß es unmöglich sei, Sewastopol zu erobern, und darüber hinaus, daß es überhaupt unmöglich sei, die Kraft des russischen Volkes, wo auch immer, zu erschüttern. Diese Unmöglichkeit haben Sie nicht beim Anblick der zahllosen Traversen und Brustwehren, des raffiniert ausgeklügelten Netzes von Laufgräben, Minen und übereinander aufgebauten schweren Geschützen erkannt, wovon Sie nichts verstanden haben, sondern an den Augen, den Reden, der Haltung, an dem, was man den Geist der Verteidiger Sewastopols nennt. Das, was sie tun, tun sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit, mit so wenig Anstrengung und Anspannung, daß Sie zu der Überzeugung gelangen, diese Menschen könnten noch hundertmal mehr, könnten alles vollbringen. Sie begreifen, daß das Gefühl, das sie ihr Werk tun läßt, nicht jenes kleinliche, von Eitelkeit und Gedankenlosigkeit bestimmte Gefühl ist, das Sie selbst empfunden haben, sondern ein andersartiges, mächtigeres Gefühl, das aus ihnen Menschen gemacht hat, die unter ständigem Beschuß und angesichts Hunderter Todesmöglichkeiten ebenso ruhig leben wie angesichts des eigenen Todes, dem alle Menschen ausgesetzt sind, und die unter solchen Bedingungen im Schmutz hausen und ununterbrochen arbeiten und wachsam sein müssen. Um einer Auszeichnung, einer Beförderung willen oder infolge von Drohungen können sich Menschen solchen Bedingungen nicht unterwerfen: es muß einen anderen, höheren Beweggrund geben. Dieser Beweggrund liegt in einer Empfindung, die bei Russen selten offen zutage tritt und schamhaft verborgen bleibt, aber in der Tiefe der Seele eines jeden ruht: in der Liebe zur Heimat. Die Berichte über die erste Zeit der Belagerung Sewastopols, als noch keine Befestigungen und keine Truppen vorhanden waren und faktisch keine Möglichkeit bestand, es zu halten, aber dennoch nicht der geringste Zweifel darüber aufkam, daß eine Kapitulation unmöglich sei; über die Zeit, als Kornilow, ein des alten Griechenlands würdiger Held, bei einer Truppenbesichtigung sagte: »Wir wollen sterben, Brüder, aber Sewastopol nicht übergeben und unsere Russen, denen keinerlei Phrasenmacherei liegt, darauf antworteten: »Wir wollen sterben! Hurra Diese Berichte haben erst jetzt aufgehört, für Sie bloß eine schöne historische Überlieferung zu sein, und sind zu einem unumstößlichen Zeugnis von Tatsachen geworden. Jetzt begreifen Sie die Menschen, die Sie soeben gesehen haben, und stellen sie sich klar als junge Helden vor, die in schwerer Zeit nicht verzagt haben, sondern sich gehobenen Mutes und mit Freude auf den Tod vorbereiteten nicht nur für die Stadt, sondern für das Vaterland. Noch für lange Zeit wird diese Epopöe Sewastopols, deren Held das russische Volk war, in Rußland ihre erhabenen Spuren hinterlassen 24

Das »Epos von Sewastopol« ließ die Niederlage zu einem nationalen Triumph für Russland werden. »Sewastopol ist gefallen, doch so ruhmvoll, dass die Russen stolz auf solch einen Fall sein sollten, der so viel wert ist wie ein glänzender Sieg«, schrieb ein ehemaliger Dekabrist.25 Auf dieser erhabenen Niederlage bauten die Russen einen patriotischen Mythos auf, eine nationale Identität des selbstlosen Heldentums, der Widerstandskraft und Opferbereitschaft des Volkes. Dichter zogen Parallelen zum patriotischen Geist von 1812 etwa Alexej Apuchtin in seiner bekannten Ballade »Ein Soldatenlied über Sewastopol« (1869), die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von vielen russischen Schuljungen auswendig gelernt werden sollte:

Das Lied, das ich euch singe, Männer, ist kein frohes;

Es ist kein mächtig’ Lied des Sieges

Wie’s unsere Väter sangen bei Borodino

Und unsere Großväter bei Otschakow.

Ich singe zu euch, wie eine Staubwolke

Wirbelte auf von den südlichen Feldern,

Wie zahllose Feinde die Schiffe verließen

Und wie sie kamen und uns besiegten.

Aber derart war die Niederlage, dass sie

Seither nicht zurückgekommen sind, um Streit zu suchen;

Derart war unsere Niederlage, dass sie davonfuhren

Mit finsteren Mienen und platten Nasen.

Ich singe davon, wie der reiche Gutsbesitzer

Heim und Herd verließ und sich der Miliz anschloss,

Wie sich der Bauer von seiner Frau verabschiedete

Und aus seiner Hütte kam, um freiwillig zu dienen.

Ich singe davon, wie die mächtige Armee wuchs,

Denn Krieger kamen, stark wie Eisen und Stahl,

Die wussten, dass sie in den Tod gingen,

Und wie fromm sind sie gestorben!

Davon, wie unsere schönen Frauen als Krankenschwestern

Davonzogen, um ihr trübes Los zu teilen,

Und wie für jeden Zoll unseres russischen Bodens

Unsere Feinde mit ihrem Blut bezahlten.

Davon, wie durch Rauch und Feuer, unterm Donnern

Von Granaten und unter schwerem Stöhnen allerorten,

Redouten erschienen eine nach der anderen,

Wie die Bastionen wuchsen, grimmigen Gespenstern gleich

Und elf Monate dauerte das Gemetzel,

Und in all den elf Monaten wurden

In der wunderbaren Festung, die Russland schützte,

Ihre mutigen Söhne beerdigt

Lasst das Lied, das ich singe, nicht fröhlich sein.

Nicht weniger ruhmvoll ist’s als das Siegeslied,

Das unsere Väter sangen bei Borodino

Und unsere Großväter bei Otschakow.26

Dies war der Kontext, in dem Tolstoi sein eigenes »nationales Epos« Krieg und Frieden schrieb. Seine Auffassung vom Krieg gegen Napoleon als nationalem Erwachen Russlands die Neuentdeckung »russischer Prinzipien« durch den europäisierten Adel und die Anerkennung des patriotischen Geistes der leibeigenen Soldaten als Grundlage einer demokratischen nationalen Identität spiegelte seine Reaktion auf die Heldentaten des russischen Volkes im Krimkrieg wider. Geschrieben zwischen 1862 und 1865, in den Jahren unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, als die russische liberale Gesellschaft von den Idealen der nationalen Reform und der Versöhnung zwischen den Grundbesitzern und dem Bauerntum inspiriert wurde, war Krieg und Frieden ursprünglich als Dekabristenroman in der Zeit nach dem Krimkrieg geplant. In der frühen Form des Romans (»Der Dekabrist«) kehrt der Held nach dreißigjähriger Verbannung aus Sibirien in das intellektuelle Milieu der späten 1850er Jahre zurück. Eine zweite alexandrinische Herrschaft hat gerade mit der Thronbesteigung Alexanders II. begonnen, und erneut, wie im Jahr 1825, macht man sich große Hoffnungen auf Reform. Doch je mehr Tolstoi über die Dekabristen recherchierte, desto klarer wurde ihm, dass ihre geistigen Wurzeln im Krieg von 1812 lagen, weshalb er seine Romanhandlung in diese Zeit verlegte.

Die Erinnerung an 1812 war nach dem Krimkrieg, der eine neue Perspektive auf den Nationalcharakter eröffnet hatte, heftig umstritten. Demokraten wie Tolstoi, angeregt durch die nicht lange zurückliegenden Opfer der russischen Bauernsoldaten, sahen den Konflikt von 1812 als Volkskrieg, in dem der Sieg durch den patriotischen Geist der ganzen Nation errungen wurde. Für Konservative dagegen stand 1812 für den heiligen Triumph des russischen autokratischen Prinzips, das allein Europa vor Napoleon gerettet habe.

Das Gedenken an den Krimkrieg war von einem ähnlichen ideologischen Konflikt betroffen. Konservative und Kirchenführer sprachen von einem heiligen Krieg, der Erfüllung der göttlichen Mission Russlands, die Rechtgläubigkeit im größeren Rahmen der Welt zu verteidigen. Sie behaupteten, dieses Ziel sei durch die internationale Erklärung zum Schutz der Christen im Osmanischen Reich erreicht worden sowie durch den Pariser Vertrag, der, wie von den Russen gefordert, den Status quo der heiligen Stätten in Jerusalem und Bethlehem bewahrt habe. In ihren Schriften und Predigten über den Krieg bezeichneten sie die Verteidiger der Krim als selbstlose und mutige christliche Soldaten, die ihr Leben als Märtyrer für das »russische heilige Land« geopfert hätten. Erneut betonten sie die Heiligkeit der Krim, auf der das Christentum erstmals in Russland erschienen sei. Seit dem Moment des Kriegsendes hatte die Monarchie versucht, das Gedenken daran mit der Erinnerung an 1812 zu verbinden. Der Besuch des Zaren in Moskau nach der Kapitulation von Sewastopol wurde als Wiederholung des dramatischen Auftritts von Alexander I. in der früheren russischen Hauptstadt im Jahr 1812 inszeniert, als riesige Mengen von Moskowitern ihn begrüßt hatten. Nun, im Jahr 1856, verschob der Zar seine Krönung bis zum Jahrestag der Schlacht von Borodino, des russischen Sieges über Napoleon im September 1812. Es war ein symbolischer Akt, welcher die schmerzliche Niederlage im Krimkrieg aufwiegen und das Volk aufgrund einer glorreicheren Erinnerung mit der Monarchie wiedervereinigen sollte.27

Für die demokratischen Intelligenzlerkreise, zu denen Tolstoi gehörte, bestand die Verbindung des Krimkriegs mit 1812 jedoch nicht in der heiligen Mission des Zaren, sondern in dem patriotischen Opfer der russischen Menschen, die ihr Leben für die Verteidigung ihrer Heimat gegeben hatten. Allerdings war dieses Opfer schwer zu messen, denn niemand wusste, wie viele Soldaten gefallen waren. Genaue Zahlen über die russischen Verluste wurden nie gesammelt, oder aber sie wurden von den zaristischen Militärbehörden verzerrt oder verschleiert. Die Schätzungen der im Krimkrieg gefallenen Russen liegen zwischen 400 000 und 600 000 für sämtliche Kriegsschauplätze. Die medizinische Abteilung des Kriegsministeriums veröffentlichte später eine Zahl von 450 015 Toten in den vier Jahren von 1853 bis 1856. Dies ist vermutlich die beste Schätzung.28 Ohne konkrete Zahlen nahm das Opfer des Volkes in der demokratischen Vorstellung allerdings einen mythischen Status an.

Sewastopol selbst wurde im kollektiven Gedächtnis zu einer gleichsam heiligen Stätte erhoben. Die Verehrung der gefallenen Helden der Belagerung begann unmittelbar nach Kriegsende, nicht auf Initiative der Regierung und offizieller Kreise, sondern durch Schritte der Allgemeinheit: Familien und Gruppen von Veteranen ließen mit öffentlichen Spendengeldern Monumente errichten, Kirchen gründen, Friedhöfe anlegen und Wohltätigkeitsfonds stiften. Den Mittelpunkt dieses demokratischen Kultes bildete das Gedenken an die Admirale Nachimow, Kornilow und Istomin, die Volkshelden von Sewastopol. Sie wurden verklärt als »Männer des Volkes«, die sich dem Wohlergehen ihrer Soldaten gewidmet hätten und als Märtyrer bei der Verteidigung der Stadt gestorben seien. Im Jahr 1856 organisierte man einen nationalen Fonds, um die Errichtung eines Denkmals für die Admirale in Sewastopol zu finanzieren, und in vielen anderen Städten kam es zu ähnlichen Initiativen. Kornilow war die zentrale Gestalt zahlreicher Geschichtsschreibungen des Krieges. Nachimow, der Held von Sinope und praktisch ein Heiliger in der Folklore der Belagerung, erschien in Erzählungen und auf Drucken als unerschrockener und selbstloser Soldat, als Märtyrer für die heilige Sache des Volkes, der auf seinen Tod vorbereitet gewesen sei, als er bei der Musterung der Vierten Bastion niedergeschossen wurde. Ausschließlich durch private Finanzierung gründete man 1869 das Museum der Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Die Menschenscharen, die am Eröffnungstag erschienen, konnten sich verschiedene Waffen, Geräte und persönliche Gegenstände, Manuskripte und Karten, Zeichnungen und Stiche ansehen, die man bei Veteranen gesammelt hatte. Es war das erste historische Museum mit derart öffentlichem Charakter in Russland.**

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Der Tod von Admiral Nachimow, von Wassili Timm (1856)

Der russische Staat förderte das Andenken an Sewastopol erst in den späteren 1870er Jahren, zur Zeit des russisch-türkischen Krieges, hauptsächlich infolge des wachsenden Einflusses der Panslawisten in Regierungskreisen. Diese offiziellen Initiativen galten jedoch Günstlingen des Hofes wie General Gortschakow und ließen den Volkshelden Nachimow im Grunde außer Acht. Unterdessen war der Admiral zum Symbol einer nationalistischen Volksbewegung geworden, die das Regime seinem eigenen Begriff der »Offiziellen Nationalität« unterordnen wollte, indem es Denkmäler für den Krimkrieg bauen ließ. Im Jahr 1905, einem Jahr der Revolution und des Krieges gegen Japan, wurde ein prächtiges Panoramabild mit dem Titel Die Verteidigung von Sewastopol in einem eigens dafür errichteten Museum am einstigen Standort der Vierten Bastion enthüllt, um den fünfzigsten Jahrestag der Belagerung zu begehen. Regierungsvertreter bestanden darauf, Nachimows Porträt durch eines von Gortschakow in Franz Roubauds lebensgroßem Gemälde-Modell zu ersetzen, das die Ereignisse vom 18. Juni wiedergibt, als die Verteidiger von Sewastopol den Angriff der Briten und Franzosen zurückschlugen.29 Nachimow kam also nicht in dem Museum vor, das an genau der Stelle gebaut worden war, wo er seine tödliche Verwundung davongetragen hatte.

Das sowjetische Gedenken an den Krieg legte die Betonung wieder auf die Volkshelden. Nachimow wurde zum Sinnbild für das patriotische Opfer und das Heldentum des russischen Volkes bei der Verteidigung seiner Heimat eine Propagandabotschaft, die im Krieg von 1941–1945 einen neuen Nachdruck erhalten sollte. Ab 1944 wurden sowjetische Marineoffiziere und Matrosen mit dem Nachimow-Orden ausgezeichnet und in nach ihm benannten Kadettenanstalten ausgebildet. In Büchern und Filmen schilderte man ihn als Symbol des Großen Führers, der die Menschen zum Kampf gegen einen aggressiven ausländischen Feind aufrief.

Die Dreharbeiten zu Wsewolod Pudowkins patriotischem Film Admiral Nachimow (1947) begannen im Jahr 1943, als Großbritannien mit der Sowjetunion verbündet war. In dem Rohschnitt des Streifens, der als sowjetisches Gegenstück zu Alexander Kordas Kriegsepos über Lord Nelson, Lady Hamilton (1941), geplant war, wurde die Rolle Großbritanniens als Feind Russlands im Krimkrieg verharmlost, während Nachimows Privatleben und seine Beziehung zu den Bewohnern von Sewastopol in den Vordergrund rückten. Doch im Lauf der Bearbeitung des Films zeigten die ersten Scharmützel des Kalten Krieges ihre Wirkung, zumal der Konflikt in den türkischen Meerengen und im Kaukasus, den Ausgangspunkten des Krimkriegs, seinen Anfang nahm. Seit Herbst 1945 arbeitete die Sowjetregierung auf eine Revision des Vertrags von Montreux (1936) über die Neutralität der Meerengen hin. Stalin verlangte eine gemeinsame sowjetisch-türkische Kontrolle über die Dardanellen und die Abtretung von Kars und Ardahan an die UdSSR (diese Territorien hatte das zaristische Russland erobert, doch sie waren den Türken 1922 überlassen worden). Angesichts der Konzentration von sowjetischen Streitkräften im Kaukasus entsandten die Vereinigten Staaten im August 1936 Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer. Gleichzeitig forderte Stalin Änderungen an Pudowkins Film: Der Schwerpunkt verlagerte sich von Nachimow als Mann auf Nachimow als Militärführer gegen den ausländischen Feind; und Großbritannien wurde als Gegner Russlands dargestellt, der die Türken benutzt habe, um seine aggressiven imperialistischen Ziele im Schwarzen Meer zu verfolgen. Genau das Gleiche lastete Stalin den Amerikanern in der ersten Phase des Kalten Krieges an.30

Einen ähnlichen patriotischen Kurs schlug der große Historiker der Stalin-Ära, Jewgeni Tarle, in seiner zweibändigen Geschichte mit dem Titel Der Krimkrieg (1941–1943), in seiner Biografie Nachimow (1948) und seinem späteren Buch Die Stadt des russischen Ruhmes. Sewastopol in den Jahren 1854/55 (1955) ein, das aus Anlass der Hundertjahrfeier veröffentlicht wurde. Tarle äußerte sich sehr kritisch über die zaristische Führung, doch er verherrlichte den patriotischen Mut und die Widerstandskraft des russischen Volkes. Es habe sich am Vorbild von Helden wie Nachimow und Kornilow orientiert, die ihr Leben für die Verteidigung Russlands gegen die »imperialistische Aggression« der Westmächte geopfert hätten. Die Tatsache, dass die Feinde Russlands im Krimkrieg Großbritannien, Frankreich und die Türkei nun sämtlich NATO-Mitglieder und Gegner des 1955 gegründeten Warschauer Pakts waren, verlieh der sowjetischen Hundertjahrfeier zusätzliche Spannung.

Der Stolz auf die Helden von Sewastopol, der »Stadt des russischen Ruhmes«, bleibt eine wichtige Quelle der nationalen Identität, obwohl sie sich heute außerhalb Russlands befindet ein Ergebnis der Übertragung der Krim an die Ukraine durch Nikita Chruschtschow im Jahr 1954 und der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. Mit den Worten eines russischen nationalistischen Dichters:

Die Ruinen unserer Supermacht

Bergen ein Paradox der Historien:

Sewastopol die Stadt der russischen Glorien

Liegt nicht auf russischen Territorien.31

Der Verlust der Krim bedeutete einen schweren Schlag für die Russen, deren Nationalstolz nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs ohnehin zu leiden hatte. Nationalisten setzen sich energisch für die Rückkehr der Krim zu Russland ein, nicht zuletzt in Sewastopol selbst, das weiterhin eine russische Bevölkerungsmehrheit hat.

Die Erinnerungen an den Krimkrieg rühren noch heute tiefe Gefühle des russischen Stolzes und des Zornes auf den Westen auf. Im Jahr 2006 hielt das Zentrum des Nationalen Ruhmes von Russland unterstützt von Wladimir Putins Präsidentschaftsverwaltung sowie dem Bildungs- und Verteidigungsministerium eine Konferenz über den Krimkrieg ab. Die Schlussfolgerung der Konferenz, von den Organisatoren in einer Presseerklärung bekannt gegeben, lautete, dass der Krieg nicht mit einer Niederlage Russlands, sondern mit einem moralischen und religiösen Sieg, einem nationalen Akt der Opferung in einem gerechten Krieg, geendet habe; die Russen sollten das autoritäre Beispiel von Nikolaus I. ehren, den die liberale Intelligenzija unfairerweise verhöhnt habe, denn er sei zur Verteidigung der Interessen seines Landes gegen den Westen angetreten.32 Der Ruf von Nikolaus I., dem Mann, der die Russen gegen die Welt in den Krimkrieg führte, ist in Putins Russland also wiederhergestellt worden. Heute hängt auf Putins Befehl ein Porträt des Zaren im Vorzimmer des Präsidentenbüros im Kreml.

Am Ende des Krimkriegs lag eine Viertelmillion Russen in Massengräbern in der Umgebung von Sewastopol. Überall im Umkreis der Schlachtfelder von Inkerman und Alma, des Tschornaja-Tals, von Balaklawa und Sewastopol sind unbekannte Soldaten begraben. Im August 2006 entdeckte man die Überreste von vierzehn russischen Infanteristen des Wladimir- und des Kasaner Regiments unweit des Ortes, an dem sie während der Schlacht an der Alma gefallen waren. Neben ihren Skeletten fand man Rucksäcke, Wasserflaschen, Kruzifixe und Granaten. Die Gebeine wurden mit militärischen Ehren in einer Zeremonie, an der ukrainische und russische Regierungsvertreter teilnahmen, am Museum der Alma bei Bachtschisserai neu beigesetzt, und in Russland gibt es Pläne, dort eine Kirche zu bauen.

* Inzwischen ist gezeigt worden, dass das Metall in Wirklichkeit von antiken chinesischen Kanonen stammte (J. Glanfield, Bravest of the Brave. The Story of the Victoria Cross [London 2005]).

** Die Bibliothek des Öffentlichen Museums Moskaus und des Rumjanzew-Museums, die 1862 entstand, hatte keine öffentliche Sammlung in diesem Sinne zu bieten. Ihre Objekte wurden von einem einzelnen Adligen gestiftet.